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Die gebo gene Steintreppe zur obersten Brustwehr kam Bolitho endlos vor. Atemlos stürmte er auf das offene Sims zu, wo der Rauch immer noch an den Sternen vorbeitrieb, und wo das Rufen und Schreien immer lauter wurde, einzelne Musketenschüsse krachten und über all dem Lärm mahnend ein Trompetensignal erscholl. Inchs Mörser schwiegen zur festgesetzten Minute, und wäre der Angriff nicht auch zeitlich so sorgfältig abgestimmt worden, hätte ein weiterer Schuß der Hekla die brüllend vorwärtsstürmenden Matrosen töten können, ehe sie auch nur ihr erstes Teilziel erreicht hatten.
Von unten, wo der Kutter am Steg auf Grund gelaufen war, hörte Bolitho ebenfalls Schreie und Kommandorufe, als die Boote eins nach dem anderen durch den zerstörten Eingang kamen und die Mannschaften sich in den Qualm stürzten, ehe die Fahrzeuge richtig festgemacht hatten.
Draußen, auf dem breiten Sims der Hauptbatterie, stand Allday an seiner Seite; er spürte die kühle Nachtluft im Gesicht. Er konnte den kleineren Mittelturm sehen, die eckigen, gedrungenen Formen der schweren Geschütze, hin und her laufende Gestalten, die aus allen Richtungen zu kommen schienen.
Die spanischen Soldaten hatten endlich erkannt, daß eine der betäubenden Detonationen, die sie aus dem Schlaf gerissen hatten, nicht von einem Mörser stammte. Jetzt strömten sie aus dem mittleren Turm, luden und schossen bereits im Laufen; ein Teil der Kugeln flog ohnmächtig in die Nacht hinaus, andere rissen vorwärtsstürmende Matrosen zu Boden. Auch aus dem Schatten unter der Brustwehr ertönten Schmerzensschreie.
Während Bolitho mit seinen Leuten die Stufen erstürmte und dabei fast über zwei ineinander verschlungene Tote gestolpert wäre, gab er Bickford ein Zeichen mit dem Degen.
«In den Turm! So schnell Sie können!»
Bickford antwortete nicht erst, sondern rannte blindlings über die offene Fläche.»Mir nach!«brüllte er seinen Männern zu, den Mund wie ein schwarzes Loch im kreideweißen Gesicht.
Bolitho blieb stehen und sah zu den Stufen hin. Wo blieb Lucey? Er hätte bereits hier sein müssen, um den Angriff zu unterstützen und den weiten Hof auf der anderen Seite des Kastells zu besetzen. Schüsse fuhren krachend und blitzend in die innere Mauer. Stahl klang auf Stahl, dazwischen kurze verzweifelte Schreie und Flüche.
Allday brüllte:»Das Wachboot ist hinter ihnen reingekommen, Cap-tain!«Er deutete mit seinem Entersäbel in eine tiefe Scharte.»Mr. Luceys Jungs kämpfen mit ihnen!»
Schon kamen etliche von Luceys Männern die Stufen hinaufgerannt, während andere auf dem Steg, von oben nicht zu sehen, noch mit der Besatzung des Wachbootes im Handgemenge lagen.
Von irgendwoher kam ein heiseres Hurra; ein flaches Gebilde schob sich durch die Bresche, und Allday keuchte:»Da ist die Gig, Captain, und keinen verdammten Augenblick zu früh!»
Jetzt waren die Angreifer in der Überzahl; die Männer des Wachbootes, von zwei Seiten in die Zange genommen, warfen die Waffen weg, und ihre Stimmen gingen im Siegesgeschrei der Matrosen unter.
Aber die Verzögerung durch das Wachboot hatte wertvolle Minuten gekostet, die Bolitho gebraucht hätte, um rechtzeitig die andere Treppe zu erreichen, welche in den Festungshof führte. Schon als er seine Männer einwinkte, sah er die Mündungsfeuer einer geschlossenen Reihe von Musketen, hörte eine Kugel dumpf in Muskeln und Knochen schlagen und neben sich einen Aufschrei. Der Vorstoß der Matrosen stockte; einige blieben auf den Stufen stehen, obwohl Männer aus den Booten nachdrängten.
«Los, Allday!«befahl Bolitho.»Jetzt oder nie!»
Allday schwang seinen Entersäbel und brüllte:»Recht so, Jungs! Stoßt die Tür zu den blöden Ochsen auf!»
Und wieder stießen sie vor. Ein Mann neben Bolitho sank mit einem Schrei zu Boden — der Ladestock einer Muskete stak in seinem Hals. Der Schütze mußte durch den Blitzangriff so durcheinander gewesen sein, daß er vergessen hatte, ihn nach dem Laden herauszuziehen.
Von überallher kamen ihnen jetzt plötzlich Soldaten entgegen, aus allen Ecken, von jeder Richtung. Und in der nächsten Sekunde klang Stahl auf Stahl im Kampf Mann gegen Mann. Sie hieben in der Dunkelheit um sich, mancher stürzte in das Blut seines Kameraden, ein spanischer Offizier hatte einen brüllenden Matrosen niedergehauen und kam auf Bolitho zugerannt. Bolitho riß seine Pistole aus dem Gürtel und drückte ab. Im hellen Mündungsfeuer sah er, wie die Schädeldecke des Offiziers barst und die Wand hinter ihm mit Blut und Hirn besprühte.
Lucey rannte an ihm vorbei, tränenüberströmt, aber mit zusammengebissenen Zähnen, von der wilden Kampfgier seiner Matrosen mitgerissen.
«Da ist die Treppe!«schrie Allday und hieb mit seinem Entersäbel nach einem Mann, der an der Mauer kniete. Vielleicht wollte er seine Muskete laden oder sich auch nur beim Aufstehen auf sie stützen, weil er verwundet war. Ohne einen Laut sank er tot zu Boden.
Im hinteren Teil des Hofes brannte eine Laterne; und als sie halb laufend, halb fallend die Treppe herunterkamen, sah Bolitho, daß sich dort eine Abteilung Soldaten zum Widerstand formierte. Manche waren nur halb bekleidet; andere mit Staub und Mauerbrocken vom
Bombardement der Mörser bedeckt, so daß sie aussahen wie Müllersknechte.
Ein Offizier riß seinen Degen abwärts, und eine Salve krachte aus den schwankenden Musketen. Mehrere britische Matrosen stürzten verwundet zu Boden, aber die Soldaten hatten schlecht gezielt, und zu einer zweiten Salve blieb ihnen keine Zeit mehr.
Wieder wurde Mann gegen Mann gekämpft, Blut spritzte über Sieger und Besiegte gleichermaßen, niemand dachte an etwas anderes als an Töten und Überleben.
