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Irgendwann zwischen zwei Fieberträumen war das Hafeneis gebrochen. Als Elin sich das erste Mal wieder ankleidete und mit Kristina und Fräulein Ebba auf die Nordmauer ging, war ihr das Mieder zu weit geworden und aus dem Spiegel blickte ihr ein hohlwangiges Geschöpf entgegen. Unter dem linken Schulterblatt pochte die empfindliche Narbe. Stockholm erwachte aus dem Winterschlaf. Das Gewicht der Handelsschiffe brach das dünn gewordene Eis. Bizarr gezackte Eisschollen bildeten ein bewegliches Muster auf dem Wasser. Die Familie Vaincourt hatte mit dem ersten Schiff das Land verlassen und Kurs auf Polen genommen, um den dortigen Botschafter zu besuchen. Für Elin hatten sie einen höflichen Abschiedsgruß und einen Beutel mit silbernen französischen Ecus hinterlassen. Elin nahm eine Münze aus dem Beutel und betrachtete nachdenklich das bourbonische Wappenschild mit den drei Lilien und das Porträt des jungen Königs Louis XIV. Eine lange Locke fiel ihm bis auf die Schulter herab. Kristina war untröstlich über die Abreise ihrer Gäste, aber immerhin amüsierte sie Elins Enttäuschung, keine persönliche Nachricht von den Vaincourts vorzufinden. »Ja, einen Feind zu verlieren ist ein großer Verlust«, sagte sie. Elin schwieg, doch das seltsame Gefühl in der Magengrube blieb. Einen Feind zu verlieren wäre einfacher gewesen als jemanden, mit dem man einen Augenblick zwischen Leben und Tod geteilt hatte.
Mit der Schneeschmelze und den ersten Regenfällen kamen die Probleme an der Schleuse, die einzige Durchfahrt zwischen der Ostsee und dem Mälarsee und gleichzeitig die einzige Verbindung zwischen der Stadtinsel und der Südstadt Södermalm. Zahlreiche Schiffe lagen hier, hochbordige Koggen zur Ostsee hin und kleinere Boote auf der Mälarsee-Seite. Elin begleitete die Königin zur Schleuse. Kristina wollte sich davon überzeugen, dass die Schleusentore so weit wie möglich geöffnet waren. Trotzdem gab es Überschwemmungen, die viele Häuser in Söderström verwüsteten. Aus leeren Augen starrten die Gesichter der Enthaupteten vom Südtor auf die Straßen. Elin suchte nach dem Mann mit dem Federhut, aber die Hinrichtung war so lange her, dass sie auch einen vertrauten Menschen unter den verfaulten Schädeln nicht wieder erkannt hätte.
Doch das Leben wurde besser – so als hätte Elin den Preis bezahlt. Bei Hof behandelte man sie wie ein Kuriosum. Tilda und die anderen Mädchen umsorgten sie plötzlich und Oxenstierna ließ ihr als Geschenk eine kleine silberne Brosche in Form eines Pferdekopfs anfertigen. Kristina gab ihr ein eigenes Gemach, das nicht weit von ihren eigenen Privaträumen lag. Das Zimmer war so groß wie der Raum, den Elin bisher mit drei anderen Mädchen bewohnt hatte. Darin stand ein Himmelbett mit blassgrünen Vorhängen. Es war, als hätte sich Kristinas Herz geöffnet, und Elin trat dankbar und staunend ein. Sie lernte eine andere Kristina kennen – warmherzig und sorgsam und unendlich müde von den Verhandlungen und Ränkespielen. Sie lebte mit dem Schwert an der Kehle, das wurde Elin nun klar. Und einen Schwertstreich hatte sie selbst am eigenen Leib gespürt.
Es vergingen noch einige Wochen, bis Elin sich zum ersten Mal wieder in den Stall wagte. In den Nächten zuvor hatte sie immer wieder von Enhörning geträumt. Das Pferd erschien ihr in den Träumen riesenhaft, feurig und so wild, dass sie schweißgebadet aufwachte. Lars empfing sie mit einer festen Umarmung, dann aber scheuchte er sie unbarmherzig in den Sattel und ließ sie büßen. Am Ende der Reitstunde schmerzte ihre Narbe höllisch und ihre Beine zitterten vor Erschöpfung, aber sie war unendlich stolz auf sich. Im Überschwang lief sie sofort in das kleine Arbeitskabinett, das auch als Lager für die Akten diente, um Emilia zu schreiben. Neben dem Fenster stand der kleine Tisch, an dem sie das Lesen und Schreiben übte – dort stapelten sich ihre Unterlagen. Sie brauchte sich nur hinzusetzen und den Federkiel anzuschärfen. Sie war so vertieft in diese Arbeit, dass sie die Stimmen, die sich dem Zimmer näherten, anfangs nicht bemerkte. Erst als die Tür aufflog, schrak Elin hoch und erstarrte. Kristina stürmte in den Raum und warf eine Ledermappe mit Dokumenten auf den Tisch. Ihr Verlobter Karl Gustav folgte ihr.
»Warum hältst du mich hin, Kristina?«, rief er. »Was habe ich getan, um so viel Verachtung zu verdienen?«
»Wer behauptet, dass ich dich verachte?«
»Lenk nicht ab. Du verstehst mich sehr gut!« Seine Stimme bebte. Elin drehte sich wieder zur Tischplatte um und duckte sich tief über das Papier. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sollte sie sich aus der Seitentür stehlen?
»Sag mir jetzt: Wann wirst du dein Heiratsversprechen einlösen?«, donnerte Karl Gustav.
Elin stand auf, knickste tief und murmelte eine Entschuldigung. Kristina und Karl Gustav starrten sie an.
»Ich gehe schon, Ihre Majestät«, sagte Elin und rannte Richtung Tür. Kristina war schneller. Schmerzhaft schloss sich ihre Hand um Elins Handgelenk.
»Elin, du brauchst den Raum nicht zu verlassen«, sagte die Königin mit einer drohenden Höflichkeit. »Hier gibt es nichts, was hinter verschlossenen Türen besprochen werden müsste. Schreib deinen Brief.« Elin schluckte und verstand.
Sie versuchte den feindseligen Blick des Kavallerieobersts zu ignorieren und nahm gehorsam wie eine Verurteilte wieder Platz. Hinter ihrem Rücken ging Karl Gustav erregt auf und ab. Kristina räusperte sich und ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Ich war so jung wie Fräulein Elin, als ich dir mein Versprechen gegeben habe«, sagte sie schließlich sanft. »Zu jung für solche Entscheidungen.«
»Du musst nur die Entscheidung treffen, ob du mich liebst.«
»Romantisches Gerede«, wies Kristina ihn mit sanftem Spott zurecht. »Damals im Frühling klangen unsere Schwüre schön und wahrhaftig – aber wir sind beide erwachsen geworden.«
Verstohlen wandte Elin den Kopf zur Seite und schielte zu Karl Gustav. Was sie sah, bestürzte sie. Mitleid schnitt ihr ins Herz. Da stand der Oberst, der über tausende von Soldaten befahl, hilflos wie ein verliebter Junge, der abgewiesen wurde. Er war ein fetter Kriegsherr geworden, der zu viel trank, aber Elin war es, als könnte sie den jungen Mann sehen, den Kristina gekannt hatte und der seine Cousine offenbar immer noch aufrichtig liebte. Er zog Kristina zum Fenster und senkte seine Stimme, aber Elin hatte gute Ohren.
»Ich erkenne dich kaum wieder«, sagte er heiser. »Wo ist das Mädchen, das sich heimlich mit mir verlobte und mir in seinen Briefen schwor, dass nichts uns trennen könne? Jetzt finde ich eine Frau, die den ganzen Tag mit Staatsgeschäften beschäftigt ist. Sie spricht nur noch davon, den Überseehandel auszubauen, Manufakturen zu errichten, und zerbricht sich den Kopf über Handelsverträge mit Spanien, Portugal und England.«
Mit einer Leidenschaft, die Elin ihm nie zugetraut hätte, trat er noch näher an die Königin heran. »Wir haben getanzt, Kristina«, sagte er leise. »Weißt du das nicht mehr?« Kristina sah ihn lange an. Sie war so viel kleiner als der massige Mann, dass sie zu ihm hochschauen musste. Einen Augenblick wünschte sich Elin, sie würde Karl Gustav zulächeln und ihm die Hand reichen. Doch die Königin trat einen Schritt zurück.
»Ich achte dich sehr, Karl«, sagte sie mit belegter Stimme. »Du bist mir ebenso teuer wie Belle oder Magnus …«
»Es ist also Magnus!«, brauste er auf. »Es stimmt also, was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt! Er ist dein Günstling! Seit Monaten muss ich mit ansehen, wie du ihn mit Ehren überschüttest.«
»In erster Linie ist er verheiratet«, antwortete sie ihm. »Aber bevor du andere der Untreue beschuldigst, solltest du dir überlegen, was eine Liebe schneller abzukühlen vermag: ein Günstling oder ein im Feld gezeugter Bastard.«
Bei diesem Wort zuckte Elin zusammen.
»Also das verzeihst du mir nicht«, sagte Karl Gustav gekränkt. »Urteile nicht leichtfertig über mich und meine Treue, Kristina. Dieses Wort bedeutet im Frieden das eine, im Krieg dagegen etwas ganz anderes. Du hast nie ein Schlachtfeld mit eigenen Augen gesehen. Für dich finden die Kämpfe nur auf dem Papier statt. Abstrakte Flecken auf Landkarten, ein paar diktierte Anweisungen für die Unterhändler zwischen Ausritten und Balletten.« Unversehens war er laut geworden. Kristina senkte den Kopf und seufzte.
»Ich kann dir nicht einmal widersprechen, Karl. Verzeih mir, wenn ich dich beleidigt habe. Der wahre Grund liegt nicht bei dir – ich habe einfach eine Abneigung gegen die Ehe, die so stark ist, dass ich nicht weiß, ob ich sie je überwinden werde.« Sie richtete sich auf, was sie nicht viel größer aussehen ließ, und reckte das Kinn nach oben. »Jedenfalls wird mein endgültiger Entschluss bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag und meiner offiziellen Krönung feststehen. Bis dahin bitte ich dich, Schweigen über unsere Unterredung zu wahren. Aber auch jetzt weiß ich: Ich werde nur heiraten, wenn es aus politischen Gründen keine andere Möglichkeit gibt. Ich bitte dich als Freundin, die ich immer noch für dich bin und immer sein werde, Karl: Nimm die Stelle des Generalissimus an.«
Die Pause, die darauf folgte, verursachte Elin Übelkeit, so viel Angst hatte sie. Doch Karl Gustav war kein unbesonnener Kämpfer, er machte nicht den Fehler, seinen Zorn zu zeigen.
»Freundin«, sagte er nur bitter. »Wenn du mich nicht zum Mann nehmen willst, will ich weder dein Nachfolger sein noch dein Generalissimus. Vergiss nicht, Cousine – ich bin ein Wittelsbacher. Wir lassen uns eine solche Behandlung nicht bieten.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und schritt aus dem Raum. Hinter ihm fiel die Tür so laut ins Schloss, dass Kristina und Elin zusammenzuckten. Lange Zeit sagte keine von beiden ein Wort. Erst als Elin einen unterdrückten Laut hörte, drehte sie sich um. Ihre Finger waren taub geworden, so fest hatte sie die ganze Zeit die kleine Klinge umklammert, mit der sie den Federkiel geschärft hatte. Die Königin starrte aus dem Fenster. Ihre Augen glänzten.
»Kristina«, sagte Elin sanft. Die Königin schüttelte heftig den Kopf und hob abwehrend die Hand.
»Lass mich«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Sie wandte ihr blasses Gesicht Elin zu. »Was siehst du mich so an? Erscheint es dir denn so erstrebenswert zu heiraten?«
»Ich … weiß nicht.« Gudmunds Hof war wieder da und mit ihm die aufdringlichen Knechte und der lüsterne Blick des alten Gudmund, der nach den Mägden schielte. Und da war auch die Erinnerung an Gudmunds Tochter Madda, die bei der Geburt ihres ersten Kindes unter Schmerzen und Schreien beinahe gestorben wäre.
»Es braucht mehr Mut, sich zu verheiraten, als in eine Schlacht zu ziehen«, sagte Kristina leise. »Was erwartet eine Frau schon in der Ehe?«
»Schmerzhafte Geburten und der Tod im Kindbett«, sagte Elin.
Kristina nickte.
»Und vergiss nicht die prügelnden, betrunkenen Männer. Wenn man die Wahl hat, frei zu sein und frei zu bleiben, warum sollte man sie nicht treffen?« Nach einer Pause fuhr sie noch leiser fort: »Unsere katholischen Freundinnen haben es da besser. Sie können ins Kloster gehen, wenn sie nicht heiraten wollen.«
»Andererseits muss nicht jede Ehe unglücklich sein«, wandte Elin ein. »Emilia und Elias waren glücklich.«
Kristina fuhr herum wie eine Schlange.
»Es steht niemandem zu, mich zu bedrängen!«, schrie sie plötzlich. »Und dir am allerwenigsten!« Ihre Stimme gellte in Elins Ohren. Zorn wallte in ihr auf, so ohne jeden Grund angefahren zu werden. Sie reagierte ohne nachzudenken.
