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Die Admiralitätsordonnanz führte Bolitho und Herrick in einen Warteraum und schloß die Tür, ohne ihnen einen weiteren Blick zu schenken. Bolitho trat an ein Fenster und sah auf die dichtbelebte Straße hinunter. Auf einmal war seine hochgespannte Erwartung verflogen. Es war sehr still im Wartezimmer, und durch das Fenster spürte er die Wärme der letzten Septembersonne auf seinem Gesicht. Doch die Leute, die dort unten in solcher Hast und Eile ihren Geschäften nachgingen, waren warm eingewickelt, und die zahlreichen Pferde, die vor Kutschen und Wagen trabten, gaben mit ihren dampfenden Nüstern und bunten Decken bereits einen Vorgeschmack des nahenden Winters.
Hinter ihm lief Herrick ruhelos im Zimmer herum, und Bolitho fragte sich, ob er sich wohl auch, entweder resigniert oder ängstlich gespannt, auf die kommenden Unterredung vorbereitete.
Wie dieses London an den Nerven riß! Kein Wunder, daß die Ordonnanz Herrick und ihn mit solcher Gleichgültigkeit behandelt hatte, denn die Eingangshalle und die Flure waren voller Marineoffiziere, und nur wenige davon unter Kapitänsrang. Alle hatten nur ihre Vorladung oder ihr Schiff im Kopf oder wollten sich vielleicht auch bloß einmal hier im Zentrum von Britanniens Seemacht sehen lassen und so tun, als hätten sie sehr viel Arbeit.
Fast drei Monate waren vergangen, seit das französische Flaggschiff in jener furchtbaren Explosion auseinandergeborsten war, und zunächst hatte Bolitho mehr als reichlich damit zu tun gehabt, das angeschlagene Geschwader ohne weitere Verluste nach Gibraltar zu bringen. Dort sollte es auf neue Befehle warten.
Die zahlreichen Verwundeten waren entweder gestorben oder irgendwie durchgekommen; die Mannschaften hatten sich rastlos bemüht, die Havarien auszubessern, soweit das bei den beschränkten Mitteln, die Gibraltar zu bieten hatte, möglich war. Und Bolitho hatte auf irgendeine Anerkennung für ihre Mühen gewartet.
Endlich war eine Brigg mit Depeschen für Broughton eingelaufen: Die Schiffe, die seetüchtig waren, mußten unverzüglich Segel setzen, und zwar sollten sie nicht vor Cadiz zu Lord St. Vincent stoßen, sondern nach England zurückkehren. Nach allem, was sie zusammen durchgemacht und geleistet hatten, kam es Bolitho hart an, das kleine Geschwader auseinanderzureißen.
Aber die Valorous war fast nicht mehr reparaturfähig und mußte mit der Tanais, die in nicht viel besserem Zustand war, in Gibraltar bleiben. Die übrigen waren mit zwei französischen Prisen, den beiden Vierundsiebzigern, in See gegangen und hatten ohne weitere Zwischenfälle in Portsmouth Anker geworfen. Dort gingen die notwendigen Routinearbeiten weiter: Reparaturen und Neuverteilungen. Aber das hieß, von manchen vertrauten Gesichtern Abschied zu nehmen. Keverne, verdientermaßen zum Commander befördert, hatte die Auriga bekommen. Captain Rattray war an Land ins Hospital geschafft worden, wo er, halb blind und mit nur einem Bein, vermutlich seine Tage beschließen würde. Fourneaux war im Kampf gefallen. Gillmor hatte Seperatorder erhalten, mit seiner Coquette zur Kanalflotte zu stoßen, die immer knapp an Fregatten war.
Während im Hafen von Portsmouth ein Tag nach dem anderen verging, hatte Bolitho Zeit gefunden, sich zu überlegen, was die Admiralität von Broughtons Bericht denken würde. Das alles war ja schon sehr lange her, und so schienen die Kämpfe um Djafou und das, was man dort vorgefunden hatte, schien die letzte verzweifelte Schlacht gegen einen doppelt so starken Feind zu verblassen und an Realität zu verlieren. Broughton fühlte offenbar ähnliches, denn die meiste Zeit verbrachte er in der Abgeschlossenheit seiner Kajüte oder ging allein auf der Kampanje auf und ab, wobei er jeden außerdienstlichen Kontakt vermied.
Und dann, vor zwei Tagen, war die Vorladung gekommen. Brough-ton und sein Flaggkapitän sollten sich unverzüglich auf der Admiralität melden. Unerwarteterweise war mit ihnen zusammen auch Herrick vorgeladen worden. Er hatte Bolitho schon im Vertrauen gesagt, er würde sich wohl zu dem Verlust der Impulsive des näheren äußern müssen; doch Bolitho glaubte das nicht. Er hielt es für wahrscheinlicher, daß Herrick als der einzige Kommandant, der nicht von Anfang an an den Aktionen des Geschwaders beteiligt gewesen war, als unparteiischer Zeuge seine Aussage machen sollte. Dabei war nur zu hoffen, daß er nicht etwa aus blinder Loyalität seine eigene Stellung gefährdete.