Aus dem Augenwinkel sah Bolitho Midshipman Dunstan, der die Gig gesteuert hatte und jetzt seine Abteilung um die Rundung der Mauer zum massiven Doppeltor führte. Ein Soldat sprang auf ihn zu, stieß ihm die Mündung der Pistole direkt vor die Brust und drückte ab. Aber es war ein Versager, und ehe der unglückselige Spanier zurückspringen konnte, wurde er von einem untersetzten Stückmeistersmaaten niedergehauen und erhielt noch mehrere Säbelhiebe von den brüllend vorstürmenden Matrosen.
«Sehen Sie, Captain!«keuchte Allday.»Mr. Bickford hat den inneren Turm genommen!«Weiß glänzten seine Zähne im emporgereckten Gesicht, und Bolitho sah, daß jemand auf der oberen Brustwehr eine Laterne schwenkte — noch vor ein paar Stunden hatte dort oben die spanische Flagge höhnisch geweht.
In diesem Moment sprangen die Tore auf; Bolitho rannte über den unebenen Hof und erkannte zu seinem Schrecken: hinter dem Tor war niemand.
«Jesus«, sagte Allday,»wo sind die verdammten Bullen?»
Noch mehr spanische Soldaten kamen aus dem anderen Tor am Fuße der inneren Mauer gerannt; auf ein lautes Kommando eröffneten sie das Feuer über die Köpfe ihrer versprengten Kameraden hinweg. Dann stürzten sie sich mit aufgepflanzten Bajonetten auf die Angreifer.
Bolitho hob den Degen.»Standhalten, Jungs!«Seine Stimme riß die Männer herum, und er war überrascht, daß sie so fest klang. Und doch drehte sich alles in seinem Kopf, weil Giffards Marine-Infanteristen nicht da waren und seine kleine Truppe bereits gespalten war. Bick-ford hielt den inneren Turm, aber solange sich die untere Garnison und der Hof nicht in ihren Händen befanden, war er eher Gefangener als Sieger.
Keuchend, brüllend, wie wütende Dämonen prallten die schattenhaften Gestalten aufeinander. Die Matrosen mit den Enterpiken waren den Bajonetten gewachsen, doch die, welche nur Säbel hatten, waren dem Tode geweiht; ihre blutenden Leiber wurden nur noch durch den Druck der Kämpfenden aufrecht gehalten.
Bolitho führte einen Hieb zum Hals eines Soldaten, dessen Gesicht sich im Todeskampf zu einer grotesken Maske verzerrte, ehe er unter der schwankenden, um sich hauenden Masse der Männer verschwand. Ein anderer versuchte, ihn mit seinem Bajonett über die Schulter eines Kameraden zu erreichen, doch eine Pike stach zu, und er stürzte zu Boden.
Aber die Linie wankte. Als Bolitho versuchte, sich zum anderen Ende der schwankenden Reihe seiner Matrosen durchzukämpfen, hörte er einen furchtbaren Schrei und sah Leutnant Lucey auf dem Bauch liegen, über sich einen riesigen Spanier mit erhobener Muskete. Im Schein der Laterne glänzte das Blut am Bajonett, ehe der Mann zum zweiten Mal mit aller Kraft zustieß — und obwohl der Soldat einen Fuß auf den Rücken des Leutnants stemmte, konnte er die Klinge nicht herausziehen.
Aber Lucey lebte noch, er schrie wie eine Frau in den Wehen.
«Um Gottes willen!«keuchte Allday und sprang über den schmalen Streifen Kies; ehe der Soldat wußte, was ihm geschah, schnitt ihm Alldays schwerer Entersäbel in blitzendem Bogen quer durchs Gesicht, und sein gurgelnder Schrei übertönte das Knirschen der Klinge auf Fleisch und Knochen.
Aber es hatte keinen Zweck mehr. Bolitho wischte sich die Augen mit dem Ärmel, schlug den Säbel eines Soldaten zur Seite, riß ihn mit herum und stieß ihm den Degen dicht unter der Achselhöhle in die Brust. Sein Degen kam ihm so schwer vor, daß er ihn kaum noch heben konnte; verzweifelt sah er, wie jenseits des Tores zwei bezopfte Matrosen die Hände hoben, um sich zu ergeben.
In diesen kurzen Sekunden stand ihm klar vor Augen, warum sie überhaupt hier waren: seines persönlichen Stolzes oder ganz einfach seiner Eitelkeit wegen. All diese Männer, die von ihm abhingen, waren tot oder schwer verwundet. Bestenfalls würden sie auf spanischen Galeeren elend zugrunde gehen oder in einem Gefängnis verfaulen.
Auch die spanischen Truppen hielten jetzt inne und zogen sich dann auf einen weiteren Kommandoruf zurück. Sie ließen die Toten und die zuckenden, sich windenden Blessierten in der Mitte des Hofes liegen und formierten sich zu den urprünglichen Linien, wobei sie noch Verstärkung aus der unteren Festung bekamen.
Erschöpft senkte Bolitho den Degen und musterte, was von seinen Leuten noch übrig war. Atemlos keuchend klammerten sie sich aneinander, um sich gegenseitig zu stützen, und warteten stumpf wie Verurteilte auf ihre Hinrichtung. Und eine Hinrichtung würde es werden, wenn er sich nicht sofort ergab.
Doch da hörte er wie aus einer anderen Welt einen heiseren Befehl:»Erstes Glied — nieder knien!«Im ersten Augenblick bildete er sich ein, da gäbe ein spanischer Offizier sein Kommando auf Englisch, um es noch schlimmer für sie zu machen.
«Ziel erfassen!«tönte es weiter. Der eigentlich Feuerbefehl ging im Krachen der Musketen unter, und Bolitho konnte nur auf die Reihen der spanischen Soldaten starren, die unter der tödlichen Salve taumelnd hinsanken.
Aber es war Giffards Stimme! Tausendmal hatte Bolitho sie auf dem Achterdeck beim Exerzieren und bei militärischem Zeremoniell gehört. Der dicke, bombastische, wichtigtuerische Giffard, der Mann, der nichts lieber tat, als seine Seesoldaten vorzuführen. So wie jetzt.
Seine Stimme schmetterte wie eine Trompete, und obwohl er hinter einem Torbogen stand, meinte Bolitho, ihn ganz deutlich vor Augen zu sehen.
«Marine — Infanterie zur — Attacke! Das Zentrum, Laufschritt marsch — marsch!»
Und dann war alles so schnell vorbei wie ein Alptraum. Die MarineInfanteristen standen in tadelloser Uniform, die Bajonette tödlich glitzernd im Laternenlicht, das Lederzeug kreideweiß gegen die schattenhafte Umgebung. Hinter ihnen folgte das zweite Glied, lud in präzisem Gleichmaß die abgeschossenen Musketen, und Boutwood, der Feldwebel, stampfte mit seiner Halbpike den Takt dazu.
