158070.fb2
Beide wurden überrascht, als Owens linker Arm hochflog und den 36er nach oben schlug.
Der Schuß krachte.
Aber der aus dem Lauf schießende Feuerstrahl geleitete die Kugel in den dämmrigen, fast dunklen Himmel.
Owen stieß seinen nach vorn gebeugten Kopf vor, direkt in Braddens Magen.
Der Mann mit dem Revolver stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Er stolperte einen Schritt zurück, hielt sich aber auf den Beinen.
Owens linke Hand griff nach der Schußwaffe, doch im letzten Augenblick riß Bradden die Waffenhand zur Seite. Der Griff ging ins Leere.
Bradden sprang an Owens Seite und zog den Revolverlauf über dessen Schädel.
Der massige Mann sank zusammen, aber seine Hand verkrallte sich im Hosenbund des anderen. Erst als Bradden seine Stiefelspitze in Owens Unterleib rammte, ließ dieser los und fiel flach auf den Boden.
Sein Atem rasselte, begleitet von Keuchen und Würgen. Aber so sehr Owen auch gegen sein Schicksal ankämpfte, er kam nicht mehr auf die Beine, war zu geschwächt.
»Verdammter Hund!« fluchte Bradden und legte wieder den Revolverlauf auf ihn an. »Ich schicke dich noch vor der Dutch-Hure zur Hölle!«
Das metallische Klicken kam nicht vom Hahn des NavyRevolvers, sondern von dem eines langläufigen Starr-Modells, das in John Braddens Faust lag. Der Schuß mußte den Treck-Captain hergelockt haben.
Irene wußte nicht, ob sie über sein Erscheinen erleichtert sein sollte. Sie dachte daran, mit welchem Haß der Mann mit der feuerroten Gesichtsnarbe heute morgen gegen Jacob gekämpft hatte. Sie war sich nicht darüber im klaren, ob er sich nun gegen seinen Bruder stellen würde, um der Deutschen beizustehen.
»Mach keinen Unsinn, Frazer!« herrschte der Treck-Captain seinen jüngeren Bruder an.
Unwillig wanderte der Blick des narbengesichtigen Mannes von der Waffe in Frazers Braddens Faust zu Ebenezer Owen. Dieser lag röchelnd am Boden, das große Bowiemesser noch im Arm.
»Was, zur Hölle, hast du mit Ebenezer angestellt?« wollte John Bradden von seinem Bruder wissen.
»Frag lieber, was er mit mir anstellen wollte, John!« fauchte Frazer. In seiner Stimme schwang deutlich die Enttäuschung darüber mit, daß ihm sein Bruder in die Quere gekommen war.
»Was?« fragte der Treck-Captain.
Frazer wedelte mit dem Lauf des 36ers in Owens Richtung.
»Er... er wollte mich töten! Fast hätte er auf mich geschossen!«
John blickte den Bruder Ungläubig an.
»Aber du hast den Revolver in der Hand, Frazer. Ebenezer liegt verwundet am Boden. Dein Messer steckt in seinem Arm. Wie erklärt sich das?«
»Ich habe mich nur verteidigt, John. Glaub mir, ich hatte keine Wahl.«
»Sie hatten jede Wahl!« stieß Irene zornig hervor. »Nur Sie allein sind schuld an dem hier, Bradden!«
»Verdammte Dutch-Schlampe!« Frazer Bradden wirbelte herum und legte den Whitney auf die Frau an.
Sein älterer Bruder riß ihm die Waffe aus der Hand und sagte mit wutverzerrtem Gesicht: »Jetzt ist endgültig Schluß mit dem Herumgeballere, Frazer. Willst du uns mit der Schießerei die gottverdammten Rothäute auf den Hals hetzen?«
»Pah! Wir haben sie doch alle erledigt.«
»Den einen Trupp, ja. Aber wie ich die Rothäute kenne, haben sie mehrere Jagdtrupps ausgeschickt. Nach der Größe des Indianerlagers zu urteilen, müssen mehr Krieger dort gelebt haben als die, die uns gestern angegriffen haben. Also reiß dich verdammt noch mal zusammen!«
Im Unterholz entstand Bewegung, und drei Männer traten daraus hervor: Lewis Bradden sowie Fred Myers und sein ältester Sohn Sam.
