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»Sandhaar muß Riding Bear nicht für dumm halten, bloß weil dessen Hautfarbe dunkler ist«, erwiderte der Nez Perce mit unbewegtem Gesicht. »Riding Bear kennt Kugeln und Gewehre. Beides kann guter Zauber sein, wenn es hilft, den Feind und das Wild zu töten. Und schlechter Zauber, wenn es die Männer und Frauen der Kaminu tötet.«
»Die Kaminu?« Jacob sah den Indianer fragend an.
»So nennt sich Riding Bears Volk. Ihr Weißen nennt uns Nez Perce. Aber dieser Name meint viele Gruppen, und jede dieser Gruppen hat einen eigenen Namen.« Ein verächtlicher Zug trat in Riding Bears Gesicht. »Zu schwierig für den weißen Mann.«
»Nicht alle sind so dumm, wie Riding Bear denkt, auch wenn unsere Hautfarbe heller ist als seine.«
Ein Zucken durchlief die Züge des Indianers.
War es so etwas wie ein Lächeln? Oder ein Ausdruck der Verärgerung?
»Sandhaars Zunge ist flinker als sein Geist.«
Sandhaar!
An diesen Namen mußte sich Jacob erst gewöhnen.
Die Bemerkung des Indianers gab ihm zu denken, und er fragte: »Will Riding Bear mir seine Worte erklären?«
»Sandhaar sprach davon, die Kugel in der letzten Nacht aus Riding Bears Brust geholt zu haben.«
Jacob nickte. »Ja, so ist es.«
»Nein, so ist es nicht. Es war die Nacht vor der letzten Nacht.«
Vielleicht war Jacobs Geist wirklich nicht so rege, wie Jacob angenommen hatte. Erst allmählich begriff er die Bedeutung von Riding Bears Worten.
»Du meinst... ich habe nicht nur eine Nacht geschlafen, sondern zwei Nächte und dazwischen einen ganzen Tag?«
Riding Bear nickte und blickte nach oben, zur Sonne, die ihren Zenit bereits überschritten hatte.
»Und noch einen halben Tag dazu. Sandhaar ist einer der stärksten Männer, die Riding Bear kennt. Sonst wäre er nicht aus der Schlucht entkommen. Aber selbst ein starker Mann braucht nach einer solchen Anstrengung Ruhe.«
Das mochte sein, aber es gefiel Jacob nicht sonderlich. Denn es bedeutete, daß sich der Treck mit Irene und Jacob in der Zwischenzeit noch weiter von ihm entfernt hatte.
Der Indianer hielt die Kugel noch näher vor Jacobs Augen und fragte: »Weshalb hat Sandhaar den bösen Zauber. die Kugel aus Riding Bears Brust geholt?«
»Weil du sonst gestorben wärst. Wahrscheinlich noch in der Nacht.«
»Das ist keine Antwort«, behauptete der Indianer brüsk.
Jacob blickte ihn verwirrt an. »Warum nicht?«
»Weil es die Weißen nicht kümmert, ob die Kaminu sterben.«
»Vielleicht kümmert es nicht alle Weißen, aber bestimmt sehr viele. Auf jeden Fall kümmert es mich!«
Ein bitterer Zug umspielte die Lippen des Roten, als er erwiderte: »Riding Bear möchte Sandhaar glauben, aber er kann es nicht. Zu oft schon haben die Weißen mit gespaltener Zunge zu den Kaminu gesprochen. Hat Sandhaar vor zwei Tagen nicht gegen Riding Bears Brüder gekämpft?«
»Doch«, seufzte Jacob, »das habe ich.«
»Sandhaar gibt es zu?« fragte Riding Bear verwundert nach.
»Natürlich gebe ich es zu. Denn es ist die Wahrheit. Vorgestern wußte ich noch nicht, daß Riding Bear und seine Brüder einen guten Grund für ihren Kriegszug haben. Ich half den anderen Weißen, weil ich sie im Recht glaubte.«
Die schmalen Augen in dem dunklen Gesicht blickten Jacob forschend an. »Und was glaubt Sandhaar jetzt?«
»Daß die Kaminu im Recht sind. Denn jetzt weiß ich, was die Leute aus Greenbush ihnen angetan haben.«
Riding Bears Blick verklärte sich. Der Indianer sah nicht mehr Jacob an, sondern in eine weite Ferne, die nur der Geist so schnell zu überwinden vermochte.