Musketen klirrten aufs Kopfsteinpflaster, und fast dankbar drängten sich die Spanier auf den Stufen zusammen; aller Kampfgeist war von ihnen gewichen.
Giffard knallte die Hacken zusammen.»Abteilung — halt!«Dann machte er kehrt und hob mit einem Schwung, der König George selbst begeistert hätte, den Degen auf Nasenhöhe.
Es war auf einmal ganz still, und wiederum gruben sich Bolitho ein paar besondere Details ins Bewußtsein — wie Teile eines Teppichmusters: Giffards knarrende Stiefel. Sein nach Rum riechender Atem. Ein verwundeter Matrose, der ganz langsam, wie ein Vogel mit zerschossenen Flügeln, in den Lichtkreis der Laterne kroch.
«Bitte melden zu dürfen«, bellte Giffard,»Marine-Infanterie zur Stelle! Keine Verluste, alles planmäßig!«In sausendem Bogen senkte sich sein Degen.»Erbitte weitere Instruktionen, Sir!»
Sekundenlang sah Bolitho ihm in die Augen.»Danke, Hauptmann Giffard. Aber hätten Sie mit Ihrem Angriff nur noch ein bißchen länger gewartet, dann wäre Ihnen, fürchte ich, das Tor wieder vor der Nase zugeschlagen worden.»
Giffard wandte den Kopf nach seinem Leutnant, der die Übernahme der Gefangenen beaufsichtigte.»Hörte Detonationen, Sir. Sah Musketenfeuer auf Brustwehr und habe — äh — zwei und zwei zusammengezählt. «Es klang etwas beleidigt.»Konnte Sie das Fort doch nicht allein erobern lassen, ohne meine Marine-Infanterie, Sir. Waren schließlich den ganzen Tag da draußen in der blutiggottverdammten Sonne!»
«Was denn — Sie haben keinen Angriffsbefehl bekommen?»
Er schüttelte den Kopf.»Nichts. Hörten Musketenfeuer unten am Strand, aber da ist alles voll lausiger Marodeure. Mußte sogar heute nachmittag einen hängen lassen. Wurde lästig, wollte unsere Rationen klauen!»
«Aber Leutnant Calvert sollte doch zu Ihnen stoßen und Sie über unseren Angriff informieren.»
Giffard zuckte die Achseln.»In Hinterhalt geraten, wahrscheinlich.»
«Wahrscheinlich. «Bolitho versuchte, nicht an Calverts Angst zu denken.
Giffard musterte die erschöpften, keuchenden Matrosen.»Sie ha-ben's ja anscheinend auch ohne unsere Hilfe ganz gut geschafft, Sir. «Er grinste.»Aber wenn's wirklich ernst wird, sind richtige Disziplin und kalter Stahl das Allerbeste!»
Bolitho blickte zu den Mauern empor — fast jedes Fenster, jede Schießscharte war erleuchtet. Bis Sonnenaufgang gab es noch eine Menge zu erledigen. Er rieb sich die Augen und merkte dabei, daß er seinen Degen noch immer fest in der Hand hielt. Die Finger taten ihm richtig weh, als er die Klinge in die Scheide steckte. So weh, als könnten sie den Griff nie mehr loslassen.
«Sichern Sie die Gefangenen«, sagte er,»und lassen Sie die Verwundeten in die unteren Räume schaffen. Bei Sonnenaufgang kommen die Hekla und die Coquette in die Bucht, und bis dahin ist noch ungeheuer viel zu tun.»
Klirrend lief Bickford die Stufen hinunter und faßte an den Hut.»Kein Widerstand mehr, Sir. «Da sah er den toten Lucey, aus dessen Rücken immer noch das Bajonett ragte, als wäre er an den Erdboden genagelt.»Mein Gott!«flüsterte er mit bebenden Lippen.
«Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Mr. Bickford. «Langsam ging Bolitho zur Treppe, innerlich noch gespannt wie die Abzugsfeder einer Pistole.»Da Sie jetzt der einzige überlebende Leutnant sind…»
Bickford schüttelte den Kopf.»Nein, Sir. Mr. Sawle ist in Sicherheit. Ihre Kommandantengig hat ihn und Mr. Fittock aufgenommen.»
Bolitho wandte sich um und blickte auf den toten Lucey herab. Merkwürdig, daß in dieser Welt immer die Sawles überlebten, während andere. Er riß sich aus seinen Grübeleien und befahl kurz:»Kümmern Sie sich um die Verwundeten. Dann die Boote zurückrufen! Die ankernde Brigg sorgfältig bewachen, damit sie nicht in der Nacht entwischt!»
«Man hat sie vielleicht angebohrt, Sir.»
«Glaube ich nicht. Hier in Djafou? Das einzige Schiff, das sie haben?»
Irgend etwas hielt ihn immer noch hier, auf diesen blutbespritzten Stufen, und er sollte doch schon längst drinnen sein, in der Festung. Er mußte mit dem Garnisonkommandeur sprechen und zahllose andere Einzelheiten erledigen, ehe das Geschwader kam.
Giffard schien seine Gedanken zu lesen. Und das war ebenfalls merkwürdig, denn nie hatte Bolitho ihm irgendwelches Einfühlungsvermögen zugetraut.»Soll ich ein paar Mann losschicken und Leutnant Calvert suchen lassen, Sir?«Er wartete auf Antwort und wiegte sich in knarrenden Stiefeln.»Einen Halbzug hätte ich allenfalls für ein paar Stunden übrig.»
Bolitho stellte sich Calvert mit seinen vier Begleitern vor — irgendwo in der Finsternis, verschreckt, hilflos. Besser wären sie tot, als daß sie den marodierenden Beduinen in die Hände fielen, von denen Draf-fen gesprochen hatte.
«Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Aber setzen Sie das Leben Ihrer
Leute nicht sinnlos aufs Spiel, Hauptmann Giffard«, schloß er widerstrebend.
Der Marine-Infanterist erwiderte gravitätisch:»Meine Leute tun, was befohlen wird, Sir. «Dann grinste er, als amüsiere er sich über seine eigene Angeberei.»Ich schicke sie sofort los.»
Im mittleren Turm befanden sich vor allem die Unterkünfte der Offiziere, von denen drei ihre Frauen bei sich hatten. Während Bolitho vorsichtig über Steinbrocken, allerlei persönliche Habe, Kleidungsstücke und dergleichen nach oben stieg, fragte er sich, was eine Frau in der Gluthitze von Djafou wohl für ein Leben führen mochte.
Das Quartier des Kommandeurs befand sich ganz oben und hatte Ausblick über die Bucht und den schnabelförmigen Landvorsprung.