»Ich bedränge Sie nicht!«, schrie sie zurück. »Sie selbst haben zu mir gesagt, man müsse alle Seiten hören, bevor man ein Urteil fällt. Haben Sie das schon vergessen?« Sie schnappte nach Luft und wurde sich bewusst, was sie sich gerade gegenüber der Königin herausgenommen hatte. Ihr Jähzorn verebbte. Zu ihrer Überraschung ließ sich Kristina auf einen Stuhl fallen und lachte. Kopfschüttelnd musterte sie Elin und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
»Es ist seltsam – so verschieden wir auch sind – in so vielen Dingen sind wir uns gleich. Du bist rebellisch und hast deinen eigenen Kopf. Wenn ich in dein Gesicht sehe, wenn du lachst oder wütend bist, dann glaube ich manchmal, in einen Spiegel zu blicken. Du bist mein Spiegelbild, Elin. Nur bist du nicht gefangen, so wie ich.«
»Sie sind nicht gefangen. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie befehlen – wir gehorchen.«
»Das sagst du, die tut und lässt, was ihr gefällt, und die sogar meine Befehle missachtet«, spottete Kristina. Ein schmerzlicher Zug huschte über ihr Gesicht. In solchen Augenblicken erinnerte die Königin Elin an einen Aprilhimmel – von einer Sekunde auf die andere veränderte sich das Spiel der Wolken, Sonne wechselte mit Regen, Gewitter mit Frühlingsluft und Regenbogen. »Ich beneide dich so sehr, dass du es dir gar nicht vorstellen kannst«, flüsterte Kristina. »Was ist ein König denn anderes als ein gekrönter Sklave seines Volkes?«
»Lass Lovisa nicht wissen, dass ich dir erlaube, in diese Bücher zu schauen!« Hampus lächelte verschwörerisch. »Hier sind die Organe besonders schön abgebildet. Und in diesem Buch dort findest du die Skelettdarstellungen und die Muskelmänner.«
Behutsam zog der Student ein Buch zu sich heran. De humani corporis fabrica, entzifferte Elin den Titel.
Hampus schlug es auf und deutete auf einen Holzschnitt, der einen ganzen Menschen darstellte – allerdings ohne Haut. Muskeln hüllten ihn ein und hingen an einigen Stellen wie aufgeklappte Lappen vom Körper. Fräulein Ebba hätte sich bei diesem Anblick sicherlich bekreuzigt.
»In diesem zweiten Buch beschäftigt er sich fast nur mit der Muskulatur. Und hier hast du das Adernetz und die Eingeweide.« Sobald er über Medizin sprach, verschwand Hampus’ Fröhlichkeit. Elin musste lächeln, wenn sie ihn so konzentriert sah. In einigen Jahren würde er seine Patienten als ausgebildeter Arzt mit diesem besorgten Ausdruck im Gesicht das Fürchten lehren.
Elin griff nach einem anderen Buch und blätterte in den anatomischen Tafeln. Es waren Kostbarkeiten, die hier auf dem Tisch lagen. Herr Freinsheim hatte Hampus die Folianten nur in die Hand gegeben, nachdem der Student feierlich geschworen hatte, sie nicht zu beschädigen. Der Anatomist und Chirurg Andreas Vesalius hatte die Bücher vor mehr als hundert Jahren drucken lassen. Elin kannte inzwischen die Namen der meisten Organe und wusste um die Beschaffenheit der vier Flüssigkeiten, die das Temperament eines jeden Menschen bestimmten. Bei Frauen überwogen die feuchten und kühlen Elemente, bei Männern dagegen Trockenheit und Hitze. Elin wusste auch, dass sich diese Elemente bei der Königin laut Doktor van Wullen nicht im Einklang befanden, was sie so männlich und unbeherrscht erscheinen ließ. Die Analyse des Arztes war verwirrend, aber dennoch logisch – bis auf die Tatsache, dass sich Elin fragte, ob ihre eigenen Anlagen auch im Ungleichgewicht waren, denn die meisten von Kristinas Gefühlsregungen konnte sie sehr gut nachvollziehen.
Hampus rückte näher an Elin heran und beugte sich mit ihr zusammen über das Buch. Im Licht der tief stehenden Nachmittagssonne glänzte sein rotbraunes, glattes Haar wie Kupfer. Elin betrachtete verstohlen sein Profil. Ihre Schultern berührten sich leicht, als sich Hampus nach vorne beugte und auf ein Bild zeigte.
»Das wolltest du dir doch ansehen, oder? So sieht ein menschliches Herz aus.« Elin betrachtete konzentriert das Organ. Das hier sollte in Emilias und ihrer Brust schlagen?
»Es sieht nicht viel anders aus als ein Schweineherz«, meinte sie enttäuscht.
»Was dachtest du denn?« Hampus lachte verschmitzt. »Dass es aussieht wie die Zeichnung unter einem Liebesgedicht? Das menschliche Herz ist kein romantisches Organ, es besteht aus Muskeln, Adern und Nerven. Rene Descartes hat sogar Klappen darin entdeckt.«
»Klappen? Wofür?«
»Kennst du die Entdeckung von William Harvey? Er hat anhand der Blutmenge, die täglich durch das Herz fließt, berechnet, dass das Blut nicht ständig neu gebildet wird, sondern nur in einer bestimmten Menge vorhanden ist und in einem Kreis durch den Körper fließt. Auch Monsieur Descartes verfolgt diese These vom großen Blutkreislauf. Die Klappen dienen zur Unterstützung des Pumpens.«
»Meinst du Descartes, den Philosophen? Die Königin unterhält eine Korrespondenz mit ihm. Sie diskutieren viel über philosophische Fragen. Aber dass er Mediziner ist, wusste ich nicht.«
»Oh, er beschäftigt sich mit vielen Disziplinen. Er würde sagen, das Herz ist eine Maschine, ein kleines Teil des Räderwerks, das unseren Körper antreibt.«
»Dann kann man das Herz ja wie eine kaputte Maschine wieder instand setzen«, murmelte Elin. Die Vorstellung war faszinierend.
»Gib es zu, Elin – du willst das nur wissen, weil du dir immer noch Sorgen um diese finnische Magd machst! Dabei hat mir Erik aus Uppsala geschrieben und versichert, dass sie noch lebt. Und das nicht schlecht, seit du sie unterstützt.«
Überrascht sah Elin ihn an.
»Nein«, meinte sie. »Das heißt ja – ich will wissen, was es für Herzkrankheiten gibt. Emilia sagte, ihr Herz sei vor Kummer vernarbt und schmerze deshalb, ich dagegen denke, sie leidet an etwas, das man heilen kann. Als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie Fieber und ein Stechen – hier. Ich schicke ihr Geld, damit sie sich Medizin kaufen und ein wenig ausruhen kann. Aber wenn ich wusste, was mit ihrem Herzen ist, könnte ich ihr sagen, was sie tun muss.«
Hampus’ Augen waren braun wie die von Henri – aber von einem wärmeren Braun, ein bisschen wie das Harz, das seine Tante zur Fixierung der Schwanenfedern verwendete.
»Schreib mir auf, was für Symptome sie noch hatte. Ich werde Doktor van Wullen fragen, was man ihr raten könnte.« Mit diesen Worten zog er das Buch, in dem das Herz abgebildet war, zu sich heran. Versehentlich berührte er dabei Elins Arm. Vor Schmerz zog sie die Luft scharf zwischen den Zähnen ein. Hampus wich erschrocken zurück.
»Schon wieder eine Prellung?«
Elin rieb sich den Arm und lächelte verschämt.
»Enhörning denkt immer noch, ein Reiter sei etwas, das man einfach an einem Baum abstreifen kann. Aber zumindest hat er verstanden, dass ich mich nicht mehr so leicht abwerfen lasse.«
»Zeig her«, sagte Hampus sanft. Ohne zu zögern löste Elin das Schleifenband an ihrem Ärmel und schob den Stoff ein Stück zurück. Beim Anblick der blauroten Stelle oberhalb des Ellenbogens verzog Hampus das Gesicht. Behutsam umfasste er mit der linken Hand ihren Unterarm und strich mit der rechten über die Prellung.
»Ich könnte dir ein Pflaster zurechtmachen«, murmelte er.
Jemand räusperte sich im Raum und beide blickten erschrocken hoch. Herr Freinsheim war ins Zimmer eingetreten – gefolgt von Kristina.
Sofort ließ Hampus Elins Arm los und sie streifte sich den Ärmel wieder bis zum Handgelenk hinunter.
»Es hat seine Vorteile, Medizin zu studieren«, sagte Hampus und machte eine tiefe Verbeugung. »So darf man die jungen Damen berühren.«
»Das sehe ich«, erwiderte Kristina trocken. »Wenn Fräulein Elin nur halb so viel Begeisterung für ihre Schreibübungen aufbringen würde wie für dich, Hampus …«
»Oh, Sie haben sie noch nicht durchschaut«, erwiderte Hampus. »Es ist nicht die Liebe zu mir, sondern ausschließlich die Liebe zur Medizin, die sie an meinen Tisch lockt. Ich habe den Verdacht, sie will heimlich mit mir studieren.«
»Natürlich! Weswegen sollte man sich sonst mit Hampus an einen Tisch setzen?«, warf Elin ein. Freinsheim und die Königin verstanden ihren Humor. Freinsheim erlaubte sich sogar ein flüchtiges Lächeln. Hampus’ Gesicht dagegen verdüsterte sich und Elin tat ihre vorlaute Art wieder einmal Leid. Es war einfacher, wenn auch gefährlicher, mit Kristina zu scherzen – bei Hampus fühlte sie sich oft so, als hätte sie beim Versuch, ihm einen scherzhaften Klaps zu geben, ohne Absicht eine tiefe Wunde geschlagen. Abrupt wandte er sich dem Tisch zu und stapelte die Bücher auf seine Arme.
»Sie entschuldigen, Majestät«, murmelte er. Elin senkte den Kopf und warf Kristina einen zerknirschten Blick zu. Die Königin grinste und ging zu dem Regal mit den Werken der Physik. Der Bibliothekar folgte ihr, jedoch nicht ohne Elin zuvor zu ermahnen, ihre Schreibübungen fortzusetzen. Elin liebte das Lesen, aber das Schreiben fiel ihr nach wie vor schwer. Dafür lernte sie umso eifriger Deutsch und saß abends über den unendlich scheinenden Listen, auf denen die Namen der schwedischen Soldaten erfasst waren. Kristina hatte sich erbarmt und einige der Akten aus dem alten Schloss in Uppsala nach Stockholm schaffen lassen. Aber mehr als den Namen ihres Vaters und die Stationen seines Kriegswegs, die ihn von der Insel Usedom über unzählige Schlachtfelder und schließlich bis nach Nördlingen geführt hatten, hatte Elin nicht erfahren. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über sie oder ihre Mutter. Kein einziges Dokument über eine Eheschließung, keinen Anhaltspunkt, nichts. Auch der Kurier, den Kristina wegen einer anderen Angelegenheit nach Uppsala schickte und der bei den Gudmunds nachgefragt hatte, brachte keine neuen Nachrichten.
Die Königin trieb in diesen Monaten die Verhandlungen in Deutschland mit aller Macht voran. Die Nächte verbrachte sie nicht selten zusammen mit Elin in der Bibliothek. Kristina las die Schriften des Philosophen Descartes und schrieb Briefe an ihn, die sie Elin vorlas. Sie handelten vom Wesen der Liebe, von der Trennung von Geist und Materie und der Existenz und Beschaffenheit der Seele.
Kurz nach Pfingsten gab sich Karl Gustav endlich geschlagen und legte in der Kirche seinen Eid als Generalissimus ab. Mit blassem Gesicht und sichtlich abgemagert kniete er vor Kristinas Baldachin und sprach den Schwur, den Axel Oxenstierna ihm vorlas. Elin, die in der hintersten Reihe stand, versuchte bei Kristina eine Regung zu entdecken, aber im Gegensatz zu Karl Gustav, der einen durch und durch unglücklichen Eindruck machte, wirkte Kristina kühl und nahm seinen Handkuss gnädig entgegen. Eine ganz andere Kristina platzte am selben Abend in Elins Gemach und wedelte freudestrahlend mit einem Brief.
»Wir haben Prag!«, rief sie. »Mein General Königsmarck hat die Kleinseite von Prag erobert. Und weißt du, was sich im Schloss befindet?«
»Schätze?«
»Und was für welche! Bilder, Skulpturen und Kuriositäten! Vom großen Kaiser Ludwig zusammengetragen, unglaubliche Kostbarkeiten aus ganz Europa! Oh, wir werden eine Bilderkammer einrichten, wie Schweden sie noch nie gesehen hat!«
Seit Elin mit Kristinas Unterstützung in Deutschland nach Informationen über ihre Eltern forschen ließ, hielt sie sich in der Hoffnung auf Postsendungen oft am Hafen Skeppsbron und bei der Schleuse zur Südstadt auf. Gemeinsam mit Hampus passierte sie die Landungsstege, die unzähligen Bootshäuser und atmete den Duft von gerösteten Heringen ein. Die verschiedensten Güter wurden von den Mälarschiffen auf die Ostseeschiffe umgeladen – und umgekehrt. Durch Kristinas Verhandlungen und neue Zollverordnungen, die im Reichstag beschlossen worden waren, bekam der Überseehandel Aufwind. In allen möglichen Sprachen wurden Geschäfte abgeschlossen, Elin hörte Verhandlungen auf Dänisch, Flämisch und auch viele französische Sätze. Einmal vernahm sie eine sanfte Stimme und drehte sich überrascht um. Aber es war nicht Henri.
Immer wieder schwemmte die Ostsee Kriegsheimkehrer aus Deutschland an – abgerissene, vom Krieg gezeichnete Männer, nach Pfeifentabak und Schweiß riechend, viele von ihnen Krüppel mit ausdruckslosen Augen, die nichts so sehr herbeisehnten wie ein langweiliges, ruhiges Leben in ihrer Kate. Elin ertappte sich dabei, wie sie die Gesichter dieser Männer eingehend studierte – und sich vorstellte, ob ihr Vater ebenso ausgesehen hatte.