»Riding Bear hatte einen Vater und eine Mutter«, sagte der Nez Perce langsam, ruhig.. »Beider Körper waren alt, aber in ihren Köpfen waren sie noch jung. Als Riding Bear von der Jagd heimkam, waren sie tot. Riding Bear hatte eine Squaw mit dem Namen Clear Water, weil ihre Augen so klar waren wie das Wasser der Bergflüsse. Im letzten Sommer schenkte Clear Water Riding Bear einen Sohn. Er war so winzig, daß wir ihn Little Hands nannten. Aber wir glaubten fest, daß er einst einen anderen Namen tragen und ein starker, stolzer Krieger sein würde. Als Riding Bear von der Jagd zurückkehrte, waren Clear Water und Little Hands tot. Wie Riding Bears Eltern waren sie ermordet und ihrer Skalps beraubt worden. Wie alle Frauen, alle Kinder und alle Alten, die im Lager zurückgeblieben waren.«
Die Stimme des Kriegers wurde noch leiser, zugleich aber dunkler und anklagend, als er fortfuhr: »Bevor Clear Water starb, nahm ihr Mörder sie mit Gewalt! Sie war nicht die einzige Squaw, der das widerfuhr. Ein paar der Geschändeten waren noch sehr jung. Kinder!«
Der Blick des Nez Perce kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Ein wildes Feuer brannte in Riding Bears Augen.
Mit einer zornigen Bewegung schleuderte er die Kugel fort. Dann zeigte er mit der Hand auf Jacob.
»Die Männer, die meinen Stamm ermordeten, waren Weiße wie Sandhaar! Riding Bear hat allen Weißen den Tod geschworen. Warum soll er bei Sandhaar eine Ausnahme machen?«
Ein Grinsen zog über das Gesicht des jungen Deutschen.
»Warum lacht Sandhaar?« fragte der Nez Perce erbost. »Ist das die Art des weißen Mannes, die Kaminu erst zu töten und sie dann zu verspotten?«
»Ich verspotte niemanden«, erwiderte Jacob traurig. »Ich mußte nur daran denken, daß die Kaminu und die Siedler aus Greenbush vielleicht eine ganze Menge gemeinsam haben. Die Weißen schwören allen Roten den Tod, und die Roten allen Weißen. So wird das Töten zu seinem eigenen Grund und geht immer weiter, bis es von einer Hautfarbe keinen mehr gibt. Aber ich glaube, auch dann hören die Menschen mit dem Töten nicht auf.«
Riding Bear dachte nach, eine ganze Weile.
Schließlich sagte er: »Riding Bear glaubt, Sandhaar zu verstehen. Aber Riding Bear versteht nicht alles. Weshalb haben die Männer aus Greenbush den Kaminu den Tod geschworen?«
Jacob erzählte ihm von der Fieberepidemie, die fast ganz Greenbush ausgelöscht hatte. Und davon, daß die Siedler den Nez Perce die Schuld an der Katastrophe gaben.
»Das hat Riding Bear nicht gewußt«, sagte der Indianer. »Auch unter den Kaminu hat das Fieber gewütet, aber es nahm nur wenigen das Leben. Vierauge hat den Kaminu geholfen und wollte auch nach Greenbush, um den Weißen beizustehen. Der plötzliche Schnee ließ ihn nicht durchkommen, und er mußte ins Lager der Kaminu zurückkehren, bis der Schnee schmolz.«
»Ich habe davon gehört«, nickte Jacob. »Vierauge ist demnach Simon Mercer aus Molalla Spring.«
»Ja«, bestätigte Riding Bear. »Vor seinen Augen hat er noch einmal zwei Augen aus Glas. - Das mit dem Fieber ist nicht die Wahrheit.«
»Was meint Riding Bear?«
»Bei den Kaminu brach das Fieber erst aus, nachdem zwei Männer aus Greenbush sie besucht hatten. Sie haben das Fieber zu uns gebracht. Also sind die Weißen selbst schuld an ihrem Verhängnis.«
»Die Wahrheit wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen«, seufzte Jacob. »Aber sie ist letztlich auch gleichgültig. Wer wen auch mit dem Fieber angesteckt hat, er tat es nicht mit Absicht. Auch der Missionar, Vierauge, unterließ die Hilfe für Greenbush nicht absichtlich. Es war ein Unglück, kein Mord. Und deshalb ist es keine Entschuldigung für Mord.«
»Sandhaars Worte sind gut. Sind es auch seine Gedanken?«