Er saß in einem hochlehnigen Sessel und wollte aufstehen, als Bo-litho, gefolgt von Allday, ins Zimmer trat. Er trug einen elegant gestutzten grauen Bart, aber sein Gesicht hatte die Farbe ausgeblaßten Pergaments; wahrscheinlich hatte er mehrere schwere Fieberattacken hinter sich. Er war ein alter Mann mit runzligen Händen, die kraftlos auf den Armlehnen des großen Sessel ruhten, und hatte diesen Kommandeursposten vermutlich bekommen, weil niemand, auch er selbst nicht, ihn haben wollte.
Glücklicherweise sprach er gut englisch. Seine leise, kultivierte Stimme wirkte in dieser grimmen, kompromißlosen Umgebung fehl am Platze.
Bolitho hatte bereits von Bickford gehört, daß er Francisco Alava hieß und früher Oberst bei den Leibdragonern Seiner Katholischen Majestät des Königs von Spanien gewesen war. Und jetzt hatte er bis zu seinem Todestag die trübseligste Garnison in der Kette der spanischen Mittelmeerbesitzungen befehligen sollen. Bolitho nahm an, daß er einmal einen geringfügigen Bruch der Etikette begangen oder sich sonstwie falsch benommen hatte und deswegen auf diesen Posten abgeschoben worden war.
«Es wäre mir angenehm, wenn Sie mir Ihr Quartier für den Augenblick überlassen würden, Colonel Avala«, sagte Bolitho höflich.
Zitternd hoben sich die beiden Hände und fielen auf die Armlehnen zurück. Krankheit, Alter, die schrecklichen Detonationen von Inchs Mörsern hatten seinen an sich schon geringen physischen Reserven hart zugesetzt.
«Dank für Ihre Humanität, Captain«, entgegnete er.»Als Ihre Soldaten erschienen, fürchtete ich, sie würden alle meine Leute abschlachten.»
Bolitho lächelte grimmig. Giffard hätte bestimmt dagegen protestiert, daß man seine Marine-Infanteristen einfach» Soldaten «nannte. Er erwiderte:»Bei Tageslicht werden wir sehen, was sich tun läßt, um die Verteidigungsanlagen wieder instand zu setzen. «Er trat an eins der offenen Fenster und blickte auf die dunkle, wirbelnde Strömung unter der Festung.»Ich erwarte in Kürze weitere Schiffe. Eins davon müssen wir trockenfallen lassen, um Schäden zu reparieren. «Er schwieg einen Moment und drehte sich dann so scharf um, daß selbst Allday zusammenfuhr.»Sie kennen es vielleicht, Colonel — die Navarra !»«
Nur für den Bruchteil einer Sekunde sah er Beunruhigung in den Augen des alten Mannes aufblitzen. Dann zuckten die Hände, und er nahm sich zusammen.
«Nein, Captain.»
Bolitho wandte sich wieder zum Fenster. Er lügt, dachte er, und das ist so gut wie der Beweis, daß dieses gottverlassene Felsennest tatsächlich Witrands Ziel gewesen war. Vermutlich war die Brigg dort unten das Schiff, das ihn auf hoher See hatte abholen sollen.
Aber für diese Dinge war später noch Zeit. Inzwischen konnte sich der Kommandeur überlegen, was jetzt, nachdem das Fort gefallen war, für seine eigene Sicherheit ausschlaggebend war.
Er nickte Bickford zu.»Eskortieren Sie ihn in den Nebenraum und halten Sie die anderen Offiziere von ihm getrennt.»
Der Kommandeur hinkte durch eine Tür, und von der anderen Seite kam Sawle herein. Sein Hemd war durchweicht und zerrissen, den Uniformrock trug er leger über dem Arm.
«Sie haben Ihre Aufgabe sehr gut gelöst. «Bolitho sah ein neuartiges Licht in den Augen des Leutnants aufblitzen: etwas wie gebändigte Wildheit oder das aus einer gefährlichen Tat geborene Selbstvertrauen. Er hatte mehr Angst davor gehabt, seine Angst zu zeigen, als Angst vor der eigentlichen Gefahr; und nun, da er noch lebte, würde er Anerkennung und mehr erwarten.
«Danke, Sir«, antwortete Sawle und versuchte gar nicht erst, diese neue Arroganz zu verbergen, die sein Erfolg in ihm ausgelöst hatte.»Es war leicht.»
Das kommt dir nur so vor, weil es jetzt vorbei ist, mein Freund, dachte Bolitho. Laut sagte er:»Melden Sie sich bei Mr. Bickford; er gibt Ihnen weitere Instruktionen.»
Allday sah Sawle nach und murmelte fast unhörbar:»Rindvieh!»
Ohne ihn anzusehen, befahl Bolitho:»Gehen Sie hinaus und kümmern Sie sich um Mr. Lucey. «Dann sank er in den Sessel des Kommandeurs. Ihm war, als trügen ihn seine Beine nicht mehr.»Sehen Sie auch zu, ob Sie was zu trinken finden. Ich bin ganz ausgedörrt.»
Als er allein war, starrte er in dem düsteren Raum umher. Eines Tages vielleicht, nach einer schwerer Krankheit oder weil er zum Krüppel geschossen war, würden sie auch ihn auf so einen Außenposten abschieben. Wo er großartig Gouverneur hieß, würde er den Rest seiner Tage hinbringen und versuchen, seine Verbitterung, seine Sehnsucht nach einem Schiff aus der Heimat vor seinen Untergebenen zu verbergen.
Er merkte, daß ihm die Augen zufielen. Und ohne daß er ihn gehört hatte, war Giffard hereingekommen.»Meine Männer haben Mr. Cal-vert gefunden, Sir«, berichtete er, und ihm schien nicht wohl dabei zu sein.»Er hatte s ich verirrt und war angeblich ganz durcheinander.»
«Und seine Leute?»
«Keine Spur von den drei Matrosen, Sir. Den Midshipman trug er auf dem Rücken, doch der war schon tot. «Müde zuckte er die Schultern.
«Wer war das?»
«Mr. Lelean, Sir.»
Bolitho rieb sich die Augen, um die ziehende Müdigkeit und Erschöpfung loszuwerden. Lelean? Welcher war das?
Dann fiel es ihm ein: Keverne beugt sich über das Geländer, um seine Befehle an die Batteriedecks weiterzugeben. Drei eifrige Mids-hipmen und eins der nach oben gerichteten Gesichter voller Pickel: Lelean. Fünfzehn Jahre war er geworden.
«Sagen Sie Mr. Calvert, er soll sich bei mir melden. Ich will ihn allein sprechen. «Er sah Giffard bedeutsam in das rote Gesicht.
Allday erschien mit einem großen Glaskrug, der bis zum Rand mit dunkelrotem Wein gefüllt war. Er war sehr herb, aber im Moment schmeckte er besser als der beste Bordeaux des Admirals.
«Mr. Calvert ist hier, Captain«, sagte Allday.
«Holen Sie ihn rein und warten Sie draußen. «Allday ging; das paßte ihm keineswegs, wie Bolitho an seinem steifen Rücken sah.