»Woran denkst du?«, flüsterte Hampus ihr zu, als sie zu einem Schiff aus Deutschland unterwegs waren. »Gefällt dir etwa dieser schwarzhaarige Soldat, den du so anstarrst?« Elin gab Hampus einen Stoß in die Seite. Sie ärgerte sich, dass sie errötete, denn nun hatte der Soldat das Gespräch bemerkt und schenkte ihr ein überraschtes, hoffnungsvolles Lächeln.
Mit Elin und Hampus strömten unzählige Menschen zum Hafen. Das riesige Transportschiff hatte die Rahsegel auf Halbmast gesetzt und lief langsam auf die Anlegestelle zu. Möwenschreie hallten über das Wasser. Trauben von Menschen hatten sich an der Reling versammelt und winkten den am Ufer Stehenden zu. Kaufleute warteten auf ihre bestellte Ware, Arbeiter standen bereit, die Güter auf die Mälarboote umzuladen. Die ersten Listen wurden gezückt. Hampus zog Elin näher zu sich heran und bahnte mit seiner Schulter einen Weg durch die Menge.
»Das ist doch Monsieur Chanut!«, rief er. »Monsieur Chanut!«
Auf seinen Ruf hin drehte sich der französische Botschafter um. Elin freute sich, den liebenswürdigen Herrn zu sehen. Kristina lud den Diplomaten oft ins Schloss ein, und sogar Axel Oxenstierna schätzte ihn. Neben ihm stand Pater Villon, der Hauskaplan der französischen Botschaft, ein ruhiger Mann mit Pockennarben im Gesicht. Chanut lächelte und winkte Hampus zu sich heran.
»Ah, der junge Freund von Descartes!« Galant nahm er Elins Hand und deutete eine Verbeugung zu einem Handkuss an. »Und Mademoiselle Elin, welch ein Zufall.«
»Suchen Sie jemanden?«, fragte Hampus.
Chanut blickte über seinen Kopf hinweg zur Reling und sein Gesicht hellte sich auf. »Und da habe ich ihn auch schon gefunden! Monsieur Tervué. Die Königin wird ihn noch heute empfangen.«
Die Passagiere verließen nun über Holzplanken das Schiff. Der Mann, der Chanut zugewunken hatte, war beleibt. Seine Wangen zitterten bei jedem Schritt. Elin war verwirrt. Warum hatte Kristina ihr nichts davon gesagt, dass sie Besuch aus Frankreich erwartete? Noch dazu von einem Katholiken! Ob er zu den Gelehrten gehörte, die Kristina aus aller Welt zu sich lud, um die Wissenschaften im Schloss zu etablieren? Der Kaplan und Chanut begrüßten Tervué und auch Elin und Hampus wurden kurz vorgestellt. So freundlich das Lächeln des Gastes war, so kritisch war der Blick, mit dem er Elin musterte – ihr Haar, ihr Dekolletee und den Abstand zwischen ihr und Hampus, der ihm offenbar als zu gering erschien. Seine Augen waren von einem kalten Grün.
»Ich freue mich darauf, noch heute die gelehrteste Frau Schwedens und vielleicht sogar Europas kennen zu lernen«, sagte er zu Chanut. »Man sagt, sie habe alles gelesen.«
»Und dennoch wird sie Sie überraschen«, erwiderte Chanut launig. »Nichts, was man sich über sie erzählt, wird ihr nur annähernd gerecht.«
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Elin die Kutsche, in die die drei Männer einstiegen.
»Da drüben kommen die Postsäcke und die Unterhändler!«, rief Hampus. Gemeinsam kämpften sie sich den Weg zu den beiden Männern frei, die gerade an Land gingen, kaum beachtet von den Kaufleuten.
»Nachrichten für das Schloss?«, rief Elin dem älteren der beiden Händler zu. »Es muss ein Brief für Elin Asenban dabei sein!« Der Mann warf einen Blick auf die Gardisten, die unweit von Elin Position bezogen hatten, dann öffnete er den Reisebeutel, den er über der Schulter trug. Papier knisterte, dann, nach einer Ewigkeit, zog er endlich einen Packen an Briefen heraus und ging sie durch. Elin konnte sich nicht beherrschen und spähte über seine Schulter. Da waren ein Schreiben von Rene Descartes an die Königin, mehrere Briefe von anderen Stellen – und schließlich ein Schreiben, auf dem als Empfänger Elin Asenban vermerkt war! Beinahe hätte sie den Brief fallen lassen, aber es gelang ihr, ihn höflich entgegenzunehmen und in ihren Ärmel zu schieben. Dann drehte sie sich um und lief zurück zu Enhörning und zu Hampus’ Pferd. Ihr Streitross zerrte ungeduldig am Zügel, den der Gardist hielt. Längst verwunderte es kaum jemanden am Hafen, Elin in ihren Männersattel steigen zu sehen. Hampus erregte viel mehr Aufmerksamkeit, als sein Pferd vor einem Kalb scheute, das sich losgerissen hatte, und beinahe ein Heringsfass umwarf.
Wenig später passierten Elin und Hampus die Kutsche von Monsieur Chanut. Aus den Augenwinkeln sah Elin ein rundes Gesicht am Kutschenfenster und als sie sich noch einmal umdrehte, erkannte sie Monsieur Tervué, der empört und fassungslos betrachtete, wie sie im Männersitz an der Kutsche vorbeiritt.
In schnellem Trab ließen Elin und Hampus die Gassen hinter sich und ritten auf den Brunkeberg hinauf, bis sie fast nur noch grünes Land sahen. Als die ersten Windmühlen und der Feuerturm in Sicht kamen, zügelte Elin Enhörning und sprang ab, bevor das Pferd zum Stehen kam. Der Brief in ihrer Hand fühlte sich heiß an. »Mach ihn auf«, sagte Hampus leise. Gemeinsam setzten sie sich ins Gras und blickten auf das Dokument. Schließlich nahm sich Elin ein Herz und brach das Siegel. Heute schienen die Worte vor ihr zu fliehen. Sie konnte sich kaum einen Reim machen auf die Buchstaben, die irgendwo, weit weg in Deutschland, ein Botschafter auf das Papier geschrieben hatte.
»… konnten keinen Namen und keinerlei Auskunft bekommen«, las Hampus fast flüsternd vor. Elin blinzelte und reckte das Kinn in die Höhe. Mit zusammengepressten Lippen blickte sie aufs Wasser. Sie würde nicht weinen. Nicht heute. An diesem Tag war der Himmel so klar, dass man von hier oben sogar die Schären sehen konnte – Lovisa hatte ihr erzählt, dass es tausende solcher Inseln gab, manche nur wenige Bootslängen voneinander entfernt, felsig und nackt oder mit kleinen Wäldchen, ein zerklüfteter Archipel. Es war aussichtslos, sie zu zählen, aber immer noch einfacher als die Aufgabe, eine fremde Frau mit weißblondem Haar zu finden, die irgendwann, vor sechzehn Jahren, am Rand eines Schlachtfelds das Kind eines schwedischen Soldaten zur Welt gebracht hatte.
»Du wirst sie finden«, sagte Hampus leise. »Wenn der Krieg erst vorbei ist, wirst du reisen und dir selbst ein Bild machen können. So viele Aufzeichnungen sind im Krieg zerstört worden. Unzählige Kirchen haben gebrannt …«
»Ich weiß.« Elins Antwort klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte, aber diesmal war Hampus nicht gekränkt. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zu sich heran.
»Du bist nicht allein, Elin«, murmelte er. »Du hast Kristina, du hast Lovisa und Herrn Freinsheim – und du hast mich.«
»Dich? Du fährst doch demnächst für mehrere Wochen nach Uppsala zur Akademie.« Sie starrte das Gras zu ihren Füßen an. »Hampus … würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Jeden, Elin. Das weißt du doch.«
»Könntest du … noch einmal bei den Gudmunds nachfragen? Sie haben gemeldet, dass sie nichts über meine Eltern wissen – aber ich glaube es erst, wenn sie es auch dir gesagt haben. Und könntest du … Emilia einen Brief und ein paar Riksdaler bringen?«
»Das sind aber zwei Gefallen.«
»Bitte!«
Hampus lächelte ihr besänftigend zu.
»Natürlich werde ich Emilia besuchen. Mach dir nicht so viele Sorgen.«
Die Flüssigkeit, in der sich die schwarzen Würmer wanden, war ganz gewöhnliches Teichwasser. Auf Elins Schreibtisch zwischen Pergament und Büchern wirkte das Glas jedoch einigermaßen seltsam.
»Hirudo medicinalis«, sagte Hampus geheimnisvoll. »Blutegel. Sie saugen das schlechte Blut aus dem Körper und schwächen den Kranken sehr viel weniger als ein Aderlass. Wenn die Theorie stimmt, dass in unserem Körper nur eine bestimmte Menge Blut im Kreis gepumpt wird, ist es eher schädlich, dem Körper viel Blut zu entziehen.« Er beugte sich näher zu Elin und senkte seine Stimme. »Bist du nicht auch erstaunt, wie sehr unsere glitschigen Freunde hier den Höflingen ähneln? Der dahinten heißt Johan Oxenstierna.« Elin kicherte.
»Hier wird nicht getuschelt«, fuhr Lovisas herrische Stimme dazwischen. Zu Elins Überraschung stand Hampus sofort auf und machte einen Schritt zur Seite.
»Entschuldigen Sie«, murmelte er verlegen. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Das warst du aber«, sagte Lovisa. »Denke daran, du bist ein junger Mann und Fräulein Elin noch ein Mädchen. Ein anständiges Mädchen«, setzte sie mit Nachdruck hinzu.
»Ich stimme Ihnen vollkommen zu«, sagte Hampus galant. »Ich muss mich ohnehin verabschieden – ich habe meiner Tante versprochen, sie zum Markt zu begleiten.«
Er verbeugte sich übertrieben tief erst vor der Hofdame, dann mit einem Zwinkern vor Elin, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und schnell den Raum verließ. Kopfschüttelnd sah Lovisa ihm nach.
»Es ist keine gute Idee, diesen Studenten in deinem Privatgemach zu empfangen.«
»Die Tür steht offen. Und außerdem ist er mein Freund!« Lovisa verschränkte die Arme. In den vergangenen Wochen hatte die Kammerfrau sich sehr verändert. Je heller die Sommersonne schien, desto düsterer wurde ihr Gemüt. Einmal hatte Elin sie dabei ertappt, wie sie im Ostflügel am Fenster stand und weinend auf das Wasser blickte, aber Lovisa wollte nicht verraten, was ihr Kummer bereitete.
»Freunde kannst du dir leisten, sobald du einen Ehemann hast«, knurrte sie jetzt. »Bis dahin bringt es dich nur in Verruf. Weißt du nicht, wie über dich getuschelt wird?«
»Lass die Gänse doch schnattern.«
»Du hast leicht reden. Herr Hampus hat schließlich keinen Ruf zu verlieren.«
»Aber ich schon?«
»Nein, du hast noch einen langen Weg vor dir, dir überhaupt erst einen Ruf zu erarbeiten!« Lovisa seufzte und wischte sich über die Stirn. »Aber das ist nicht der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin. Ein Bote ist gekommen – mit einem Päckchen aus Deutschland für dich.«
Elin fuhr hoch. »Wo?«
»Im Kabinett der Königin. Du sollst es holen.«
Kristina blickte nicht von ihren Akten auf, als Elin in ihr Kabinett stürmte, sondern deutete nur mit einer vagen Geste auf einen Tisch bei der Tür. Elin stürzte sogleich dorthin und riss den Lederbeutel an sich. Etwas klirrte darin. Eine Kette? Vielleicht ein Erbstück?
»Vorsicht, Elin!«, hörte sie Ebbas Stimme neben sich. »Vielleicht ist etwas Zerbrechliches darin.« Erst jetzt bemerkte Elin die Freundin der Königin. Sie saß am Fenster und hatte ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien.
Behutsam tastete Elin nach dem Inhalt des Beutels und erschauerte, als ihre Fingerspitzen kaltes Metall und Leder berührten. Überrascht zog sie den Gegenstand heraus. Es war ein Zaumzeug mit einem schmalen Mundstück. Ein Kärtchen mit einer Empfehlung hing daran. Elin brauchte eine halbe Ewigkeit, um zu begreifen, von wem die Sendung stammte und warum sie aus Deutschland kam und nicht aus Frankreich.
»Monsieur Henri wurde von seinem Vater an die Front geschickt«, sagte Kristina. »Der arme Kerl steht auf einem Schlachtfeld in Zusmarshausen bei Augsburg. Ich nehme an, der Zaum ist eine kleine Erinnerung daran, dass du dein Pferd besser zügeln sollst. Eins muss man dem jungen Marquis lassen – seinen Humor nimmt ihm so leicht niemand.« Sie lächelte müde und beugte sich wieder über die Akten. »Wie weit bist du mit der Katalogisierung der philosophischen und sprachwissenschaftlichen Studien für die Bibliothek?«
»Ich arbeite daran«, murmelte Elin. Tränen brannten in ihren Augen. Sie war plötzlich unglaublich wütend auf Henri. Wütend, dass er diese Hoffnung in ihr Herz gesetzt hatte. Und da war noch ein anderer Gedanke, der sie beunruhigte: Henri war auf einem Schlachtfeld. Seltsamerweise erinnerte sich Elin nicht an den hochmütigen Adligen, sondern an den Jungen in der Bibliothek, der mit sehnsüchtigem Blick die Sterne betrachtet hatte.
»Warum zum Teufel heulst du?«, fuhr Kristina sie an.
Ebba warf der Königin einen tadelnden Blick zu.
»Das wissen Sie genau!«, brachte Elin heraus.