Doch was auch geschah, Adam hatte jedenfalls den ersten Schritt auf der Erfolgsleiter getan. Er hatte sein Leutnantspatent mit einer Leichtigkeit erhalten, die ihn offenbar selbst überraschte, und befand sich jetzt an Bord der Euryalus, wo er sich vermutlich über die Zukunft seines Onkels Gedanken machte.
Eine Tür ging auf, und Broughton schritt durchs Zimmer auf den Korridor. Bolitho hatte ihn seit Verlassen des Schiffes nicht mehr gesehen, und so fragte er rasch:»Ich hoffe, es ist alles gutgegangen, Sir Lucius?»
Broughton schien seine Anwesenheit erst jetzt gewahr zu werden und musterte ihn abweisend.»Ich habe einen Posten in New South Wales bekommen: Aufbau und Verwaltung unserer australischen Flotte.»
Bolitho suchte seine Bestürzung zu verbergen.»Das ist aber eine große Aufgabe, Sir.»
Flüchtig sah der Admiral zu Herrick hinüber.»Kaltgestellt. «Er wandte sich um.»Ich hoffe, Ihnen wird's besser gehen. «Und mit einem kurzen Nicken ging er hinaus.
Herrick explodierte.»Bei Gott, ich weiß ja nicht sehr viel von Broughton, aber das ist verdammt grausam! Er wird da draußen ver faulen, und hier in London werden ein paar gepuderte Lackaffen fett, dank der Anstrengungen solcher Männer!»
Bolitho lächelt melancholisch.»Sachte, Thomas. Ich denke, Sir Lucius hat so etwas erwartet.»
Mit plötzlicher Bitterkeit dachte er an den Rädelsführer der Auriga-Meuterei, diesen Tom Gates. Er sah ihn noch vor Augen, wie er da in dem kleinen Wirtshaus an der Veryan Bay ihm gegenüber am Tisch saß, und dann wieder in der Kajüte mit Captain Brice. Fast das erste, was ihm in Portsmouth Point vor Augen kam, war der verwitterte Leichnam eben jenes Tom Gates gewesen, der als grauenhafte Mahnung an den Preis der Revolte dort am Galgen baumelte. Wie seltsam das Schicksal spielt: der Zweite Offizier der Auriga war von den Franzosen gegen einen in England gefangenen französischen Offizier ausgetauscht worden. Er hatte eine Stelle auf einer anderen Fregatte bekommen und dort Tom Gates entdeckt, der sich unter falschem Namen verbarg. Alle seine ehrgeizigen Hoffnungen begrabend, hatte sich Tom Gates unter einfachen Matrosen verbergen müssen und war doch am Strick geendet, wie so viele nach der Meuterei.
Wieder ging die Tür auf, und ein Leutnant sagte:»Sir George läßt bitten. «Und als Herrick zurücktreten wollte:»Sie ebenfalls, bitte.»
Es war ein elegantes Zimmer, mit vielen Bildern und einer großen Büste Raleighs[32] auf dem Kaminsims, unter dem ein lebhaftes Holzfeuer prasselte.
Admiral Sir George Beauchamp blieb an seinem Schreibtisch sitzen, deutete aber kurz auf zwei Stühle. Verstohlen musterte Bolitho diesen Mann, der da in Papieren blätterte. Das also war Beauchamp, seit Kriegsbeginn Reorganisator der britischen Flotte. Ein Mann, der wegen seiner Weisheit und seines Humors bekannt war. Und wegen seiner Strenge. Er war dünn und hielt sich ziemlich gebückt, als drük-ke ihn sein goldbetreßter Rock zu Boden.
«Ah, Bolitho. «Mit kalten, unbewegten Augen blickte er hoch.»Ich habe Ihre Berichte aufmerksam gelesen. Interessante Lektüre. »
Bolitho hörte Herrick neben sich schwer atmen. Was würde Beau-champ jetzt weiter zu sagen haben?
«Ich kannte Sir Charles Thelwall, Ihren vorigen Admiral. «Wieder der gelassen musternde Blick.»Ein feiner Mann. «Er wandte sich wieder den Papieren zu. Immer noch kein Wort über Broughton. Bo-
litho wurde beinahe nervös.
«Glauben Sie immer noch«, fragte der Admiral,»daß das, was Sie getan und herausgefunden haben, der Mühe wert war?»
Ruhig erwiderte Bolitho:»Jawohl, Sir. «Die Frage war ganz beiläufig gekommen, und doch fand Bolitho, daß sie das ganze Geschehen zusammenfaßte.»Die Franzosen werden es weiter versuchen. Und sie müssen aufgehalten werden.»
