158070.fb2 Der Speer der Vergeltung - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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*

Etwas ließ Jacob zusammenfahren.

Er war eingenickt.

Aber er saß noch immer neben dem Nez Perce und drückte die Kräuter auf die Wunde. Selbst im Schlaf der Erschöpfung hatte er um das Leben des Indianers gekämpft.

Was hatte ihn geweckt?

War es das Feuer gewesen, das langsam in sich zusammenfiel?

Oder eine Bewegung außerhalb des flackernden Lichtkreises? Jacobs Augen spähten in die Finsternis, ohne etwas zu entdecken.

Seltsam, er mußte intensiv an Irene denken. Hatte er von ihr geträumt?

Er fühlte sich fast, als hätte sie im Schlaf zu ihm gesprochen und ihm das gesagt, was keiner von Angesicht zu Angesicht auszusprechen wagte: daß sie sich liebten.

Aber Irene war nicht da und auch Jamie nicht. Nur Jacob, das Feuer und der Nez Perce.

Lebte der Indianer überhaupt noch?

Bei näherem Hinsehen stellte Jacob erstaunt fest, daß die tiefe Wunde in der Brust nicht mehr blutete. Erst hatte er es nicht bemerkt, weil die ganze Brust rot war, über und über mit verkrustetem Blut bedeckt.

Aber das Aufhören der Blutung mußte nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein. Es konnte auch bedeuten, daß der Nez Perce gestorben war, während der junge Deutsche schlief.

Erleichtert bemerkte Jacob, wie sich der Brustkorb des Indianers hob und senkte.

Täuschte er sich, oder atmete der Verwundete jetzt weniger flach als zuvor? Taten die Kräuter bereits ihre Wirkung?

Offenbar. Sie hatten die Blutung gestillt und beschleunigten den Heilungsprozeß, auch wenn der Nez Perce noch längst nicht über den Berg war.

Jacob warf die blutdurchtränkten Kräuter weg, legte frische auf die Wunde und suchte nach einem Verband.

So geschwächt, wie der rote Krieger war, konnte er dem Treck kaum zu Fuß gefolgt sein. Von dieser Überlegung angetrieben, kletterte der deutsche Auswanderer über die Felsbarriere und ging suchend nach Osten. In die Richtung, aus der die Wagen gekommen waren und zwangsläufig auch der Nez Perce.

Immer wieder steckte Jacob Zeige- und Mittelfinger in den Mund, um schrille Pfiffe auszustoßen. Nach einer Weile erhielt er endlich die ersehnte Antwort, ein lautes Wiehern. Bildete er es sich ein, oder klang das Pferd freudig erregt, in der Nacht nicht allein zu sein?

Jacob fand sogar zwei Pferde, die mit angehobbelten Vorderläufen in einem kleinen Felskessel standen.

Beides waren Appaloosa-Hengste mit den typischen Flecken im Fell. Mond und Sterne schienen hell genug, um ihn das erkennen zu lassen.

Der eine Hengst war grau, die Flecken dunkel, das übrige Fell etwas heller. Das andere Tier hatte eine eigentümliche Färbung. Der schlanke Kopf, die Vorderläufe und der vordere Teil des Körpers waren braun, der Rest weiß mit braunen Flecken. Ein edles, schönes Tier.

Und stolz. Erst nach viel gutem Zureden konnte sich Jacob ihm nähern und es dadurch beruhigen, daß er seine flache Hand auf die Nüstern legte.

Das braunweiße Pferd war das Reittier des verwundeten Nez Perce; es trug einen Indianersattel. Den größten Teil seiner Ausrüstung, Waffen, Verpflegung und Decken, hatte er auf den grauen Appaloosa gepackt.

Jacob stutzte, als er den großen ovalen Schild sah. Die Verzierung der Lederbespannung, ein reitender Krieger mit einem Bärenkopf, hatte er schon einmal gesehen!

Ja, es war erst gestern gewesen. Das war der Schild, den der Indianer zurückgelassen hatte, der Irene und Carol Owen angegriffen hatte.

Der Indianer, auf den Irene geschossen hatte!

Er mußte zum Ort des Kampfes zurückgekehrt sein, um seinen Schild und die Lanze zu holen, die neben dem Schild an dem Pferd hing.

Jacob lachte trocken.

Er konnte nicht anders bei dem Gedanken, daß die Kugel, die er unter Mühen aus der Brust des Nez Perce geholt hatte, aus seinem eigenen Army Colt stammte.

Er führte die beiden Tiere zur Felsbarriere, riß ein Stück von einer indianischen Decke ab und wickelte es als Verband um die Brust des Kriegers.

Nachdem er Holz zusammengesucht und nachgelegt hatte, damit das Feuer nicht ausging, aß er etwas von der Verpflegung des Nez Perce. Jetzt, wo alle Arbeit getan war, verspürte Jacob einen Bärenhunger. Die faustgroßen Bälle, die er in einem Rohhautbeutel fand, bestanden aus getrocknetem Fleisch und undefinierbaren pflanzlichen Stoffen. Sie schmeckten talgig, nicht besonders gut, aber sie stillten seinen Hunger.

Und die Wärme des Feuers linderte Jacobs Schmerzen. Er fühlte sich ein wenig besser, als er unter eine der indianischen Decken schlüpfte.

Er hatte sich noch gar nicht richtig ausgestreckt, da schlief er schon.

Jacobs geschundener, überanstrengter Körper verlangte sein Recht.

*

Als Jacob die Augen aufschlug, blendete ihn die Helligkeit der strahlenden Sonne hoch oben am Himmel.

Er mußte lange geschlafen haben, mehr als zwölf Stunden. Es war ein tiefer, traumloser Schlaf gewesen. Jedenfalls konnte er sich an keine Traumbilder erinnern.

Bevor er sich aufrichten konnte, wurde die Sonne plötzlich durch etwas verdunkelt, das sich zwischen Jacob und das wärmende, Licht spendende Gestirn schob.

Eine dunkle Wolke?

Nein, ein Gesicht, aber auch dunkel. Das Gesicht eines Indianers!

Jacobs erster Gedanke war, daß ein Trupp Nez Perce den Lagerplatz gefunden hatte, während er schlief. Nun war er den rachsüchtigen Kriegern ausgeliefert.

Doch dann erkannte er das Gesicht - mit den dünnen Lippen, der geraden Nase, den hohen Wangenknochen und den schmalen Augen. Der Auswanderer konnte es kaum fassen, daß der schwerverwundete Nez Perce, der gestern abend noch mit dem Tod gerungen hatte, eher wieder auf den Beinen war als er selbst.

Aber es war so!

Der Nez Perce kauerte vor Jacob und hielt etwas Kleines, eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger, vor das Gesicht des Deutschen.

Jacob rieb den Schlaf aus seinen Augen und erkannte die blutverkrustete Kugel, die er aus der Brust des Kriegers geholt hatte.

»Der weiße Mann hat Riding Bear von dem bösen Zauber befreit.«

Riding Bear - Reitender Bär. Das also war der Name des Roten. Jacob erinnerte sich an die Bemalung des Schilds.

Dann erst kam er dazu, sich zu wundern. Darüber, wie gut der Rote das Englische beherrschte. Fast besser als Jacob selbst.

Jacob war sich nicht sicher, ob die Äußerung des Nez Perce eine Frage oder bloß eine Feststellung war.