158071.fb2 Der Spiegel der K?nigin - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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TEIL IV 

Kristinas Kuss

Ire Kronor, XXI. März 1649

Liebe Emilia,

wie sehr hoffe ich, dass es Dir besser geht und die Medizin von Doktor van Wullen Dir geholfen hat. Ich schicke Dir diesmal sieben Riksdaler. Von Erik Gyllenhielm hörte ich, dass Du nicht mehr in der Küche arbeitest und in ein Dorf außerhalb von Uppsala gezogen bist. Ich wünsche Dir das Beste und freue mich so sehr auf den Tag, an dem wir uns endlich wieder sehen! Stell Dir vor: Sobald die Kunstschätze aus Prag da sind, darf ich die Königin nach Uppsala begleiten. Alle warten sehnsüchtig auf das Schiff, das die Kunstwerke bringt. Im Schloss drücken sich die Lakaien ständig in der Nähe der Fenster herum, um einen Blick auf die ankommenden Schiffe werfen zu können. Seit sich herumgesprochen hat, wie großzügig die Königin den Friedensboten belohnt hat, ist hier jeder versessen darauf, ihr als Erster die Nachricht von dem Schiff aus Prag überbringen zu können. Selbst Johan Oxenstierna vergisst seit Tagen, mich verachtungsvoll zu übersehen, und belauert stattdessen mit offenem Mund und Gier in den Augen jedes ankommende Schiff. Er sieht aus wie eine fette Katze, die hungrig auf das Mauseloch starrt. Vor ein paar Wochen ist der Botschafter Adler Salvius aus Münster zurückgekehrt. Die Königin hat ihr Versprechen gehalten und ihn zur Belohnung für seine Dienste zum Reichsrat ernannt. Du kannst Dir sicher vorstellen, was für ein Skandal das war. Ich bin unendlich stolz auf sie – eine Frau, die den Widerstand des alten Adels bricht! Ganz allein durch ihr Geschick, ihre Klugheit und ihre Hartnäckigkeit hat sie ein ganzes Heer kriegssüchtiger Männer zum Frieden gezwungen. Es gibt viel üble Nachrede gegen Adler Salvius, aber die Königin betont, dass sie sich auch weiterhin nicht mehr nur an Personen adliger Geburt oder an eine lange Ahnenreihe binden will. Die Generäle und Adligen, allen voran natürlich unser Kanzler, beschweren sich darüber, dass Schweden um des Friedens willen zu viele Zugeständnisse gemacht habe. Die hohen Herren beklagen den Verlust von vielen Provinzen, die sie nun nicht mehr zu ihrer Kriegsbeute zählen können. Als hätten sie noch nicht genug! Überall bauen sich diese Kriegsgewinnler ihre Paläste, vor allem auf der Ritterinsel. Die Königin kümmert ihr Gejammer zum Glück wenig. Gerade in diesen Tagen hat sie viel zu tun. Der Krieg hat den Staatsfinanzen sehr geschadet und Kristina muss ihre ganze Klugheit aufbringen, neue Pläne zu machen, wie sich die Wirtschaft wieder aufrichten lässt. Immer noch zahlen die Bauern Kriegssteuern und auch um das Handwerk ist es nicht gut bestellt.

Ich habe mich den Winter über viel mit der Astronomie beschäftigt, ich spreche Deutsch und Französisch, lese leidlich gut Latein und vertiefe mich immer weiter ins Studium der Medizin. Außerdem arbeite ich inzwischen in der Bibliothek des Schlosses. Monsieur Tervué kann mich nicht leiden und macht mir das Leben schwer, seit er erfahren hat, dass ich die philosophischen Schriften von Rene Descartes studiere. Er hält ihn für einen Atheisten, der auf die Königin einen schlechten Einfluss ausübt. Tervué wirft sich an die Königin heran, als gelte es, ihre Hand zu gewinnen. Überhaupt benehmen sich einige der Wissenschaftler wie Jagdhunde, die sich mit Klauen und Zähnen um das fetteste Stück Beute reißen. Ich sage dir, die Intrigen hier sind nicht weniger bösartig als Gretas Gezeter in der Küche. Erinnerst Du Dich noch, Emilia?

Seit dem Julfest habe ich mich zurückgezogen und kaum jemand anderen gesehen als ein paar schwangere Hofdamen, die geifernden Gelehrten und unzählige Papierbögen. Die Tintenflecke an meinen Fingern lassen mich aussehen, als wäre Gelehrtheit so etwas wie ein Fleckfieber. Immer noch tanze ich nicht, mir ist nach allem anderen als tanzen zumute. Kennst Du das, Emilia? Diese Traurigkeit, wenn man feststellt, dass man etwas verloren hat, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, es je zu besitzen? Ich habe endlich eingesehen, dass ich wohl nie erfahren werde, wer meine Mutter war. Kristina meint, es sei besser für mich, und nach dem, was Maria Eleonora ihr angetan hat, glaube ich es bei Tage auch.

Bei Nacht sieht es dagegen ganz anders aus. Und noch etwas drückt mir auf die Seele: Mein bester Freund ist abgereist und wird bald ins Ausland gehen. Ich hatte dir ja schon geschrieben, dass er mir im Scherz versprochen hat, um meine Hand anzuhalten. Nicht, dass ich das ernst nehmen würde, aber etwas macht mir dennoch Sorgen: Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich mir ein Leben mit ihm vorstellen könnte. Es ist seltsam – ich bin sicher, ihn zu lieben, und trotzdem widerstrebt mir die Vorstellung, mich ihm nackt zu zeigen oder mit ihm das Bett zu teilen. Vielleicht ist etwas an mir widernatürlich? Seit Lovisa von Hampus’ leicht dahingesagten Worten erfahren hat, malt sie mir in den schrecklichsten Farben aus, wie ich als Frau eines armen Wanderarztes von Marktplatz zu Marktplatz ziehen werde, statt mit einem alten Kaufmann gemütlich in Stockholm zu residieren und meine Diener herumzuscheuchen. Mir ist elend zumute und ich fühle mich, als hätte ich gleich zwei Freunde auf einmal verloren. Ob das Leben wirklich nur aus Verlusten besteht, Emilia? Es ist verrückt: Je mehr ich lerne, je mehr ich von der menschlichen Maschine, von der Welt und vom Lauf der Sterne verstehe, desto undurchschaubarer wird mein Leben und

»Was machst du hier?«

Elin schrak so sehr zusammen, dass ihr Federkiel einen Tintenklecks auf Emilias Brief hinterließ. Die Büchse mit Streusand fiel um. Kristina lachte. »Vergiss nicht zu atmen«, bemerkte sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Meine Güte, du bist vielleicht schreckhaft geworden! Fehlt nur noch, dass du mir auf der nächsten Jagd beim ersten Schuss durchgehst wie ein Pferd.«

»Seit wann schleichen Sie sich von hinten an einen Briefschreiber heran?«

»Seit es so viel zu entdecken gibt«, meinte Kristina spöttisch und deutete auf den Brief. »Lovisa gibt also immer noch nicht auf?«

»Sie führt sich schlimmer auf als damals der Kanzler bei Ihnen und Karl Gustav.«

Kristina lachte ihr etwas raues, herzliches Lachen, was Elin wie immer sofort wieder versöhnte. Dann schwenkte sie einen versiegelten Brief und strahlte Elin an.

»Monsieur Chanut sagte mir, dass er heute noch einen Brief an unseren Freund Descartes losschickt. Und ich möchte ihm dieses Schreiben hier mitgeben. Rate, was darin steht.«

Elin vergaß auf der Stelle ihren Kummer und sprang auf.

»Monsieur Descartes kommt zu Besuch auf Tre Kronor?«

»Zwingen kann ich ihn natürlich nicht«, sagte Kristina. Ihr siegesgewisses Lächeln verriet jedoch etwas ganz anderes. »Jedenfalls möchte ich, dass du Monsieur Chanut diesen Brief überbringst. Und zwar jetzt gleich.«

»Was werden Ihre Gelehrten dazu sagen, die seine Schriften als Teufelszeug bezeichnen?«

»Heulen und mit ihren Zähnen klappern werden sie«, meinte Kristina leichthin. Sie war schön geworden in diesem Winter und trug seit dem Friedensschluss den Kopf noch ein Stückchen höher. Aus ihren Bewegungen sprach nicht mehr so viel Fahrigkeit wie früher. Auf der Jagd hielt sie zehn Stunden oder länger im Sattel aus und spottete über Elin, die schon nach wenigen Stunden das Gefühl hatte, nicht mehr richtig sitzen zu können.

»Ich bringe ihn sofort in die Botschaft!«, rief Elin. Ihre Finger kribbelten vor Aufregung, als sie den kostbaren Brief entgegennahm. Beschwingt lief sie die lange Treppe hinunter, überquerte den Hof und verließ das Schloss. Sie wusste, dass sie einen Gardisten als Begleitung hätte mitnehmen müssen, aber sie genoss es, alleine unterwegs zu sein. In ihrem grauen Kleid fiel sie kaum auf – und Monsieur Chanut würde sie nicht tadeln, wenn sie nicht im Festgewand erschien.

Obwohl es ein warmer März war, türmten sich in den Gassen immer noch die Schneehaufen. Elin sog den Geruch nach brennendem Feuerholz tief in die Lungen und beschleunigte ihre Schritte. Die Französische Botschaft residierte in einem Stadthaus, dem »Scharenbergska Huset«. Niemand würde vermuten, dass der Keller zu einer kleinen Kapelle umgebaut war, in der Monsieur Chanut der lutherischen Empörung zum Trotz immer noch die katholischen Messen lesen ließ. Bei ihrem ersten Besuch im Haus des Botschafters hatte Elin vor allem eine Madonnenfigur bewundert. Solche Abbilder waren bei den Lutheranern verpönt, ebenso andere Zeichen katholischer Frömmigkeit wie zum Beispiel Rosenkränze. Wie immer war auch heute in Monsieur Chanuts gastfreundlichem Haus viel los. Herr Tervué saß im Salon und diskutierte mit dem Hauskaplan. Elin erkannte auch den französischen Tanzlehrer der Königin, der ein Glas Wein in der Hand hielt. Madame Chanut begrüßte Elin und deutete mit einem nachlässigen Winken zur Treppe.

»Gehen Sie nur nach oben, Mademoiselle. Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer.«

Elin drehte sich um und rannte ganz undamenhaft die Treppe hinauf.

»Monsieur Chanut!«, rief sie. Endlich kam die letzte Stufe. Elin fegte um die Ecke – und rannte gegen ein Hindernis. Schwappender Wein malte eine purpurrote Kaskade in die Luft. Instinktiv riss sie die Hand, die den Brief hielt, in die Höhe und sprang zur Seite. Mit einem staubigen Knall kam ein Buch auf dem Boden auf. Elin blickte auf eine Hand, von der roter Wein tropfte, und glaubte für einen Moment, wieder den Handschuh aus Blut zu sehen – wie damals auf der Lichtung, nachdem sie vom Pfeil getroffen worden war. Und auch diesmal war es Henris Hand!

Der Franzose sah sie an, als wäre sie ein Gespenst. Der Becher, den Elin ihm aus der Hand gestoßen hatte, rollte gegen die Wand. Henri erschien ihr älter – viel älter. Aus dem hageren Jungen war ein Mann geworden, der sie um fast einen Kopf überragte.

»Mademoiselle Elin?«, rief Chanut aus dem Arbeitsraum.

Elin räusperte sich.

»Ja, ich bin hier. Ich … komme schon …«

»Ah, ich habe also richtig gehört«, tönte Chanuts Stimme durch den Flur. »Wer sonst würde die Treppe hochpoltern wie die Kavallerie.« Elin rührte sich nicht und auch Henri wirkte wie erstarrt. Erst nach einer Weile sank ihre Hand mit dem Brief nach unten. Stumm standen sie sich gegenüber. Elin spürte das Klopfen ihres Herzens bis in die Kehle. Langsam, ganz langsam erahnte sie ein Lächeln auf Henris Gesicht.

»Ihr Französisch hat sich verbessert, Mademoiselle«, sagte er leise.

»Ihres auch«, erwiderte sie prompt. »Zumindest, was Ihre Wortwahl mir gegenüber betrifft.«

Es hatte kein Tadel sein sollen, eher ein unbeholfener Scherz. Zu ihrer Überraschung reagierte Henri nicht gekränkt, sondern zog spöttisch einen Mundwinkel hoch.

»Gut, dass Sie mich daran erinnern! Ihre Rübenkrone habe ich noch im Gepäck.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich freue mich sehr, Sie gesund zu sehen.«

»Ich freue mich ebenfalls, Monsieur de Vaincourt«, antwortete sie. Die Nennung seines Namens vertrieb das Lächeln aus seinem Gesicht.

»Haben Sie … meine Sendung erhalten?« Verdammt! Wie konnte sie so unhöflich sein und sich nicht für das Zaumzeug bedanken!

»Ja«, murmelte sie.

»Dann ist Ihr Dankesbrief wohl auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen.« Da war er wieder, der überhebliche Tonfall. Vor ihr stand Henri de Vaincourt, der Adlige, und Elin wusste beim besten Willen nicht, womit sie ihn gekränkt hatte. In diesem Augenblick stellte sie fest, wie mühelos ein alter Hass aufbrechen konnte. Es war einfacher, ihm feindlich gesinnt zu sein, als sich um ein neues Lächeln zu bemühen.

»Ich wüsste nicht, wofür ich Ihnen zu danken hätte«, erwiderte sie kühl. »Ich hoffe, der scharfe Zaum fehlt Ihnen nicht. Sie scheinen ja ein Talent dafür zu haben, tief vom hohen Ross zu fallen.«

Der Blick des Franzosen wurde noch finsterer.

»Offenbar sind Sie bestens über mein Unglück informiert. Vielen Dank, dass Sie mich so höhnisch daran erinnern, ein Krüppel zu sein«, sagte er. »Entschuldigen Sie mich.« Er zupfte an seinem weinbefleckten Ärmel und ging an ihr vorbei. Das heißt, er ging nicht, er versuchte zu gehen und dabei zu verbergen, dass sein rechtes Bein steif und ungelenk war.

Elin biss sich auf die Lippe. Es kam ihr vor, als hätte Henri ihr den Wein mitten ins Gesicht geschüttet.

»Ah, ich sehe, die jungen Leute haben sich schon getroffen«, erklang Chanuts muntere Stimme. Der Botschafter stand mit verschränkten Armen in der Tür, um seine Augen bildete sich ein Netz von Lachfältchen.

»Henri! Wollen Sie sich nicht mit Mademoiselle Elin in mein Kabinett setzen und ein wenig plaudern?«

»Bedaure«, erwiderte Henri. »Ich habe noch zu tun. Ein andermal gerne.«

Er nickte kurz und verschwand in ein anderes Zimmer. Betreten sah Elin ihm nach. Als hätte das Wortgefecht alte Wunden wieder aufgerissen, schmerzte plötzlich ihre Narbe am Rücken.

»Verzeihen Sie ihm, Mademoiselle«, sagte der Botschafter. »Er ist erst heute angekommen und noch müde von der Reise. Was haben Sie für mich? Einen Brief?«

»Für Monsieur Descartes«, sagte sie schnell. »Königin Kristina bittet Sie, ihn der Korrespondenz beizulegen.«

»Gut, gut. Das werde ich gerne tun. Kommen Sie doch herein, dann gebe ich Ihnen noch einige Dinge für die Königin mit.«

Zögernd betrat Elin das Schreibzimmer des Botschafters, das voll gestopft war mit Schriften und Büchern. Chanut tauchte unter den Schreibtisch und wühlte in einer Schublade. »Bleibt Monsieur de Vaincourt lange in Stockholm?«, fragte sie nach einer Weile.

»Solange er möchte«, tönte Chanuts Stimme dumpf hinter dem Möbelstück hervor. »Wir kennen seine Pläne noch nicht. Er hat uns gewissermaßen überrascht. Aber natürlich ist er als Freund der Familie jederzeit willkommen. Ah, hier ist es.« Mit rotem Gesicht tauchte er wieder auf und reichte Elin ein dünnes Buch. »Mit Dank zurück an die Königin. Wissen Sie, Henri hat eine schwere Zeit hinter sich, und kaum vom Schlachtfeld heimgekehrt, fand er sich in Erbschaftsstreitigkeiten verwickelt. Es ist keine schlechte Wahl für ihn, eine Reise zu machen.«

»Was ist ihm zugestoßen?«

»Oh, das wissen Sie nicht? Graf de Vaincourt hat ihn als Kadett mitgenommen, befahl ihm dann aber in der Schlacht, bei der Kavallerie in erster Reihe mitzureiten. Monsieur Henri geriet ins Kreuzfeuer und wurde vom Pferd geschossen.« Er seufzte. »Das geschieht nun einmal, wenn man einen jungen, in der Kriegskunst noch unerfahrenen Mann aufs Schlachtfeld schickt. Nun, alles andere sollte er Ihnen selbst erzählen. Grüßen Sie bitte die Königin von mir!«

»Das … werde ich«, murmelte Elin. Leise schlich sie die Treppe hinunter und floh auf die Straße. Diesmal blickte Henri ihr nicht durch das Fenster nach.

Das Schiff mit der Kriegsbeute aus Prag kam unbemerkt in den frühen Morgenstunden an, als die Lakaien noch schliefen und Johan Oxenstierna mit Fieber im Bett lag. Erst gegen drei Uhr morgens hatte Elin ihr Buch zugeschlagen, sich an das Fenster gesetzt und den Hafen betrachtet. Als sie die Fackeln am Ufer entdeckte und aufgeregte Rufe hörte, sprang sie auf, holte ihren Mantel und lief zu den Kellern. In den Ziegelgewölben waren die Schauerleute schon dabei, mit Stoff umhüllte Gegenstände über Flaschenzüge von der Anlegestelle direkt in die Keller hinunterzulassen. Kurz darauf erschien Kristina mit aufgelöstem Haar im Gewölbe. Sie warf Elin ein strahlendes Lächeln zu, zerrte den Stoff vom nächstbesten Gegenstand und stieß einen entzückten Ruf aus. Ein schwerer Goldrahmen kam zum Vorschein. Und ein nackter, anmutiger Fuß, von Meisterhand gemalt.

Noch vor Sonnenaufgang wurde in der Kunstkammer des Schlosses Platz für die neuen Werke geschaffen. Ebba und Elin arbeiteten fast den ganzen Tag daran, die Tafelgemälde deutscher, italienischer und niederländischer Maler auf Staffeleien und Tischen zu drapieren. Mit kritischem Blick wachte David Beck über das Arrangement der Kunstwerke. Juwelen leuchteten in Schatullen. Elin staunte über das Silber und die Medaillen, die Majoliken und Skulpturen. Zur Sammlung aus dem Hradschin gehörte auch die prächtige Ulfilas-Bibel in gotischer Sprache.

Gegen Mittag wagten sich erstmals die Hofdamen und die Frauen der Reichsräte in die Kammer und erblassten beim Anblick der nackten Schönheiten, die Maler wie Tizian, Tintoretto und Veronese auf die Leinwand gebannt hatten. Obwohl sie sich insgeheim vor einem Wiedersehen fürchtete, hielt Elin verstohlen Ausschau nach Henri, aber der junge Graf begleitete Chanut und dessen Frau diesmal leider nicht.

An diesem Tag predigten die Geistlichen von allen Kanzeln der Stadt ihre Entrüstung über die schamlosen Kunstwerke, aber Kristina ließ sich nicht beeindrucken, sondern spottete nur über das »Höllenfeuer-Gezeter«. Der Gottesdienst in der Domkyrka erinnerte an den Vorabend des Jüngsten Gerichts. Elin langweilte sich unendlich bei der düsteren Predigt und wusste, dass es der Königin nicht anders ging. Endlich sprach der Pastor die letzten Worte und entließ die Kirchenbesucher. Elin konnte es kaum erwarten, das Gotteshaus zu verlassen. An der Treppe fing Ebba sie jedoch ab und nahm sie beiseite. »Komm heute Nacht in die Bilderkammer«, flüsterte sie mit einem verschwörerischen Unterton. »Sag niemandem etwas davon – und zieh dein gutes Kleid an!«

Mit gemischten Gefühlen machte sich Elin in dieser Nacht auf den Weg. Ihre Schuhe trug sie in der Hand und schlich über den nachtkalten Boden der Flure. Als sie wenig später in der Bilderkammer angekommen war, glaubte sie eine fremde Welt zu betreten. Marzipanduft und der Geruch nach Ölfarbe und Firnisharz erfüllten den Raum. In Glaskaraffen glühte roter Wein. Noch nie hatte sie ein solches Meer an Kerzen gesehen, Wärme wehte ihr entgegen wie eine Sommerbrise. Kristina hatte ein Kleid aus Atlasseide an, das sie sonst nur auf der Ballettbühne trug.

»Willkommen!«, rief sie. »Heute Nacht gehören die Künste dieser Welt nur uns!« Mit einem energischen Wink scheuchte sie die Pagen aus dem Zimmer und verschloss die Tür. Den Schlüssel legte sie in eine der Juwelenkisten. Mit einem verschwörerischen Lächeln drehte sie sich um. »Kommt und seht euch die Bilder an! Ein wunderschönes Geschenk für eine erhabene Königin!«

»Ein Geschenk nennen Sie es?«, sagte Elin mit gutmütigem Spott. »Ich nenne es eher Raub.«

»Fürsten rauben nicht, meine kritische Elin«, wies Kristina sie lachend zurecht. »Nenne diese Kunstwerke einfach meine persönliche Gratifikation. Auch Glaubenskriege sind nun mal nur ein anderes Wort für Eroberungsfeldzüge. Und ich habe längst nicht so sehr geraubt, wie es meinen Ministern und dem Kanzler gefallen hätte.«

Sie gingen von Bild zu Bild, blieben vor jedem Kunstwerk stehen und bewunderten die Formen und die Farben, die Leiber der Götter und die biblischen Gestalten, die Landschaften und Stillleben. Noch nie hatte Elin so viele Farben auf einmal gesehen. »Um wirklich lebendig zu werden, brauchen sie das Licht des Südens«, flüsterte Kristina. »Wünschst du dir nicht manchmal dort zu sein, Elin? In Venedig vielleicht? In Rom oder in Florenz?« Elin wandte den Blick von einem Götterhain und sah die Königin an.