Calvert schwankte vor Erschöpfung, und als er vor Bolitho stand und ihn teilnahmslos anstarrte, sah er aus, als wolle er jeden Moment umfallen.
«Sachte, Mr. Calvert. Trinken Sie einen Schluck Wein. Das wird Sie erfrischen.»
Calvert schüttelte den Kopf.»Ich möchte lieber berichten, Sir. «Er schauderte.»Ich kann an nichts anderes denken.»
Mit seltsam flacher Stimme, nur gelegentlich von tiefem Schaudern unterbrochen, erzählte er seine Geschichte.
Von dem Moment an, als das Boot ihn abgesetzt hatte, war alles schiefgegangen. Die drei Matrosen hatten absichtlich jeden seiner Befehle mißverstanden; wahrscheinlich wollten sie einmal selbst die Unfähigkeit des Leutnants ausprobieren, über die im ganzen Schiff geredet wurde.
Midshipman Lelean hatte versucht, Disziplin zu halten, aber als er sah, daß Calvert nicht imstande war, mit drei gewöhnlichen Matrosen fertig zu werden, hatte er den Mut verloren.
Sie waren landeinwärts marschiert, hatten des öfteren Pause gemacht, weil sich immer der eine oder der andere Matrose über wunde Füße oder dergleichen beklagte. Calvert hatte sich mit der ungenauen Karte herumgeplagt und versucht abzuschätzen, wie weit sie noch von dem vorgeschobenen Posten der Marine — Infanterie entfernt waren.
«Dann habe ich mich verirrt«, sagte er leise.»Lelean versuchte, mir zu helfen, aber er war ja nur ein Junge. Als ich nicht wußte, wo wir waren, machte er mir Vorwürfe und sagte, ich müßte es doch wissen. «Er machte eine vage Handbewegung.»Dann kam der Überfall. Lelean wurde von einer Musketenkugel getroffen, zwei Matrosen waren gleich tot. Der dritte lief weg, ich habe ihn nicht wiedergesehen.»
Bolitho blickte ihm forschend in das zu Tode erschöpfte Gesicht, in dem sich noch die Schrecken dieser Nacht, der Konfrontation mit blitzschnellem Tod, widerspiegelten. Wahrscheinlich waren es Berber gewesen, die wie Schakale lauerten, ob bei den Kämpfen zwischen Engländern und Spaniern etwas für sie abfiel.
Calvert berichtete weiter:»Ich habe Lelean meilenweit getragen. Manchmal versteckten wir uns im Buschwerk und hörten sie sprechen. Und lachen. «Seine Stimme brach, und er schluchzte:»Und die ganze Zeit sagte Lelean immer wieder, er wüßte ganz bestimmt, daß ich ihn in Sicherheit bringen würde. «Mit seinen verschleierten, blicklosen Augen sah er Bolitho wieder an.»Er hat sich auf mich verlassen!»
Bolitho stand auf und goß Wein aus dem Krug in einen Becher. Er drückte ihn Calvert in die Hand und sagte leise:»Wo waren Sie, als die Marine-Infanterie Sie fand?»
«In einer Felsenspalte. «Der Wein lief an seinem Kinn hinunter und auf das schmutzige Hemd. Wie Blut.»Lelean war schon tot. Die Verwundung mußte schlimmer gewesen sein, als ich dachte. Ich wollte ihn nicht einfach so liegen lassen. Er war der erste, der mir etwas zugetraut hat. Ich wußte. Ich dachte, kein Mensch würde mich suchen kommen. Da lief doch der Angriff… all das hier…»
Bolitho nahm ihm das leere Glas aus den schlaffen Fingern.»Ruhen Sie sich aus. Morgen kommt Ihnen vielleicht alles ganz anders vor. «Die Augen dieses Mannes! Morgen? Es war ja schon morgen.
Calvert riß sich zusammen.»Ich werde es Ihnen nie vergessen, daß Sie mich suchen ließen. «Doch da war es mit seiner Fassung auch schon vorbei.»Ich konnte ihn doch nicht einfach so liegenlassen. Er war doch bloß ein Kind.»
Broughtons schneidender Kommentar» Wird ihm gut tun «klang Bolitho auf einmal in den Ohren, so deutlich, als ob er hier im Raum gesprochen würde. Nun — vielleicht hatte der Admiral schließlich doch recht gehabt.
Ernst erwiderte er:»Viele gute Männer sind heute gefallen, Mr. Calvert. Es ist an uns, dafür zu sorgen, daß sie nicht umsonst gestorben sind. «Und nach einer kleinen Pause:»Und auch dafür, daß Le-leans Vertrauen nicht enttäuscht wird.»
Noch lange nachdem Calvert gegangen war, saß Bolitho zusammengesunken im Sessel. Was war mit ihm los, daß er Calvert auf solche Weise tröstete? Calvert war unbrauchbar und würde sich wahrscheinlich niemals ändern. Er kam aus einem sozialen Klima, dem Bolitho grundsätzlich mißtraute und gegen das er oft genug Abscheu empfunden hatte.
War es wegen des toten Midshipman? Konnte er sich solche Empfindsamkeit leisten in einem Krieg, der alle Grenzen der Vernunft sprengte und alle traditionellen Gefühle beiseite ließ? Oder identifizierte er Lelean mit Adam Pascoe, seinem Neffen? Wäre es Calvert gegenüber fair gewesen, ihm obendrein Vorwürfe zu machen, daß er in seinem Versteck geblieben war, während er im tiefsten Innern genau wußte, er selbst hätte sich ebenso verhalten, wenn Adam da draußen tot in einer unbekannten Felsenspalte gelegen hätte?
Als das erste Morgengrauen zögernd das Zimmer des Kommandeurs erhellte, saß Bolitho immer noch im Sessel, im Erschöpfungsschlummer dämmernd, ab und zu von neuen Zweifeln und Problemen aufgeschreckt.
Bickford war bereits wach. Er stand oben auf dem mittleren Turm und spähte in den grauenden Morgen. Nach einer Weile konnte er es nicht länger aushallen und winkte einem in der Nähe stehenden Matrosen.»Na, ist es jetzt hell genug?«Der Leutnant grinste übers ganze Gesicht und konnte gar nicht aufhören zu grinsen — seinen Anteil an der Aktion hatte er geleistet, und er lebte noch.»Hiß die Flagge, Mann! Wenn die Coquette das sieht, macht sie Männchen wie ein Hund!»
Um Mittag stieg Bolitho auf den Hauptturm und betrachtete, über die Brustwehr gebeugt, den Betrieb in der Bucht. Gleich nach Sonnenaufgang war die Coquette, gefolgt von Inchs Hekla, durch den engen Kanal unterhalb der Festung gekommen, und eine Stunde später die angeschlagene, stark schrägliegende Navarra. Geschäftig pullten die Boote zwischen der Küste und den Schiffen, von den Außenposten der Marine — Infanterie auf der Landzunge und den Wachen auf dem Fahrdamm hin und her; man konnte leicht vergessen, wie öde und leer es noch am Vortag dort gewesen war.