Fred Myers fragte, was los sei.
»Das versuche ich gerade herauszufinden«, knurrte der Treck-Captain. »Es scheint nicht so ganz einfach zu sein.«
»Doch, das ist es«, stöhnte Ebenezer Owen. Er setzte sich unter starken Schmerzen auf und lehnte Rücken und Kopf gegen einen Baumstamm.
»Erzähl!« forderte John Bradden.
»Dein kleiner Bruder wollte der Dutch-Lady bei lebendigem Leib den Skalp abziehen«, berichtete Owen mit brüchiger Stimme. »Ich kam im letzten Moment dazwischen.«
»Und du hast mich mit der Waffe bedroht!« zischte Frazer Bradden vorwurfsvoll.
»Yeah, das habe ich«, nickte der Verwundete. »Anders war dir nicht beizukommen.«
»Wir hätten sie am Canyon zurücklassen sollen, so wie sie es wollte«, brummte John Bradden ärgerlich. Auch wenn er Irenes Namen nicht nannte und sie nicht ansah, war klar, wen er meinte. »Sie macht uns nichts als Ärger!«
»Du irrst dich, John«, widersprach Owen. »Der Ärger ging ganz von deinem Bruder aus!«
Die Antwort des Treck-Captains war nur ein undeutliches Knurren. Er konnte die Tatsachen nicht verleugnen, und doch widerstrebte es ihm, sich gegen seinen Bruder auszusprechen. Vielleicht weil er wußte, daß er selbst in der Not bei Frazer Rückhalt fand, wie getrübt dessen Verstand auch sein mochte.
Er wandte sich an die eben hinzugekommenen Männer.
»Bringt Ebenezer zu den Wagen! Seine Wunde muß verbunden werden.«
Auf dem Rückweg zu den Planwagen achtete Irene darauf, Frazer Bradden nicht zu nahe zu kommen. Dieser unberechenbare Mann flößte ihr Angst ein. Er war wie ein wildes Tier, das jederzeit die Kontrolle über sich verlieren und sein Opfer anfallen konnte - aus reiner Mordlust.
Und sein Opfer würde Irene sein!
In der Mitte der zu einem Kreis zusammengestellten Wagen brannte ein Feuer. Geschützt durch Wagen und Bäume, würde es außerhalb des Pinyonwalds nicht zu sehen sein, hofften die Menschen aus Greenbush. Zwei große Kaffeekannen standen auf dem Feuer, und ein voluminöser Kessel hing darüber. Der Duft des frischen Kaffees vermischte sich mit dem von Bohnen und Speck.
Für viele der Menschen nach dem anstrengenden Tag ein verführerischer Duft. Aber nicht für Irene. Auch ihr Magen war leer, aber sie verspürte nicht die geringste Lust aufs Essen.
Sie wollte zu Ebenezer Owen gehen, um sich bei ihm zu bedanken. Die Männer hatten ihn in seinen Wagen gebracht, zu seiner kranken Frau.
Der Zeitpunkt war schlecht gewählt, wie Irene sah, als sie die Plane zurückschlug und ins Innere spähte. Gerade hatte Fred Myers das große Bowiemesser aus Owens Arm gezogen, und Myers' Frau Anne verband die Wunde.
Irene ließ die Plane wieder zurückfallen und stieg in ihren eigenen Wagen. Jamie wurde wach und schrie nach seiner Mutter. Er hatte Hunger.
Die junge Frau zog die Jacke aus, streifte Kleid und Unterkleid über die Schultern und gab ihrem kleinen Sohn die Brust. Er saugte zufrieden, hin und wieder glucksend.
Jamie bemerkte die Tränen nicht, die über die Wangen seiner Mutter liefen, als Irene an Jacob dachte.