»Ja«, erwiderte sie. »Natürlich! Wer wünscht sich das nicht, mit Ausnahme von Lovisa vielleicht.«

»Wer weiß, was die Zukunft bringt«, sagte Kristina geheimnisvoll. »Heute jedenfalls sind wir im Süden! Heute bin ich nicht die Königin, nicht die Minerva des Nordens und nicht die Tochter des Löwen aus der Mitternacht. Heute bin ich nur Kristina! Und heute Nacht nennst du mich nicht ›Sie‹, sondern ›du‹.«

»Auf Kristina, die Sonne!«, sagte Ebba feierlich. Sie schritt zum großen Tisch und schenkte Wein in die Gläser ein. Elin nahm mit einem Lächeln eines davon und prostete Kristina zu. Der Wein schmeckte süß und herb zugleich, er legte sich wie Öl auf ihre Zunge und füllte ihre Nase mit dem herben Duft von Trauben und Gewürzen, die sie nicht kannte. Noch nie hatte sie so etwas Köstliches getrunken. Nach einer Weile begannen die Götter auf den Bildern zu lächeln. In dieser Nacht war das Leben am Hof so, wie Emilia es Elin vor fast zwei Jahren beschrieben hatte. Kristina und Ebba tanzten, sie schmückten sich mit den Prager Juwelen und tranken die Farben ebenso begierig wie den Wein. Weit nach Mitternacht streckte sich Ebba auf den Seidenkissen einer Sitzbank aus und schlief ein – das Haar offen, sodass es bis zum Boden fiel, das leere Weinglas in der Hand. Kristina setzte sich neben sie und strich ihr behutsam über die Stirn. Elin saß auf dem Boden und betrachtete die beiden Frauen. Die Königin und ihre Hofdame wirkten wie ein Gemälde, eine Szene von großer Vertrautheit.

»Sie … du … liebst sie, nicht wahr?«

Überrascht blickte Kristina auf und lächelte.

»Natürlich«, erwiderte sie. »Sieh sie dir an – wer sollte Belle nicht lieben?«

»Dann wird … Fräulein Ebba auch nicht heiraten?«

»Woher soll ich das wissen? Ich kenne Beiles Pläne nicht.« Sie musterte Elin mit scharfem Blick. »Was willst du wirklich wissen? Heraus damit!«

»Ich … es ist nur, Lovisa will mich verheiraten und ich will nicht. Ich weiß nicht, ob ich jemals heirate. Wenn, dann vielleicht Hampus – aber ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Ich würde gerne so leben wie du. Aber … du hast Fräulein Ebba geküsst … und die Leute erzählen sich …«

»Dass ich Frauen liebe?« Kristina musste sich die Hand vor den Mund schlagen, um nicht laut loszulachen. »Oder hast du die dummen Gerüchte gehört, die erzählen, dass man mich im Ausland für einen Mann hält?«

In ihre Heiterkeit mischte sich nun Ärger. Wenn diese Spannung in der Luft lag, konnte die launische Königin auf alle Arten reagieren – in Spott verfallen, einen Wutanfall bekommen oder ganz nüchtern auf die Frage antworten. Heute tat sie nichts von alledem. Stattdessen stand sie vorsichtig auf, um Ebba nicht zu wecken, und setzte sich neben Elin auf den blanken Boden.

»Mann oder Frau – spielt das eine Rolle?«, sagte sie. »Bin ich etwas anderes, nur weil die anderen mich anders nennen?«

Im Licht der Kerzenflammen leuchteten Kristinas Augen in einem tiefen Blau. Ihr Lächeln war so schön wie das von Ebba. »Ich zeige dir etwas, Elin. Wirst du mir vertrauen?« Elin schwieg. Sie behielt es für sich, dass Kristina der einzige Mensch war, dem sie ganz und gar vertraute, und nickte nur stumm. »Dann schließe die Augen und gib dir die Antwort auf deine Frage selbst«, sagte Kristina sanft.

Elins Herz klopfte bis zum Hals. Die Augen zu schließen war eine schwierigere Aufgabe, als Enhörning zu reiten, und erforderte mehr Mut, als Oxenstierna und seinen Anhängern zu begegnen. Die Dunkelheit hüllte sie ein, nur dunkelrote Schemen leuchteten hinter ihren geschlossenen Lidern. Noch nie hatte sie sich so schutzlos hingegeben.

»Ich denke, wir sind alle Gottes Geschöpfe«, flüsterte Kristina. »Ob wir nun katholisch sind oder protestantisch, ob Mann oder Frau – die Grenzen existieren nur, solange wir sie aufrechterhalten.« Elin spürte Kristinas Atem auf ihrem Mund und lächelte über den behutsamen Kuss. Die Lippen der Königin waren kühl vom Wein. Elin wunderte sich darüber, wie einfach es war. Es war ein Kuss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und Elin gestand sich ein, dass sie die Königin liebte – für all das, was sie war. Aber auch für all das, was sie nicht war und nie sein würde.

»Und?«, flüsterte Kristina ihr zu. »Bist du nun etwas anderes, als du warst? Wirst du dafür im Höllenfeuer schmoren?«

Elin öffnete die Augen. Mit einem Mal wurden die Mauern der Welt durchsichtig im Licht der rosenfarbenen Sonne.

»Es gibt Männer, die ebenso sehr Frau sind wie ihre Mütter«, sagte Kristina. »Und Frauen, die so männlich sind wie ihre Väter. Die Seele kennt kein Geschlecht. Ob du eines Tages heiratest oder nicht, ist allein deine Entscheidung. Niemand kann es dir befehlen. Und wenn du mich fragst, rate ich dir sogar davon ab – ich bin überzeugt, dass jeder über kurz oder lang in einer Ehe unglücklich wird.« Elin spürte unendliche Erleichterung. Kristina streckte sich und betrachtete nachdenklich das Bild, das vor ihnen auf dem Boden stand. Im Licht der letzten Kerzen begann das Gemälde allmählich zu verlöschen. Schatten krochen über die gemalten Körper und sonnigen Landschaften.

»Ach Elin, dich werde ich am meisten vermissen, wenn ich nicht mehr hier bin«, seufzte Kristina.

»Sie … du willst auf Reisen gehen?«

Kristina streckte die Hand nach Elins Haar aus und ließ eine Strähne durch ihre Finger gleiten.

»Ich spreche davon, Schweden für immer zu verlassen«, sagte sie leise. Elin hatte das Gefühl, dass die Flammen plötzlich Kälte abstrahlten.

»Schweden verlassen? Das kannst du nicht! Du bist die Königin!«

»Meine Güte, ich werde ja auch nicht sofort aufspringen und wegreiten! Nein, aber eines Tages möchte ich dieses Land verlassen. Nichts wünsche ich mir mehr!«

Elin kämpfte mit den Tränen. Sie würde allein zurückbleiben – allein in Stockholm, mitten im Wolfsrudel der Adligen, das nur darauf wartete, sie zu zerreißen.

»Und … deine Krone? Du wirst nächstes Jahr offiziell gekrönt!«

»Eine Krone kann man ablehnen oder sie später wieder ablegen. Zumindest habe ich jetzt endlich einen offiziellen Nachfolger«, gab Kristina zu bedenken. »Auch wenn der Rat und die Stände ihn nur zähneknirschend anerkannt haben. Karl wird ein guter König sein.« Sie lächelte und prostete Elin zu. Elin war nicht mehr nach Wein zumute.

»Und was wird … aus mir? Lässt du mich zurück?«

»Ich kann nicht meinen ganzen Hofstaat mitnehmen.« Als sie Elins enttäuschtes Gesicht sah, lachte sie laut auf. Ebba regte sich auf ihrer Bank, wachte jedoch nicht auf. »Ach Elin Trollkind!«, fuhr Kristina leiser fort. »Sollte ich jemals wirklich in den Süden gehen, in das Land der Musik und des Tanzes – dann nehme ich dich natürlich mit!« Elin hatte nicht gewusst, wie gut sich Erleichterung anfühlen konnte.

»Aber Italien – das ist doch ein katholisches Land«, sagte sie nach einer Weile.

»Na und? Viele große Geister und bemerkenswerte Menschen sind Katholiken. Monsieur Descartes gehört dazu, Monsieur Tervué …« Sie lächelte. »… und auch Henri de Vaincourt.« Elin versuchte den Stich, den sie bei der Erwähnung von Henris Namen spürte, zu ignorieren.

»Aber du bist Lutheranerin«, beharrte sie. »Du hast für die Glaubensfreiheit der Protestanten gekämpft. Für die Schweden wäre es Verrat.«

»Dieselben Schweden hatten nichts dagegen, katholische Bündnispartner wie Frankreich zu haben. Katholiken kämpfen auf der Seite von Protestanten gegen Katholiken, wenn es um Gewinne geht – ebenso wie Lutheraner gegen Lutheraner kämpfen würden.«

Elin schwieg. Der Wein hatte ihre Wahrnehmung getrübt und gaukelte ihr das Bild von Henri vor, der am Boden lag und aus einer Schusswunde blutete. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt – und Elin hatte Angst um sein Leben. Mühsam rief sie sich in Erinnerung, dass Henri nur wenige Gassen vom Schloss entfernt in seinem Bett lag und wohlauf war.

»Zum Teufel mit solchen Gedanken«, sagte Kristina. »Die Regeln machen die Menschen, nicht die Priester – und ich bin sicher, dass wir dafür nicht ins Höllenfeuer kommen, wie unsere lutherischen Kanzelritter es behaupten. Glaubst du vielleicht daran, dass Gottes geschriebenes Wort alles ist, was zählt?«

Elin räusperte sich. Noch nie hatte sie mit jemandem über ihren Glauben gesprochen. Aber es schien das Selbstverständlichste der Welt zu sein, hier – im Schutz der gemalten heidnischen Götter – ihren ketzerischen Gedanken auszusprechen.

»Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich denke, die Seele kennt keine Religion, die Seele kennt nur Gott. Und sobald ich weiß, dass Emilia gesund und glücklich ist, werde ich mit dir gehen, Kristina. Von mir aus auch ans Ende der Welt bis nach Terra Australis.«

Kristina lachte und drückte Elins Hand.

»Immer einen Schritt nach dem anderen«, sagte sie leise. »Zuerst einmal fahren wir nach Uppsala.«

Ketzerkind

Im Licht des Morgens verflog die Magie der Nacht und der Zauber eines ganz neuen Tages umfing Elin. Der Tag, an dem sie nicht mehr zweifelte. Irgendwann würde sie ins rosenfarbene Land reisen – mit Kristina und Ebba. Vorerst aber bereitete sich Elin auf eine Reise vor, die im Augenblick weitaus aufregender war als der Gedanke an fremde Länder. Drei Wochen lang würde die Königin im alten Schloss in Uppsala residieren. Mehrere Unterredungen mit dem Bischof und viele öffentliche Audienzen standen ihr bevor. Seit Tagen wurde gepackt und vorbereitet.

»Was willst du denn noch alles mitnehmen?«, stöhnte Lovisa beim Anblick von Elins Bücherberg.

»Nur noch die Behälter mit den Arzneien.« Elin machte sich daran, die kostbaren Flaschen einzuwickeln und in der gepolsterten Truhe zu verstauen. Beim Gedanken daran, Emilia wieder zu sehen, sang ihr Herz. Lovisa seufzte.

»Ach, wenn Tilda nicht ausgerechnet jetzt ihr Kind bekäme, würde ich mit nach Uppsala fahren. Was um Himmels willen ist dieses stinkende Zeug hier?«

»Pulver aus zerriebenen Mumien. Es soll sogar gegen die Pest helfen. Wogegen es aber auf jeden Fall hilft, sind die Motten in den Kleidertruhen.«

Der Konvoi, der wenig später nach Uppsala aufbrach, bestand nur aus vierzig Gardisten und vier Karossen. Sobald das Gepäck sicher verstaut war, schwang sich Elin in den Sattel. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen humpelnden Mann, der zu einem hellgrauen Pferd ging. Ohne den Kopf zu wenden, erkannte sie ihn – Henri. Als sie glaubte, dass er sie nicht beachtete, wagte sie einen vorsichtigen Blick. Der junge Graf zog sich mühsam auf sein Pferd und verzog dabei das Gesicht, als bereite ihm diese Anstrengung Schmerzen. Erst als er im Sattel saß, entspannten sich seine Züge und er sah sich um. Rasch senkte Elin den Blick und nestelte an ihrem Sattel. Endlich setzte sich der Konvoi in Bewegung. Elin ritt neben der königlichen Kutsche an der Spitze des Zuges. Die Karosse war mit Kristinas Symbol – einer Sonne – geschmückt. An einem Türbeschlag prangte auch das Zeichen ihres Vaters: der nordische Löwe, der einen Blitz in der Klaue hielt. Durch das Fenster konnte Elin Kristina direkt auf den Schoß sehen. Die Königin hatte keinen Blick für den Himmel, der heute einem taubenblauen Seidentuch glich, sondern war ganz in ein Buch vertieft. Bald ließen sie Stockholm hinter sich. Elin ritt in leichtem Trab, bis der Tross den Waldrand erreichte, dann überholte sie in zügigem Tempo die Gardisten vor der ersten Karosse. Scharen von Vögeln stoben aus dem Dickicht. Elin lächelte und fühlte sich, als würde sie auf dem Rücken des Pferdes selbst davonfliegen. Hinter ihr ertönte Hufschlag und sie warf einen Blick über die Schulter. Es überraschte sie kaum, Henri zu sehen. Geschickt lenkte er sein Pferd neben sie. Doch er grüßte sie nicht, wie es die Höflichkeit erfordert hätte. Wie auf ein geheimes Zeichen trieben sie ihre Pferde zu einem schnelleren Trab an und ritten nebeneinanderher. Die Rufe und das Rumpeln der Kutschräder hinter ihnen wurden immer leiser. Schließlich erreichten sie die nächste Wegbiegung und waren endgültig aus dem Sichtfeld der Gardisten verschwunden. Während sie weiterritten, musterten sie sich betont gleichgültig aus den Augenwinkeln. Elin konnte Henris Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie hatte mit einem Mal unbändige Lust, etwas zu tun, wofür Lovisa sie sicher rügen würde. Unmerklich wurde der Trab noch schneller. Dann, an einer großen Birke, gab sie Enhörning frei. Der Hengst spannte die Muskeln und stürmte los. Darauf hatte Henri offenbar nur gewartet. Das Rennen begann. Die Pferde streckten sich und sprangen wie Spiegelbilder über einen Haufen von Zweigen auf dem Weg. Elin genoss diesen Moment des Schwebens, bis Enhörnings Hufe wieder aufsetzten. Weiter ging die Jagd am Waldrand entlang. Elin trank die Luft und war glücklich. Vor ihr lag die Welt. Und als sie sich nach Henri umsah, fühlte sie sich noch leichter. Henri lachte! Sie hatten den Konvoi meilenweit hinter sich gelassen, als sie endlich langsamer wurden und ihre Pferde schließlich in den Schritt fallen ließen. Schaum tropfte von den Pferdemäulern auf den Boden, Schweiß glänzte auf den Flanken. Henri klopfte seinem Hengst den Hals.

»Enhörning ist immer noch ein guter Läufer, Mademoiselle.«

»Und Sie sind ein besserer Reiter geworden, Monsieur Henri.« Noch während sie diese unbedachten Worte sagte, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Seine Fröhlichkeit verwehte wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze.

»Tja«, meinte er trocken. »Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages besser reiten als laufen kann.«

»Es tut mir sehr Leid, dass Sie verwundet wurden«, sagte Elin. »In Monsieur Chanuts Haus wusste ich noch nichts von Ihrem Unglück. Es war nicht meine Absicht …«

Mit einer schroffen Geste winkte er ab.

»Danke, Mademoiselle«, sagte er heiser. »Es ist nicht nötig, jemandem, der am Boden liegt, auch noch höhnisch ins Gesicht zu treten.«

»Sie unterstellen mir, dass ich mich über Ihr Leid lustig mache? Da redet der Richtige, Monsieur Riksdaler!«

Henri fluchte, wendete sein Pferd und galoppierte den Weg zurück. Mit gemischten Gefühlen sah Elin ihm nach.

»Ist dir ein Troll über den Weg gelaufen?«, fragte Kristina, als sie wenig später Rast machten.

»So etwas Ähnliches«, murmelte Elin.

Am zweiten Tag der Reise kam ihnen eine Delegation des Bischofs entgegen, um die Kutschen zum Schloss zu begleiten. Ein junger Mann ritt direkt auf Elin zu und schwenkte seinen Hut.

»Einen Gruß von meinem Freund Hampus!«, rief er.

»Erik? Sind Sie Erik Gyllenhielm?«

Der Reiter dirigierte sein Pferd näher an Enhörning heran und ergriff Elins Hand. Galant beugte er sich über den Handschuh und grüßte sie mit einem angedeuteten Handkuss. »Hampus hat mir schon viel von Ihnen erzählt, Mademoiselle. Und dabei schamlos untertrieben.« Sein Blick schweifte anerkennend über ihr Gesicht und streifte ihr Dekolletee. »Sind Sie sicher, dass Sie einen Bleikopf wie meinen Freund heiraten wollen? Ich würde mich opfern, für ihn einzuspringen.«

Eriks Grinsen verdarb Elin auf der Stelle die Laune. Was hatte Hampus ihm erzählt?

»Hören Sie lieber auf, Gerüchte zu schüren«, erwiderte sie etwas zu barsch.

Je näher sie dem Schloss kamen, desto mulmiger wurde Elin zumute. Es war, als würde sie mit jedem Schritt, den sie auf Uppsala zuritt, ein wenig kleiner werden, als würden ihre Gewänder immer armseliger und schäbiger. Als sie das Tor zum Schlosshof passierten, war sie wieder die unscheinbare Scheuermagd und starrte mit klopfendem Herzen zu den Fenstern hoch. Es fühlte sich unwirklich an, die Treppe, die zum Eingang führte, zu betreten. Das Seltsamste jedoch war das Greisengesicht von Victor. Der Diener ging ihr kaum noch bis zur Schulter – ein winziges, faltiges Männchen stand vor ihr.

»Victor!«, rief Elin. »Ich bin es! Oh, ich freue mich so, dich zu sehen! Wie geht es den anderen? Was macht Olof? Und Greta? Ist sie immer noch so garstig?«

Die trüben Augen sahen sie lange an, dann lächelte der alte Diener und verbeugte sich.

»Guten Tag, Fräulein Asenban. Danke, es geht allen gut. Wenn ich um Ihren Mantel bitten dürfte?«

Elin schluckte und schämte sich, dass sie den alten Diener in die Verlegenheit gebracht hatte, sie auf ihren neuen Platz verweisen zu müssen.

»Natürlich«, sagte sie kleinlaut. »Danke, Victor.«

Noch unwirklicher war es, die Treppe zu den oberen Stockwerken hinaufzugehen – in die Gemächer, die mit ihren Gobelins und Holzvertäfelungen im Vergleich zum französischen Prunk von Tre Kronor altertümlich und rührend unmodern wirkten. Behutsam, als würde sie in ein verbotenes Zimmer eindringen, öffnete Elin eine Tür. Der Sessel, in dem Madame Joulain vor so langer Zeit gestickt hatte, sah ein wenig schäbig aus. Goldene Webfäden schimmerten durch den abgenutzten Stoff.

»Nein«, sagte Kristina schon zum dritten Mal. »Du reitest mit den Gardisten oder gar nicht.« Wie immer, wenn sie Briefe las, ging sie in ihrem Kabinett auf und ab. Hier in Uppsala knarrte der Holzboden noch mehr als auf Tre Kronor.

»Es sind nur zehn Meilen. Ich möchte nicht mit der halben Kavallerie in das Dorf reiten und die Leute scheu machen«, erwiderte Elin.

»Es ist mir egal, was du möchtest oder nicht. Ich möchte es nicht. Nur das zählt. Du denkst, nur weil du die Armbrust überlebt hast, bist du unverwundbar. Was sagt denn dein Freund Hampus dazu?«

»Ich habe ihn noch nicht getroffen, er kommt erst übermorgen von einer Reise zurück. Aber das spielt auch gar keine Rolle, ich will einfach …«

»Es treibt sich eine Menge Gesindel herum – und eine ausgeraubte oder geschändete Hofdame ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.«

Elin wollte etwas erwidern, doch die Königin scheuchte sie von ihrem Stuhl auf und schob sie unsanft zur Tür.

»Genug. Raus jetzt! Ich habe zu tun. Der Überseehandel organisiert sich nicht von allein.« Ihre Stimme wurde noch tiefer. »Und sollte ich hören, dass du ohne mindestens zwei Begleiter weggeritten bist, lasse ich dich zurückholen und du kannst bis zum Tag unserer Rückreise in deinem Gemach sitzen und sticken. Verstanden?«

»Ja, Majestät«, murmelte Elin. Sie machte einen wütenden Knicks und stürzte aus dem Raum. Auf dem Weg zu ihrem Gemach verfluchte sie Kristinas Dickköpfigkeit. In dem Zimmer, das man für sie hergerichtet hatte, nahm sie ihre Ledertasche und packte alles ein, was sie für Emilia mitgebracht hatte: zwei Kleider, die Medikamente, ein paar warme Handschuhe für den Winter und gute, feste Schuhe. Die Tasche war schwer, es war ein gutes Stück Arbeit, sie in den Stall zu schleppen. Mit geübten Griffen sattelte Elin Enhörning und schnallte das Gepäck hinter dem Sattel fest. Gerade überlegte sie, wie sie ungesehen vom Hof kommen konnte, als sie Henri bemerkte. Lässig lehnte er an der Stalltür.

»Was haben Sie vor?«

»Wonach sieht es denn aus?«, erwiderte Elin schnippisch.