Er setzte das Teleskop an und suchte über dem vor Anker liegenden Bombenwerfer hinweg nach Leutnant Bickford, der mit seiner Abteilung zwischen den niedrigen Gebäuden bei den Ausläufern der Bucht rekognoszierte. Giffard hatte bereits gemeldet, daß das Dorf — denn viel mehr war es nicht — völlig verlassen sei. Die Fischerboote, die sie bei der ersten Attacke gesichtet hatten, waren nur noch Wracks und seit Monaten nicht mehr benutzt. Überbleibsel aus der Vergangenheit, wie dieses ganze Geisterdorf.
Die einzige gute Beute war jene kleine Brigg, die Turquoise. Sie war ein Handelsschiff, nur mit ein paar unmodernen Vierpfündern und Drehbassen bewaffnet, aber sonst neu ausgerüstet, ein sehr nützlicher Zuwachs auf der Flottenliste. Sie würde ein hübsches Kommando für einen jüngeren Offizier abgeben. Bolitho war entschlossen, dafür zu sorgen, daß Keverne sie bekam — das war nur gerecht.
Er schwenkte das Glas etwas und beobachtete, wie die Navarra dichter an die Küste verholt wurde. Der Steuermannsmaat, der als Prisenkommandant fungierte, hatte so schnell er konnte Segel gesetzt, sobald er die britische Flagge über dem Kastell wehen sah. Die provisorischen Reparaturen hielten nicht mehr, und er hatte gerade noch Djafou erreichen können, bevor die Pumpen es nicht mehr schafften und das Schiff in Gefahr kam zu sinken.
Bolitho war froh, daß Keverne gerade diesen Steuermannsmaaten ausgesucht hatte. Ein nicht so intelligenter Maat hätte vielleicht seine letzte Order, nämlich sich von Land fernzuhalten, wortwörtlich ausgeführt, weil er Unannehmlichkeiten mit seinen Vorgesetzten fürchtete. Dann wäre die Prise tatsächlich verlorengegangen, denn eine halbe Stunde, nachdem sie eingelaufen war, schlief der Wind völlig ein, und von der Landzunge bis zur dunkleren Kimm war die See wie eine tiefblaue Glasplatte. Zahlreiche Boote hatten an der gefährlich schiefliegenden Navarra festgemacht, geschäftig waren Matrosen von den anderen Schiffen dabei, die Ladung zu übernehmen, die schweren Spieren, die Kanonen, das Ankergeschirr abzufieren, um den Rumpf vor dem Aufsetzen möglichst zu entlasten.
Die Mannschaft der kleinen Brigg, die sich ohne Widerstand ergeben hatte, sowie Besatzung und Passagiere der Navarra stellten ein weiteres Problem dar. Sie wurden bereits am Strand in Reihen aufgestellt; die bunten Kleider der Frauen hoben sich lustig vom silbriggrauen Sand und den dunstigen Bergen jenseits des Dorfes ab. Sie alle mußten verpflegt und untergebracht, auch vor marodierenden Berbern geschützt werden, die sich immer noch in der Nähe herumtrieben. Das war nicht so einfach. Für Broughton bedeuteten sie nur eine lästige Komplikation.
Das Geschwader war jetzt vermutlich dicht unter der Kimm, und Bolitho konnte sich vorstellen, daß sich der Admiral, der ja immer noch nicht wußte, ob die Aktion Erfolg gehabt hatte, bis zur Weißglut über die Flaute ärgerte. Aber sie hatte auch ihr Gutes. Denn wenn Broughton nicht nach Djafou konnte, dann konnte es der Feind auch nicht.
Metallisches Klirren und Kreischen an der unteren Brustwehr: Fit-tock, der Stückmeister, beaufsichtigte das Umsetzen einer der auf Eisenlafetten montierten Kanonen, damit die an dieser Stelle beschädigte Mauer provisorisch ausgebessert werden konnte. Die Kanonen hatten bereits bewiesen, daß sie die Einfahrt auch gegen schwere Kriegs schiffe verteidigen konnten. Und wenn die so unschuldig aussehende Hekla in der Mitte der Bucht verankert wurde, dann war selbst ein massiver Infanterieangriff längs der Küste ein erhebliches Risiko.
Er setzte das Glas ab und zerrte an seinem Hemd, das ihm bereits wie ein heißes Handtuch am Leibe klebte. Je mehr er darüber nachgrübelte, was er in Djafou vorgefunden hatte, um so mehr war er davon überzeugt, daß der Ort als Basis unbrauchbar war. Gedankenverloren verschränkte er die Hände auf dem Rücken und begann, langsam auf den heißen Steinen auf- und abzugehen; und wenn seine Füße eine Strecke zurückgelegt hatten, die seiner gewohnten Strecke auf dem Achterdeck der Euryalus entsprach, dann drehte er automatisch um.
Wenn die letzte Entscheidung bei ihm gelegen hätte — hätte er dann anders gehandelt als Broughton? Und würde er jetzt mit einer Mißerfolgsmeldung nach Gibraltar zurückkehren oder weiter nach Osten segeln, ohne den Oberkommandierenden zu fragen, auf die vage Hoffnung hin, eine passende Bucht oder einen passenden Meeresarm zu entdecken? Die Degenscheide schlug ihm bei jedem Schritt an den Schenkel, und seine Gedanken wanderten zu dem gräßlichen Mann-gegen-Mann-Kampf dieser Nacht zurück. Jedesmal, wenn er sich auf so ein tollkühnes Unternehmen einließ, verringerte er damit seine eigenen Überlebenschancen. Das wußte er ganz genau, aber er konnte nicht anders. Fourneaux und mancher andere dachten vielleicht, wenn er seine ihm zukommende Rolle als Flaggkapitän aufgab und persönlich an solchen gefährlichen Aktionen teilnahm, täte er das aus Geltungsbedürfnis oder sinnloser Ruhmsucht. Wie konnte er jenen seine wahren Gründe erklären, wenn er sie nicht einmal selber genau verstand? Eins wußte er jedenfalls: nie würde er seine Männer ihr Leben für einen zweifelhaften, seinem eigenen Hirn entsprungenen Plan riskieren lassen, wenn er nicht mit dabei war und Erfolg oder Mißlingen mit ihnen teilte.