»Ach richtig, du wartest ja immer noch auf den Brief, der dir bestätigt, dass deine Mutter eine Prinzessin war, die unstandesgemäß einen Soldaten geheiratet hat – heimlich am Rand eines Schlachtfelds. Ach Elin, gib es endlich auf! Es ist bedeutungslos!«
»Für Sie schon!«
»Mein Gott, wir haben ganz andere Sorgen! Europa brennt! Es gibt Bürgerkriege und Aufstände. Meine Adligen setzen mir zu und du denkst an nichts anderes als die Vergangenheit. Du musst sie endlich ruhen lassen und in die Zukunft blicken. Ich für meinen Teil wäre froh, nicht zu wissen, wer meine Mutter ist.«
»Wie können Sie so etwas nur sagen!«
»Ich weiß, wovon ich rede. Du hast zumindest die Illusion, dass deine Mutter dich liebte. Ich hingegen habe meine Mutter an dem Tag verloren, an dem ich geboren wurde.« Kristina seufzte. »Alle dachten, ich sei ein Junge. Mein Vater soll gesagt haben: ›Sie wird klug werden, da sie uns so gut zu täuschen wusste. ‹ Nun, meine Mutter hat mir diese Täuschung nie verziehen.«
Elin hatte das Gefühl, dass dies nicht die ganze Wahrheit war.
Mit unbarmherziger Stimme fuhr Kristina fort: »Was würdest du tun, wenn du feststellen müsstest, dass deine Mutter dich ertränken wollte?«
»Das hätte sie nie getan«, gab Elin trotzig zurück. Ohne es zu wollen, hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt. Am liebsten hätte sie Kristina geohrfeigt.
»Es reicht, Kristina.« Ebbas Stimme klang so sanft wie immer. »Du urteilst über fremdes Leid«, fuhr sie noch leiser fort. »Und dabei müsstest gerade du wissen, dass du Elin damit unrecht tust.«
Kristina warf Ebba einen langen Blick zu, dem diese mühelos standhielt. Elin bewunderte die junge Hofdame für ihre Sanftmut und ihre Klarheit, die dennoch nicht darüber hinwegtäuschten, dass sich hinter dem hübschen Äußeren ein starker Wille verbarg. Kristina seufzte.
»Du hast Recht, Belle«, sagte sie nach einer Weile. »Entschuldige, Elin. Ich bin hart geworden. Aber selbst ich weiß, wie grausam es ist, jemandem die Hoffnung zu nehmen.«
Sie trat an Elin heran und legte den Arm um ihre Schulter. Irritiert zog sie die Brauen zusammen. »Hat Lovisa dich doch noch überredet, hohe Schuhe zu tragen?« Mit energischen Schritten ging sie um Elin herum, lüpfte respektlos ihre Röcke bis zum Knie und schüttelte beim Anblick der flachen Lederschuhe den Kopf. »Belle, sieh dir das an! Sie wagt es tatsächlich, auf ihre Königin herabzuschauen! Wer zum Henker hat dir erlaubt zu wachsen?« Kristinas Lachen war herzlich und rau zugleich. Wieder einmal war Elin verwirrt von der Sprunghaftigkeit ihres Gemüts. »Vor lauter Regieren und Studieren habe ich gar nicht bemerkt, wie hübsch du geworden bist. Du solltest in meinem Ballett tanzen! Du wärst eine wunderbare Jagdgöttin Diana!«
»Sie wissen, dass ich nicht gerne tanze.«
»Eine Sünde. Du und meine Belle auf der Bühne – was für ein wunderbarer Anblick wäre das! Aber hör zu, Elin – ich möchte dir etwas schenken. Schönheit vergeht, die Kunst ist ewig. Deshalb schenke ich dir ein Porträt. Mein Hofmaler David Beck wird es anfertigen. Ein schönes, großes Gemälde für dich – und ein kleines Porträt für mich. Damit ich mich, wo ich auch bin, immer an dich erinnere.«
Elin schnappte nach Luft. Ihr Zorn wich der Verzweiflung. In diesem Moment bedeutete ihr das Geschenk der Königin nichts. Schwer wie eine nicht eingelöste Schuld lag Henris Zaumzeug in ihrer Hand.
»Danke, Majestät«, murmelte sie und machte sich auf den Weg zu den Stallungen. Noch nie war es ihr so tröstlich erschienen, die heubestäubten Gänge zu betreten und Enhörnings Atem in ihrer Hand zu spüren. Wie so oft stritt sie mit Lars darüber, dass sie alleine ausreiten wollte – und gewann zu ihrer Überraschung das Wortgefecht. Der Reitmeister schüttelte den Kopf und warf resigniert die Arme in die Luft.
»Gut, Fräulein Scheuermagd«, wetterte er. »Wenn du meinst, dass du alles gelernt hast, dann fliege!«
Und Elin flog. Auf Enhörnings Rücken verschwammen die Bäume am Ufer zu einer verwaschenen Abfolge von Licht und Schatten und wirbelnden Sommerfarben. Der Wind kühlte ihr Gesicht. Zum ersten Mal ließ sie den Gedanken zu, dass sie ihre Mutter nie finden würde. Erst als sie Enhörning zum Stehen gebracht hatte, erkannte sie, wohin sie instinktiv geritten war: zu der Stelle, an der Henri sie festgehalten hatte.
David Beck, der Hofmaler, hatte so helle Wimpern und Brauen, dass Elin sie auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Wenn er malte, machte der Künstler einen spitzen Mund wie eine alte Dame, die an einem heißen Getränk nippte. Der Stoff seiner schwarzblauen Ärmel war geschlitzt, sodass bei jeder Bewegung, die er an der Staffelei ausführte, die weißen Wäscheärmel hervorblitzten. Und sie blitzten oft.
Gerade zog er einige Skizzenstriche und ließ seinen Blick immer wieder über Elins Züge wandern. Noch nie hatte jemand ihr Gesicht so lange und so unbarmherzig nach Schatten, Fältchen und Linien abgesucht.
»Sehen Sie etwas weiter nach rechts, Fräulein Elin. Ja, das ist besser, so kommt die Linie der Wange besser zur Geltung. Sie haben schöne Wangenknochen.«
Lovisa blickte von ihrer Stickerei auf und musterte den Maler wie ein Hofhund den Fuchs vor dem Hühnerstall. Elin verkniff sich nur mühsam ein Lächeln.
»Wenn wir mit dem Ölbild anfangen, können Sie sich entscheiden, was für ein Gewand Sie tragen wollen«, fuhr Beck fort. »Ihre Augen haben einen besonderen Farbton. Ein Grau, das grün oder blau schimmern kann – je nachdem, welche Stofffarbe den Augen schmeichelt.«
»Wechselhaft wie ihr Gemüt«, bemerkte Lovisa trocken.
»Grün!«, rief Elin. »Ich möchte, dass meine Augen grün sind.«
»Ein Hündchen wäre passend«, meldete sich Lovisa wieder zu Wort. »Das biblische Symbol der Treue.«
»Ein Jagdhund!«, schlug Elin vor. »Die Königin wird begeistert sein, wenn einer ihrer Jagdhunde auf dem Porträt ist.«
»Ich dachte da eher an das weiße Schoßhündchen von Madame Chanut«, entgegnete die Kammerfrau. »Das passt auch auf die Miniaturen.« Sie nickte Herrn Beck zu und bat ihn fortzufahren. Den Rest der Sitzung fiel es Elin besonders schwer, ruhig zu sitzen. Kaum hatte Herr Beck seine Kohle zur Seite gelegt, sprang sie auf und folgte der Kammerfrau zu den Mädchenräumen.
»Lovisa!«, rief sie ihr hinterher. »Warte! Was für Miniaturen? Die Königin hat nur eine bestellt.«
»Eine für die Königin, eine für mich – und eine als Geschenk für eine besondere Person«, sagte Lovisa geheimnisvoll. »Und nun muss ich sehen, dass ich für dich ein hellgrünes Kleid finde.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Schließlich sollst du Augen haben wie die Waldfeen aus den Märchen.«
Doch da war noch etwas, was Elin seit dem Streit mit Kristina auf der Seele lag.
»Lovisa, kanntest du die Königin, als sie ein junges Mädchen war?«
»Ihre Tante kannte ich gut, die selige Katharina. Warum?«
»Was ist mit Kristinas Mutter?«
»Die Brandenburgerin«, murmelte Lovisa abfällig. »Gustav Adolf nannte sie sein ›Hauskreuz‹ und er hatte Recht damit.« Sie trat näher an Elin heran. »Für Kristina ist es ein Segen, dass ihre Mutter vor sechs Jahren aus Schweden floh. Obgleich sie sich einen besseren Zufluchtsort als ausgerechnet unseren Erzfeind Dänemark hätte aussuchen können. Frage also besser nicht nach der Landesverräterin. Hier spricht man nicht über sie.« Lovisas Stimme wurde noch leiser. »Wahnsinnig ist Maria Eleonora. Sie hat sich in Gustav Adolf verbissen wie ein tollwütiger Hund und ihm das Herz aus der Brust gerissen. Und das meine ich wörtlich.«
Elin schauderte. Die anatomischen Lehrtafeln mit den hautlosen Menschen kamen ihr in den Sinn. Sie wagte nicht weiterzufragen, aber ein mulmiges Gefühl blieb. Und zu dem Gespenst der weißblonden Frau gesellte sich in den folgenden Nächten ein Nachtmahr, der ein bluttriefendes Herz in den Händen hielt.
Das Kleid, das Elin bei der nächsten Sitzung trug, war tief dekolletiert. Weiße Spitze bedeckte züchtig ihre Schultern. Ebbas Silberkreuz hing um ihren Hals. Aus den Augenwinkeln schielte Elin zu der Palette, auf der der Maler mit flinken Bewegungen eine Farbe anmischte.
»Berggrönt – Berggrün, so wie die Farbe Ihres Kleides«, erklärte er, als er ihre Neugier bemerkte. »Es wird aus zerstoßenem Malachit gewonnen. Und für den Himmel im Hintergrund verwende ich Kopparblätt, das ist Azuritblau.«
»Wozu brauchen Sie so viel Schwarz?«, fragte sie gepresst. Es war anstrengend, in dieser starren Pose mit dem unnatürlich gestreckten Hals zu sprechen.
»Elfenbeinschwarz«, sagte Beck geheimnisvoll.
»Müsste es nicht ›Elfenbeinweiß‹ heißen?«
»Das ist das Wundervolle an der Kunst. Hier wird Schwarz manchmal Weiß und Weiß Schwarz. Dieses hier wird aus dem Elfenbein von Pottwalzähnen hergestellt. Dafür zerreibt man es zu Pulver und brennt es in eisernen Töpfen. Das Schwarz, das dabei entsteht, bekommt in Kombination mit Bleiweiß einen wunderbaren Blaustich, ideal für Schatten und die Vorhänge, die ich am Bildrand malen werde.« Konzentriert tupfte David Beck den Pinsel in das zarte Grün und machte sich ans Werk. Maler und Modell waren so vertieft in ihre Arbeit, dass sie das Klopfen an der Tür gar nicht bemerkten. Erst als sie klickende Krallen auf dem Holzboden hörte, wurde Elin aufmerksam.
»Um Himmels willen«, murmelte Lovisa.
In der Tür stand Hampus. Um seine Hand gewickelt war eine lederne Leine, an der einer der Jagdhunde der Königin zerrte.
»Sie gestatten, Frau Lovisa. Es war Elins Wunsch, einen Jagdhund für das Porträt zu bekommen. Dieser hier ist der sanfteste und der geduldigste.«
Lovisa musterte Hampus von oben bis unten, dann gab sie ihren Widerstand erstaunlich schnell auf.
»Also gut.«
Hampus strahlte über das ganze Gesicht und wagte erst jetzt, sich Elin zuzuwenden. Bei ihrem Anblick entglitt ihm das höfliche Lächeln.
»Nicht lachen, Fräulein Elin«, beschwerte sich Herr Beck. »Lieblich und würdevoll! Würdevoll!«
Mühsam zog Elin die Mundwinkel nach unten und zwinkerte Hampus zu. Endlich fing er sich, schloss den Mund wieder und lächelte zurück.
»Na los«, befahl Lovisa. »Bringen Sie das Vieh zum Fräulein. Wenigstens ist der Hund von guter Rasse.«
Der Student schluckte und führte den Hund zu Elin. Sie fühlte seine Hand, die seltsamerweise ein wenig zitterte, und nahm die lederne Leine entgegen. Hampus befahl dem Hund, Platz zu nehmen, dann entfernte er sich rasch wieder in Richtung Tür.
»Bitte, Lovisa«, sagte Elin leise. »Lass Herrn Hampus eine Weile zusehen, wenn er möchte. Er studiert doch die Anatomie und den Sitz der Muskeln am menschlichen Körper. Als Studie ist ein solches Gemälde sicher interessant für ihn. Dabei kann er noch etwas lernen.«
»Das glaube ich gerne«, antwortete Lovisa sarkastisch. Elin unterdrückte ein weiteres Lächeln und konzentrierte sich wieder darauf, eine Statue zu sein.
M,, jedem Schiff, das im Sommer am Hafen anlegte, schwappte eine neue Welle französischer Gäste ins Schloss. In Paris erhob sich das Volk gegen Kardinal Mazarin. Viele Freigeister, die sich an dem Aufstand, der sich bald »Fronde« nannte, beteiligten, hielten es für besser, sich den Auseinandersetzungen zu entziehen und ins Ausland zu reisen. Zu Axel Oxenstiernas Unmut wurde Kristina nicht müde, Scharen von ausländischen Wissenschaftlern an ihren Hof zu laden und ihr neues Hoftheater mit Schauspielern, Tänzern und Musikern zu bestücken, so wie sie die Räume mit neuen Ebenholzsekretären, Kandelabern und Statuen ausstattete. Freinsheim hatte alle Hände voll mit den Gelehrten zu tun, die mit Gerätschaften, astronomischen Instrumenten und Kisten voller Schriften und Bücher anreisten. Tervué brachte zwanzig Ledertruhen mit und bezog als Gelehrter für Mathematik und Religionsphilosophie einen eigenen Raum.