Henri zog den rechten Mundwinkel hoch.

»Wenn ich ehrlich bin, könnte man den Eindruck bekommen, Sie würden dem Befehl der Königin nicht gehorchen.«

»Das geht Sie gar nichts an.«

»Möglicherweise doch. Zumindest, wenn es nach der Königin geht. Sie ließ mir gerade ausrichten, dass ich mich um Ihre Begleitung kümmern solle.«

Elin verkniff sich einen Fluch und funkelte ihn an.

»Beleidigt Sie die Vorstellung nicht, in ein schäbiges Dorf zureiten?«

»Sie haben sich sehr verändert, Mademoiselle.«

Elin antwortete ihm nicht, sondern führte Enhörning aus der Box. Vor dem Stall atmete sie die kalte Morgenluft ein und versuchte ihr kochendes Blut wieder zu beruhigen. Natürlich warteten bereits zwei Gardisten im Hof. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben.

Der Weg zu Emilias Dorf war schwieriger zu finden, als sie gedacht hatte. Mehrmals mussten sie Bauern fragen, die mit Heukarren, Hühnerkäfigen und Ziegen auf dem Weg in die Stadt waren. Elins Aufregung übertrug sich auf Enhörning, der zweimal versuchte durchzugehen. Die Flaschen und Tiegel im Beutel waren offenbar aus ihren Stoffhüllen gerutscht, denn sie klapperten und klirrten bei jedem Schritt.

Endlich kam ein Dorf in Sicht – eine Ansammlung von niedrigen Hütten aus rot gestrichenem Holz. Von den grasbewachsenen Dächern blickten Ziegen und Hühner auf die Reiter herab. Elin sprang von Enhörnings Rücken. »He, du!«, rief sie einem Bauern zu. »Emilia suche ich! Wo wohnt sie?«

Der Bauer starrte sie mit großen Augen an und deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Das Haus dahinten. Gleich beim Tümpel.« Einer der Gardisten nahm Enhörnings Zügel und wartete, bis Elin den Beutel vom Sattel genommen hatte.

Elin vergaß, dass eine Dame nicht rennen durfte, und achtete nicht darauf, dass der Saum ihres Kleides über nasses Gras und Schlamm schleifte. Von weitem sah sie eine Frau neben der Hütte stehen. Ihr rotes Haar hob sich von ihrem schwarzen Kleid ab wie ein Heiligenschein aus Kupfer.

»Emilia!« Die Frau fuhr herum. Vor Überraschung wäre Elin beinahe gestolpert. Im letzten Augenblick aber fing sie sich und blieb stehen.

»Wer sind Sie?«, fragte die fremde Frau.

»Elin. Elin Asenban.«

Die Frau war sichtlich erschrocken. Zu Elins Bestürzung eilte sie zu ihr, griff nach ihrer Hand und küsste sie.

»Sie sind es«, flüsterte die Frau. »Ich danke Ihnen so sehr! Ich bin Emilias Schwester – Frida. Oh, dass Sie gekommen sind!«

Angst legte sich um Elins Brust wie eine Klammer.

»Wo ist Emilia?«

Die Kammer, die sie gleich darauf betraten, war niedrig und von Kerzenwärme erfüllt. Elin kniff die Augen zusammen und sah sich um. Tisch und Stühle waren an die Wand gerückt, um einer Kiste Platz zu machen. Nach und nach schälten sich im spärlichen Kerzenschein die Umrisse einer Gestalt aus dem Halbdunkel der Hütte. Eine Frau lag hier in einem Sarg, das Kinn trotzig vorgereckt. Die Wangen waren eingefallen, die Haut gelb wie Wachs. Fassungslos starrte Elin Emilia an – einen fremden Leichnam mit verblichenen Sommersprossen und strengen Gesichtszügen. Das Würgen kam so plötzlich, dass sie beide Hände vor den Mund schlagen musste. Der Beutel entglitt ihr. Mit einem Klirren zerbrach eine Flasche, Sandelholzaroma verbreitete sich im Raum. Das Zimmer schien sich zu drehen. Gesichter drängten sich an der Tür und starrten sie an – offene Münder, aufgerissene Augen, wie die verdammten Seelen auf einem Gemälde, das die Hölle darstellte.

»Sie war krank«, sagte Frida leise. »Schon lange. Ohne Ihre Unterstützung wäre sie schon viel früher gestorben. Wir danken Ihnen sehr.«

»Sie ist … trotz der Medizin gestorben? Und die Ratschläge, die ich ihr geschickt habe?«

Frida knetete verlegen ihre Hände und senkte den Blick.

»Von Medizin weiß ich nichts. Und auch nicht von Ratschlägen. Ich weiß nur von dem Geld.«

»Die Briefe! Sie hat doch meine Briefe gelesen!«

Erst als sie das Raunen hörte, wurde ihr bewusst, dass sie die letzten Worte herausgeschrien hatte. Die Fratzen am Fenster starrten sie nun drohend an. Unregelmäßige, eilige Schritte erklangen, dann erschien Henris besorgtes Gesicht in der Tür. Frida räusperte sich und deutete zum Tisch.

»Vielleicht finden Sie dort, was Sie suchen.«

Elin ging zum Tisch hinüber und vermied es, die strenge Gestalt im Sarg anzuschauen. Die schäbige Kassette, die sie mit zitternden Händen öffnete, roch nach altem Pergament. Da waren ihre Briefe. Dutzende. Versiegelt und unberührt.

»Sie hat sie gehütet wie einen Schatz«, sagte Frida.

»Bitte, darf ich allein mit ihr sein?«, bat Elin heiser. Sie nahm kaum wahr, dass die Dorfbewohner sich langsam entfernten. Henri trat leise in die Stube und blieb neben der Tür stehen. Elin war ihm dankbar dafür, dass er nichts sagte.

Scheu trat sie an den Sarg heran. Es kostete sie mehr Überwindung als alles, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte, die Hand auszustrecken und die kalte Haut zu berühren.

Es war ähnlich wie in ihrem Fiebertraum – nur viel erschreckender. Als ihre Fingerspitzen über die Hände strichen, fühlte Elin noch etwas. So behutsam, als würde Emilia ihre Bewegungen spüren, ließ sie ihre Fingerspitzen über eine seltsam ausgebeulte Stelle unter dem Schlüsselbein wandern. Die Geschwulst, die sie unter dem Totenhemd ertastete, war so groß wie eine knochige Männerfaust. Elin biss die Zähne zusammen. Erst als Henri neben sie trat und ihr die Hand auf den Arm legte, bemerkte sie, dass sie auf Schwedisch fluchte. »Du verdammte Närrin«, zischte sie Emilia zu. »Du hast es gewusst. Und du hast nichts getan! Du … Feigling!« Aber die eingefallenen Lider der Toten regten sich nicht.

»Mademoiselle«, versuchte Henri sie sanft zu beruhigen.

»Lass mich in Ruhe!«, fuhr Elin ihn an.

Henri schluckte und zog die Hand zurück.

»Natürlich«, sagte er respektvoll und trat zur Tür, wo er stehen blieb und schwieg. Elin schniefte. Die Kerzen flackerten und ließen Emilia in einem Moment so aussehen, als ob sie lächelte. Gleich darauf verliehen sie ihr einen unglücklichen Ausdruck. Elin stand verloren in der Kammer. Sie wollte nicht gehen – noch nicht. Einige lange Minuten ertrug sie es, dass die Briefe sie verhöhnten, dann drehte sie sich zum Ofen um und suchte nach dem Stapel mit dem Feuerholz. Es waren Handgriffe aus einer längst vergangenen Zeit, die sie immer noch beherrschte wie ein Schlafwandler seine Schritte. Sie schämte sich nicht, wieder Elin von den Königsgräbern zu sein, sondern entfachte gewissenhaft das Feuer im Ofen und schürte die Glut. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, dass Henri sie bei diesem Magddienst beobachtete. Sobald das Feuer brannte, setzte sie sich davor und brach das Siegel ihres ersten Briefes. Ihre Handschrift war noch unbeholfen und fahrig. Sie konnte kaum glauben, dass sie diese Worte selbst geschrieben hatte:

Liebe Emilia,

Ich hoffe, Dein Herz schmerzt nicht mehr.

Mir geht es gut.

Brief um Brief öffnete sie, las die Zeilen und verbrannte das Schriftstück. Mit jedem Schreiben wurde ihre Schrift gerader, die Worte zahlreicher.

Sie las die Rezepte und Ratschläge, betrachtete ihre Zeichnung eines Herzens, sie durchlebte noch einmal die Suche nach ihrer Mutter und staunte darüber, wie genau sie Karl Gustavs Ernennung zum Oberbefehlshaber in Deutschland beschrieben hatte. Es war der Brief einer Hofdame, verfasst mit Witz und Scharfsinn. Nur für Emilia war sie immer Elin aus Gamla Uppsala geblieben. Als sie vom letzten Brief aufblickte, war das Feuer bereits heruntergebrannt. Frida kam zu ihr und zündete neue Kerzen an. Henri stand immer noch in der Tür und hielt Wache.

»Setzen Sie sich doch zu mir«, bat Elin ihn. Zögernd löste er sich aus dem Dunkel und ging mit seinen unregelmäßigen Schritten zum Sarg.

»Sie konnten sie nicht retten«, sagte er leise.

»Ich weiß.« Elins Stimme klang bitter. »Ich kann niemanden retten.«

Er zog sich einen Stuhl heran und hielt mit Elin die Totenwache.

Im Morgengrauen kamen zwei Männer, um den Sarg zum Friedhof zu bringen. Elin blinzelte, als sie in die Helligkeit des Morgens trat, und erschrak. Im selben Moment hatte Kester Leven sie auch schon entdeckt. Der Sekretär des Bischofs wurde erst bleich, dann rot.

»Elin?«, fragte er.

»Für Sie Mademoiselle Asenban«, erwiderte sie eisig. »Was führt Sie hierher?«

»Ähnliches wie Sie«, sagte er. »Als ich noch Pfarrer in Gamla Uppsala war, hat sich Emilia mir oft anvertraut. Und nun war es ihr Wille, dass ich sie auf ihrem letzten Weg begleite.«

Elin konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. Mit. einem Mal kam sie sich vor wie ein Eindringling. Leven dagegen, so wurde ihr klar, war offenbar Emilias Vertrauter gewesen. Frida und die Dorfbewohner begrüßten ihn unterwürfig. Vor Verwirrung wusste sie kaum, was sie sagen sollte. Das Gefühl von Verrat schmerzte mehr als die Trauer. Kester Leven blickte zu Henri hinüber und runzelte die Stirn.

»Ich kann nicht erlauben, dass ein Herr katholischen Glaubens an der Beerdigung teilnimmt.«

»Das hat er nicht vor«, erwiderte Elin.

Der Geistliche musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie schwer deuten konnte.

»Ich kann auch nicht erlauben, dass Sie bei der Beerdigung zugegen sind.«

»Wie bitte?«, zischte sie. »Sie wagen es, einer Hofdame der Königin den Zutritt zur Beerdigung einer Verwandten zu verwehren?«

Levens Lächeln war schmal wie eine Messerschneide.

»Eine ehemalige Nachbarin, Mademoiselle, keine Verwandte.«

»Darf ich fragen, was der Grund für Ihre Verweigerung ist?«

»Emilias Wunsch«, sagte er schlicht.

Frida trat vor und legte Elin die Hand auf den Arm.

»Es stimmt«, bestätigte sie leise. »Emilia hat darum gebeten, dass nur Herr Leven und ich sie beerdigen. Nicht einmal ihre Kinder wollte sie am Grab haben. Bitte nehmen Sie es uns und ihr nicht übel.«

»Das haben Sie ihr eingeredet, nicht wahr?«, fuhr Elin Leven an. »Warum?«

Aber Leven verschloss sich wie eine Muschel bei der Berührung eines Feindes.

»Wenden Sie sich mit der Beschwerde an den Bischof«, sagte er nur und ließ sie einfach stehen.

Auf dem Rückweg brütete Henri vor sich hin. Schweigend ritten er und Elin nebeneinanderher, bis die ersten Häuser von Uppsala in Sicht kamen. Immer noch fühlte sich Elin wie betäubt. Kester Leven und Emilia, flüsterte es ständig in ihrem Kopf. Beim Schloss angekommen eilte sie direkt zum Arbeitskabinett der Königin. Die Königin war mit neuen Plänen für Seidenfabriken beschäftigt und grübelte über Bauskizzen und Berechnungen. Sie war nicht begeistert, dass Elin sie störte, aber als sie ihr Gesicht sah, schickte sie die Sekretäre aus dem Raum und hörte sich die Geschichte an.

»Es tut mir aufrichtig Leid, dass Emilia gestorben ist«, sagte sie schließlich. »Aber bei Kester Leven kann ich dir nicht helfen.«

»Aber Kristina! Er hat mich von der Beerdigung fortgeschickt! Das hätte Emilia nie gewollt!«

Kristina winkte ab.

»Wer weiß schon, was Emilia wollte«, sagte sie sanft. »Bedenke, sie war eine kranke Frau. Bestimmt war sie sogar ein wenig verwirrt.«

»Vielleicht … hat es etwas mit mir zu tun? Möglicherweise wusste Emilia doch mehr über meine Familie und hat es Leven erzählt. Und er hat ihr daraufhin geraten, mich von der Beerdigung auszuschließen. Und dann die Unterlagen über meine Familie, die bei einem Brand vernichtet wurden. Langsam habe ich den Verdacht, dass es kein Zufall …«

Kristina funkelte sie über den Tisch hinweg an.

»Gib endlich Ruhe damit, Elin. Ich werde dem Bischof eine Bitte um Stellungnahme zukommen lassen. Mehr kann ich nicht tun.«

Niedergeschlagen verließ Elin das Arbeitszimmer. Zu ihrer Überraschung wartete Henri am Fuß der Treppe.

»Gehen Sie ein Stück mit mir spazieren«, sagte er leise. »Ich muss Sie etwas fragen, was für Sie von höchster Wichtigkeit sein könnte.« Bevor sie ihm eine Antwort geben konnte, hatte er sich umgedreht und humpelte die Treppe hinunter. Schweigend gingen sie an Victor vorbei und nahmen den Weg über den Hof.

»Ihre Königin wird Ihnen nicht helfen, habe ich Recht?«, fragte er schließlich.

»Das dürfte Sie wohl kaum interessieren.«

Henri blieb stehen. Elin bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.

»Wenn Sie aufhören würden, sich mir gegenüber wie eine Küchenmagd zu benehmen, würden Sie uns beiden die Konversation erleichtern«, zischte er.

»Ach, neulich sagten Sie noch, ich hätte mich verändert.«

Sein Blick verdüsterte sich.

»Vielleicht bin ich es, der sich viel mehr verändert hat. Das Schlachtfeld zeigt vieles in einem neuen Licht.« Nachdenklich betrachtete er ihr Gesicht. Elin widerstand der Versuchung, ihm eine scharfe Antwort zu geben.

»Kättare«, sagte er plötzlich. Elin zuckte bei dem schwedischen Wort aus seinem Mund zusammen.

»Das bedeutet … Ketzer«, sagte sie. »Woher haben Sie das?«

»Als dieser Pfarrer ins Dorf kam, hat er mit den Dorfbewohnern gesprochen. Dabei fiel Ihr Name – und dann sagte er etwas zu einem seiner Begleiter. Ich verstehe noch nicht genug Schwedisch, aber ich denke, den Satz habe ich mir richtig gemerkt: ›Denna papistunge har inget pä den här begravningen att göra!‹«

Fassungslos starrte Elin ihn an.

»Das Papistenkind hat bei der Beerdigung nichts verloren«, flüsterte sie. »Papist – das ist das Schimpfwort für einen Katholiken. Warum nennt er mich so?«

»Kurz bevor wir fortritten, gab die rothaarige Frau demselben Bediensteten einige Papiere.«

Elin hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Es ist wichtig für Sie, etwas über Ihre Verwandten und diesen Geistlichen herauszufinden, nicht wahr?«, bohrte Henri weiter. Elin biss sich auf die Lippe und nickte. Einen Moment zögerte sie, dann begann sie zu erzählen. Sie berichtete von den unzähligen Nachforschungen und den Briefen, von dem Brand im Pfarrhaus und ihrer zerstörten Hoffnung, ihre Mutter zu finden. Als sie fertig war, nickte Henri. »Wie steht es mit den Leuten, bei denen Sie gelebt haben?«

»Ein Freund hat dort bereits nachgefragt. Sie wissen von nichts.«

Henri zupfte nachdenklich an seinem Kragen.

»Eins habe ich im vergangenen Jahr gelernt«, sagte er nach einer Weile. »Manchmal kommt es nicht darauf an, was man fragt, sondern wie man seine Frage formuliert.«

Er schenkte Elin ein verhaltenes Lächeln, verbeugte sich und ging davon.

Beim Abendessen fühlte sich Elin so unbehaglich dabei, von Olof bedient zu werden, dass sie den Zettel, den ihr jemand in die Serviette gesteckt hatte, beinahe übersehen hätte. Überrascht sah sie sich um und traf Erik Gyllenhielms Blick. Verschwörerisch grinste er ihr zu. Elin entfaltete den Zettel vorsichtig unter dem Tisch und las:

Monsieur de Vaincourt und ich erwarten Sie heute Nacht an der Stelle, an der wir nach Fräulein Spanes Medaillon gesucht haben. Elf Uhr. Tragen Sie Handschuhe und Schmuck.

Erik zog verschmitzt eine Braue hoch und beugte sich wieder über seinen Teller. Elin zählte die Stunden, bis sie sich endlich davonstehlen konnte. Der Nachtwind war selbst für eine Sommernacht sehr warm und die dünnen Seidenhandschuhe fühlten sich ungewohnt an. An der Stelle, an der sie vor fast zwei Jahren Schnee für die Küche geholt hatte, erkannte sie die Umrisse zweier Pferde.

»Ich hoffe, Sie können auch im Damensattel reiten«, flüsterte Henri ihr zu.

»Was haben Sie vor?«

Sein Lachen verwehte in der Nacht.

»Seien Sie würdevoll«, sagte er nur. »Alles andere erledigen wir.«

Es war gar nicht so einfach, auf der prächtigen Paradestute im Damensitz zu reiten. Nicht weit vom Schloss entfernt hörten sie Hufschläge. Elin erschrak, als sie die zehn schwer bewaffneten Soldaten sah, die ihnen entgegengaloppierten. Angeführt wurden sie von Erik Gyllenhielm! Und da war noch ein weiterer Reiter. Elin fuhr ein freudiger Schauer in den Magen.

»Hampus! Seit wann bist du wieder da?«

»Seit ein paar Stunden erst. Und wenn Erik mich nicht sofort von der Kutsche gezerrt hätte, hätte ich nichts lieber getan, als dich sofort zu begrüßen!«

»Was habt ihr vor?«

»Wir sind eine Delegation«, sagte Hampus geheimnisvoll.

Den Weg nach Gamla Uppsala legten sie in gestrecktem Galopp zurück. Die Pferde schnaubten bereits, als die Hügel der Königsgräber in Sicht kamen. Zu Elins Entsetzen hob einer der Soldaten seine Trompete an die Lippen und blies eine Fanfare. Das winzige Dorf erwachte auf der Stelle. Menschen im Nachtgewand erschienen in den Türen und schrien vor Schreck auf.

»Die Königin!«, rief jemand. »Die Königin ist da!«

Bauer Gudmund rannte als einer der Letzten auf den Hof. Elins Hände krampften sich um die Zügel. Hampus sprang vom Pferd und trat vor. Jetzt erst, im Fackelschein, sah Elin, dass er einen goldbestickten Mantel trug – er gehörte Henri! Mit wichtiger Miene entrollte er ein offiziell aussehendes Schriftstück in seiner eigenen Handschrift.

»Hampus Lundell«, stellte er sich vor. »Sekretarius für besondere Angelegenheiten Ihrer Majestät, Königin Kristina von Schweden.« Elin schnappte unwillkürlich nach Luft. »Mit Wirkung des heutigen Beschlusses hat der königliche Rat einen Richtspruch gefällt. Isak Gudmund! Tritt vor!«

Gudmund stand da wie vom Blitz getroffen. Die Nachbarn wichen vor ihm zurück, als hätte er die Pest. Nur seine Frau blieb bei ihm stehen und drückte sich ängstlich an seinen Rücken.

»Hier«, sagte Gudmund heiser. Hampus nickte mit strenger Miene.

»Isak Gudmund wurde für schuldig befunden, falsche Aussagen über Gräfin de la Feinte getätigt zu haben.« Bei diesen Worten deutete er auf Elin. Alle Blicke wandten sich ihr zu. »Widerruft er die Falschaussage nicht, habe ich den Befehl, ihn zu verhaften.« Die Soldaten schauten grimmig. »Elin?«, flüsterte Frau Gudmund entsetzt. »Unsere Elin … eine … Gräfin?«

»Keiner wage es, die Gräfin despektierlich anzusprechen«, wies Hampus sie zurecht. Henri sprang vom Pferd und machte eine tiefe Verbeugung vor Elin.

»Erlauben Sie mir, Ihnen vom Pferd zu helfen, Madame de la Feinte«, sagte er laut auf Französisch. Elin schluckte und ließ es zu, dass Henri sie vom Pferd hob. Ihre Schuhe sanken im Schlamm vor dem Hof ein. Sofort wurden Bretter herbeigeschafft und ein Holzweg ausgelegt.

»Ich möchte allein mit den Gudmunds sprechen«, sagte Elin leise. Gudmunds Frau rannte ins Haus, Truhendeckel klapperten. Henri reichte Elin den Arm. An seiner Seite schritt sie zum Haus, das so viele Jahre ihre Heimat gewesen war. Beim Anblick der rauchgeschwärzten Kate und dem Geruch nach gärendem Sauerhering schnürte es ihr die Kehle zu. So klein und schäbig war der Hof, so verwahrlost!

»Wo ist Madda?«, fragte sie.

Frau Gudmund senkte den Kopf.