Er lächelte grimmig. Deswegen würde er auch nie Admiral werden. Er mochte eine Schlacht nach der anderen mitmachen, seine Erfahrungen an die kaum ausgebildeten jungen Offiziere weiterge ben, die befördert wurden, um die immer größer werdenden Lücken zu füllen, die der Krieg hinterließ. Und eines Tages, entweder an einem Ort wie diesem oder an Deck irgendeines Schiffes, würde er den Preis bezahlen müssen. Auch jetzt wieder betete er flehentlich, es möge so schnell gehen, wie eine Tür zugeschlagen wird. Und im selben Moment wußte er: das war unwahrscheinlich. Er dachte an Lucey und an jene anderen, die unten in dem großen kühlen Vorratsraum lagen, der als Krankenrevier benutzt wurde. Der Schiffsarzt der Coquette tat sein Bestes, gewiß — aber viele würden langsam sterben, ohne andere schmerzstillende Mittel als den Schnapsvorrat der Festung, der Gott sei Dank reichlich war.
Bolitho blieb an der Brustwehr stehen. Eben legte ein Boot von der Coquette ab und nahm Kurs aufs Kastell. Auch von der Hekla kam ein Boot. Vor lauter Nachdenken hatte er vergessen, daß er Inch und Cap-tain Gillmor eingeladen hatte, mit ihm zu speisen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Vielleicht hatte einer von ihnen eine Antwort auf die Frage, warum die Spanier Djafou trotz seiner strategischen Nutzlosigkeit gehalten hatten.
Später, als er mit den beiden Offizieren in dem kühlen Kommandeurszimmer bei einem Krug Wein saß, wunderte ihn die Art, wie sie alle beide ihre Erfahrungen und Gesichtspunkte dieses kurzen, wilden Gefechts darlegten und Vergleiche zogen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß sie nur eine knappe Stunde geschlafen hatten und auch in der nächsten Zeit kaum zur Ruhe kommen würden. Aber die Marine war eine gute Schule für Durchhaltevermögen. Jahrelanges Wachegehen mit kurzen Schlummerpausen zwischen dem endlosen Segelsetzen, Segelkürzen, Kreuzen oder Reparieren von Sturmschäden machte auch den Faulsten so hart, daß er eine fast unbegrenzte Zeit ohne Schlaf durchstehen konnte.
Inch schilderte gerade, wie aufgeregt sie alle an Bord der Hekla gewesen waren, als die Artilleriebeobachter der Marine-Infanterie den Einschlag des ersten Schusses signalisiert hatten; da trat Allday ein und meldete, Bickford sei von seiner Expedition ins Dorf zurück.
Bickford sah erschöpft aus, seine Uniform war voller Sand und Staub; er goß seinen Wein mit offensichtlichem Durst hinunter.»Ein Ort des Grauens, Sir«, berichtete er und schüttelte noch nachträglich den Kopf über seine schlimme Entdeckung.»Da wohnt schon seit Jahren niemand mehr. Keine Menschen, heißt das.»
Spottend sagte Gillmor:»Na, na, Mr. Bickford! Kobolde werden es doch bestimmt nicht sein!»
«Nein, Sir«, erwiderte Bickford mit tödlichem Ernst.»Hinter den Häusern haben wir eine große Grube gefunden, voller Menschenknochen. Viele Hunderte müssen sie da hineingeworfen haben, allem möglichen Viehzeug aus den Bergen zum Fraß.»
Erschrocken starrte Bolitho ihn an; Kälte stieg in seinem Herzen hoch. Die ganze Zeit war es dagewesen, und er hatte es nicht gesehen: das nächste Teilstück dieses Puzzlespiels.
«Die meisten Häuser«, fuhr der Leutnant fort,»bestehen bloß noch aus den Außenwänden. Aber da gibt es Ketten…»«
«Sklaven!«sagte Bolitho, und alle starrten ihn an. Sklaven. Unglaublich, daß er so lange gebraucht hatte, um zu sehen, was auf der Hand lag. Oder vielleicht hatte sich sein Unterbewußtsein dagegen gesträubt. Was sonst hätte Draffen hier für Geschäfte tätigen können? Geschäfte, die ihn bis nach Westindien und in die Karibik geführt hatten, wo er während der amerikanischen Revolution mit Hugh zusammengekommen war? Die Mauren hatten dieses Kastell erbaut, um jenen scheußlichen Menschenhandel zu schützen und zu fördern, und nach ihnen waren andere gekommen: Berberpiraten, arabische Sklavenjäger, die weit umherschweiften und dann ihre hilflosen Opfer hierherschafften. Hier war der Umschlagplatz für ihren blühenden Sklavenhandel gewesen.
Wie einfach es für Draffen gewesen war! Sein anscheinend selbstloses Angebot, die britische Flottenpräsenz im Mittelmeer zu fördern, war purer Eigennutz, und indem er Broughton veranlaßt hatte, die spanische Garnison zu erobern, hatte er sich den Weg für den ständigen Sklavennachschub eröffnet.
«Sie müssen aus vielen Teilen des Landes hierhergebracht worden sein«, sprach Bolitho weiter.»Karawanenwege, die wahrscheinlich schon Jahrhunderte alt sind, führen in die Berge. «Er konnte seine bitteren Gedanken nicht für sich behalten.»Ich habe keinen Zweifel daran, daß mancher in Westindien und Amerika auf Kosten dieser armen Teufel reich geworden ist.»
«Na ja«, sagte Gillmor unbehaglich,»Sklavenhandel hat es immer gegeben.»
Bolitho musterte ihn gelassen.»Skorbut hat es auch immer gegeben, aber nur ein Narr würde nichts dagegen tun!»
Ärgerlich wandte Gillmor sich ab.»Mein Gott, wie mich dieses Land anekelt! Sobald man nur den Fuß drauf setzt, kommt man sich vor wie angesteckt, wie unrein!»
«Sir Hugo Draffen wird das nicht gern hören, Sir«, warf Inch ein.
«Da können Sie recht haben. «Bolitho schenkte ihnen ein; der Krug zitterte in seiner Hand. Sprach man zu Leuten seiner eigenen Art, dann schien alles klar und einfach. Aber er wußte aus alter Erfahrung, daß es in der strengen Atmosphäre eines Kriegsgerichtshofes, viele Meilen vom Ort des Geschehens entfernt und vielleicht viele Monate später, nicht mehr so sauber und richtig klang. Draffen war ein einflußreicher Mann, das bewies schon der Umfang seiner Geschäfte. Broughton hatte Angst vor ihm, und sicher besaß er in England viele Verbündete. Schließlich hatte er eine Basis für das erste Vordringen des Geschwaders im Mittelmeer entdeckt. Im Krieg mußte man alles nutzen. Sein glattzüngiges Versprechen, einen neuen Alliierten zu gewinnen, um die Bewegungen des Feindes an der Küste zu stören, konnte sehr wohl Deckmantel für seine ganz persönlichen Ziele sein.