Längst hatte sich das Schloss verändert: Es glänzte nicht mehr in der steifen Pracht des schwedischen Hofzeremoniells, sondern hatte das verspielte Flair europäischer Lebensart angenommen. Die altmodischen Sparrendecken wichen prächtigen Stuckarbeiten. Anstelle der Tapisserien ließ Kristina dunkelrot gefärbte Ledertapeten mit aufgemalten goldenen Ornamenten an die Wände nageln. Säulen und zierliche Figurinen schmückten die Räume.
Währenddessen ging der Krieg weiter. Frankreich kämpfte als Bündnispartner an Schwedens Seite. Nach jedem Gefecht musste wieder neu verhandelt und um Städte und Provinzen gefeilscht werden. Aber immerhin schickte Adler Salvius verschlüsselte Briefe mit guten Nachrichten aus Osnabrück.
Die einzigen Nachrichten, die Elin erhielt, waren dagegen zwei weitere entmutigende Briefe aus Deutschland, die besagten, dass ihre Mutter so unauffindbar war, als hätte es sie nie gegeben. Kristina machte keinen Hehl daraus, dass sie eine weitere Suche für zwecklos hielt. Über dem Kamin in Elins Gemach wurde das Porträt aufgehängt, das David Beck vor kurzem vollendet hatte. Eine stolze, ernste Frau blickte Elin entgegen, mit Augen so grün wie helles Flusswasser und Haaren wie Silber. Ihre Hand ruhte auf dem Kopf des Jagdhundes. Aber wer diese junge Hofdame wirklich war, woher sie stammte und welche Geschichte sich mit ihrer Existenz verband, erfuhr Elin nicht. Dennoch war sie immer noch fest entschlossen, nicht aufzugeben. Wieder und wieder ging sie ihre Aufzeichnungen durch und suchte nach Möglichkeiten, neue Informationen zu erhalten. Ein großer Trost in dieser Zeit waren ihre Studien. Wort für Wort betrat sie neue Räume mit immer neuen Türen, die sie in immer neue Zimmer des Wissens führten. Wenn sie die Medizinbücher aufschlug oder sich mit mathematischen Formeln beschäftigte, hatte sie das Gefühl, die Welt greifen zu können. Hampus war eine große Hilfe, auch wenn über ihre Vertrautheit getuschelt wurde und sogar Helga Bemerkungen darüber machte.
Als Elin eines Tages von einem Ausritt mit Hampus und Lars zurückkam und mit Pferdehaaren am Rock zu ihrem Gemach ging, hörte sie im Kabinett Axel Oxenstiernas Stimme.
»Ich rate Ihnen ab, Majestät«, sagte er. »Sie hat Hochverrat an Schweden begangen.«
Wie immer sprach der Kanzler ruhig und sehr beherrscht, aber am Tonfall von Kristinas Antwort erkannte Elin nur zu gut, dass Kanzler und Königin wieder einmal stritten. Elin eilte weiter zu ihrem Gemach und wurde kurz vor der Tür von einer aufgeregten Ebba eingeholt.
»Hast du es schon gehört?«, sagte sie. »Die Königinmutter kehrt aus ihrem Exil nach Schweden zurück. Kristina wird ihr mit dem Schiff entgegenfahren.«
»Nimmt sie uns mit?«
Fräulein Ebba schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat ausdrücklich befohlen, dass nur Lovisa und ihr Kammerdiener sie begleiten sollen.«
»Lovisa hat erzählt, dass die Königinmutter ihrem Gemahl das Herz …«
Ebba verschränkte die Arme, als würde sie frösteln.
»Oh ja«, sagte sie leise. »Das hat sie. Aber sie ist eine im Geiste kranke Frau und verdient unser Mitleid. Frag nicht weiter, hörst du? Und jetzt geh zu Lovisa und richte ihr aus, dass sie Vorräte einpacken lassen soll.«
Trotz der Sommersonne fror Elin, als sie rasch über den Burghof zu Lovisas Gemächern lief. Sie hatte nicht erwartet, dass Lovisa von der Nachricht begeistert sein würde, aber die Reaktion der Hofdame verblüffte sie doch. Lovisa wurde blass und drückte sich ein Taschentuch an den Mund.
»Diese verfluchte Brandenburgerin«, murmelte sie. »Wie kann die Königin mir das antun?«
»Was redest du da!«, rief Elin. »Es ist eine Ehre, dass die Königin dich mitnimmt. Ich würde so gerne mitfahren.«
»Aber ich nicht!«, schrie Lovisa sie plötzlich an. »Lieber würde ich Scherben essen, als auf ein Schiff zu steigen!« Sie erschrak vor der Heftigkeit ihrer eigenen Worte und nahm sich sofort wieder zusammen. »Es tut mir Leid, Elin«, flüsterte sie. »Du musst verstehen – es gibt Seeungeheuer an der Küste und scharfe Klippen und Granitfelsen, an denen die Schiffe zerschellen können. Wer will schon im kalten Wasser begraben sein?«
»Es sieht nicht nach Sturm aus.«
Lovisa schluckte und schüttelte heftig den Kopf.
»Was weißt du schon?«, sagte sie mit hoher, zittriger Stimme, die Elin an ihr nicht kannte. »Nichts weißt du! Gar nichts!« Betroffen sah Elin, wie eine Träne über Lovisas Wange lief und ihren Weg in die tiefe Falte zwischen Nase und Mundwinkel fand. Unwirsch wischte Lovisa sie weg und wandte Elin den Rücken zu.
»Geh und sag der Königin, dass morgen alles bereit sein wird.«
Elin rührte sich nicht. Lovisas Schultern zuckten. Ein unterdrücktes Schluchzen erklang. Elin zögerte, dann aber trat sie näher und tat etwas, was sie noch nie gewagt hatte: Behutsam umarmte sie die alte Dame. Eine eiskalte Hand krallte sich in Elins Unterarm.
»Ist schon gut, Kind. Ist nicht schlimm. Sieh nur, was für eine alte Närrin ich bin. Es ist schon zwanzig Jahre her und ich kann immer noch nicht anders, als mir jeden Sommer die Augen auszuheulen.«
»Was ist passiert, Lovisa? Sag es mir!«
Lovisa drehte sich nicht um und löste sich auch nicht aus Elins Armen. Durch das Muster des Bleinetzes am Fenster schimmerte das dunkelblaue Wasser. Lange betrachtete Lovisa die Wellen. Um keinen Preis der Welt hätte Elin die alte Frau in diesem Augenblick losgelassen. Der Gedanke, Lovisa würde sich in ihrer Trauer auflösen und in sich zusammenfallen wie ein leeres Kleid, machte ihr Angst.
»Ich hasse nichts so sehr wie Schiffe«, flüsterte Lovisa schließlich. Wieder schwieg sie und Elin wagte nicht nachzufragen. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme so leise, dass Elin anfangs kaum verstand, was sie sagte. »Kennst du die Geschichte von der Wasa?«
»Das Schlachtschiff, das bei seiner Jungfernfahrt im Hafen gesunken ist?«
Lovisa nickte und versteifte sich noch mehr.
»Es geschah an einem Augusttag. Viele Wochen lang hatte man an Gustav Adolfs prächtigstem Schlachtschiff gebaut. Der König befand sich im Krieg und drängte in seinen Briefen immer wieder, die Wasa vorzeitig fertig zu stellen. An einem Tag wie heute schleppten sie das Schiff von der Werft zur Schleuse. Dort nahm die Wasa zum ersten Mal Fahrt auf – nur die Hälfte der Segel war gesetzt. Wir standen an Land und winkten. Ganz Stockholm blickte auf das prächtigste Kriegsschiff, das Schweden je gesehen hatte. Es war in bunten Farben bemalt und mit geschnitzten Holzfiguren verziert. Die Kanonenpforten waren geöffnet und wir blickten auf die Mündungen. Die Galionsfigur hatte die Gestalt eines springenden Löwen – du weißt ja, dass Gustav Adolf der ›Löwe aus der Mitternacht genannt wurde. Am prächtigsten jedoch waren die Holzfiguren an den Seiten – darunter eine Meerjungfrau mit blondem Haar. Ein bisschen erinnerst du mich an sie.« Sie räusperte sich und fuhr mit festerer Stimme fort: »Wir standen am Ufer und jubelten und winkten, als die Wasa zur Jungfernfahrt ablegte. Eine leichte Böe neigte das Schiff, aber es richtete sich wieder auf. Doch dann, vor der Insel Beckholm, wurde es von einer zweiten Böe erfasst, neigte sich gefährlich weit zur Seite – und kippte schließlich um. Wasser drang durch die Kanonenpforten der beiden Batteriedecks und der Jubel verwandelte sich in Jammer. Wir sahen die Wasa sinken! Es ging so schnell, dass ich manchmal noch heute hoffe, es wäre nur ein böser Traum. Alles, was von der Pracht blieb, waren die Masten mit den schwedischen Flaggen, die wie ein höhnisches Mahnmal des Versagens aus dem Wasser ragten. Nach einigen Wochen wurden sie unter Wasser abgesägt, um die Peinlichkeit unsichtbar zu machen. Fünfzig Leute ertranken bei dieser Jungfernfahrt – Seeleute, Soldaten, Musketiere und Offiziere. Unter ihnen auch Vizeadmiral Erik Jönsson Dahlström. Mein Mann.« Die letzten Worte sprach Lovisa so gleichgültig, als würde sie den Brief einer fremden Person vorlesen. Elin ließ sie zögernd los und trat neben sie.
»Es tut mir so Leid. Das … wusste ich nicht. Man sagte mir, du seist Witwe, aber dass es so war …«
Lovisa lachte bitter auf.
»Witwen sind Witwen, gleichgültig, wie ihr Mann zu Tode kam. Ich denke, Eriks Tod hätte ich verwunden, irgendwann.
Aber was ich Gustav Adolf nie verzeihen werde, ist ein anderes Leben, das mir teuer war.«
Mühsam riss sie den Blick von einer Kogge los, die Kurs auf die Schleuse nahm, um in die Ostsee hinauszufahren, und wandte sich Elin zu. Elin erschrak, so verändert sah Lovisa aus. Aus der grell geschminkten herrischen Hofdame war eine zu früh gealterte, unglückliche Greisin geworden.
»Erik und ich hatten uns so viele Jahre Kinder gewünscht«, sagte sie. »Aber Jahr für Jahr saß ich mit einem leeren Schoß da, während alle anderen Frauen Kinder bekamen. Du kannst dir vorstellen, wie glücklich ich war, als Gott sich doch noch erbarmte. Ich war alt damals – siebenunddreißig Jahre. Der König selbst gratulierte mir zu diesem späten Segen. Er war ein fröhlicher Mann, ich mochte ihn sehr gerne. Er konnte uns wohl am besten verstehen, waren er und seine Brandenburgerin doch selbst lange mit Kinderlosigkeit geschlagen. Er schenkte mir einen vergoldeten Wolfszahn – ein Schutzamulett, das Neugeborene bis zur Taufe vor dem Teufel schützen soll. Nun, meinem kleinen Mädchen hat es nichts genützt. Ich gebar es viel zu früh in der Nacht, nachdem die Wasa gesunken war – und ich bin sicher, sie ist an meinem Entsetzen gestorben. Dafür verfluche ich Gustav Adolf – für seine Ungeduld und sein Ungestüm, das auch seine Tochter geerbt hat.«
»Weil er deinen Mann aufs Schiff berufen hat?«
»Oh nein. Mein Erik war ein Kriegsmann, mit seinem Tod musste ich rechnen. Was ich Gustav Adolf nicht verzeihe, sind seine Briefe aus Polen. Er schickte Befehle und immer wieder neue Anweisungen, als das Schiff schon halb fertig war. Noch mehr Segel, noch ein zweites Batteriedeck, noch mehr Kanonen – so lange, bis die Schiffsbauer eine nicht seetüchtige Todesfalle zu Wasser ließen. Ach, hätten doch nicht alle so blind gehorcht und stattdessen ein besseres Schiff gebaut!« Mit einem traurigen Lächeln streckte sie die Hand aus und strich Elin über das Haar. »Mein kleines Mädchen wäre heute zwei Jahre jünger als die Königin – und nur wenig älter als du.« Elin nahm Lovisas Hand und drückte sie an ihre Wange. Sie sah Lovisas Angst und ihren Kummer, der unter der Schminke und dem herrischen Gebaren verborgen lag, und schämte sich für jeden abfälligen Satz, den sie zu ihr gesagt hatte. Ob ihre Mutter auch so sehr um sie getrauert hätte?
»Du wirst nicht mitfahren«, sagte sie zu Lovisa. »Ich verspreche es dir. Niemand wird dich zwingen, auf ein Schiff zu steigen – auch die Königin nicht.«
Niedergeschlagen stand Elin am Skeppsbron und sah zu, wie Diener die Vorräte an Bord brachten. Zwei Träger hatten einen langen Stock geschultert, an dem mit Seilen ein Fass aufgehängt war. Im Takt ihrer Schritte gluckerte darin der Wein. Es war so früh am Morgen, dass noch Nebel über dem Wasser lag. Mit gemischten Gefühlen betrachtete Elin das Schiff. Es war ein kleiner Zweimaster, schnittig und schnell. Was mochte es für ein Gefühl sein, an Deck zu stehen und zu spüren, wie das Schiff untergeht?