»Verstorben, Gräfin de … de …«

»Lasst es gut sein«, sagte Elin. Mit einem Mal taten ihr die Bauern Leid. Sie schämte sich für diese Maskerade, schämte sich dafür, den armen Teufeln Angst einzujagen. Hampus ergriff das Wort.

»Die Anklage …«

»Hampus«, unterbrach sie ihn. »Lass mich selbst sprechen.«

Sie ging zu Frau Gudmund und betrachtete ihr graues Gesicht.

»Sagen Sie mir, was Sie über meine Eltern wissen«, bat sie und fügte auf gut Glück hinzu: »Ich weiß von Emilias Geheimnis und von Kester Leven. Ihnen wird nichts geschehen und das Vergangene ist vergessen. Aber sagen Sie mir die Wahrheit.«

Frau Gudmund ließ den Blick zu den glänzenden Waffen der Soldaten vor der Tür huschen und schnappte nach Luft.

»Wir mussten es schwören …«, flüsterte sie.

»Wem haben Sie geschworen?«

Frau Gudmund schluckte.

»Deiner seligen Tante«, sagte Herr Gudmund. »Sie fürchtete sich so, dass es herauskäme und sie verhaftet würde. Sie würden sein Andenken schänden und …« Sie verstummten und sahen sich an. Elins Herz schlug bis zum Hals.

»Warum verhaftet?«, fragte sie ruhig. Die Gudmunds zögerten. Schließlich drehte sich Frau Gudmund um und ging hinaus. Spinnweben klebten an ihren Fingern, als sie wenig später zurückkam. Ihre Hand zitterte, während sie Elin eine Kette aus geschliffenen Halbedelsteinen reichte. Es war ein Rosenkranz.

»Der hat ihm gehört«, sagte Frau Gudmund. »Wir wollten ihn vernichten, aber er ist zu wertvoll.«

Elin starrte immer noch die Kette an. Schwer wie ein Mühlstein lag sie in ihrer Hand. Frau Gudmund leckte sich wohl schon zum hundertsten Mal über die Lippen. Tränen standen in ihren Augen.

»Emilia hatte ein Schriftstück an sich genommen. Nach dem Tod deiner … Ihrer Tante. Das ist alles, was wir wissen.«

»Wirklich alles?«

Die Gudmunds nickten wie Kinder, die froh waren, den Schlägen entronnen zu sein. Es kostete Elin viel Beherrschung, sich umzudrehen und die Hütte würdevoll zu verlassen. Der Rosenkranz hatte sich in ihrem festen Griff erwärmt und glühte in ihrer Hand. Hampus sprang herbei und begleitete sie zu ihrem Pferd. Mit unbewegtem Gesicht sah Henri zu, wie der Student ihr tröstend den Arm um die Schulter legte und wie Elin die Umarmung ihres Freundes erwiderte, bevor sie auf das Pferd stieg.

Kristina starrte sie an, als hätte sie verkündet, dass sie Kester Leven heiraten wolle.

»Bist du sicher?«, rief sie.

»Nein«, antwortete Elin. »Aber es sieht ganz danach aus, als wäre mein Vater in Deutschland heimlich konvertiert. Wenn meine Vermutung richtig ist, starb er als Katholik. Seine Schwester hat versucht, es zu verheimlichen. Emilia war die Einzige, die davon wusste.«

Kristina holte Luft und stützte sich auf dem Schreibtisch auf.

»Der Rosenkranz beweist gar nichts. Er kann auch Kriegsbeute sein. Für einen einfachen Soldaten ist er einiges wert.«

»Warum hat er ihn dann nicht zu Geld gemacht?«

»Er könnte auch deiner Mutter gehört haben. Es ist gut möglich, dass sie katholisch war.«

»Und warum hüten die Gudmunds das Geheimnis um meinen Vater um jeden Preis? Was ist mit dem Dokument?«

»Weißt du, was es bedeutet, wenn ein schwedischer Bürger katholisch wird?«, sagte Kristina. »Hochverrat. Wäre dein Vater nicht gestorben, hätte man ihn in Stockholm hingerichtet. Bei der Religion verstehen unsere hohen Herren keinen Spaß. Und wie bringst du jetzt Kester Leven ins Spiel?«

»Er nannte mich Papistenkind. Das … könnte bedeuten, dass … ich ebenfalls katholisch getauft wurde. Wie meine Eltern. Emilia hat das Geheimnis bewahrt – sie war die Freundin meiner Tante. Ich bin überzeugt, dass sie sich vor ihrem Tod Kester Leven anvertraut hat. Er hat jetzt alle Unterlagen.«

Kristina stöhnte und vergrub ihre kräftigen Finger in ihrem Haar. »Guter Gott«, sagte sie.

»Was werden Sie tun, Kristina?«

Die Königin zog überrascht die Brauen hoch.

»Tun? Gar nichts. Sollen wir das zu einem Skandal hochspielen? Soll ich einen Bediensteten des Bischofs beschuldigen, Dokumente zu unterschlagen? Emilia hat sie ihm gegeben, alles andere zählt nicht.«

»Aber es sind meine Dokumente, was auch immer darin steht! Es geht um meine Eltern!«

»Deine Eltern sind unwichtig«, sagte Kristina hart. »Es geht um dich. Wenn ich Kester Leven richtig einschätze, wird er Emilias Geheimnis hüten – er mag eitel und dünkelhaft sein, aber er ist mit Herz und Seele Geistlicher und hat hohe moralische Prinzipien. Und du bist heute eine Lutheranerin wie wir alle, gleichgültig, wie deine Eltern dich auf dem Schlachtfeld getauft haben mögen.«

»Aber Kristina!«

»Leven untersteht direkt dem Bischof. Ich kann ihm nicht befehlen, seine Schubladen vor uns auszuleeren.«

Als sie sah, wie Elin mit den Tränen kämpfte, wurde ihr Gesicht ein wenig weicher.

»Versteh mich doch, Elin«, bat sie sanft. »Ich werde versuchen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, das verspreche ich dir. Aber der direkte Weg ist zu gefährlich. Nehmen wir an, jemand zettelt eine Intrige gegen dich an und behauptet, du seist schon immer katholisch gewesen und hättest dich bei Hof eingeschlichen, um deinen Glauben zu verbreiten. Oder du seist eine Spionin der Papisten. Nehmen wir an, die Gudmunds lassen sich bestechen, jeden Eid zu schwören, dass deine Feinde die Wahrheit sprechen. Dann könnte selbst ich dich nicht davor schützen, dass dein Kopf eines Tages am Südtor aufgespießt wird.«

Elin fröstelte. Kristina hatte Recht. Trotzdem brannten Wut und Enttäuschung in ihrer Brust. Die Königin griff zur Feder – ein Zeichen dafür, dass die Unterredung für sie beendet war. »Und nun zu eurer ›Delegation‹«, sagte sie. »Solche Dinge dulde ich auf gar keinen Fall. Du wirst die Gudmunds mit einem angemessenen Betrag aus deinem Privatvermögen großzügig für den Schreck entschädigen. Und Henri de Vaincourt und seine Freunde will ich auf Tre Kronor nicht mehr sehen.«

Elin verabschiedete sich in den frühen Morgenstunden vor der Rückkehr nach Stockholm von Hampus. Er nahm sie in den Arm, drückte ihre Hand. Sie sprachen nicht viel und zur Enttäuschung über Kristinas Reaktion gesellte sich das Gefühl der Einsamkeit. Wer wusste schon, wann sie ihren Freund wieder sehen würde?

»Schreib mir aus Leyden«, bat sie.

Hampus lächelte. »Sooft ich kann.« Er machte eine scherzhafte Verbeugung. »Auf bald, Gräfin de la Feinte.«

Die Albträume kehrten zurück und verfolgten sie noch, als sie längst wieder in Stockholm war. Nachts hielt sie den Rosenkranz in der Hand, als könnte der kleine Goldjesus am Kreuz ihr die Zweifel nehmen.

Ein glühender Sommer hatte sich über das Land gesenkt, Helga stellte aus den säuerlichen, gelben Multbeeren aus dem Nordland eine köstliche Konfektfüllung her, aber Elin hatte jeden Appetit verloren. Lovisa wunderte sich kaum über Elins Niedergeschlagenheit, als sie von Emilias Tod, dem Abschied von Hampus und Henris Hausverbot im Schloss erfuhr. Kristina hielt es offenbar für das Beste, Elin mit Arbeit abzulenken. Schon bei Tagesanbruch stellte Elin Listen auf, prüfte die Berechnungen für neue Regale und katalogisierte Bücher.

Sooft sie konnte, besuchte sie Monsieur Chanut in der Hoffnung, Henri zu sehen. Mürrisch saß er im Haus des Botschafters, vergrub sich in seinen Büchern über Sternkunde und trank zu viel Wein. Als hätte Uppsala nicht existiert, verwandelte er sich wieder in den arroganten Grafensohn, der sich mit Elin bissige Wortgefechte lieferte. Nur auf ihre Herkunft sprach er sie nicht länger spöttisch an.

»Sind Sie wütend, weil Sie wegen mir Hausverbot im Schloss haben?«, fragte Elin ihn einmal.

Henri zeigte sein arrogantes Lächeln.

»Sollte ich das sein? Für einen Lahmen wie mich ist der Weg zum Schloss ohnehin zu beschwerlich.«

Elin konnte offenbar nichts Richtiges sagen. Umso einfacher war es, die Wut auf Henri wieder aufflackern zu lassen.

Und manchmal war sie sogar froh darum, sich mit ihm streiten zu können, auch wenn sie ihm viel lieber ihre Zweifel anvertraut hätte. Das Band, das in Emilias Haus zwischen ihnen bestanden hatte, schien wieder gerissen zu sein. Trotzdem ertappte sich Elin dabei, wie sie öfter als nötig bei Monsieur Chanut zu Gast war. Manchmal blieb sie im Empfangszimmer sitzen, während der Hauskaplan im Keller die katholische Messe las – über ein Buch gebeugt lauschte sie und stellte sich vor, mit den Katholiken zu beten. Mit scheuer Faszination betrachtete sie die geweihten Gegenstände, die Kelche, die Madonnenbilder und die goldene Monstranz.

Mitten in diesen angespannten Wochen kam die Nachricht aus Holland. Monsieur Descartes hatte zugesagt, nach Stockholm zu kommen und die Königin zu unterrichten. Trotz aller Sorgen gab diese Mitteilung Elin für kurze Zeit ihre gute Laune zurück.

An einem Augusttag, der vor Farben glühte, nahm sie sich ein Herz und klopfte an Henris Kammertür.

Der junge Graf hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt, überall lagen Bücher herum. Ein halbvolles Weinglas stand auf dem Nachttisch. Für einen Augenblick leuchtete Henris Gesicht auf, als er Elin erblickte, dann aber verschwand sein Lächeln und ließ Elin umso einsamer zurück.

»Machen Sie doch das Fenster auf, Henri!«, sagte sie ärgerlich. »Draußen ist ein Sommer, wie Sie ihn sicher noch nie gesehen haben.«

»Das mag für Sie etwas Besonderes sein, aber kein schwedischer Sommer kann sich mit einem in Frankreich vergleichen.«

»Wenn es so ist, wundere ich mich, warum Sie hier sind.«

»Weil es für mich keinen Unterschied macht. Verliebte sehen überall die Sonne – und für die Hoffnungslosen ist es überall Nacht.« Mürrisch griff er nach dem Weinglas und leerte es in einem Zug.

Elin verschränkte die Arme. Sie wusste wieder einmal nicht, ob sie ihn schlagen oder umarmen wollte.

»Solche pathetischen Worte, Monsieur Henri«, spottete sie. »Wissen Sie, Sie sind unterhaltsamer, wenn Sie reiten statt zu sprechen. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie mich auf einen Ausritt begleiten wollen.« Jetzt schlug ihr Herz bis zum Hals. Henris Augen schienen zu glühen.

»Ach, kaum sind die Kavaliere aus dem Haus, ist der Krüppel wieder gut genug.«

Das beantwortete Elins Frage. Sie hatte eindeutig Lust, ihn zu schlagen.

»Warum sind Sie so verletzend?«

Seine Antwort war scharf.

»Warum spielen Sie mit den Menschen?« Er stellte das Weinglas so hart auf dem Nachttisch ab, dass Elin fürchtete, es würde zerbrechen. »Erik hat mir von Ihrer Verlobung mit Hampus erzählt. Was würde Ihr Verlobter dazu sagen, dass Sie mit anderen Männern ausreifen?«

»Wenn Erik so etwas behauptet, ist er ein Großmaul. Ich habe niemandem versprochen, ihn zu heiraten! Sie scheinen es noch nicht bemerkt zu haben, Monsieur Henri – aber es existiert auf der Welt so etwas wie Freundschaft. Andererseits wundert es mich nicht, dass Sie diese Regung nur sehr selten antreffen.«

»Für Sie ist es einfach, über andere Menschen zu richten«, sagte er heiser. »Sie haben noch ein Leben. Meines ist vorbei. Wer will schon einen Krüppel?« Er räusperte sich. Der Wein vernebelte seinen Blick. »Sie doch sicher nicht, Mademoiselle.«

Der scharfe Spott in seiner Stimme fachte Elins Wut noch mehr an.

»Bilden Sie sich nur nichts auf Ihr Elend ein«, zischte sie ihm zu. »Jeder trägt seine Wunden. Sie sind weiß Gott überhaupt nichts Besonderes, Henri.«

Der Weinduft musste ihr zu Kopf gestiegen sein, anders konnte sie es sich kaum erklären, wozu sie sich nun im Zorn hinreißen ließ. Henri errötete, als er sah, wie sie zu der Schnürung ihres Mieders griff. Mit wütenden Bewegungen löste sie Band um Band, setzte sich zu ihm an den Bettrand und wandte ihm den Rücken zu. Dann zerrte sie das Mieder auf und streifte sich entschlossen das leinerne Unterkleid über die Schultern. Ihre Narbe pochte, als würde Henris Blick sie erwärmen. Sie wusste, was er sah. Mithilfe eines zweiten Spiegels hatte sie die Narbe schon oft betrachtet – eine rote, verzerrte Sonne. Nie hätte sie Hampus einen Blick darauf werfen lassen und selbst bei Lovisa schämte sie sich, so viel Hässlichkeit zu zeigen, aber hier, in Henris Gegenwart, fühlte es sich seltsamerweise richtig an. Das erschreckte sie noch mehr als ihre Kühnheit. Henri schwieg, während ihr Herz so heftig schlug, dass die Narbe pulsierte und wieder zu schmerzen begann. Elin schämte sich unendlich. »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie. »Ich benehme mich wie ein Barbar. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.« Gerade wollte sie das Hemd wieder über ihre Schulter streifen, als eine Berührung sie innehalten ließ. Ein leichter Atemhauch strich über ihre Haut und ließ sie frösteln. So behutsam, als könnte jede Berührung sie verletzen, küsste Henri erst ihre Narbe und dann ihren Nacken. Elin wagte kaum zu atmen, als er die Arme von hinten um sie legte. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, ließ sich ganz in diese Umarmung fallen. Sie schwiegen lange, als hätten sie Angst, ein einziges Wort könne diese Nähe zerstören. Schließlich zog Elin ihr Unterkleid wieder über die Schultern, drehte sich um und sah Henri ins Gesicht. In seinen Augen fand sie Schmerz. Er betrachtete Elin wie eine Kostbarkeit, die er nie besitzen würde. Trotz des bitteren Zugs um seinen Mund waren seine Lippen unendlich schön. Vorsichtig strich sie ihm das schwarze Haar aus der Stirn. Ihre Finger schienen auf einmal alles viel intensiver zu fühlen. Schließlich beugte sie sich zu ihm und küsste ihn. Und selbst wenn er sie dafür verspotten würde – in diesem Augenblick war es unwichtig, wichtig war nur diese Sehnsucht, seine Lippen zu berühren.

Es fühlte sich ganz anders an als Kristinas Kuss oder Hampus’ Umarmung. Das hier war Sehnsucht und gleichzeitig das Gefühl, das Ersehnte endlich gefunden zu haben. Henri zog sie an sich und erwiderte ihren Kuss wie ein Ertrinkender. Als sie sich nach einer Ewigkeit voneinander lösten, verwirrt, mit pochenden Lippen und rasenden Herzen, lächelten sie sich verlegen an.

Erst als die Tür zuklappte, fuhren sie ertappt auseinander.

Als Elin auf Tre Kronor ankam, wartete bereits Lovisa auf sie. Ihr Gesicht war vor Zorn verzerrt. Ohne ein weiteres Wort packte sie Elin grob am Arm und stieß sie in das nächstbeste Zimmer.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Elin antwortete nicht, sondern senkte nur den Kopf. Sie brauchte nicht zu fragen, wovon Lovisa sprach. Die Hofdame wetterte ohnehin schon los.

»Monsieur Tervué war bei den Chanuts zu Besuch und hat dich gesehen! So gut wie nackt auf Monsieur Henris Bett! Bist du noch zu retten? Ist dir klar, dass du deine Zukunft ruinierst?«

»Ich war nicht nackt«, murmelte Elin. »Es war nur …«

»Schweig!« Lovisa rang die Hände. »Und noch dazu mit einem Katholiken. Herr Nilsson wird dich nicht einmal mehr mit der Schmiedezange anfassen. Ganz zu schweigen von …«

»Ich lege keinen Wert auf Herrn Nilsson.«

Die Ohrfeige traf sie so unerwartet, dass Elin erschrocken zurücktaumelte. Entsetzt tastete sie nach ihrer brennenden Wange. Lovisa hatte sich umgewandt.

»Das Traurige ist nicht, dass du ein Hurenkind bist«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Das Traurige ist, dass du dich wie ein solches benimmst.«

Der Abend an der Festtafel verlief für Elin wie ein Besuch am Pranger. Ebbas mitleidiger Blick war die harmloseste Reaktion. Monsieur Tervué verließ demonstrativ den Tisch. Die Gerüchteküche kochte offenbar gut. Vor allem die adligen Mädchen, inzwischen fast alle anständig verheiratet, schienen nur auf die Gelegenheit gewartet zu haben, das Feuer zu eröffnen. Kristina ließ sich nichts anmerken, sie plauderte mit Ebba und Elin, obwohl Elin der scharfe Unterton nicht entging. Auf Silberplatten wurden rote Flusskrebse serviert. Mit brennenden Wangen beugte sich Elin über ihren Teller und bemühte sich, das Getuschel hinter den Fächern zu überhören. »Hure«, zischte es über den Tisch. Ungerührt griff die Königin zu ihrem Weinglas. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, raunte sie Elin zu.

Natürlich war es nicht das letzte Wort, das in dieser Sache gesprochen wurde. Am nächsten Tag zitierte Kristina Elin in ihre Kanzlei.

»Du kannst dir hier einiges erlauben, aber kein unzüchtiges Verhalten. Ich lege Wert auf Tugend und Anstand.«

»Warum werde ich behandelt wie eine Verbrecherin? Wenn Monsieur Tervué sich als Moralapostel aufspielen will, müsste man auch über Henri tuscheln. Wir waren immerhin zu zweit.«

»Stellst du dich so dumm? Du bist eine Frau. Und du hast dein Mieder aufgeschnürt und ihn geküsst.«

»Was ist dabei, jemanden zu küssen? Ausgerechnet Sie machen mir Vorwürfe!«

Kristinas Mundwinkel zitterten, dann konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seufzend schüttelte sie den Kopf.

»Die Liebe, Elin. In deinem Fall ist es nur die Verbindung von Sommerluft und deiner Jugend. Aber ich verstehe dich besser, als du denkst. Als ich siebzehn war, habe ich Karl Gustav leidenschaftlich geliebt – trotzdem glaube ich nicht, dass Henri die richtige Wahl für solche Eskapaden ist. Was ist mit deinem Hampus?«

»Er ist ein Freund! Wie oft muss ich das denn noch wiederholen? Und was ist mit den Grenzen, von denen Sie mir erzählt haben? Wir schaffen sie uns selbst.«

Plötzlich sah die Königin müde aus.

»Ach, Elin. An den Wänden alter Konventionen wirst du dir nur den Kopf einrennen. Lerne nach den Regeln zu spielen, bevor du sie brichst.«

»Aber …«

»Ich werde die Gerüchte dementieren und Monsieur Tervue bitten, über den Vorfall zu schweigen. Dann muss ich darauf bestehen, dass du Monsieur Henri nicht mehr triffst. Du wirst sehen, das Gefühl verfliegt, der Rausch geht vorbei. Und ich brauche dich hier in der Bibliothek.«

Elin dachte an Henri und schluckte schwer. Das war nicht die Kristina, die ihr nahe stand – unmerklich hatte sich etwas zwischen sie geschoben. Es war nicht dicker als ein Theatervorhang, dennoch fühlte sich Elin ausgegrenzt und allein.

»Hast du verstanden?«

»Ja, Majestät«, sagte sie leise.

Die Wogen glätteten sich nur langsam. Während draußen die Sonne schien, erledigte Elin ihre Arbeit in der Bibliothek und lernte verbissener denn je. Nachts träumte sie von Henri, sehnte sich so sehr nach ihm, dass es schmerzte, und fragte sich, ob er auch an sie dachte. Eines Tages, als sie Enhörning für einen Ausritt mit Lars sattelte, trat ein Stallknecht neben sie. »Schauen Sie in das Geheimfach Ihres Sattels«, flüsterte er. Elin klappte das Leder zurück. Ein ganzer Schmetterlingsschwarm erhob sich in ihrem Bauch, als sie einen Brief fand. Er war von Henri.