Bolitho ging langsam zum Fenster und spürte ihre Augen in seinem Rücken. Ebenso leicht, wie er ihnen jetzt den Rücken drehte, konnte er auch Draffen und seinen Geschäften den Rücken drehen. Er war Flaggkapitän, und bei weiterreichenden Entscheidungen hatte er nicht viel mitzureden. Niemand konnte ihm deswegen etwas anhaben, und wenige würden ihn dafür tadeln. Broughtons Flagge wehte über dem Geschwader und seinen Aktionen, und damit hatte Broughton auch die Verantwortung.
Noch ein paar Minuten quälte er sich mit diesem Problem herum, und dabei fielen ihm Lucey und Lelean wieder ein und alle die anderen, die gestorben waren und noch sterben würden, ehe sie diesen verdammten Ort verlassen konnten.
Vielleicht hatte Draffen sogar versucht, ihm etwas Derartiges anzudeuten, dachte er. Denn als er erklärt hatte, daß sie Djafou sehr bald wieder aufgeben würden und dabei von Menschen gesprochen hatte, denen Djafou Vergangenheit und Zukunft bedeutete, hatte er nicht an seine Bewohner gedacht, denn die gab es gar nicht: nur einen ständigen Strom von Sklaven und Sklavenjägern, die für solche Händler wie Draffen arbeiteten. In dieser Minute trieb er sich wahrscheinlich irgendwo an der Küste herum und gab seinem Agenten Anweisungen, um seinen persönlichen Sieg so ertragreich und dauerhaft wie möglich zu machen.
«Wie lange hat es gedauert, bis die Restless Kontakt mit Draffens Agent hatte?«fragte er scharf.
Bickford hob die Schultern.»Höchstens einen Tag oder so, nehme ich an. Jetzt wird sie wohl auch in der Flaute liegen.»
Bolitho sah die drei an.»Dann kann das Redezvous nicht weit weg liegen. «Rasch ging er zur Tür.»Ich muß den Kommandeur sprechen. Machen Sie es sich inzwischen bequem, meine Freunde.»
Die Tür fiel ins Schloß, und Gillmor sagte:»So habe ich ihn noch nie gesehen.»
Inch trank sein Glas aus.»Ich ja. «Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an.»Als ich unter ihm auf der Hyperion Dienst tat.»
Ungeduldig sagte Gillmor:»Raus aus dem Ofen und auf den Tisch damit, Mann!»
«Verräterei haßt er«, sagte Inch einfach.»Ich glaube kaum, daß er mit so einem Kieselstein unterm Sattel ruhig sitzenbleiben wird.»
Als Bolitho beim Kommandeur eintrat, saß dieser am Fenster. Mit seinem müden, nachdenklichen Gesicht und in dem gedämpften Sonnenstrahl, der durch die trüben Scheiben fiel, sah er wie ein holzgeschnitztes Heiligenbild in einer alten Kirche aus.
Bolitho wartete, bis sich die verschatteten Augen des alten Herrn ihm zuwandten.»Wir müssen uns beeilen, denn die Zeit wird knapp«, begann er.»Aber gewisse Dinge muß ich wissen, und Sie sind der einzige, der sie mir sagen kann.»
Die runzligen Hände hoben sich langsam.»Sie wissen, daß mein Eid mir zu sprechen verbietet, Captain. «Kein Unmut, nur Resignation klang aus seiner Stimme.»Als Festungskommandeur habe ich.»
Bolitho unterbrach ihn rauh:»Als Festungskommandeur haben Sie Pflichten Ihren Leuten gegenüber, auch den Matrosen und Passagieren der Navarra, die spanische Untertanen sind.»
«Mit der Eroberung von Djafou haben Sie diese Pflichten übernommen.»
Bolitho trat an ein Fenster und lehnte sich auf das sonnenwarme Sims.»Ich weiß von einem französischen Offizier namens Witrand. Ich glaube, Sie kennen ihn auch, und er ist vielleicht schon früher hiergewesen.»
«Früher?»
Nur zwei Worte, aber Bolitho hörte den Bruch in der Stimme des Mannes heraus.
«Er ist unser Kriegsgefangener, Colonel. Aber Sie sollen mir jetzt sagen, was er hier gemacht hat, und warum er an Djafou interessiert ist. Andernfalls.»
«Andernfalls? Ich bin zu alt, als daß Sie mir drohen könnten.»
Bolitho wandte sich wieder um und sah ihn unbewegt an.»Wenn Sie sich weigern, muß ich die Festung zerstören.»
Alava lächelte milde.»Das ist natürlich Ihr gutes Recht.»
«Ich habe aber«, erwiderte Bolitho absichtlich grob, um seine innere quälende Unsicherheit zu verbergen,»nicht genügend Schiffe zur Verfügung, um die Zivilisten und Ihre Leute in Sicherheit zu bringen. «Seine Spannung ließ etwas nach, denn an dem plötzlichen Erzittern der runzligen Hände sah er, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten.»Und obwohl die Kriegslage es erfordert, daß ich die Festung zerstöre, so daß sie uns in Zukunft nicht mehr bedroht, kann ich Ihnen keinen militärischen Schutz hierlassen.»
Er sah wieder aus dem Fenster, denn was er dem alten Mann antat, war ihm in der Seele zuwider. Unten lehnte sich Sawle über die Brüstung; sein Kopf war ganz dicht bei dem einer schwarzhaarigen Spanierin, der Frau eines der Offiziere der Garnison. Sie kam dichter heran, und Sawle legte ihr die Hand auf den Arm.
Er drehte der kleinen Szene den Rücken und fragte Alava:»Sie haben von einem gewissen Habib Messadi gehört?«Er nickte langsam.»Ja, ich sehe es Ihnen an.»
Ärgerlich fuhr er herum, denn die Tür sprang auf, und Hauptmann Giffard kam hereinmarschiert. Ihm folgte ein junger Seesoldat mit einem kleinen Korb.
«Was, zum Teufel, suchen Sie hier?»
Giffard stand bewegungslos stramm, den Blick irgendwohin über Bolithos linke Schulter gerichtet.
«Ein Reiter kam zum Damm galoppiert, Sir, irgend so 'n Araber. Meine Leute riefen ihn an, er drehte ab und floh, sie schossen hinterher, trafen ihn aber nicht. «Er deutete auf den hinter ihm stehenden Marine-Infanteristen.»Er hat uns diesen Korb hingeschmissen, Sir.»
Bolitho erstarrte.»Was ist darin?»
Giffard sah zu Boden.»Dieser französische Gefangene Witrand, Sir. Sein Kopf.»
Bolitho ballte die Fäuste so fest, daß er das Blut gegen die Knöchel pulsen fühlte. Irgendwie gelang es ihm, die aufsteigende Übelkeit und das Entsetzen zu unterdrücken, als er in Alavas schreckgeweitete Augen sah.»Anscheinend«, sagte er,»ist uns dieser Messadi näher, als wir dachten, Colonel.»
Der junge Seesoldat gab einen Laut von sich, als müßte er sich erbrechen.»Also wollen wir keine Zeit verlieren.»