Trotz der frühen Stunde hatten sich bereits Schaulustige am Hafen eingefunden. Einige Eisenträger gingen im Hintergrund vorbei zu den Verladestellen an der Schleuse – auf den Schultern lange Stangen von schwerem Roheisen, die sie geschickt durch die schmalen Gassen zum Hafen balancierten.
Kristina erschien spät und in Begleitung von Axel Oxenstierna, der ein letztes Mal versuchte sie umzustimmen.
»Ich bitte Sie, Majestät: Empfangen Sie sie hier, wie es sich gehört. Wenn Sie schon Ihrem Stolz nicht folgen wollen, dann denken Sie wenigstens an das Wetter. Es könnte stürmen.«
»Ich liebe die Stürme«, erwiderte Kristina. »Und ich sehe nichts Ehrenrühriges daran, eine kranke Frau so zu begrüßen, wie es sich für eine Tochter geziemt.«
Wie immer, wenn der Kanzler in ihrer Nähe war, machte Elin, dass sie davonkam. Heute führte der einzige Weg, der ihr offen stand, direkt auf das Schiff. So schnell sie konnte, lief sie die Holzstiege hinauf und ließ sich von einem Matrosen an Deck helfen.
Nur wenig später erschien Kristina, die Zornesröte noch im Gesicht.
»Endlich!«, rief sie ihrem Kammerdiener Johan Holm zu. »Ich dachte schon, der Kanzler würde mich am Hafen anketten, um mich zurückzuhalten.« Sie entdeckte Elin und riss die Augen auf. »Was machst du denn hier? Wo ist Lovisa?« Elin griff zum Geländer und machte sich auf einen Wutanfall gefasst.
»Sie kommt nicht mit.«
»Wie bitte? Ich habe ihr befohlen mitzufahren!«, brüllte Kristina. Elin nickte und versuchte ruhig und überlegt zu antworten.
»Es ist meine Schuld«, sagte sie. »Ich habe ihr gesagt, dass Sie mich an ihrer Stelle mitnehmen werden. Niemand sollte dazu gezwungen werden, über das Grab eines geliebten Menschen zu fahren.«
Kristina fluchte. »Diese schwedischen Witwen! Sie bereiten mir Kopfschmerzen wie schwarze Krähen, die noch Jahre über der Grabstätte kreisen.«
Es war nicht klug, Kristina eine Antwort zu geben, wenn sie so schlecht gelaunt war wie an diesem Tag. Trotzdem hatte Elin das Gefühl, Lovisa verteidigen zu müssen.
»Sie wissen, warum sie trauert«, erwiderte sie. »Es erscheint mir grausam, ihren Schmerz nicht zu respektieren.«
Kristina zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
»Ach ja? Na, an diese weisen Sätze werde ich dich erinnern, wenn du die Königin aller Witwen kennen lernst.«
Elin atmete auf. Sie durfte also mitfahren – und Lovisa würde nicht, wie Elin befürchtet hatte, doch noch zum Schiff gerufen werden. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass Kristinas Wut bereits wieder abkühlte.
»Freuen Sie sich denn nicht darauf, Ihre Mutter wieder zu sehen?«, fragte Elin leise.
Kristina ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sie sah nachdenklich zu den Inseln hinüber und seufzte.
»Das ist ja das Seltsame«, sagte sie und lächelte plötzlich wieder. »Dass ich mich trotz allem ein wenig freue. Ich muss verrückt sein. Sehnt sich ein Gefangener nach seinem Kerkermeister?«
Das Schiff legte ab und nahm langsam Fahrt auf. Staunend betrachtete Elin Stockholm zum ersten Mal mit den Augen einer Reisenden. Wie majestätisch es wirkte, wenn man nur die Front der prächtigen Häuser sah, die den Hafen säumten!
Händler, die die lichtlosen und zum Teil schäbigen Gassen dahinter nicht zu Gesicht bekamen, mussten den Eindruck gewinnen, eine sehr reiche Stadt vor Augen zu haben. Es war seltsam, im Stehen an dieser Pracht vorbeizugleiten. Vage erinnerte sich Elin an den Geruch von Salz und Pfeifenrauch, seltsam fern und doch wie der Duft einer längst vergessenen Heimat. Als Kind war sie auf einem Schiff nach Schweden gebracht worden – war es möglich, dass sie sich nun daran erinnerte?
Bald hatte das Schiff die Stadt hinter sich gelassen und nahm Kurs auf die Ostsee. An der großen Stadtinsel Söder mit ihren steilen Granitklippen vorbei ging es weiter in den Archipel unzähliger unbewohnter Inseln und Inselchen. Auf manchen sah man bizarre Felsformationen, geschliffen von den Stürmen vieler Jahre. Manche der Schären waren ganz kahl, auf anderen fanden nur einige vom Sturm zerzauste Birken Platz. Möwenschreie durchschnitten die Stille. Elin erschienen sie wie die Klagelaute verdammter Seelen.
Sie betrachtete die Wellen und hatte das Gefühl, bis auf den Grund des Mälarsees sehen zu können. In ihrer Vorstellung war es ein Friedhof mit Masten statt Grabsteinen. Ungeheuer lagen am Grund und äugten zum schwarzen Umriss des Schiffes empor. Sie schauderte und rieb sich die Arme.
Kristina stand an Deck und sprach während der Fahrt kaum ein Wort. Aber Elin sah, wie sie nervös ihre Finger knetete. Die Festung Vaxholm kam in Sicht, doch das Schiff der Königinmutter war weit und breit nicht zu sehen. Der Himmel hatte sich verdüstert, ein kühler Sommerwind ließ Elin frösteln. Als die ersten Regentropfen fielen, zogen sie sich in die Kajüte unter Deck zurück. Beim ersten Donnerschlag zuckte der Kammerdiener zusammen und sprach ein Gebet.
»Weiterfahren«, befahl Kristina dem Kapitän.
»Dann halten Sie sich gut fest«, erwiderte der Seemann ungerührt.
Der Wind wurde zum Sturm und ließ das Schiff auf den Wellen tanzen. Verglichen mit dieser Fahrt waren Elins Ritte auf dem bockigen Enhörning ein Kinderspiel. Nie hätte sie dem Kammerdiener Johan, der längst vom Beten zum Fluchen übergegangen war, solche Worte zugetraut. Sein Gesicht nahm den Farbton von blassgrünem Schimmel an. Wellen klatschten gegen den Bug und der Wind heulte. Als eine Welle das Schiff hochriss, bis Elin glaubte, einen Atemzug lang zu schweben, traf die Übelkeit sie mit voller Wucht. Sie presste sich die Hand auf den Mund und würgte. Als Kristina, völlig unbeeindruckt von dem Wellentanz, endlich den Befehl gab, auf einer Insel an Land zu gehen, fluchte Elin längst mit Johan um die Wette.
Der Sturm tobte mehrere Stunden. Ungerührt las Kristina in einem Buch, obwohl der Wind an den Seiten riss. Elin betrachtete frierend das Ballett der Blitze am Horizont. Vom Schiff der Königinmutter gab es keine Spur.
»Wir warten«, bestimmte Kristina und lächelte dem entsetzt dreinblickenden Johan aufmunternd zu. »Es kann nicht länger als ein paar Tage dauern.«
Das Lager unter freiem Himmel war schnell errichtet. Auf der kleinen Insel, vor der sie geankert hatten, hoben sich schiefe Bäume gegen den Himmel ab. Irgendwann kam auch wieder die Sonne hervor und Elin vergaß die beschwerliche Fahrt. Das düstere Schloss lag in weiter Ferne. Statt Perlen und Juwelen glitzerten hier die Regentropfen auf den Blättern der Birken. Die Nacht würde kühl werden und so rückten Kristina und Elin auf dem Lager nahe zusammen. Über der Ostsee glühte ein heller, nordischer Sommerabend. Das Wasser erinnerte an eine polierte Platte aus blassem Gold.
»Rück näher zu mir«, flüsterte Kristina. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah Elin an. In ihren Augen spiegelte sich das Glitzern des nächtlichen Meeres. »Ich will dir etwas ganz Besonderes erzählen. Auf der Insel Björkö gibt es noch Wikingergräber. Wenn du willst, zeige ich sie dir. Bald werden die Gelehrten alles über unser Volk nachlesen können. Ich will nämlich eine Geschichte Schwedens schreiben lassen.« Sie gähnte, ließ sich auf das Lager zurückfallen und streckte sich wie eine Katze. »Mein Name wird berühmt sein«, sagte sie. »Nicht wahr?«
»Über alle Grenzen hinweg«, antwortete Elin und meinte es ernst. Sie wandte den Blick zum Himmel und erinnerte sich an die Sternenkarte, die Henri in der Bibliothek betrachtet hatte. Kristina erzählte bis spät in die Nacht von ihren Plänen und fragte Elin nach ihrem Leben auf dem Gudmundshof aus. Erst lange nach Mitternacht fielen ihnen die Augen zu und sie glitten in den Schlaf hinüber. Wenig später wachte Elin von ihrem eigenen entsetzten Keuchen wieder auf. Der Albtraum von einem verregneten Schlachtfeld und verzerrten Gesichtern hing noch einen Moment wie ein Trugbild vor ihren Augen. Noch nie hatte sie sich so sehr nach einer tröstlichen Umarmung gesehnt. Neben sich hörte sie Kristinas tiefe Atemzüge. Verstohlen tastete sie über die Decke und berührte die Hand der Königin. Behutsam nahm Elin sie in die ihre und sie spürte, wie Kristina im Schlaf ihren Händedruck erwiderte.
Es dauerte zwei Tage, bis Maria Eleonoras Schiff endlich am Horizont auftauchte. Kristina sprang als Erste an Bord und rief Elin und Johan Holm zu, sie sollten sich gefälligst beeilen. Elin suchte die zerstreuten Bücher zusammen und ließ sie vor Aufregung beinahe wieder fallen. Während sie dem Schiff der Königinmutter entgegenfuhren, versuchte sie ihr Haar in Ordnung zu bringen. Ihre Wangen waren von der Sonne gerötet, als hätte sie zu viel Rouge aufgetragen.
Es war nicht einfach, mit den schweren Röcken auf das große Schiff umzusteigen – auf der anderen Seite reichte ein Seemann Elin die Hand und hielt sie fest, bis sie an Deck angekommen war. Dort sah sie sich um und staunte nicht schlecht. Auf einem waagrechten Balken war ein Affe angekettet, der beim Anblick der Fremden zu kreischen anfing, als würde man ihn schlachten. Leuchtend bunte Papageienvögel fielen in das Geschrei mit ein. Kristina schien den Aufstand der Bestien nicht zu bemerken. Gebannt starrte sie auf die Kajütentür, die sich nun öffnete. Die Dame, die an Deck trat, war so groß, dass sie sich unter dem Türrahmen ducken musste. Niemandem hätte Kristina weniger ähnlich sehen können.
Maria Eleonora musste in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein. Noch jetzt lag ein Abglanz davon auf ihren Zügen. Die Augenbrauen waren perfekt geschminkt, das Haar kunstvoll frisiert und ihr Mund sinnlich geschwungen. Unzählige Edelsteine funkelten an ihren Handgelenken und am Hals. Und sie trug prachtvolle Kleidung vom allermodernsten französischen Schnitt. Mit deutlicher Missbilligung musterte sie Kristinas wenig feierliches Kleid und das unordentlich hochgesteckte Haar.
Elin blinzelte vor Verwirrung. Das, was sie hier sah, war ein völlig falsches Bild. Mutter und Tochter hätten aufeinander zurennen, sich in die Arme fallen und sich über das Wiedersehen freuen müssen. Doch alles, was Kristina zustande brachte, war ein nervöses Lächeln. Maria Eleonora hatte für ihre Tochter nicht einmal das übrig. »Wie ich sehe, hast du deine Hofdame mitgebracht«, sagte sie auf Französisch. »Das ist also das Fräulein Sparre, von dem du mir in deinen Briefen berichtet hast?«
»Nein«, erwiderte Kristina. »Das ist Fräulein Elin. Sie ist mir ebenso teuer wie Ebba. Ihr verdanke ich sogar mein Leben. Ich dachte, sie würde sich freuen, unser Wiedersehen zu begleiten, da sie sich nach mütterlicher Wärme sehnt.«
Elin senkte den Kopf und knickste tief. Verstohlen linste sie dabei zu Maria Eleonoras Händen, an denen blutrote Rubine funkelten. Beim Anblick der spitzen Finger musste sie an Gustav Adolfs Herz denken. Dennoch – eine Wahnsinnige hatte sie sich anders vorgestellt.
»Ein Kind, das seine Mutter liebt!«, rief Maria Eleonora aus. »Wie rührend! Das ist die Hingabe, die ich vermisse. Meine Tochter lässt mich verhungern!«
»Mit einer solchen Pension, wie Sie sie von mir bekommen, dürfte es ein Kunststück sein zu verhungern«, erwiderte Kristina. Elin konnte sehen, wie viel Beherrschung es die Königin kostete, ruhig zu bleiben. Maria Eleonoras Lächeln war so hart wie das der Steinlöwen auf Tre Kronor. Mit einer anmutigen Geste bat die Königinmutter in die Kajüte zu Tisch. Es gab frische Meeresforellen, Pasteten und kunstvoll angerichtetes Zuckerwerk. Während die verschwenderisch teuer gekleideten Lakaien Wein kredenzten, begann Maria Eleonora zu klagen, wie ärmlich sie leben müsse. Elin warf einen Seitenblick zu Kristina. Ihre Königin brachte vor Wut und Enttäuschung kaum ein Wort heraus.