Wie vereinbart, hatte sich Elin nach Mitternacht aus dem Schloss geschlichen. Es war nicht schwer gewesen, durch die Gewölbekeller über den Bootsanleger nach draußen zu gelangen. Eine glühende Sommernacht ließ den Mälarsee leuchten. Elin war sogar noch aufgeregter als damals, als sie den Brief an Adler Salvius überbringen sollte. Sie lief durch die Gassen zum Hinterhof in der Skomakargatan. Dort hatte sie einen Diener erwartet, aber die Gestalt im Mauerschatten war Henri! Als er Elin entdeckte, ging in seinem Gesicht die Sonne auf. Er ließ die Zügel der beiden Pferde los und umarmte Elin so fest, dass ihr die Luft wegblieb. Ohne ein Wort zu wechseln stiegen sie auf die Pferde, passierten die Wachen an der Brücke, die Henri offenbar gut dafür bezahlt hatte, das Tor zu öffnen, und galoppierten bald darauf in den mitternächtlichen Wald. Elin kamen all die Feenmärchen in den Sinn, die Emilia ihr einst erzählt hatte. Ein wenig fühlte sie sich selbst wie eine Fee, als sie neben Henri hergaloppierte, während Tre Kronor längst hinter dunklen Vorhängen schlief. An einer Lichtung brachten sie ihre Pferde zum Stehen, stiegen ab und ließen sich auf das Gras sinken. Farne leuchteten in der hellen nordischen Nacht. Eine Weile saßen sie einfach nur da, betrachteten die Waldschatten und lauschten auf das Knacken im Unterholz. Dann fanden sich ihre Hände und sie rückten so nah zusammen, dass sie den Herzschlag des anderen spürten. Es war einfacher zu küssen als zu sprechen, und so schwiegen sie. Jeder Streit war vergessen.

»Ich habe dich so oft beobachtet«, flüsterte er ihr zu – viel später, als sie durch den Wald zurück zu den Pferden gingen, die Finger ineinander verflochten. »Damals, als du reiten gelernt hast. Erinnerst du dich? Das Pferd hat dich an diesem einen Nachmittag mindestens zwanzigmal abgeworfen – und du bist immer wieder aufgestiegen. Ich habe dich für deine Hartnäckigkeit und deinen Mut gehasst. Aber heute …« Er lächelte ihr zu und küsste sie, als würden sie sich nach diesem heimlichen Ausritt nie wieder sehen.

Aber sie sahen sich wieder. Elin verlebte die Tage wie eine Schlafwandlerin die Nächte. Sie lernte mit Feuereifer und machte ihre Arbeit in der Bibliothek so gut, dass die Gelehrten sie lobten und die Gerüchte langsam in Vergessenheit gerieten. Nachts aber verwandelte sie sich in eine andere Elin, eine Elin, die leuchtete wie ein Sommerfeuer und die keinen Schlaf brauchte. Und während die anderen Mädchen, wie es Brauch war, für die Mittsommernacht neun verschiedene Blumen sammelten und sie unter das Kissen legten, um von ihrem zukünftigen Ehemann zu träumen, träumte Elin mit offenen Augen von Henri und schlich sich wie ein Dieb aus dem Schloss.

Während dieser nächtlichen Ausritte ließen sie sich in einem Meer von Farnblättern treiben und küssten sich, bis ihre Lippen pochten. Nach und nach fanden sie zwischen ihren Umarmungen ihre Sprache wieder – und Elin lernte den Henri kennen, der ihr bis zu dem Tag in Chanuts Haus nur selten begegnet war.

»Mein Land unterscheidet sich gar nicht so sehr von Schweden«, erzählte er flüsternd. Elin lag auf der Wiese. Henris Hände spielten mit ihrem Haar und unter ihrer Wange fühlte sie sein Herz schlagen. Bei Henri hatte sie nie Angst davor, die Augen zu schließen. »Es ist nicht so warm wie Italien, aber die Farben über dem Meer sind wunderschön! Unsere Kirchen sind aus Granit gemacht – wie die Klippen auf Södermalm hier. Es ist ein raues Land mit rauen Leuten.«

»So rau wie dein Vater?«, murmelte Elin.

Henri schwieg lange, bevor er antwortete.

»Nicht alle sind wie er«, sagte er schließlich leise. »Meine Mutter ist anders – sie hat ein großes Herz. Mein Vater dagegen ist ein Soldat, den der Krieg viel zu hart gemacht hat. Und er ist dünkelhaft, weil er ehrgeizig ist und dennoch seine politischen Ziele nicht erreichen konnte. Am Hof hat er sich durch seinen Ehrgeiz viele Feinde gemacht. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er Paris verlassen muss. Außerdem kann er sich die Hochzeit mich meiner Mutter nie verzeihen.«

»Warum?«

»Ihr Erbe hat ihm nicht das Geld gebracht, das er sich erhoffte. Er ist der Meinung, unter seinem Stand geheiratet zu haben. Jeden Tag lässt er sie spüren, dass sie eine schlechte Wahl war.« Er machte eine Pause. »Uns alle lässt er es spüren.«

»Ist … er denn so arm?«

Henri seufzte.

»Arm unter den Reichen. Er hat viel in einem Erbschaftsstreit mit meinem Onkel verloren. Meine Familie besitzt nur noch ein kleines Schloss in der Bretagne, einige Landgüter und Tuchwebereien, außerdem Äcker, auf denen Flachs und Hanf angebaut wird. Die Tücher für die Segelschiffe bringen gutes Geld.«

»Nur ein kleines Schloss«, spottete Elin. »Und du bist nur ein armer Edelmann, der sich über Flachsanbau Gedanken macht.«

»Besser als über den Krieg nachzudenken«, gab Henri zurück. Er richtete sich halb auf und fuhr mit den Fingern die Linie ihres Wangenbogens nach. Sie liebte diesen Ausdruck von Verletzlichkeit in seinem Gesicht. »Als ich … auf dem Schlachtfeld war, habe ich nicht besonders viel Mut bewiesen. Ich dachte immer, wir wären edel von Geburt, so hatte mein Vater es mich gelehrt. Aber als ich … verwundet war … ließ mein Vater mich liegen. Versorgt hat mich ein Soldat. Ich glaube, dort habe ich begriffen, dass die Welt nicht aus hohen und niederen Menschen besteht. Sie besteht aus Kriegern und Bürgern. Und die Krieger zogen nach der Schlacht plündernd und zerstörend durch Bayern – Schweden und Franzosen, Adlige und Söldner, es machte keinen Unterschied.« Er räusperte sich und sah zu den Pferden hinüber. »Mein Vater nennt mich Memme, weil ich ein Krüppel bin und mich nicht zu einer militärischen Karriere berufen fühle.«

Elin dachte an den Schmerz ihrer Verletzung durch den Bolzen der Armbrust und schauderte. Sie nahm Henris Hand und drückte sie an ihre Lippen. »Ich halte dich für einen klugen Mann«, sagte sie. In solchen Augenblicken, in denen sie Henri besonders liebte, wurde ihr bewusst, dass die Tage bereits kühler wurden und schon bald die letzten Schiffe Kurs auf die Ostsee nehmen würden.

»Was wirst du am meisten vermissen, wenn du wieder in Frankreich bist?«, fragte sie. Henri lachte.

»Nichts. Weil ich nicht nach Frankreich zurückgehe.«

»Du kannst nicht ewig in Schweden bleiben.«

»Mich ruft nichts zurück«, erwiderte Henri. »Was soll ich in einem Haus, in dem ich Feigling genannt werde?«

Seine Stimme bekam einen bitteren Klang. »Ich kann es nicht verstehen – so sehr habe ich versucht, ihm zu gefallen. Ich führte mich auf wie er, ich prügelte mich und zog mit den anderen Kavalieren herum, aber es gelang mir nie, so zu sein wie er. Ich weiß nicht, warum er mich so sehr hasst.«

»Weil du Henri bist«, sagte Elin. »Er hasst dich für all das, was ich … an dir liebe.«

Der Herbst kam in diesem Jahr früh und war golden. Voller Ungeduld wartete Kristina auf die Ankunft von Herrn Descartes. Immer noch war sie damit beschäftigt, den Frieden durchzusetzen, der zwar auf dem Papier bestand, aber weitere Verhandlungen erforderte. Marodierende Söldnerhorden zogen durch die deutschen Städte, der Krieg hatte die Staatsfinanzen geschwächt und die Königin musste nun in ihrem eigenen Land Ordnung schaffen. Dafür beorderte sie deutsche Handwerker nach Schweden, verbesserte die Verwaltung und Infrastruktur ihres Landes und verbot endgültig jegliche Hexenverfolgung. Inzwischen plante sie auch die Errichtung einer wissenschaftlichen Akademie auf Tre Kronor. Zu Elins Kummer diskutierte sie darüber am liebsten mit Monsieur Tervué. Seltsamerweise bestand zwischen ihr und der Königin seit dem Gespräch über Henri immer noch eine unterschwellige Spannung, die sich Elin nicht erklären konnte. Bisher hatte Kristina nichts über Kester Levens Papiere in Erfahrung bringen können und vertröstete sie stets aufs Neue.

Es war Anfang September, als Henri zum ersten Mal wieder das Schloss betreten durfte und zu den Jagden eingeladen wurde. Elin und Henri achteten darauf, sich ihre Vertrautheit nicht anmerken zu lassen, und verfielen in ihre alte Gewohnheit, sich spöttische Sätze zuzuwerfen. Es war erstaunlich einfach – und Elin erkannte mit Verwunderung, wie haarfein die Linie zwischen Liebe und Hass war. So mühelos beherrschte Henri es, in die Rolle von Monsieur de Vaincourt zu wechseln, dass es Elin manchmal nicht geheuer war. Nur Freinsheim lächelte wissend, wenn sie in der Bibliothek Schach spielten, und gab vor, nicht zu bemerken, wie sich verstohlen ihre Hände berührten, wenn eine der Spielfiguren zu Boden fiel. Tervué beobachtete Elin in diesen Wochen ebenso genau wie Lovisa. Elin wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, und immer wieder sagte ihr eine gemeine Stimme, die der von Kristina erschreckend ähnlich war, dass ein Graf, mochte er auch ein Armer unter den Reichen sein, niemals eine Reiche unter den Armen lieben konnte.

Der zerbrochene Spiegel

Das Schiff mit Passagieren aus Holland kam in Stockholm an, als schon die ersten Herbststürme die Blätter von den Bäumen fegten. Elchschinken hingen in den königlichen Räucherkammern; Fässer mit eingelegten Pilzen, Fisch und Zwiebeln lagerten bereits als Wintervorrat in den Kellern.

»Monsieur Descartes ist da!«, rief Kristina Elin zu, die eben die Weisungen für ein neues Schulhaus überprüfte. »Ausgerechnet jetzt, wo Chanut für ein paar Wochen in Frankreich ist! Gib Herrn Freinsheim Bescheid und geh mit ihm zum Hafen!«

Elin sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl beinahe umfiel. Wenig später verließ sie mit ihrem weiten Dominomantel bekleidet das Schloss und eilte zur Anlegestelle. Ein schneidender Herbstwind heulte um die Häuser am Hafen. Blinzelnd sah sich Elin nach Herrn Freinsheim um, aber natürlich brauchte er einige Zeit, um mit der Kutsche nachzukommen. Währenddessen gingen bereits die ersten Passagiere von Bord. Elin hielt den Mantel mit den Händen zu und spähte zu den gebeugten Gestalten, die im Gänsemarsch das Schiff verließen. Vor Aufregung wurde ihr Mund ganz trocken.

»Monsieur Descartes?«, rief sie auf gut Glück. Fünf Gestalten hoben den Kopf – eine winkte. Descartes war nicht besonders groß, dicklich und unscheinbar. Es war nichts Strahlendes an ihm. Nie hätte sie vermutet, einen der größten Philosophen ihrer Zeit vor sich zu haben. Eine Zornesfalte teilte seine Stirn. Er hatte dunkle, ausdrucksstark geschwungene Brauen und tiefe Falten um den Mund. Seine Augen waren hellwach.

»Monsieur Freinsheim wird gleich mit der Kutsche hier sein, um Sie zur Botschaft zu bringen«, sagte Elin.

»Nach der langen Fahrt hätte ich auch nichts dagegen, einige Straßen zu Fuß zu gehen«, gab der Philosoph zurück und schenkte ihr ein liebenswertes, schlaues Lächeln.

Schon am nächsten Tag ließ Kristina Monsieur Descartes ins Schloss bitten. Zu Elins Überraschung erschien der unscheinbare Mann herausgeputzt wie ein Edelmann mit spitzengeschmückten Handschuhen, geschlitzten Ärmeln und frisch gewelltem Haar in der Bibliothek.

»Griechisch, Mademoiselle?«, fragte er tadelnd und tippte mit spitzem Finger auf das Buch, das aufgeschlagen vor Elin lag. »Zeitverschwendung. Lassen Sie die klassische Philologie hinter sich und vertrauen Sie lieber auf Ihren Verstand. Wie Madame Chanut mir in ihren Briefen mitteilte, haben Sie genug davon.«

Verlegen klappte Elin das Buch zu.

»Aber man muss doch die alten Sprachen können.«

»Überflüssig! Gedankenspiele für Kinder. Bestimmt beschäftigen Sie sich auch mit Geschichte, nicht wahr?«

Sie nickte. Descartes lachte nachsichtig.

»Sie sind jung, Mademoiselle. Aber Sie werden feststellen, dass uns die Geschichte keine Antworten liefern kann. Es sind nur Ansammlungen fremder Gedanken und Behauptungen. Die wahren Antworten liegen in uns selbst.«

Elin wollte gerade etwas erwidern, als schon Kristina in Begleitung von Herrn Freinsheim auftauchte. Sie strahlte wie ein Mittsommertag, als sie den Philosophen begrüßte.

»Mein lieber Herr Cartesius!«, rief sie. »Ich hoffe, Sie fühlen sich in der Botschaft wohl, auch wenn die Chanuts nicht da sind?«

»Vielen Dank für Ihre Sorge, Majestät«, erwiderte Descartes. »Der junge Monsieur de Vaincourt tut alles, um mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Bei den Kenntnissen, die er sich in der Astronomie angeeignet hat, würde er einen guten Kapitän abgeben.«

»Ich bin sicher, Sie werden sich schnell einleben und sich hoffentlich dazu entschließen, recht lange bei uns zu bleiben. Der Winter mag einem Mann aus den wärmeren Ländern grau erscheinen, aber den Sommer hier müssen Sie erleben!«

Elin entging nicht, wie der Philosoph kaum merklich zusammenzuckte.

»Bedauerlicherweise bleibe ich nur ein paar Wochen, Ihre Majestät, um Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.

Kristinas Antwort war ein Lächeln, das Elin nur allzu gut kannte.

Für die Philologen und anderen Gelehrten bei Hofe war die Ankunft des Philosophen wie ein Wind, der die sorgfältig auf einem Tisch angeordneten Papiere durcheinander wirbelte. Descartes dachte gar nicht daran, seinen Widerwillen gegen das Studium der alten Sprachen zu verbergen. Gerne stritt er sich auch mit Tervué und zog dessen mathematisches und theologisches Wissen in Zweifel. Und auch mit den protestantischen Geschichtswissenschaftlern verscherzte er es sich, allen voran mit Herrn Gesenbek.

Je dunkler die Wintertage wurden, desto frostiger wurde auch das Klima am Hof. Nur Königin Kristina schien davon nichts zu bemerken. Die Regierungsgeschäfte beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Der Rat drängte darauf, dass sie endlich den offiziellen Krönungstermin bekannt geben sollte, und Karl Gustav versuchte immer noch, sie zur Heirat umzustimmen.

An einem kalten Morgen beorderte sie Descartes zu einer Audienz. Inzwischen war der erste Schnee gefallen und hatte die Stadt mit eisigem Samt bedeckt. Als Elin an die Tür der Botschaft klopfte, war es kurz nach vier Uhr in der Frühe. Descartes tat ihr Leid, offenbar war er ein so zeitiges Aufstehen nicht gewöhnt. Er sah steinalt aus, hatte noch den Abdruck einer Kissenfalte auf der Wange und nuschelte eine unverständliche Begrüßung. Henri, der ebenfalls aufgestanden war, nutzte die Zeit, in der der Philosoph seine Bücher zusammensuchte, um mit Elin einige Worte zu wechseln. In Augenblicken wie diesen fehlten Elin die Sommernächte besonders – die lächerlich wenigen gestohlenen Momente, die sie für sich hatten, vergrößerten ihre Sehnsucht und ließen sie beide umso hungriger nach Nähe zurück.

Pünktlich um fünf Uhr morgens begann der Unterricht in der zugigen Bibliothek des Schlosses. Zu ihrer maßlosen Enttäuschung durfte Elin nicht daran teilnehmen.

»Ärgern Sie sich nicht, Fräulein Elin«, tröstete Herr Freinsheim sie. »Sie werden noch genug Gelegenheit haben, mit Monsieur Descartes zu sprechen.«

Wie Recht der Bibliothekar mit dieser Vermutung hatte, durfte Elin schon in den nächsten Wochen erfahren. Denn obwohl der Philosoph von der Königin und ihrem Wissen begeistert war und der nächsten Unterrichtsstunde entgegenfieberte, schien Kristina ihn mit einem Mal vergessen zu haben und wies ihn an, die folgenden Wochen erst einmal dazu zu nutzen, sich in Stockholm einzuleben. Währenddessen wurde das Kesseltreiben der Gelehrten bei Hofe immer schlimmer. Gegen Descartes wurden Gerüchte geschürt. Er wurde angefeindet und beschuldigt, atheistische Lehren zu verbreiten. Unterlagen verschwanden, gefälschte Briefe waren im Umlauf. Gekränkt zog sich Descartes schließlich in die Botschaft zurück.

»Diese Königin hat alles gesehen, alles gelesen – ihr Geist ist wirklich außerordentlich und sie weiß alles!«, bemerkte er, als er mit Freinsheim, Henri und Elin am Tisch saß. »Aber sie geht mit Menschen so um wie mit Büchern, die sie sich beschafft und in ihrer Bibliothek abstellt. Offenbar sammelt sie Wissenschaftler wie andere Leute Kuriositäten.«

Elin schwieg, aber insgeheim gab sie dem Philosophen Recht. In letzter Zeit war das Verhältnis zwischen Kristina und ihr noch angespannter geworden. Es war beinahe so, als hätte ihre Liebe zu Henri die feste Mauer der Freundschaft zu Kristina an einigen Stellen beschädigt. Steinchen für Steinchen löste sich, Lücken wurden sichtbar, durch die Elin jetzt Details wahrnahm, die sie früher nicht gestört hatten. Umso schöner waren die Abende im obersten Stock der Botschaft, wo Descartes Henri und ihr mit dem Blick auf einen samtfarbenen und diamantbestickten Himmel den Lauf der Gestirne erklärte, über Astronomie und Arithmetik sprach und neue Welten der Vernunft und des Verstandes an den Himmel malte, die alle nach mathematischen Prinzipien erfasst werden konnten. Verstohlen betrachtete Elin Henris Gesicht, wenn er in den Himmel schaute – und er gefiel ihr besser denn je. Doch auch mit Henri ging in diesen Wochen eine Veränderung vor. Er war schweigsamer geworden und grübelte viel vor sich hin. Seinen Kummer wollte er Elin nicht verraten, und so erklärte sie sich sein Verhalten mit den langen dunklen Nächten und der Einsamkeit in der verwaisten Botschaft.

Nach und nach verlor sie ihre Scheu vor Descartes und kam zu dem Schluss, dass er ein liebenswürdiger und väterlicher alter Mann war – ein wenig verhärtet durch sein Schicksal, aber ein unerschütterlicher Menschenfreund. Nur wenn er von der menschlichen Maschine sprach, erinnerte sich Elin an Emilia und zweifelte daran, dass der Mensch wie ein Uhrwerk repariert werden konnte. Verstohlen strich ihr Henri dann über den Arm.

Als hätte das Kesseltreiben gegen Descartes auch den Blick auf Elin gelenkt, flammten überraschend die Gerüchte über sie und Henri wieder auf – erst unmerklich, schließlich immer offener. Schmähbriefe machten die Runde, und einige Wissenschaftler, die Elins Dienste bis vor kurzem hoch geschätzt und sie für ihre Wissbegierde gelobt hatten, weigerten sich nun, sie zu unterrichten. Ganz offen ließ Tervué in der Bibliothek unverschämte Bemerkungen fallen, mit denen er darauf anspielte, dass Elin als Descartes’ Spionin arbeite. An dem Tag, an dem das erste Mal offen das Wort »Franzosenhure« fiel, klopfte es energisch an der Tür zu Elins Gemach, in das sie sich geflüchtet hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Kristina die Tür und trat ein. Instinktiv verbarg Elin den noch verschlossenen Brief, den ihr Henri hatte zukommen lassen, hinter dem Rücken.

»Nun?«, sagte Kristina barsch. »Gibst du deinen Feinden Recht, indem du dich hier verkriechst?«

»Und Sie?«, konterte Elin. »Lassen Sie meinen Feinden freie Hand, indem Sie die Beleidigungen überhören?« Sie ärgerte sich darüber, wie kläglich ihre Stimme klang, und hoffte, der Königin würden ihre geröteten Augen nicht auffallen. Mit wenigen Schritten war Kristina bei Elins Bett und ließ sich darauffallen.

»Deshalb bin ich hier«, sagte sie. »Weil ich mich nicht länger taub stellen kann. Und weil ich dir gegenüber nicht länger stumm bleiben will.« Sie machte eine Pause, in der sie sich ein weiteres Kissen heranzog und unter ihren Kopf schob. »Du hast mir besser gefallen, als du Henri noch gehasst hast«, meinte sie schließlich in freundlichem Plauderton. »Erinnerst du dich noch an den Brief, den ich Monsieur Descartes vor einem Jahr geschrieben habe? Wir diskutierten darüber, was den größeren Schaden verursacht: falsch angewendete Liebe oder Hass. Nun, ich sagte ihm, meiner Meinung nach sei es die Liebe. Diese Leidenschaft führt uns zu weit größeren Exzessen. Denn der Hass richtet sich nur auf das gehasste Objekt, während die gestörte Liebe nichts verschont – nur ihr Objekt. Allen anderen um sie herum schadet sie ohne Bedenken.«

Elin hatte schon bei den ersten Worten der Königin Herzklopfen bekommen. Die Kanten von Henris Brief drückten in ihre Handfläche.

»Dann sprechen wir hier von zwei unterschiedlichen Dingen, Kristina«, sagte sie. »Sie von falsch angewendeter Liebe. Ich von der Liebe zwischen Henri und mir.«

Die Königin lachte auf – es war ein zynisches Lachen. Elin konnte wieder einmal durch die Lücke in der Mauer sehen und erkannte in Kristina eine verbitterte junge Frau, gefangen in ihren Ängsten und Leidenschaften, die sie auch durch alle Vernunft nicht besiegen konnte.

»Wie du meinst, Elin. Dann will ich jetzt ehrlich zu dir sein, auch wenn es grausam klingen mag: Wo, denkst du, soll das, was du für Liebe hältst, hinführen? Meinst du etwa, Graf de Vaincourt heiratet eine Scheuermagd? Und noch dazu einen Bastard?«

»Einen gelehrten Bastard«, erwiderte Elin würdevoll. »Sie sollten wissen, dass mich solche Worte schon lange nicht mehr treffen. Und niemand sagt, dass ich je daran gedacht habe zu heiraten.«

Das war nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit war ihr elend vor Angst. Wie immer hatte Kristina das Messer direkt in die Wunde gestoßen.

»Denke daran, dass du nicht die Privilegien hast, die einer Königin gebühren.« Kristina musterte Elin mit einem Ausdruck von Mitleid, der Elin wütend machte. »Weißt du, dass Henris Vater gedroht hat, ihn zu enterben?«

Zu ihrem Ärger konnte Elin ihre Überraschung nicht verbergen. »Aha«, meinte Kristina trocken. »Da haben meine Zuträger also bessere Arbeit geleistet als die Liebe. Kannst du dir vorstellen, was der Grund für diese Drohung ist?«

»Zwischen ihnen … gibt es immer Streit. Sie sind sehr verschieden.«

»Nun, ich wünschte aufrichtig für dich, das wäre der einzige Grund. Nein, Henri ist derzeit nicht gerade entzückt von seiner adligen Verlobten in Frankreich, die dem Haus de Vaincourt einen Aufstieg garantieren würde.«

Die Nachricht traf Elin wie ein Schlag ins Gesicht. Dennoch riss sie sich zusammen.

»Falls es in dieser Hinsicht etwas zu bereden gibt, wird Henri es mir selbst sagen.«

»Oh, hör doch auf, die Eisprinzessin zu spielen!« Wütend setzte Kristina sich auf und schlug mit der flachen Hand auf das Bett. »Glaubst du wirklich an ein Wunder? Es ist eine Sache, vor einer ungeliebten Hochzeit nach Schweden zu fliehen. Eine ganz andere Sache aber ist die Verpflichtung der eigenen Familie gegenüber. Es geht um sein Erbe! Du glaubst doch nicht, dass Henri wegen dir darauf verzichtet!« Ihre Stimme wurde leiser und noch schneidender. »Aber natürlich hat eine Heirat wenig mit Liebe zu tun. Er könnte dich als seine Mätresse nach Frankreich mitnehmen.«

Elin stand da wie betäubt. Der Brief in ihrer Hand war längst zerknittert. Aber Kristina hatte noch einen weiteren Trumpf in der Hand.

»Er hat dir doch wenigstens gesagt, dass er in zwei Wochen nach Frankreich reist, oder?«

Elin spürte kaum, wie ihre Knie einknickten, als sie sich auf den Stuhl sinken ließ. Sie holte Henris Brief hervor und faltete das Schreiben auseinander. Stumm las sie, ohne die Buchstaben richtig wahrzunehmen. Nur so viel verstand sie: Henri hatte sie verraten.

»Nun, mir soll es gleich sein«, schloss Kristina. »Entscheide, was dir wichtiger ist – die Liebe oder die Gelehrsamkeit. Beides gleichzeitig kann und werde ich dir zu deinem eigenen Wohl nicht gestatten. Es gibt zu viel Gerede und Unruhe hier am Hof. Fehlt nur noch, dass du verdächtigt wirst, eine Agentin der Katholiken zu sein, die den Auftrag hat, mich zu bekehren.«

Elin kämpfte gegen die Tränen. Die Stille im Raum war so kalt wie das Winterwasser des Mälarsees. Nur langsam gewann ihre Wut wieder die Oberhand. Es tat unendlich gut, den Brief zu zerknüllen und ihn in die Ecke zu schleudern, was Kristina ein triumphierendes Grinsen entlockte.

»Ich entscheide mich dafür, mich weiterhin um Monsieur Descartes zu kümmern, wenn Sie erlauben«, sagte Elin. »Und bitte Sie, mich von der Arbeit in der Bibliothek bis auf weiteres zu entbinden, Majestät.«

Natürlich hatte sie erwartet, dass Henri sie früher oder später finden würde, aber dass er sie ausgerechnet im Stall aufspürte, wo sie Enhörnings geschwollenes Sprunggelenk mit Tabaktinktur und Branntwein einrieb, überraschte und verunsicherte sie. Die vergangenen paar Stunden hatte sie damit zugebracht, sich Antworten zurechtzulegen, aber als sie nun Henris Gesicht direkt vor sich sah, versetzte ihr sein Anblick einen solchen Stich, dass alle Sätze in ihrem Kopf zu sinnlosen Gedankenfetzen zerfielen. Sie stieß grob seinen Arm weg, als er sie an sich ziehen wollte. Henri runzelte verwirrt die Stirn.

»Elin?«

»Fass mich nicht an!«, zischte sie.

Seine Verwunderung verwandelte sich in Bestürzung.

»Du hast den Brief gelesen«, stellte er fest. »Aber warum bist du so wütend?«

Sie zuckte mit den Schultern und klopfte Enhörnings Hals.

»Du verlässt uns in zehn Tagen. Viel Glück.«

Henri starrte sie so fassungslos an, als hätte sie ihm ohne Grund einen Fausthieb versetzt. Dann machte er den Mund wieder zu und seufzte.

»Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen. Mein Vater ist schwer erkrankt. Meine Mutter bittet mich, nach Frankreich zurückzukehren – zumindest, bis einige Dinge geklärt sind. Aber ich komme so schnell wie möglich nach Stockholm zurück. Vielleicht schon im nächsten Sommer.«

»Um der Königin deine französische Frau vorzustellen? Herzlichen Glückwunsch übrigens zur Verlobung.«

Elin gab Enhörning einen Klaps, damit er sein Gewicht auf das andere Bein verlagerte. Erst als er scheute und zur Seite sprang, wurde ihr bewusst, wie fest sie zugeschlagen hatte. Henri war rot geworden und senkte schuldbewusst den Kopf.

»Es ist die Königin, nicht wahr? Unsere Liebe ist ihr ein Dorn im Auge. Deshalb redet sie dir ein, ich würde mich tatsächlich auf diesen Kuhhandel einlassen.«

Elin warf das Tuch hin und drehte sich zu Henri um.

»Auf den Handel hast du dich längst eingelassen«, sagte sie kalt. »Wie lange bist du schon verlobt?«

Die Antwort kostete ihn viel Überwindung, das konnte sie sehen, und es machte ihr sogar auf eine grausame Weise Spaß, ihn leiden zu lassen.

»Seit ich fünfzehn bin«, antwortete er schließlich. »Es war ein Arrangement, gegen das ich mich damals nie aufgelehnt hätte.«

»Und mir sagst du nichts davon. Sondern machst mir Vorwürfe wegen Hampus. ›Wer nimmt schon einen Krüppel, Mademoiselle?‹ – Mein Gott, und ich habe dir jedes Wort geglaubt.«

Erstaunlicherweise blieb er völlig ruhig und steckte all ihre Schläge ein.

»Du hast Recht«, gab er leise zu. »In allem hast du Recht – aber vielleicht verstehst du wenigstens, dass ich dich liebe, dass ich Angst hatte, dich zu verlieren …«

»Soll ich dich etwa bemitleiden?«, sagte sie scharf. »Ich bin nicht länger deine Mätresse. Was willst du noch von mir?«

Einen Augenblick lang war sie sich nicht sicher, ob er sie umarmen oder zurückstoßen wollte. Sie fürchtete und ersehnte seine Berührung, aber dann gewann ihr Stolz. Sie wich aus dem Verschlag zurück und hob abwehrend die Hand.

Henri hielt in seiner Bewegung inne und blinzelte.

»Was ich von dir will?«, murmelte er. »Das kann ich dir sagen. Ich … habe es satt, mich in Kammern und Ställen herumdrücken zu müssen, um dich zu sehen. Es ist ein offenes Geheimnis – und wenn ich aus Frankreich zurückkomme, würde ich gerne … dich … heiraten.«

»Nein.« Die Pferde scharrten in den Boxen und äugten zu ihnen herüber. Elin räusperte sich und gab sich alle Mühe, vernünftig und beherrscht zu klingen. »Hör auf, in die Sterne zu schauen, Henri. Ich weiß, wer ich bin, und du weißt, wer du bist. Im Wald am Mälarsee spielte es keine Rolle, aber …«

»Was aber?« Jetzt war es Henri, der die Geduld verlor und wütend wurde. Seine Augen funkelten im Halbdunkel des Stalls. »Ich bin bereit, ins Kreuzfeuer zu gehen und diese Verlobung zu lösen.«

»Das sagst du jetzt, aber wenn du erst wieder zu Hause bist, ist Schweden tausende von Meilen entfernt. Und wenn dein Vater mit deinem Erbe winkt …«

»Natürlich, wir Adligen sind käuflich! Sobald wir Geld und Ruhm sehen, werfen wir sogar die Menschen, die wir lieben, einfach weg«, zischte er. »Du bist es, die feige und voller Misstrauen ist, Elin! Du lernst die Landkarten auswendig und träumst davon, zu reisen und ein eigenes Leben zu führen. Und nun hast du jemanden gefunden, der dieselben Träume hat, der dich aufrichtig liebt und alles für dich wagen will, und den stößt du weg, um weiter an diesem Hof deine Wunden zu lecken und zu träumen.«

»Du hast mich angelogen!«

»Ich habe geschwiegen, weil es nicht wichtig ist, wen ich heiraten soll. Es zählt nur, wen ich heiraten will.«

»Da irrst du dich. Es zählt, dass ich dich auf keinen Fall heiraten will.«

Sein spöttisches, arrogantes Lächeln, das sie nur zu gut kannte, leuchtete auf.

»Das werden wir noch sehen«, stellte er fest. »Schließlich liebst du mich – und zwar sehr!«

»Wirklich? Vielleicht hatte ich nur Mitleid mit dir.«

Er ballte die Hände zu Fäusten. Als er wieder zu sprechen anfing, bebte seine Stimme, als müsste er sich mühsam beherrschen, Elin nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.

»Was muss ich mir noch alles anhören und tun, um für dich gut genug zu sein?«, zischte er. »Hast du schon einmal das Wort ›Vertrauen‹ gehört, Elin?«

»Vertrauen muss man sich verdienen, statt es zu verspielen, Henri.«

»Du hast mein Wort.«

»Dein Wort genügt mir nicht.«

»Was, verdammt noch mal, genügt dir dann?«

»Beweise«, sagte sie.

Sie verschränkte die Arme und hob das Kinn. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie das Gefühl, einen Kampf gewonnen zu haben.

Henri fluchte und schlug mit der Faust auf die Trennwand der Box. Enhörning legte die Ohren an und schnappte nach seinem Arm. Henri drehte sich um und ging. Sie hätte ihm hinterherlaufen sollen, stattdessen trat sie zu ihrem Pferd und fuhr mit den Fingern durch die schwarze Mähne des Tieres, immer und immer wieder, bis das Mähnenhaar glatt war wie ein Band aus Seide.

Seltsamerweise war es ausgerechnet Lovisa, die in dieser Zeit am engsten zu ihr hielt. Als sie Elins verweintes Gesicht sah, verbiss sie sich einen Kommentar und schloss sie einfach in die Arme.

»Kopf hoch, Kind«, murmelte sie. »Alles Schöne geht irgendwann vorbei – aber auch alles Schlechte, jetzt musst du den Kopf stolz erhoben tragen.«

Die nächsten Tage blieb Elin der französischen Botschaft fern und verkroch sich auch am Tag von Henris Abreise im Bett. Sie zog die Vorhänge zu und starrte die Stoffbahnen an, die sie von der Welt, die sie bisher zu kennen glaubte, vollständig abschlossen. Als hätte der Kummer ihr Blut vergiftet, bekam sie Fieber und träumte davon, wie Henri in einem Bett aus leuchtenden Farnen eine französische Herzogin umarmte. Kristina war sehr besorgt und versuchte sie aufzuheitern, indem sie ihr aus dem Trost der Philosophie vorlas, doch auch diese Worte erschienen Elin hohl und bitter. Nachdenklich betrachtete sie die Karten von Terra Australis und der französischen Küste, die sie vor langer Zeit über ihren Tisch gehängt hatte. Trotz des Mitgefühls, das die Königin ihr gegenüber zeigte, hatte Elin den Eindruck, dass Kristina über Henris Abreise erleichtert war. Und manchmal, wenn sie die Königin betrachtete, die gebogene Nase, die wachen Augen und die energischen Bewegungen, fragte sie sich, wann genau der Vorhang zwischen ihnen zu einer Wand geworden war. Längst waren sie und die Königin keine Spiegelbilder mehr – eher zwei unterschiedliche Porträts, die sich zufällig dieselbe Kunstkammer teilten. Elin begann, ihre Worte gegenüber Kristina sorgfältiger zu wählen und ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Hampus schrieb aus Leyden von anatomischen Studien und schilderte eine Blasensteinoperation, der er beigewohnt hatte, und Helga brachte ihr Konfekt in Form von kleinen Häusern, in die sie mit einer Nadel Fenster und Türen geritzt hatte. Als Elin das erste Mal wieder zur Botschaft ging, war Descartes so erfreut sie zu sehen, dass er über das ganze Gesicht zu strahlen begann.

»Wie schön, dass Sie wieder da sind!«, rief er. »In dieser kalten Botschaft bin ich so einsam wie ein Gletscher. Fast hätte ich das Sprechen verlernt! Monsieur Henri lässt Sie übrigens grüßen. Er hat sich den Abschied sehr schwer gemacht.«

»Wie bedauerlich für ihn«, erwiderte Elin steif. Descartes lächelte und bat den Diener um zwei Becher Wein. »Die Vernunft überwindet Leidenschaften und Laster«, war sein trockener und etwas ironischer Kommentar. Elin machte es nichts aus, dass der Philosoph mit Angelegenheiten, die die Gefühle betrafen, nicht besonders viel anfangen konnte und wenig Takt zeigte. Im Gegenteil – sein mangelndes Mitleid machte es ihr leichter, ihre Sorgen in einer Kammer zu verschließen und sich stattdessen ganz auf die mathematische Betrachtung der Wissenschaften einzulassen, die Descartes zu seiner »Methode« erhoben hatte. Dennoch stellte sie fest, dass sich Kummer nicht in mathematische Formeln und logische Gesetzmäßigkeiten fassen ließ. Es war nicht einmal das Schlimmste, die Liebe unter dem Winterschnee zu begraben. Das Schlimmste war, den Anblick des Nachthimmels mit den von Henri so geliebten Sternen nicht mehr ertragen zu können. Ihre Melancholie schien Descartes anzustecken, denn er wurde immer unzufriedener und klagte: »Was soll ich hier in diesem Land der Bären, in dem die Menschen im Winter zufrieren wie die Flüsse?« Immer noch hatte Kristina ihn nicht zur Audienz gebeten. Neben den Staatsgeschäften übte sie ein großes Ballett zu Ehren des Westfälischen Friedens ein und schlug Descartes lediglich vor, sich am Tanz zu beteiligen. »Um Himmels willen, Majestät!«, antwortete er ihr in seiner direkten Art. »Ich bin über fünfzig – Sie wollen doch kein lahmes Ross zum Rennen schicken?« Kristina lachte und beauftragte ihn kurzerhand damit, stattdessen ein Libretto für das Ballett zu verfassen. Elin sah ihm an, wie unglücklich er über diesen Auftrag war.

»Ich hätte nicht übel Lust, so bald wie möglich nach Holland zurückzukehren«, brummte Descartes, als er sich mit Feder und Papier an den Tisch setzte. »Aber besser dichten als untätig herumsitzen, nicht wahr, Mademoiselle?«

Das Ballett wurde am Geburtstag der Königin, dem achten Dezember, aufgeführt. Elin hatte die Finanzen für die Beschaffung der Kostüme, der Hintergrundmalereien und die Dekoration geführt. Die Kostüme, die die ungeheure Summe von 16850 Riksdalern verschlungen hatten, waren aus Atlasseide genäht und mit silbernen und goldenen Borten verziert. Allein für das Gewand der Königin hatte man zweiundzwanzig Ellen Silberborte und achtundzwanzig Ellen Silbergaze benötigt. Von allen Balletten, die Elin bisher auf Tre Kronor gesehen hatte, war dies eindeutig das prachtvollste. Kristina tanzte mit einer Leidenschaft, die sogar den strengen Oxenstiernianern ein Lächeln entlockte. Descartes’ Ballett-Gedicht mit dem Titel »La naissance de la paix – Die Geburt des Friedens« wurde während des Tanzes verlesen und erntete viel Applaus. Das Publikum war begeistert, aber Elin sah nur schweigend zu. An diesem Abend war das rosenfarbene Land tot, eine Ansammlung von Farben ohne Seele und Leben.

Kurz nach dem Julfest kehrten die Chanuts nach Stockholm zurück. Elin war sicher, dass Madame Chanut von dem Zerwürfnis zwischen ihr und Henri gehört hatte, denn sie ging besonders herzlich und behutsam mit ihr um und vermied es sorgfältig, in ihrer Gegenwart über Henri zu sprechen. Das Haus füllte sich allmählich mit Besuchern und Abendgesellschaften. Selbst Monsieur Tervué war wieder oft zu Gast und unterhielt sich bei diesen Gelegenheiten sogar einmal mit Descartes. Es verwunderte Elin, dass die beiden Männer diesmal nicht in Streit gerieten. Die Anspannung war jedoch trotzdem zu spüren.

Endlich schien sich auch Kristina an den eigentlichen Grund zu erinnern, warum sie den Philosophen nach Stockholm berufen hatte, und bestellte ihn zum Unterricht in die Bibliothek. Descartes blühte bei dieser Nachricht auf wie eine Winterrose und war am Morgen schon um vier Uhr hellwach. Als ihn Elin um halb fünf Uhr bei der Botschaft abholte, war sie überrascht, dass er ihr persönlich öffnete – fertig angekleidet, herausgeputzt und reisebereit. Beherzt schritt er durch den frisch gefallenen Schnee. »Auf zur Methode!«, rief er, sobald er Platz genommen hatte. »Was werden Sie heute machen, Mademoiselle? Reiten Sie aus?«

»Oh nein. Mein Pferd lahmt leider immer noch ein wenig – ein Ausritt würde ihm nur Schmerzen bereiten.«

Descartes winkte ab und rieb sich die klammen Hände.

»Sie wissen doch: Tiere haben keine Seele und somit auch keine Empfindungen. Diese vermeintlichen Schmerzenslaute sind nichts anderes als das Quietschen eines schlecht geölten Wagenrads und somit ohne Bedeutung.«

»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie jemals das Stöhnen eines verwundeten Tieres gehört hätten.«

Er zeigte ihr ein breites Lächeln, das in ein Gähnen überging, und schüttelte den Kopf.

»Ich wusste, in Ihnen steckt keine besonders begabte Philosophin, dafür sind Ihre mathematischen Fähigkeiten umso bemerkenswerter. Aber natürlich steht es Ihnen frei, an allem zu zweifeln – auch an den Worten eines Philosophen.«

Elin sah Kristina an diesem Morgen nur kurz – und wenn sie ehrlich war, war sie froh darum, die Königin nicht sprechen zu müssen. Stattdessen betrat sie ihr kaltes Gemach, das ihr in den vergangenen Monaten immer fremder geworden war. Sie rief keinen Diener, um Feuer im Kamin zu machen, sondern erledigte diese Arbeit selbst. Auf dem Tisch hatte sich Staub angesammelt und die Fensterscheiben waren über und über mit Eisblumen bedeckt. Stumm setzte sich Elin an den Kamin und betrachtete ihr Porträt, das darüber hing. Ein wenig erinnerte die grünäugige Frau auf dem Bild heute an eine spöttische Jagdgöttin. Allerdings an eine, die nicht besonders glücklich aussah. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Elin endlich dazu aufraffte, sich an den Tisch zu setzen und nach der Feder zu greifen. Diese Zeilen würden sie mehr Arbeit kosten als alle Briefe, die sie jemals an Emilia geschrieben hatte. Nie hätte sie gedacht, wie viel Mut es erforderte, Hampus zu erklären, dass sie ihn niemals heiraten werde – auch wenn sie ihn als Freund liebte und es aus Vernunftgründen sicher die bestmögliche Verbindung wäre. Als sie nach einer Ewigkeit endlich den letzten Punkt setzte, stellte sie erstaunt fest, dass sie zwölf Seiten geschrieben hatte. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, faltete sie den Papierstapel und versiegelte ihn. Dann machte sie sich auf den Weg zu Herrn Freinsheim. Sie fand den Bibliothekar in seinen Privatgemächern, wo er auf einer Leiter stand und gerade dem Wissenschaftler Herrn Gesenbek einen dicken Band aus der obersten Regalreihe reichte.

»Guten Morgen«, sagte sie. Gesenbek gönnte ihr nur einen kurzen feindseligen Blick und riss das Buch an sich, als würde er befürchten, dass sie es ihm entreißen wollte. Mit einem unverständlichen Brummen bedankte er sich bei Freinsheim und entfernte sich hastig.

Der Bibliothekar stieg von der Leiter und lächelte Elin zu.