»Während Sie hier Konfekt speisen und Wein trinken, sind die Menschen in den deutschen Städten gezwungen, Gras zu essen«, sagte sie schließlich. »Man sagt, in Zweibrücken habe eine Mutter sogar ihren Säugling gekocht und gegessen. Und wenn Sie mich fragen, Madame, glaube ich das sofort.« Elin verschluckte sich bei diesen Worten und musste husten. Mit einem Mal schmeckte das duftende Forellenfleisch nach bitterem Gift.
»Solche geschmacklosen Äußerungen kenne ich von dir zur Genüge«, seufzte Maria Eleonora pikiert. »Nun, so zerschlägt sich die Hoffnung, dass sich zumindest diese Unart gebessert hätte.«
»Das sind Geschichten, die der Krieg erfindet, nicht ich«, gab Kristina kühl zurück.
»Mein liebes Kind, gibt es etwas Langweiligeres als das Gerede über Krieg?«
»Nun, es ist meine Aufgabe, darüber zu reden. Ich arbeite hart daran, endlich den Frieden zu verhandeln, nachdem sich Schweden seit bald zwanzig Jahren an diesem unseligen Krieg beteiligt.«
»Dieser Krieg ist schon deshalb eine Schande, da er meiner Tochter die Zeit stiehlt, sich die Haare anständig zu frisieren.« Fassungslos starrte Elin die Königinmutter an. Maria Eleonora bemerkte ihren Blick und lächelte. »Wenn du klug wärst, würdest du dich mit weniger hübschen Mädchen umgeben, meine Tochter. Vielleicht würdest du dann ein wenig aparter erscheinen.« Sie tupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel ab. Elin musste sich beherrschen, um nicht an Kristinas Stelle zu antworten. »Sieh dich nur an, mein Kind«, fuhr Maria Eleonora fort. »Dein Gesicht ist von der Sonne verbrannt – du siehst aus wie ein Bauernmädchen!«
»Da Sie als meine Mutter behaupten, so arm wie ein Bauer leben zu müssen, ist das doch nur passend«, sagte Kristina trotzig.
Maria Eleonora warf die Serviette hin. Ihr wollüstiger Mund verzog sich vor Empörung. »Meine eigene Tochter verfolgt mich mit Spott! Gerade du solltest verstehen, dass mir an meinem Wohl nicht gelegen ist. Aber deinem Vater und meinem verstorbenen Gatten bin ich es schuldig, ein Leben zu führen, das meinem Stand entspricht!«
»Also mit Affen und Zwergen und Gauklern«, spottete Kristina.
»Von deinen dreißigtausend Talern kann ich kaum meine Zofen bezahlen!«, jammerte Maria Eleonora. »Von meinen Coiffeuren ganz zu schweigen!« Ihre Stimme kippte ins Hysterische. »Schweden ist es mir schuldig! Und du bist mir Hochachtung und alle Liebe der Welt schuldig!« Elin duckte sich, als die Königinmutter sie um Zustimmung heischend am Arm packte. »Ist es nicht so, Kind?«, rief sie melodramatisch.
»Du begegnest deiner Mutter sicher mit mehr Dankbarkeit. Aus welchem Hause stammst du?«
Elin hatte genug. Die Enttäuschung über diese Mutter, die keine war, wich einer unbändigen Wut.
»Aus keinem«, erwiderte sie. »Zwar bin ich nicht so braun gebrannt wie die Bauernkinder, trotzdem kann ich besser Kühe melken als die meisten von ihnen. Ich bin das Kind eines Soldaten.«
Doch so einfach war Maria Eleonora nicht zu schockieren. Zwar ließ sie Elins Arm los, als hätte sie ein Stück Dung berührt, dann aber huschte ein hochmütiges Lächeln über das geschminkte Gesicht.
»So, und da sage noch einer, wir seien uns nicht ähnlich«, meinte sie zu Kristina. »Ich halte mir zum Vergnügen Affen, du dir dagegen Bauernmädchen. Dennoch bezweifle ich, dass der Unterhaltungswert bei ihr höher ist.« Mit einer gezierten Geste wandte sie sich an ihre Lakaien. »Als Nächstes wird meine Tochter wohl einen einbeinigen Soldaten anschleppen, der zotige Lieder singt.« Die Diener sahen sich irritiert an, unsicher, ob sie über den geschmacklosen Witz ihrer Herrin lachen sollten oder nicht.
»Kaum anzunehmen«, erwiderte Kristina tonlos. »Ein einbeiniger Soldat nützt auf der Ballettbühne wenig, Madame.« Elin wunderte sich in diesem Moment am meisten über sich selbst. Sie war völlig ruhig. Maria Eleonoras Beleidigungen trafen sie nicht, im Gegenteil: Sie musste ein spöttisches Lächeln unterdrücken. Überrascht fühlte sie jedoch, wie Kristina unter dem Tisch nach ihrer Hand griff und sie tröstend drückte.
»Entschuldigen Sie uns nun«, sagte Kristina höflich. Elin erhob sich gleichzeitig mit der Königin. »Wir sollten uns auf den Weg machen. Ich habe Anweisung gegeben, Sie auf Tre Kronor mit einem Festbankett zu begrüßen.«
Erst an Bord ihres eigenen Schiffes brach die Königin ihr Schweigen. Sie stand an der Reling und klammerte sich so fest an das Holz, dass ihre Finger ganz weiß wurden. Ihre Sonnenbräune war einer kränklichen Blässe gewichen und ihre Augen glänzten. Elin trat zu ihr.
»Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen, Kristina«, sagte sie sanft. »Sie hat nicht Sie oder mich beleidigt – nur sich selbst. Das sagen Sie mir doch immer.«
»Verdammt, ich hätte auf Oxenstierna hören sollen, statt mir Hoffnungen zu machen«, zischte Kristina. »Eine sentimentale Idiotin bin ich!«
Die Begrüßung Maria Eleonoras im Schloss fiel sehr verhalten aus. Man starrte ihren Hofstaat an – die Narren und Zwerge, die bunt gekleideten Tierführer, die die langhaarigen Rassehunde ins Schloss führten. Lakaien trugen die Papageien durch die zugigen Gänge. Der Affe entfloh und biss mehrere Bedienstete, bis er endlich wieder eingefangen wurde. Axel Oxenstierna blieb dem Bankett demonstrativ fern. Zum ersten Mal verspürte Elin dem Kanzler gegenüber so etwas wie Sympathie oder doch zumindest großen Respekt vor seiner Charakterstärke. Elin selbst flüchtete sich in ihr Gemach, wo schon ein Brief von Hampus sie erwartete. Mit fahrigen Fingern nahm sie das versiegelte Schriftstück an sich und warf sich auf ihr Bett. Die Vorhänge zog sie zu und saß somit abgeschlossen von der Welt auf einer einsamen Insel aus Stoff. Sie atmete tief durch, öffnete behutsam den Brief und las.
Meine liebe Elin,
sicher wartest Du schon auf gute Nachricht – und wie gerne würde ich sie Dir schicken. Emilia habe ich nicht angetroffen – aber das Geld und den Brief Erik gegeben. Er wird dafür sorgen, dass sie alles bekommt. Leider haben wir nichts herausgefunden. Die Gudmunds wissen tatsächlich nichts über Dich. Mein Freund Erik hat seine Verbindungen genutzt und in alle amtlichen Papiere Einsicht genommen, die die Familie Asenban betreffen, aber selbst dort fand sich nichts. Einige Unterlagen sind zudem bei einem Brand im Pfarrhaus vor dreizehn Jahren vernichtet worden. Somit ist dieser Teil Deiner Familiengeschichte leider ausgelöscht. Ich bedauere unendlich, dass ich Dir keine besseren Neuigkeiten bringen kann, und hoffe, Du kannst es mir verzeihen. Ich werde alles tun, um Dich in Deinem Kummer zu trösten. Am Samstag kehre ich zurück. Bis dahin verbleibe ich als Dein treuer, Dir von ganzem Herzen ergebener Freund Hampus
Elin ließ den Brief sinken, zog die Beine an den Körper und legte den Kopf auf die Knie. Sobald sie die Augen schloss, glaubte sie zu fühlen, wie die Sicherheit ihrer mathematischen Studien und das Wissen über die Maschine Mensch ihr entglitten. An die Stelle der Gewissheiten traten Chaos und Enttäuschung, gespiegelt in den Gesichtern dreier Frauen: einer traurigen Mutter, die seit zwanzig Jahren um ihr totes Kind weinte, einer selbstsüchtigen Mutter, die zu ihrer Tochter so kalt war wie eine Tote. Und einer toten Mutter, die ihre wahren Züge hinter einem Vorhang aus bleichem Haar verbarg.
Direkt nach dem Festmahl, bei dem Maria Eleonora ihre Tochter pausenlos um eine höhere Apanage anbettelte, brach Kristina überraschend mit hohem Fieber zusammen. Als Elin völlig verstört bei ihrem Gemach ankam, hatte Doktor van Wullen Kristina bereits zur Ader gelassen. »Gut dass Sie hier sind«, murmelte er. »Sie hat schon nach Ihnen verlangt. Wischen Sie ihr die Stirn ab, wenn sie unruhig wird.« Elin nickte und ließ sich mit zitternden Knien neben dem Bett nieder. Fräulein Ebba war nicht da – Elin nahm an, dass Kristina sie weggeschickt hatte, um Maria Eleonora zu beschäftigen. Im Zimmer brannten Kerzen, die Vorhänge waren zugezogen. Kristinas Haut glänzte vor Fieberschweiß. Elin kam sich vor, als wäre sie mit der Königin begraben worden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Ihre Mutter hatte sie verloren, das begriff sie. Aber was, wenn sie nun auch noch Kristina verlieren würde?
Gegen Mitternacht schreckte Kristina hoch. Beim Anblick der geschlossenen Vorhänge riss sie entsetzt die Augen auf. Ihre Fingernägel wurden zu Krallen, die sichelförmige Male auf Elins Arm hinterließen.
»Das Herz!«, flüsterte die Königin atemlos. »Das schlagende Herz!« Elin versuchte sie zu beruhigen, aber die Königin richtete sich auf und weinte. »Barmherziger Gott, sie hat sein Herz genommen … in der goldenen Kapsel hängt es!«
»Da ist kein Herz!«, flüsterte Elin, selbst zu Tode erschrocken. Nur langsam kam Kristina zu sich. Ihre irrenden Augen fanden ein wenig Ruhe.
»Mach die Vorhänge auf, um Gottes willen!«, bat sie. »Ich will die Nacht sehen! Und lösche die Kerzen. Ich war lange genug in einer Gruft eingesperrt.«
Elin sprang auf und riss die Vorhänge zur Seite.
»Sehen Sie? Kein Herz!«, rief sie.
Die Königin wandte ihr die fiebrigen Augen zu.
»Es ist immer da«, flüsterte sie. »Das Herz meines toten Vaters. Ihn verfolgte sie mit einer krankhaften Zuneigung. Mich hat sie gehasst.«
Elin dachte an Maria Eleonoras maskenhaftes Gesicht und schauderte.
»Siehst du meine schiefe Schulter?«, flüsterte Kristina. »Ich bin ein Krüppel – nicht besser als die Unglücksmenschen, mit denen sie sich umgibt. Sie hat mir nie verziehen, dass ich nicht als Sohn auf die Welt kam und dass mein Vater mich liebte. Man sagte, ein Balken fiel auf meine Wiege und brach mir die Schulter. Aber ich weiß, dass meine Mutter heimlich hoffte, ich würde sterben. Vielleicht misshandelte sie mich oder ließ mich absichtlich fallen.«
»Das … ist ein Fiebertraum, Kristina«, sagte Elin sanft.
Die Königin schüttelte heftig den Kopf. Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn.
»Dieser Albtraum ist mein Leben«, sagte sie. »Und zwar seit dem Moment, als meine Mutter mit dem Sarg meines Vaters aus Deutschland zurückkehrte. Sie ließ seinen Leichnam einbalsamieren und weigerte sich jahrelang, ihn bestatten zu lassen.« Das Reden strengte die Königin so sehr an, dass sie nach Luft rang, und Elin beeilte sich, ihr den Schweiß abzutupfen. »Bei ihrer Rückkehr war ich ein Kind«, flüsterte Kristina. »Mit einem Mal liebte sie mich, weil ich ihrem toten Gemahl ähnlich sah, sie erstickte mich in ihren Umarmungen. Sie zog mit mir nach Nyköping, ließ alle Gemächer mit schwarzem Stoff ausschlagen und die Fenster verhängen. Narren und Krüppel lungerten in dieser Gruft herum und erschreckten mich zu Tode. Kerzen brannten Tag und Nacht. Ständig trug diese Wahnsinnige das Herz meines Vaters in einer goldenen Kapsel mit sich herum. Sein Sarg stand am Fuß der Treppe – manchmal ging ich daran vorbei und bildete mir ein, seine Finger zu hören, die verzweifelt an der Innenseite des Sargdeckels kratzten. Krank, wie sie ist, weinte und klagte sie unaufhörlich. Ihre Tränen nässten das Bett, das ich mit ihr teilen musste. Ein Jahr dauerte diese Folter, bevor Axel Oxenstierna endlich ein Machtwort sprach und mich erlöste.« Ihre Stimme wurde bitter. »Das, Elin, ist Mutterliebe. Nichts als geisteskrankes Witwentheater.« Keuchend rang sie nach Luft. Elin strich ihr das Haar aus der Stirn.
»Versprich mir eins«, flüsterte die Königin mit geschlossenen Augen. »Begrabe endlich deine Mutter. Du siehst, was geschieht, wenn man sich zu sehr an die Toten klammert. Sie kehren nicht zurück. Man selbst ist es, den sie mit sich ins Grab ziehen.«
Elin schluckte und ließ es zu, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen. Seltsamerweise tat es gut, zu weinen. Sie kam sich vor, als würde sie in einem Trümmerfeld sitzen, und hatte unendlich Mitleid mit der Königin – und ein wenig auch mit sich selbst.