»Nimm es ihm nicht übel. Seit die Königin bei Herrn Descartes Unterricht nimmt, fürchten so einige der Herren, dass die klassischen Wissenschaften am Hof bald nichts mehr gelten und somit auch ihre Posten überflüssig werden könnten. Was hast du da?«

»Einen Brief an Hampus«, antwortete Elin leise. »Ich möchte Sie bitten, ihn einem der Sendboten mitzugeben.«

Freinsheim nickte und nahm das Schreiben an sich.

»Ist die Königin noch beim Unterricht?«, fragte er dann.

»Oh ja – die Tür zur Bibliothek ist noch verschlossen.«

»Nun, falls du die Königin vor mir siehst, richte ihr doch bitte aus, dass ich sie darum ersuche, mir heute ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken.« Etwas beunruhigte Elin am betont munteren Tonfall von Freinsheims Stimme. Seine tiefen Falten auf der Stirn sprachen eine ganz andere Sprache.

»Was ist, Herr Freinsheim?«, fragte sie geradeheraus. »Sie machen sich Sorgen – worüber?«

Der Bibliothekar seufzte und rieb sich müde die Augen.

»Ach, das Übliche«, murmelte er. »Es geht um Herrn Descartes. Irgendjemand hier im Hause gibt sich große Mühe, immer neue Schmähungen und Gerüchte zu verbreiten. Neuerdings heißt es sogar, Descartes habe vor, die Königin dazu zu überreden, einen Großteil der Wissenschaftler am Hof zu entlassen.«

»Was? Das ist doch Unsinn!«

»Das wissen wir beide – aber sag das jemandem wie Herrn Gesenbek, der ernsthaft um seine Existenz fürchtet. Und es ist nun einmal leider wahr, dass Monsieur Descartes mit Kritik gegenüber den Sprachwissenschaftlern und anderen Gelehrten nicht gerade geizt.«

»Das stimmt allerdings«, gab Elin zu. »Aber er macht es nicht, um die anderen vor den Kopf zu stoßen. Er scheint sich nicht bewusst zu sein, wie viele Feinde er sich mit seiner Offenheit schafft. Ich werde mit ihm reden.«

»Tu das«, seufzte Herr Freinsheim. »Tu das.«

Wie begründet Freinsheims Sorge war, wurde Elin klar, als sie bei der Bibliothek ankam. Mehrere Wissenschaftler und Sekretäre hatten sich dort eingefunden und warteten darauf, die Bibliothek betreten zu können. Elin fühlte sich unbehaglich und betrachtete die Männer aus sicherer Entfernung. Sie sah missgünstige und besorgte Gesichter und hörte Getuschel und gezischte Gerüchte. Tervué brütete dumpf vor sich hin und Herr Gesenbek sah todunglücklich aus und hielt das schwere Buch an seine Brust gepresst, als wäre es ein schützender Schild. Endlich ging die Tür der Bibliothek auf und eine strahlende Kristina betrat den Gang, gefolgt von Descartes.

»Ah, die Herren warten schon!«, rief sie den Wissenschaftlern zu. Dann wandte sie sich sofort wieder Descartes zu und verabschiedete ihn herzlich. Elin schauderte, als sie den Blick bemerkte, mit dem Tervué den Philosophen musterte. Blanker Hass blitzte darin auf.

Elins Gespräch mit Descartes hatte nicht den gewünschten Erfolg. Der Philosoph lächelte über ihre Besorgnis und schüttelte nur nachsichtig den Kopf.

»Die Wahrheit hört nun einmal niemand gerne«, sagte er leichthin. »Und ein Raum voller Wissenschaftler ist immer auch eine Schlangengrube. Lassen Sie die Bestien zischen!« Seit die Königin ihn zum Unterricht ins Schloss bat, hatte sich seine Schwermut merklich gebessert.

Mitten im kältesten Januar seit langem erhitzte dann ein neuer Skandal die Gemüter. Kristina bot Descartes ganz offiziell an, Präsident der Königlich Schwedischen Akademie zu werden, die sie schon seit längerem zu gründen plante. Nun liefen nicht nur die Wissenschaftler gegen Descartes Sturm, sondern auch die lutherische Geistlichkeit. Doch diesmal schienen die Schmähreden, die hämischen Kommentare und die feindseligen Blicke Descartes’ Segel nur zu blähen wie ein lange erwarteter Wind nach einer Flaute. Voller Eifer machte er sich daran, die Statuten für die Akademie zu entwerfen.

In diesen Tagen pfiff der Schneesturm durch die Gassen. Im Haus des Botschafters hallte dumpfes Husten durch die Gänge. Monsieur Chanut erkrankte an einer Lungenentzündung und schwebte einige Tage zwischen Leben und Tod.

Fräulein Ebba, aber auch Freinsheim kamen zu Besuch, außerdem Tervué, Gesenbek und andere Wissenschaftler. Selbst Axel Oxenstierna zeigte sich besorgt und ließ dem Botschafter Genesungswünsche ausrichten. Monsieur Chanut gelang das Kunststück, von allen – ob Katholiken oder Protestanten – gleichermaßen geschätzt zu werden. Nachts wachte Descartes am Bett seines Freundes und ging morgens unausgeschlafen und mit grauem Gesicht wieder an die Arbeit oder zum Unterricht ins Schloss. Es verwunderte kaum jemanden, als er ebenfalls erkrankte und Anfang Februar das Bett hüten musste. Zwei Tage schlief er wie ein Bewusstloser. In den wenigen Stunden, die er wach war, weigerte er sich zu essen oder zu trinken.

»Mir ist übel, Fräulein Elin«, flüsterte er. »Schaffen Sie das Essen aus meinem Blickfeld!«

Am dritten Tag waren alle im Hause Chanut so besorgt, dass Elin ins Schloss ging und die Königin bat, van Wullen ins Haus des Botschafters zu schicken. Zu ihrer Erleichterung ließ die Königin die Sekretäre warten und hörte sich Elins Anliegen an.

»Das klingt wirklich nicht gut«, murmelte sie, nachdem Elin Bericht erstattet hatte. »Natürlich muss van Wullen ihn untersuchen. Aber wie ich Monsieur Descartes kenne, wird er darauf bestehen, sein eigener Arzt zu sein.«

»Im Moment wird er kaum in der Lage sein, sich dagegen zu wehren«, antwortete Elin. Gerade wollte sie sich schon zum Gehen wenden, als Kristinas Stimme sie zurückhielt. »Ach, hast du übrigens schon die Neuigkeiten aus dem Haus de Vaincourt gehört?«

Elin erstarrte. Kristina blätterte in einem Buch und seufzte. »Der alte Marquis ist gestorben«, sagte sie. »Vor einem Monat bereits. Es tut mir sehr Leid um den Haudegen – er war zwar nicht der netteste Mensch, aber sicher einer der besten Strategen, die ich kannte. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.«

»Sie irren sich, Kristina«, sagte Elin leise. »In erster Linie interessiert mich nicht meine Vergangenheit, sondern Herrn Descartes’ Zukunft.«

In dem Maß, in dem Monsieur Chanut genas, verschlimmerte sich Descartes’ Zustand. Nach der langen Bewusstlosigkeit war er nun hellwach und unruhig, sein Blick irrte umher. Elin tat dieser Anblick im Herzen weh. Innerhalb weniger Tage war er entsetzlich abgemagert und hatte sich von dem stolzen Philosophen in einen störrischen alten Mann verwandelt, der unendlich litt. Van Wullen, der mit Elin den Kranken besuchte, warf einen kurzen Blick auf ihn und runzelte die Stirn. Entschlossen stellte er seinen Koffer auf dem Tisch ab. Skalpelle und Rippenheber klirrten. Descarte setzte sich mühsam im Bett auf. Seine Augen waren fiebrig und gerötet.

»Kein Aderlass«, befahl er mit schwacher Stimme. »Schonen Sie französisches Blut!« Und zu Elin gewandt flüsterte er matt: »Wenn ich schon sterben muss, dann bitte ohne einen Arzt in meiner Nähe.« Van Wullen wurde blass, aber er ließ sich seine Wut nicht anmerken.

»Sie werden nicht sterben«, erwiderte Elin.

Descartes ließ sich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.

»Ich möchte noch ein oder zwei Tage abwarten, um die Krankheit auszubrüten. Meist kommt die Krisis nach sechs Tagen – und wenn ich sie überwunden habe, wird es besser.«

Aber es wurde nicht besser, im Gegenteil! Descartes’ Zustand verschlechterte sich in den nächsten Tagen rapide. Ein plötzliches Fieber schüttelte ihn so stark, dass Elin kaum wagte, ihn alleine zu lassen, um in ihren Aufzeichnungen und Büchern nach dem Grund dieser Krankheit zu forschen. Sie verlief ganz anders als die Lungenentzündung, die Monsieur Chanut inzwischen überwunden hatte. Der Philosoph klagte über Schwindel, sein Blick war so unstet, dass er nirgendwo mehr Halt fand. Erst am siebten Tag ließ er es zu, zur Ader gelassen zu werden, eine Behandlung, die Elin mit gemischten Gefühlen verfolgte. Monsieur Tervué erkundigte sich mehrfach nach Descartes’ Gesundheitszustand. Und auch die anderen Gelehrten, darunter der Mathematiker Björn Strat und sogar der lutherische Theologe Kasimir Bielke, machten Monsieur Chanut ihre Aufwartung. Elin beobachtete die Gelehrten mit Unbehagen. Wie eine Horde von Krähen schienen sie über dem Lager ihres Konkurrenten zu kreisen. Die Spannung, die über dem Haus lag, wurde immer unerträglicher. Streit wallte auf, kaum eine Stunde verging ohne Diskussionen und Dispute.

Elin zog sich so oft wie möglich aus dem Empfangszimmer zurück. Mit der Erlaubnis von Monsieur Chanut setzte sie sich in dessen Arbeitszimmer, wo sie manchmal nichts anderes tat, als den Kopf in die Hände zu stützen und die Augen zu schließen, bis ihre wirbelnden Gedanken ein wenig zur Ruhe kamen.

An einem dieser chaotischen Tage klopfte ein Bote an die Tür und übergab Madame Chanut einen Brief. Elin, die nach einer langen Nacht an Descartes’ Krankenbett gerade in einem Sessel ausruhte, blickte von ihrem Becher mit heißem Wein auf. Seit Henris Abreise hatte Madame Chanut sicher schon vier Briefe von der Familie de Vaincourt erhalten, aber Elin hatte nie zu fragen gewagt, was darin stand. Dieser hier war erstaunlich dick und Elin sackte schon bei seinem Anblick das Herz in den Bauch.

Diesmal öffnete Madame Chanut das Schreiben in Elins Gegenwart. Ein kleinerer Brief rutschte heraus, den Madame Chanut gerade noch auffangen konnte, bevor er zu Boden fiel. Mit gerunzelter Stirn las sie das größere Schreiben. Für Elin dehnten sich diese Minuten zu einer Ewigkeit. Sie wusste, dass sie heute fragen würde – gleichgültig, ob die Nachricht von Henris Hochzeit ihr das Herz brach. Alles war besser als die Ungewissheit! Endlich hob Madame Chanut den Blick. Elin wusste nicht, ob es ein wissendes oder mitleidiges Lächeln war, das um die Lippen der Diplomatenfrau spielte.

»Für Sie, Elin!« Die Französin streckte ihr den kleineren Brief, der noch versiegelt war, entgegen.

Da war es – das kalte Fieber. Es ergriff Elin von einem Moment zum anderen, Eis in ihrer Kehle, Frost in ihrem Genick. Statt den Brief anzunehmen, klammerte sie sich an den Weinbecher und schüttelte krampfhaft den Kopf.

»Nein, bitte«, brachte sie schließlich mit kläglicher Stimme heraus. »Ich kann nicht. Würden … Sie ihn mir vorlesen?«

Madame Chanut zog eine Augenbraue hoch, doch dann öffnete sie das Schreiben und faltete es auseinander. In ihrem melodiösen Französisch begann sie zu lesen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Sinn der Worte erhaschte, bevor sie den Satz ausgesprochen hatte:

»Meine liebe Tochter,

sicher hast Du von dem Schicksalsschlag gehört, der vor kurzem unsere Familie erschütterte. Längst sind noch nicht alle Angelegenheiten geordnet, aber wir blicken trotz aller Trauer vertrauensvoll in die Zukunft. Ich freue mich darauf, Dich bald in die Arme zu schließen und in unser Heim aufzunehmen.

Herzlichst,

Charlotte de Vaincourt«

Die Stille, die auf diese Worte folgte, dröhnte in Elins Ohren. Madame Chanut kniff die Augen zusammen und ließ den Blick zum Ende des Briefs schweifen.

»Oh – ich sehe gerade: Henri hat auch noch eine Notiz hinzugefügt: ›Genügt das als Beweis, Küchenkönigin? ‹«

Sie ließ das Blatt sinken und betrachtete Elin amüsiert.

»Und?«, fragte sie. »Genügt es?«

»Er hat nicht geheiratet«, flüsterte Elin.

»Nein, geheiratet hat er nicht«, bestätigte Madame Chanut. »Aber ich denke, es ist eindeutig, dass er es noch vorhat. Wie ich hörte, befindet er sich bereits auf dem Weg nach Stockholm.«

Elin schluckte und starrte gedankenverloren in ihren Weinbecher. Tausend Nächte, so schien es ihr, hatte sie davon geträumt, aber jetzt fühlte sie nur eine seltsame Erleichterung.

In der roten Flüssigkeit spiegelte sich ihr Gesicht. Krank sah es aus, und unendlich müde.

»Der Wein!«, rief sie plötzlich. Der Gedanke blitzte so abrupt auf, dass er Henri und den Brief für einen Moment beiseite wischte. Im nächsten Augenblick rannte sie an der verdutzten Madame Chanut vorbei zur Treppe. Descartes war aufgewacht und litt schreckliche Qualen. Er hatte sich erbrochen. Klumpen von schwarz verfärbtem Blut tränkten die Decke, schwarzer Speichel rann ihm aus dem Mund. Er atmete unregelmäßig und sein Blick irrte hektisch hin und her.

Johann van Wullen stand mit hängenden Schultern an seinem Bett. Ohne auf die Gebote der Höflichkeit zu achten, stürzte Elin zu ihm und zog ihn am Ärmel zum Fenster.

»Es ist der Wein«, flüsterte sie. »Er ist vergiftet! Gestern hat er welchen getrunken – er wurde ihm in einem Becher gebracht, der unten zubereitet wurde und dort stand, wo alle Gäste ihn erreichen konnten. Vermutlich bekommt er das Gift schon seil einigen Tagen verabreicht.«

Der Leibarzt zog die Brauen zusammen, bis sie sich über seiner Nasenwurzel berührten.

»Was sagen Sie dazu?«, flüsterte sie. Van Wullen blinzelte nicht einmal, als er ihr die Antwort gab.

»Ich habe den Patienten aufgegeben«, sagte er sehr sachlich. »Seine Schmerzen kann ich versuchen zu lindern, ansonsten halte ich meine Hand von ihm fern.« Seine Stimme wurde leiser und bekam einen warnenden Unterton. »Und wenn Sie klug sind, Fräulein Elin, dann lassen Sie einen solchen ungeheuren Verdacht nicht verlautbaren. Eine Vergiftung lässt sich nicht beweisen.«

Fassungslos starrte Elin ihn an.

»Aber sehen Sie ihn sich doch an!«, beharrte sie. Der Arzt war blass geworden und sah mit einem Mal sehr erschöpft aus. Elin hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Es schnürte ihr die Kehle zu, auszusprechen, was ihr endlich klar wurde.

»Sie wissen es längst.«

»Manchmal weiß oder vermutet ein Arzt einiges, aber aus Gründen der Staatsräson muss er Stillschweigen bewahren. Vor allem, wenn es sich um bloße Vermutungen handelt.«

Van Wullen wandte sich brüsk ab, packte seine Instrumente ein und verließ das Zimmer. Elin blieb zurück – gefangen im Chaos ihrer eigenen Geschichte und mit Monsieur Descartes’ Leben, das ihr durch die Finger rann. Sobald sie Descartes’ Leibburschen damit beauftragt hatte, neues Feuerholz und frische Tücher zu holen, kniete Elin sich neben das Bett und zwang den Philosophen sie anzuschauen.

»Monsieur Descartes! Verstehen Sie mich?«

Schwach nickte er.

»Gut. Hören Sie mir genau zu. Ich habe den Verdacht, dass jemand versucht Sie zu vergiften. Ab heute nehmen Sie nur noch den Wein zu sich, den ich Ihnen bringe. Und ebenso ist es mit dem Wasser, dem Brot und den anderen Speisen. Haben Sie verstanden?«

Descartes zog einen Mundwinkel hoch und schluckte schwer. Er musste mehrere Versuche machen, bevor er endlich seinen Satz herausbrachte: »Ich werde diesen Feind austreiben. Bringen Sie mir Wein, vermischt mit Tabak.«

Lars wunderte sich nicht, als Elin im Stall erschien und ihn um einen Gefallen bat. Der sonst so laute und harsche Stallmeister hörte sich ihren geflüsterten Verdacht an und nickte. »Einverstanden. Dann werde ich mich auf Mäusejagd begeben. Wo ist das Brot?«

Elin reichte ihm das befleckte Taschentuch, in dem sie das in Wein getunkte Brot aus Descartes’ Kammer aufbewahrte.

»Wasch dir die Hände, nachdem du das Brot angefasst hast«, ermahnte sie ihn. »Ich habe damit den Rest aus Descartes’ Weinbecher aufgesaugt.«

»Weiß die Königin es schon?«

»Noch nicht, aber ich gehe gleich jetzt ins Schloss, um mit ihr zu reden.«

Da Kristina an diesem Tag nicht zu sprechen war, beschloss Elin, stattdessen Freinsheim einzuweihen, und bat ihn, unter strengster Geheimhaltung die Königin zu informieren. Die Chanuts sagten allen Besuchern ab, nur Elin blieb in der Botschaft und wachte Tag und Nacht an Descartes’ Bett. Hier, in der Dunkelheit, in der sie nur die unregelmäßigen, gequälten Atemzüge des Kranken hörte, kam sie zum ersten Mal seit Monaten wirklich zur Ruhe. In Gedanken ließ sie jeden Besucher der letzten zehn Tage noch einmal Revue passieren. Tervué natürlich, mindestens sechs weitere Wissenschaftler, ausländische Gäste aus Tre Kronor, ja selbst Doktor van Wullen hätte Descartes unbemerkt ein Gift verabreichen können, obgleich Elin beim besten Willen nicht wusste, was ihm der Tod des Philosophen nützen könnte. Bei den Wissenschaftlern lag die Antwort dagegen auf der Hand. Descartes hatte sich seit seiner Ankunft in Stockholm viele Feinde gemacht.

Dann gab es noch den Hauskaplan und die Bediensteten – jeder hätte sie bestechen können, das Gift zu verabreichen. Niedergeschlagen lehnte sich Elin in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen. Seit Tagen hatte sie kaum geschlafen und nun glitt sie langsam in einen Dämmerschlaf hinüber. Henri hatte nicht geheiratet – und hier, neben einem Kranken, in der größten Sorge, schlich sich unbemerkt die Freude darüber an, dass ihr Geliebter auf dem Weg nach Stockholm war.

Van Wullen hatte mit seiner Prognose Recht gehabt. Elin wusste es, noch bevor sie die Augen öffnete. Als sie am zehnten Tag von Descartes’ Erkrankung mit steifen Gliedmaßen im Sessel erwachte, war das rastlose Atmen verstummt. Stattdessen hörte Elin nur noch das Kratzen einer Feder.

»Gegen vier Uhr hat er Gott seine Seele zurückgegeben«, sagte van Wullen. Aschgrau im Gesicht saß er am Tisch neben dem Fenster, wo er einen Brief schrieb. »Ich wollte Sie nicht wecken.«

Obwohl Elin es insgeheim erwartet hatte, war der Schmerz über den Verlust heftig und unerwartet.

»Sie wissen, dass er nicht an einer Lungenentzündung gestorben ist«, flüsterte sie. »Sie müssen es bezeugen, damit der Mörder gefunden wird!«

Van Wullen legte die Feder nieder und knetete seine Hände, als würden sie schmerzen.

»Ich werde gar nichts bezeugen. Und nun lassen Sie mich meinen Brief an einen Freund in Holland zu Ende schreiben.« Beim Blick in Elins Gesicht seufzte er und tippte viel sagend auf das zur Hälfte beschriebene Papier. »Es kommt nicht darauf an, was wir wissen«, sagte er eindringlich. »Wer wissen will, wird zwischen den Zeilen lesen.«

Die Königin war blass und hatte verquollene Augen. Bei der Todesnachricht war sie in Tränen ausgebrochen. Nun betrachtete sie angewidert den Eimer, den Elin zu ihrer Unterredung mitgebracht hatte. Elin hob das Gitter, mit dem der Eimer abgedeckt war. Die Maus lag verendet am Boden – ihre verkrampften Gliedmaßen zeigten, dass der Tod qualvoll gekommen war.

»Was soll ich nun mit dem Vieh?«, fragte Kristina.

»Sie hat das gefressen, was Monsieur Descartes am sechsten Tag seiner Krankheit zu sich genommen hat. Er wurde vergiftet.«

»Und das beweist du mit einer einzigen Maus? Nicht sehr wissenschaftlich.«

Elin wurde rot.