Mit einer großzügigen Apanage zog Maria Eleonora weiter auf ihren Witwensitz nach Nyköping. Im Schloss atmete man erleichtert auf. Nach einigen Wochen erschien Kristina völlig abgemagert im Arbeitskabinett. Alles ging weiter wie bisher, nur Elin war nicht mehr dieselbe. Sie vergrub sich noch tiefer in ihre Bücher und betäubte ihren Schmerz mit Wissen. Das Studium linderte die Einsamkeit, die sie vor allem nachts spürte. Hampus, der sie oft mit einem verwunderten Lächeln betrachtete, bemerkte, sie wüsste bald mehr als er und die Mathematikstudenten zusammen.
»Du brauchst schon wieder ein neues Kleid«, sagte Lovisa eines Morgens, während sie die Kleidertruhe in Elins Zimmer inspizierte. »Wie wäre es mit einem blauen? Tiefes Dekolletée – inzwischen kannst du es tragen.«
»Am liebsten habe ich mein Reitkleid. Es war mir ohnehin zu groß, als ich es bekam. Und man kann die Schnürbrust weiter machen.«
»Ich kenne jemanden, der eine etwas damenhaftere Erscheinung zu schätzen weiß.« Lovisa lächelte Elin verschwörerisch zu. »Zumindest hat er sich schon in dein Porträt verliebt.«
Elin blickte irritiert von ihrem Brief auf, den sie gerade an Emilia schrieb.
»Mein Porträt?«
»Was dachtest du denn, wofür ich die Miniaturen brauche?« Elin warf die Feder so heftig auf den Tisch, dass die Tinte quer über das Blatt spritzte.
»Du willst mich verschachern?«
»Ich verschaffe dir eine großartige Chance! Dein Verehrer ist ein Kaufmann namens Gustav Nilsson, ein anständiger Mann, der vor fünfzehn Jahren Witwer geworden ist …«
»Vor fünfzehn Jahren?«
»Er ist wohlhabend und hat es nicht nötig, Geld zu erheiraten. Und mit seinem Namen würdest du …«
»Lovisa!«
»Lerne ihn doch erst einmal kennen.«
»Das brauche ich nicht.«, schrie Elin sie an. Jetzt wurde auch Lovisa wütend.
»Aber es wäre das Beste für dich, zu heiraten«, sagte sie streng. »Sei froh, dass überhaupt jemand ein Hurenkind wie dich will.«
»Aber das Hurenkind will nicht!«
Lovisa warf das Kleid, das sie gerade begutachtet hatte, in die Truhe zurück und knallte den Deckel zu.
»Du hörst mir jetzt zu, Elin!«, keifte sie. »Ich musste dankbar sein, dass Gustav Adolf mich nach dem Tod meines Mannes ins Schloss aufgenommen hat. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Und jetzt friste ich hier mein Dasein als Gänsemagd für die adligen Töchter. Willst du so enden?«
»Besser so, als wenn ich mich als Ehefrau kaufen lasse.«
Lovisas Züge verhärteten sich noch mehr.
»Du weißt nicht, wovon du sprichst. Ein Arzt kannst du als Frau nicht werden, bilde dir das nur nicht ein. Noch bist du Kristinas Spielzeug und sie lässt dich gewähren. Aber auch eine Königin kann sterben – und dann hast du an diesem Hof nur Feinde und keinen Schutz mehr. Oxenstiernas Sohn wird dich nur zu gern wieder in den Stall zurückjagen, aus dem du gekommen bist.«
»Es reicht, Lovisa«, sagte Elin eisig. »Ich brauche kein neues Kleid und schon gar keinen Ehemann.« Wütend raffte sie ihre Unterlagen zusammen und stürmte aus ihrem Gemach.
Wie erwartet fand sie Hampus in der Bibliothek. Er schreckte hoch, als sie ihre Bücher mit Schwung auf den Tisch warf.
»Habe ich etwas verpasst?«, fragte er ruhig. »Ist der Krieg vorbei?«
»Mein Krieg hat eben erst begonnen!«, rief Elin empört aus. »Lovisa hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu verheiraten!«
»Es dürfte wohl leichter sein, Enhörning über rohe Eier tanzen zu lassen. Wer ist der Glückliche?«
Gegen ihren Willen musste Elin lachen.
»Ein gewisser Gustav Nilsson.«
Hampus pfiff durch die Zähne.
»Sehr reich.« Er beugte sich wieder über sein Buch. »Und – wirst du darüber nachdenken?«
»Was gibt es da nachzudenken?« Missmutig ließ sich Elin neben Hampus auf einen Stuhl fallen. »Weißt du, was sie noch gesagt hat? Eine Frau kann kein Arzt werden.«
»Nun, das dürfte allerdings stimmen. Aber du könntest natürlich einen Arzt heiraten.«
Elin lachte auf.
»Natürlich. Dich.«
»Das könntest du«, erwiderte Hampus. Mit einem Knall klappte er sein Buch zu und streckte sich auf seinem Stuhl. »Vorausgesetzt, du wartest ein paar Jahre, bis ich mein Studium beendet habe und Professor geworden bin. Aber ein Professorengehalt wird kaum für eine Familiengründung ausreichen. Ich müsste schon als Physikus bei einer Stadt angestellt werden. Wenn ich sehr viel Glück habe, nimmt ein Fürst mich als Leibarzt in seine Dienste, dann hätte ich wirklich genug Auskommen, um an Heirat denken zu können.« Er lächelte über Elins verdutztes Gesicht. »Alles Dinge, über die sich mein Freund Erik keine Sorgen machen muss«, sagte er. »Er ist ein Adliger und wird sein Auskommen einfach erben.«
Irritiert sah Elin ihren Freund an. Sie saßen direkt nebeneinander, eine Nähe, die Elin so vertraut war und die doch im Moment etwas Fremdes hatte.
»Machst du dir denn Gedanken … über das Heiraten?«, fragte sie. Hampus seufzte und lächelte.
»Viel mehr Gedanken mache ich mir über mein Studium«, sagte er. »Ich wollte es dir ohnehin sagen: Meine Zeit in Stockholm ist bald vorbei. Ich kehre Anfang November endgültig nach Uppsala zurück. Und im nächsten Sommer gehe ich zum Studium ins Ausland – nach Leyden.«
»Leyden«, wiederholte Elin leise. Hampus ergriff rasch ihre Hand.
»Ich werde dir schreiben«, versprach er. Und mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Und wenn Lovisa dir zu sehr auf der Nase herumtanzt, dann sage ihr, ich hätte dir versprochen, dich zu heiraten, wenn es kein anderer tut.«
Die Nachricht verbreitete sich im Schloss wie ein Lauffeuer. Kaum war der Eilkurier aus Münster im Schlosshof vom Pferd gesprungen, ging die Neuigkeit von Mund zu Mund: »Der Krieg ist vorbei!«
Elin stand an ihrem Fenster und sah in den Palasthof, wo das dampfende Pferd des Kuriers gerade zu den Stallungen geführt wurde. Es war der einunddreißigste Oktober und der Schnee fiel in dichten Flocken vom Himmel. Elin hörte die Rufe und das Trappeln von Schritten auf den Gängen, trotzdem rührte sie sich nicht vom Fleck. Statt in die Arbeitsräume zu gehen, sah sie dem Tanz der Flocken zu und dachte an Kristinas Worte: »Wenn der Krieg vorbei ist, kannst du gehen, wohin du willst.« Nur dass sie nicht mehr wusste, wohin sie gehen sollte. Sie konnte sich mit dem Kaufmann verloben. Oder sie konnte sein Angebot ablehnen und ihr Leben zwischen Büchern und anatomischen Tafeln weiterführen. Ohne Hampus allerdings, denn ihr Freund würde übermorgen abreisen. Bei dem bloßen Gedanken daran fühlte sie sich so einsam wie selten zuvor.
»Elin?«, erklang hinter ihr eine sanfte Stimme. Es war Hampus, natürlich. Neuerdings kleidete er sich wie ein Höfling. Es stand ihm nicht schlecht – er war wirklich ein gut aussehender Mann. Tilda und Linnéa hätten sich nach seinen Küssen gesehnt. »Die Königin lässt fragen, wo du bleibst. Sie hat angeordnet, dass wir sofort in die Kirche kommen sollen, wo sie für den Frieden ein Tedeum lesen lässt.«
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte sie und lächelte Hampus an. Er trat neben sie ans Fenster und sah dem Trubel auf dem Schlosshof zu.
»Der Friede wurde am sechsundzwanzigsten Oktober ratifiziert – der Kurier war wirklich schnell. Aber unsere Königin lässt sich auch nicht gerade viel Zeit. Morgen Abend gibt sie ein Ballett zu Ehren des Friedens. Und da kein neues Stück geschrieben werden konnte, wird Fräulein Ebba in ihrer Rolle tanzen. Die Gelehrten stellen schon in aller Eile ihre Rezitationen zusammen. Würdest du mit mir …«
»Natürlich«, erwiderte Elin ärgerlich. »Wenn du mich hier schon alleine zurücklässt, muss ich ja um jede Stunde froh sein, die wir noch gemeinsam verbringen können.«
Das Lächeln in Hampus’ Gesicht machte einer betretenen Miene Platz. Elin vermisste ihren Freund jetzt schon, sie vermisste ihn so sehr, dass es wehtat.
Das Hoftheater befand sich im obersten Stock des Schlosses. Es war ein riesiger Raum, der früher für große Bankette und Bälle genutzt worden war. Elin hatte den im italienischen Stil eingerichteten Saal schon oft bei den Bühnenproben gesehen, heute jedoch nahm ihr die Pracht den Atem. Kristalllüster hingen von der Decke. Die Sitze waren mit Teppichen belegt. Die Sitzreihen selbst teilten sich in zwei Bereiche – für Adlige und Nichtadlige. Normalerweise wäre Elin zu ihrem Ehrenplatz in der Nähe von Kristina gegangen, heute aber wollte sie bei Hampus und seiner Tante sein. Helga begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. »Mein liebes Kind!«, rief sie. »Ich freue mich, dich zu sehen – du warst lange nicht mehr bei mir in den Küchenräumen!«
Elin lächelte und nahm neben Hampus Platz. Die Musiker stimmten ihre Instrumente. Alle Augen waren auf den Vorhang aus glänzender weißer Atlasseide gerichtet. Es roch nach Farbe, nach schwerem Parfüm und Puder. Fächer erweckten den Eindruck, als säße ein ganzer Schwarm flatternder Vögel mitten im Publikum. Kristina hatte bereits in ihrem Sessel in der ersten Reihe Platz genommen und ließ ihren Blick über das Publikum schweifen. Als sie Elin entdeckte, lächelte sie und nickte ihr zu. Elin erwiderte ihren Gruß. Mit Unbehagen sah sie, dass Monsieur Tervué ganz in Kristinas Nähe saß und mit dem Botschafter Monsieur Chanut plauderte.
Wenig später wurden die Kerzen der Lüster im hinteren Teil des Raumes gelöscht und der Vorhang schwang wie von Geisterhand auf. Ein Schleiervorhang in Blau und Gelb erschien, dann wurde auch er weggezogen. Elin hielt sich unwillkürlich an ihrem Fächer fest. Das Gemälde des rosenfarbenen Frühlings war lebendig geworden! Zarte Wolken bewegten sich vor einer gemalten Landschaft. Blütenblätter aus Seide rieselten auf die Bühne und der Duft von Rosen verbreitete sich im ganzen Raum. Es war eine kleine, abgeschlossene Welt für sich, so entrückt und doch so real wie die Lehne, die gegen Elins Schulterblätter drückte. In diesem Augenblick, als sie in das rosenfarbene Land blickte, sah sie ihr Leben an sich vorbeiziehen. Sie sah sich in vielen Jahren – mit Hampus, der sein scherzhaftes Versprechen wahr gemacht hatte. In dieser Zukunft war sie die angesehene Frau und Gehilfin des Leibarztes Hampus Lundell. Sie würden sich küssen und das Bett teilen und sie würde gerne in seiner Nähe sein. Verstohlen blickte sie nach links und betrachtete sein Profil. War so die Liebe?
Ein Schauspieler trat auf die Bühne und begann in gestochenem Französisch ein langes Gedicht zu rezitieren. Er lobte den Frieden und die Weisheit und Güte der Königin, ihre Liebe für ihr Land und für die Menschen. Dann spielten die Geigen auf – und eine weitere Gestalt erschien.
Seidene Rosen zierten ihr Kleid, Schleier wehten. Die Venus! Elin blinzelte und erkannte Fräulein Ebba. Mit eleganten, grazilen Bewegungen begann sie zu tanzen. Anmutig schwang sie ihre Arme und setzte die Füße zu zierlichen Schritten im Takt der Musik voreinander. Elin starrte auf das rosenfarbene Land, bis sie ganz darin verschwunden war, bis die Venus sie umarmte und küsste, bis sich die aufgesteckte Frisur der Göttin löste und weißblondes Haar ihr über den Rücken fiel. Dann verblasste das Gespenst ihrer Mutter allmählich, drehte sich anmutig ein letztes Mal zum Publikum um und löste sich schließlich auf.
Erst der Applaus holte Elin wieder in die Wirklichkeit zurück. Fräulein Ebba verbeugte sich und Kristina war so begeistert, dass sie zu der Tänzerin rannte und sie, kaum dass sie die Bühne verlassen hatte, umarmte. Monsieur Tervué betrachtete diese vertraute Geste so angewidert, dass Elin schauderte.