»Ich weiß«, gab sie zu. »Ich hatte Lars gebeten, mindestens zwei Mäuse zu fangen, um zu sehen, ob sie beide eingehen, aber die zweite ist leider entwischt.«

»Dann tut es mir Leid, Elin«, erwiderte Kristina eine Spur zu schnell. »Das reduziert deinen Beweis zu einer reinen Vermutung.«

»Aber der Auswurf hier …«

»Guter Gott, die Maus kann an allem Möglichen verreckt sein – vielleicht war sie bereits krank. Dafür spräche, dass Lars schnell genug war sie zu fangen. Oder sie hat vor Schreck Krämpfe bekommen. Jemand könnte sie sogar im Stall unbemerkt erschlagen haben.«

»Dennoch – Descartes’ Symptome sprachen nicht für eine Lungenentzündung. Und selbst wenn er erkältet gewesen ist, könnte jemand seine geschwächte Konstitution ausgenutzt haben, um ihm das Gift in mehreren Dosen zu verabreichen. Sie waren nicht da, Majestät – aber seit seiner Erkrankung gaben sich die Gelehrten in der Botschaft seltsamerweise plötzlich die Klinke in die Hand.«

»Nur weil es möglicherweise ein Motiv gibt, heißt das noch lange nicht, dass es auch eine Tat geben muss.«

»Eben deshalb muss der Todesfall genauer untersucht werden«, beharrte Elin. »Ich habe bereits eine Liste der Gäste erstellt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sowohl Monsieur Tervué als auch Herr Gesenbek …«

Kristina hob abwehrend die Hand. Sie war noch blasser geworden und stützte sich mit der anderen Hand schwer auf die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand. »Doktor van Wullen hat ein offizielles Kommunique verfasst und darin bestätigt, dass Monsieur Descartes an einer Lungenentzündung verschieden ist«, sagte sie mit Nachdruck. »Das ist auch mein letztes Wort.«

Elin kam sich vor, als wäre sie soeben in vollem Lauf gegen eine Mauer geprallt. Benommen stand sie da und begriff nur langsam. In diesem Augenblick, als die Enttäuschung sie überschwemmte wie eine kalte Woge, fühlte sie sich auf Tre Kronor nicht länger zu Hause. Sie hob das Kinn und warf der Königin einen herausfordernden Blick zu. Es wunderte sie, wie ruhig ihre Stimme klang.

»Sie sprechen so mutig, Majestät, wenn es um Tugend und Freiheit und Gerechtigkeit geht – um die Pflichten eines Fürsten gegenüber seinem Volk. Aber wo sind die mutigen Taten, wenn es darum geht, einen Tod zu rächen?«

»Ich handle damit durchaus zum Wohl meiner Untertanen«, erwiderte Kristin^ ebenso ruhig. »Ein Wissenschaftler kommt in meine Obhut und wird vergiftet. Begreifst du denn nicht, was das bedeuten würde?«

»Ich begreife sehr wohl.«

»Nein, du begreifst es ganz und gar nicht. Ich werde nicht zulassen, dass mein Hof in Europa als Mördergrube bekannt wird. Nicht nur, dass es einen Skandal gäbe, es würde auch politische Verstrickungen nach sich ziehen, deren Konsequenzen wir uns besser nicht vorstellen.«

»Sie schützen also den Ruf Ihrer Gelehrten zum Preis von Monsieur Descartes’ Leben und nennen es Pflicht.«

»Du bist nicht mein Richter!«, schrie die Königin sie mit einem Mal an.

Ihre blauen Augen glühten vor Zorn. Mit einer blitzschnellen Handbewegung griff sie nach dem Tintenfass auf dem Tisch. Es geschah so schnell, dass Elin nicht reagieren konnte und erschrocken stehen blieb. Das Fass verfehlte ihre Schulter nur knapp, zerschellte an der Holztäfelung der Tür und hinterließ eine schwarz blutende Wunde. Für ein paar Sekunden war Ruhe, dann richtete sich Kristina sehr gerade auf und biss sich auf die Lippen. Elin fühlte sich, als wäre gerade der letzte Faden, der sie beide noch verband, gerissen. Der Spiegel war zersplittert – und mit ihm Elins Spiegelbild. Sie betrachtete Kristina und sah nur noch eine Fremde.

»Ich verbiete dir, über diese Angelegenheit zu sprechen«, sagte die Königin leise. »Schwöre es!«

Elin senkte den Kopf und dachte an Doktor van Wullens verschlüsselten Brief.

»Wenn ich das schwöre, kann ich unmöglich länger am Hof bleiben. Erlauben Sie mir, das Land zu verlassen.«

»Wo zur Hölle willst du hin?«

»Nach Frankreich. Zu … Henri de Vaincourt.«

»Sieh an.« Jetzt war es die Königin, die ihre Betroffenheit kaum verbergen konnte. »Bedenke, er ist keine besonders gute Partie mehr, seit sein Vater ihn noch auf dem Sterbebett enterbt hat. Er kann von Glück sagen, dass ihm ein Onkel mütterlicherseits noch etwas hinterlassen hat.«

»Das ist mir gleichgültig, Majestät. Ich habe mich soeben dazu entschlossen, sein Heiratsangebot anzunehmen.«

»Elin, du bist mein Mündel – und noch nicht einmal volljährig.«

»Ich werde schweigen, aber ich will das Land verlassen«, beharrte Elin. Die Königin erschien ihr mit einem Mal noch kleiner. Verletzlichkeit schimmerte durch die herrische Fassade. »Und was ist mit Italien? Eines Tages – und vielleicht früher, als man denkt – werde ich meine Rolle hier zu Ende gespielt haben und Schweden verlassen. Du hast mir versprochen, mich zu begleiten.«

Nun konnte sich Elin ihren Sarkasmus nicht verkneifen.

»Ich war jung, als ich das Versprechen gab.«

Kristina zog die Luft scharf durch die Nase ein und hob das Kinn. »Überlege es dir gut. Wenn du jetzt gehst, werden sich unsere Wege für immer trennen.«

Elin schluckte. Gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen in die Augen. »Das weiß ich, Majestät.«

»Mein Gott«, sagte Kristina mit einer Stimme, die nun vor Verachtung und verletztem Stolz bebte. »Du bist tatsächlich eine gewöhnliche Frau geworden – allzu gewöhnlich. Wie konnte ich nur jemals denken, du wärest mir ähnlich!« Sie sah Elin an, als wartete sie verzweifelt auf etwas – eine Entschuldigung, einen Widerspruch vielleicht. Doch Elins Schweigen war Antwort genug. »Dann verschwinde!«, schrie Kristina. »Lass mich allein – folge der Liebe, wenn du dich unbedingt unglücklich machen willst!«

Elin krampfte ihre Finger ineinander, um Kristina nicht zu zeigen, wie sehr ihre Hände zitterten.

»Wie Sie befehlen, Majestät. Aber vorher möchte ich noch den Wunsch geltend machen, dessen Erfüllung Sie mir versprochen haben, als ich an Ihrer Stelle verwundet wurde.«

»Was willst du?«

Elin holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen.

»Meine Papiere«, sagte sie mit fester Stimme. »Alle Unterlagen, die in Kester Levens Besitz sind.«

Tag für Tag ging Elin in der Botschaft auf und ab, räumte ihre Bücher von einer Truhe in die nächste und konnte vor Ungeduld kaum schlafen. Auch jetzt war es wieder Lovisa, die bei ihr war, obwohl sie Elins Entscheidung, Henri zu heiraten, ebenso wenig billigte wie Kristina.

»Ach Kind«, seufzte sie nur. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt – aber ein wenig mehr Besonnenheit würde dir das Leben leichter machen. Was wirst du denn nur ohne mich machen?«

Meistens aber verbrachten sie die Nachmittage in der Botschaft ohne viele Worte. Nach und nach ließ Lovisa Elins persönliche Habe in die Botschaft bringen und bereitete die Reise vor. Elin hielt sich in diesen Wochen am liebsten in ihrer Kammer auf. Madame Chanut hatte ihr das Gemach gegeben, in dem auch Henri vor einigen Monaten gewohnt hatte, und Elin schmiegte sich nachts in die Kissen und stellte sich vor, wie es sein würde, Henri wieder umarmen zu können. Längst waren die Gespenster aus ihren Träumen verschwunden, dafür war es nun Descartes, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ. In einem Brief an Hampus hatte sie den Verlauf der Krankheit beschrieben – schließlich hatte sie Kristina geschworen, nicht über den Vorfall zu sprechen. Von Schreiben hatte die Königin dagegen nichts gesagt – und Hampus war ihr Freund. Beinahe ebenso sehr wie um den Philosophen trauerte Elin um ihre Freundschaft zu Kristina. Insgeheim hoffte sie, dass die Königin ebenfalls schlaflos in ihrem Gemach lag und über ihren Streit nachdachte. Trotz des Zerwürfnisses und Monsieur Descartes’ Tod, der immer zwischen ihnen stehen würde, fehlte ihr Kristina unendlich.

Nach dem langen Winter brach das Eis erst Anfang April und verwandelte das Hafenwasser in eine Ebene aus glitzernden Eistrümmern. Elin erinnerte dieser Anblick an einen Spiegel, der in tausend Scherben zerbrochen war, in denen sie nicht mehr Kristina, sondern nur noch Bruchteile ihrer eigenen Vergangenheit sah. Schiff um Schiff lief im Hafen ein, aber Henri kam nicht. In ihren Träumen sah Elin ihn von Wegelagerern überfallen, ausgeraubt, ertrunken bei einem Schiffbruch oder schwer erkrankt. Sie wagte kaum mehr, zu Enhörning und Lars zu gehen, aus Angst, seine Ankunft zu verpassen. Statt einer Nachricht von Henri brachte ein Bote Ende April einen Brief von Hampus. Elin bekam Herzklopfen, als sie ihn entgegennahm. Rasch entschuldigte sie sich bei den Chanuts, mit denen sie eben beim Souper saß, und eilte in ihre Kammer. Sie hatte Angst, den Brief zu öffnen, aber schließlich fasste sie Mut. Hampus’ schöne, regelmäßige Schrift zu sehen, war ein wenig so, als würde ihr Freund bei ihr sein. Der Brief war in einem sehr höflichen Ton gehalten, aber Elin konnte zwischen den Zeilen immer noch seine Enttäuschung und seinen Kummer hindurchschimmern sehen. Umso mehr liebte sie Hampus für seine Größe, ihr so herzlich und aufrichtig zu gratulieren.

Ich wünsche Dir und Henri tausend Nächte voller Sterne und Tage voller Rosenduft, Und ich hoffe, Euch beide eines Tages wieder zu sehen – wer weiß, wo sich unsere Wege kreuzen werden. Nur in Schweden, glaube ich, sicher nicht mehr …

Elin war so in diese Worte vertieft, dass sie nicht hörte, wie jemand leise an ihre Tür klopfte. Langsam schwang die Tür auf. Elin sprang von ihrem Stuhl hoch.

Der Mann, der in der Tür stand, war sicher nicht der Henri, den sie vor bald einem halben Jahr das letzte Mal geküsst hatte, aber immerhin ein junger Mann, der ihm sehr ähnlich sah. Beinahe erschreckend erwachsen war er geworden. Um seinen Mund hatten sich Falten eingegraben, er war abgemagert und völlig erschöpft von der Reise. Regen hatte sein Haar durchnässt und tropfte auf seinen Kragen. Zögernd trat er in ihr Zimmer, aber Elin wagte nicht, ihm um den Hals zu fallen, so ernst war sein Blick. Er räusperte sich und rieb sich die Hände.

»Nun, der Ärmste unter den Reichen steht vor Ihnen, Mademoiselle. Enterbt bis auf ein halb zerfallenes Landgut, zwei Webereien und ein paar schäbige Hanffelder. Reich werden wir damit nicht.«

Das »wir« entfachte ein Lächeln auf Elins Gesicht. Ihr wurde warm – jetzt wusste sie, was Henri so fremd wirken ließ: Von Wams und Mantel waren die kostbaren Goldborten verschwunden. Er atmete noch einmal tief durch und sprach weiter.

»Ein zukünftiger Marquis war dir nicht gut genug. Aber vielleicht gibst du dich mit einem einfachen Landadligen zufrieden. Ich jedenfalls kehre nicht ohne dich nach Frankreich zurück. Dafür war der Beweis zu teuer erkauft. Die Verlobung zu lösen war beinahe schlimmer als der Schuss ins Bein!«

Elin war mit zwei Schritten bei ihm und umarmte ihn. Seine Lippen waren rau und sein Kuss eiskalt von der nordischen Frühlingsluft. Trotzdem wärmte er Elin wie ein lang verschüttet geglaubtes Feuer.

Die Verlobung wurde nachts in Chanuts Botschaft gefeiert. Es duftete nach Helgas Marzipan und heißem Kräuterwein. Im Salon hatte Madame Chanut das beste Gedeck aufgelegt.

Draußen in den Gassen war es vollkommen still, die Mainacht war schwarz und undurchdringlich. Kristina hatte ihr Versprechen gehalten. Am Morgen hatte Herr Freinsheim Elin eine versiegelte Mappe mit Schriftstücken überreicht, dazu einen Brief mit der Aufforderung, ihn sogleich zu lesen. Darin gab die Königin Elin, ihrem Mündel, nun auch die offizielle Erlaubnis, sich zu verloben und Schweden zu verlassen. Elin war überrascht, dass Kristina sie »in absentia« nobilitiert hatte. Ohne den Schutz eines Titels werde ich mein Mündel nicht in eine ungewisse Zukunft ziehen lassen, hatte der Sekretär Bengt die Worte der Königin niedergeschrieben. Eine Baronesse kann ich aus ihr nicht machen, aber sie darf sich von nun an zu den Edelfrauen zählen und sich Fräulein von Asenban nennen. Elin stellte sich vor, wie Kristina mit ihrer nüchternen Stimme die Zeilen diktierte und dabei in ihrem Kabinett umherging – in der Hand bereits ein anderes Schriftstück, mit dem sich ihr Auge und ihr Geist beschäftigten. Außerdem wird Frau Lovisa – ob sie nun Schiffe mag oder nicht – auf meinen Befehl hin Fräulein von Asenban begleiten und prüfen, ob mein Mündel gebührend empfangen wird und standesgemäß lebt. Als Gratifikation für ihre Treue und ihre geleisteten Dienste erhält Fräulein von Asenban zudem 8000 Riksdaler, die ihr in schweren Stunden, die sie zweifellos auf ihrem Weg erwarten, nützen mögen.

Seltsamerweise machte das Geldgeschenk Elin im ersten Moment traurig. Es war ein erkaufter Friede – und Elin hätte es trotz allem lieber gesehen, wenn Kristina in die Botschaft gekommen wäre, um ihr ein letztes Mal die Hand zu geben. Noch mehr Überwindung, als Kristinas Brief zu lesen, hatte es sie gekostet, die Mappe mit den Dokumenten aufzuschlagen. Viel lag nicht darin – mehrere Blätter mit Kritzeleien und ein Brief. Vermutlich hatte ihr Vater ihn nicht selbst geschrieben, sondern auf dem Feld einen Schreibkundigen dafür bezahlt. Elin beugte sich über den Brief und las ihn Zeile für Zeile genau durch. Und noch ein zweites und ein drittes Mal. Erst dann sah sie sich die verschmierten Blätter an. Mit ungelenker Hand hatte ihr Vater eine Gestalt gezeichnet, mit dem Stück eines verkohlten Astes vielleicht, irgendwo auf dem Feld. Eine Frau, mit langem, hellem Haar, das ihr bis auf die Hüfte fiel.

»Der erste Gast hat schon geklopft!«, rief Madame Chanut ihr zu.

Elin, die eben noch nachdenklich den Rosenkranz ihres Vaters betrachtet hatte, blickte auf. Es war Lars. Der alte Reitmeister hatte seine Uniform angelegt. Stolz und ernst wie ein Brautvater trat er vor und schloss Elin in die Arme. Es klopfte wieder – und gleich darauf noch einmal. Vier Lastenträger schleppten ächzend Lovisas prall gefüllte Reisetruhen in den Raum. Die alte Kammerfrau war beim Gedanken an die Schifffahrt, die ihr bevorstand, bleich wie ein Gespenst, aber sie lächelte Elin tapfer zu und bat um einen Wein. Als Nächstes kam Helga und überreichte Elin eine schwedische Brautkrone. »Ich weiß, dass es bei einer französischen Hochzeit nicht der Brauch ist, eine Krone zu tragen«, erklärte sie. »Aber wenn du erst einmal in deinem neuen Land bist, wirst du froh sein, ein Stück Heimat mitgenommen zu haben.«

»Es wird Elin eine große Ehre sein, Ihre Krone auf unserer Hochzeit zu tragen«, sagte Henri mit einem Lächeln. Kaum hatten sie am Tisch Platz genommen, klopfte es wieder. Mäntel rauschten im Flur, fröhliches Lachen erklang – dann betraten Magnus de la Gardie, seine Frau und Ebba den Raum – gefolgt von Herrn Freinsheim. Madame Chanut schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ließ noch mehr Teller holen.

»Herr van Wullen konnte sich beim besten Willen nicht davonstehlen!«, rief Ebba mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber er schickt dir Grüße und Glückwünsche.«

»Haben Sie sich etwa alle aus dem Schloss geschlichen?«, fragte Henri.

Magnus zwinkerte ihm zu. »Nun, wir sind eher schlafgewandelt. Morgen werden wir uns nicht mehr daran erinnern.«

Es wurde ein Fest, das Elins Herz noch lange wärmen würde. Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr so fröhlich gewesen – Magnus erzählte die Geschichte von Henris Unfall mit Enhörning in einer Weise, dass sogar Henri Tränen lachte. Die vergangenen zwei Jahre wurden wieder lebendig, zogen an Elin vorbei – funkelnde Geschichten, die sich wie Perlen an einer Kette aneinander reihten. Böse und gute, traurige und lustige. Als die Mitternacht längst vorbei war und von Helgas Konfekt kein Krümel mehr auf der Silberplatte lag, stand Elin auf und erhob ihr Glas.

»Ich möchte auf zwei Frauen trinken. Eine davon kennt ihr sehr gut – die Königin, der wir alle viel zu verdanken haben. Die andere … kenne ich nicht, aber ich weiß zumindest ihren Namen. Es ist meine Mutter. Sie hieß Elisabeth Krieschen und war die Tochter eines Gerbers aus München.«

»Das ist nur drei Tagesreisen von meiner Heimatstadt Ulm entfernt!«, rief Freinsheim dazwischen.

Elin nickte. »Da mein Vater sie auf der Insel Usedom kennen lernte, ist es nicht verwunderlich, dass ich dort keine Spuren über sie und ihre Familie fand. Ob sie eine Hure war, weiß ich immer noch nicht. Tatsache ist jedoch, dass mein Vater und sie geheiratet haben – in einem Feldlager. Meine Mutter war Katholikin. Ihr zuliebe ist mein Vater zum Katholizismus konvertiert – heimlich, als Hochverräter an Schweden. Ich … bin katholisch getauft worden – ebenso heimlich, in einer zerstörten Kirche am Rand des Schlachtfelds.«

Die Stille dauerte nur einen Moment, dann scharrten die Weingläser über die Tafel und die Stuhlbeine über den Boden. Lars hob feierlich sein Glas.

»Auf unsere Königin und auf Elisabeth Krieschen!«

Henri nahm einen tiefen Schluck und griff nach Elins Hand. Doch Elin entzog sie ihm und räusperte sich.

»Und dann habe ich noch ein Anliegen«, sagte sie in die Runde. Sie griff zu ihrem Taschentuch und klappte es auseinander. Lovisa begann zu lächeln. Elin zwinkerte ihr zu und nahm das Geschenk für Henri heraus. Es fühlte sich so an wie an dem Tag, an dem Lovisa es ihr endlich gegeben hatte – nur war es blanker, weil Elin es seitdem unzählige Male betrachtet und hin und her gewendet hatte.

»Ihr Riksdaler«, sagte sie zu Henri. »Mit bestem Dank zurück.«

Viel später am Abend, als die letzte Weinflasche geleert war und alle Geschichten mehrmals erzählt, erhoben sich ihre heimlichen Gäste und umarmten Elin nacheinander zum Abschied. Lars drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb.

»Leb wohl, zukünftige Madame de Vaincourt«, brummte er und küsste sie auf die Stirn. »Falls du mich brauchst, um Lovisa zu fesseln, damit sie morgen mit dir aufs Schiff geht, weißt du ja, wo du mich findest.«

Fesseln mussten sie Lovisa nicht, aber sobald das Schiff in Sicht kam, gab Elin ihr die Hand, die Lovisa ergriff wie ein Ertrinkender das Seil.

»Ich muss verrückt sein«, murmelte Lovisa immer wieder vor sich hin.

Von weitem konnten sie sehen, wie ihre Ledertruhen und zwei silberbeschlagene Kisten an Bord verladen wurden. Enhörning tänzelte, als er in den Frachtraum unter Deck geführt wurde. Und während sich das Schiff, das sie über die Ostsee bringen würde, mit Passagieren und Handelsgütern füllte, wurde nicht weit von ihnen ein anderes Schiff entladen. Für die Krönungsfeierlichkeiten, die im Sommer stattfinden sollten, trafen bereits die ersten Lieferungen ein. Feuerwerk wurde an Land geschafft.

»Also los«, flüsterte Lovisa. »Lassen wir die Gräber endlich hinter uns!« Hand in Hand betraten sie und Elin das Schiff. Die Hofdame war blass und schwitzte. An Deck angekommen, klammerte sie sich hilfesuchend an die Reling. Henri gesellte sich zu ihnen und legte seine Arme um Elin. Vor ihnen erhob sich Tre Kronor – der alte Drache aus Stein mit unzähligen Fensteraugen, in denen sich das Morgenlicht spiegelte. Irgendwo im Schloss wurde bereits am Triumphbogen für die Krönungsfeierlichkeiten gebaut.

Elin ließ ihren Blick über die Mauern schweifen und suchte nach dem Fenster, aus dem Kristina und sie oft auf den Hafen geschaut hatten. Sie war sich sicher, dass die Königin dort oben stand und zu ihr hinunterblickte. Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie Stockholm endgültig den Rücken kehrte und das Wasser betrachtete. Die Zukunft lag vor ihr wie eine mit glitzerndem Schnee bedeckte Ebene – unberührt und voller Verheißungen neuer Wege, die es darunter zu entdecken galt. Neue Länder, neue Studien, neue Herausforderungen erwarteten sie. Sie würde dem lutherischen Glauben abschwören und in einer Kirche aus Granit heiraten. Gemeinsam mit Henri würde sie die Segeltuchwebereien seiner Familie ausbauen. Und irgendwann, in einem vergessenen Winkel, würde sie vielleicht eines Tages eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels finden und darin Kristinas Lächeln sehen.