«Ihre Aktion in Djafou, und wie Sie mit einer Situation fertig geworden sind, die Sie für hoffnungslos halten mußten — das war gut. Auch Sir Lucius hat das in seinem Bericht gesagt. «Er zog die Brauen zusammen.»Hatte auch allen Grund dazu.»
«Danke, Sir.»
Der Admiral ging nicht darauf ein.»Neue Taktiken, neue Ideen, neue Gesichtspunkte, all das ist wichtig, wenn wir diesen Krieg überleben wollen, vom Siegen gar nicht zu reden. Sie haben dieses Verständnis. Wohingegen…«Er hob die Schultern und ließ den Rest ungesagt, aber in Bolithos Hirn stieg das Wort wieder hoch: kaltgestellt.
Beauchamp warf einen Blick auf die vergoldete Schreibtischuhr.»Sie werden ein paar Tage in London bleiben, bis ich Ihre neuen Befehle fertig habe, verstanden?»
Bolitho nickte.»Jawohl, Sir.»
Der Admiral trat zum Fenster und betrachtete die vorüberfahrenden Kutschen und die Fußgänger mit offensichtlicher Geringschätzung.»Captain Herrick geht sofort nach Portsmouth zurück.»
«Darf ich wissen warum, Sir?«fragte Herrick gepreßt.
Mit dünnem Lächeln sah Beauchamp ihm ins Gesicht.» Commodore Bolitho wird seinen Wimpel auf der Euryalus hissen, sobald er wieder in Portsmouth ist. «Unbewegt sah er in Herricks überraschtes Gesicht.»Ich weiß jetzt schon, daß er Sie als Flaggkapitän anfordern wird, und da dachte ich, wir sollten einmal etwas weniger Zeit verschwenden, als es unter diesem Dach sons t üblich ist!»
Mit ausgestreckter Hand trat er auf sie zu. Da Bolitho seinen Arm unter dem Rock in der Schlinge trug, bot er ihm die Linke.»Ich gebe Ihnen ein Geschwader, Bolitho. Bloß ein kleines, aber genug, um Ihre
Ideen erfolgreich in die Tat umzusetzen. «Ein fester Händedruck.»Viel Glück! Ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht!»
Bolitho schlug die Augen nieder.»Danke, Sir. «Das Zimmer schien sich um ihn zu drehen.»Auch dafür, daß Sie mir Captain Herrick gegeben haben.»
Der Admiral setzte sich wieder an den Schreibtisch.»Ach, Unsinn!«Aber als sie aus dem Zimmer gingen, sah er ihnen mit stiller Freude nach.
Draußen auf der Straße, zwischen den hastenden Menschen und den wirbelnden Blättern, sagte Bolitho:»Das kommt mir vor wie ein Traum, Thomas.»
Herrick grinste übers ganze Gesicht und schüttelte den Kopf.»Ich kann es gar nicht erwarten, das Gesicht Ihres Neffen zu sehen. Ein Kommodorestander! Gottverdammt, ich dachte schon, die würden Ihnen nie zuteil werden lassen, was Sie verdienen!»
Bolitho lächelte, von zwei Gefühlen hin und her gerissen. Brough-ton hatte ihm gesagt, wie es war, wenn man Flaggrang bekam. Man wurde ein höheres Wesen, unerreichbar, jenseits aller persönlichen Beziehungen. Es war eine Herausforderung, etwas, das er im Grunde immer gewollt hatte. Und doch, wenn die Wache herauskam, zum Segelsetzen oder Ankerlichten, wie würde ihm da zumute sein? Ein anderer würde das Schiff kommandieren; er war dann nur Zuschauer.
Er sagte:»Sie gehen am besten in den Gasthof zurück, Thomas. Wenn Sie die Eilpost nach Portsmouth erwischen, können Sie morgen abend an Bord sein.»
«Ich werde Allday sagen, daß er alles für Sie zurechtmacht, Sir.»
«Ja. «Er legte ihm die Hand auf den Arm.»Wir sind einen langen Weg miteinander gegangen, Thomas. Und ich könnte mir keinen besseren Weggefährten, keinen besseren Freund wünschen.»
Er blickte Herricks untersetzter Gestalt nach, bis diese in einer Querstraße verschwunden war, und wandte sich dann wieder der schäftigen Straßenszene zu.
Er wollte den Fahrdamm kreuzen, blieb aber stehen, um ein schönes Paar Grauschimmel vor einer eleganten, smaragdgrünen Equipage vorbeizulassen. Doch der Kutscher parierte sie durch und trat dann mit dem blitzblanken Stiefel hart auf die Bremse.
Bolitho blieb unschlüssig stehen. Von den Geschehnissen dieses
Vormittags und von dem hektischen Betrieb dieser großen Stadt schwirrte ihm immer noch der Kopf.
Das Fenster der Kutsche öffnete sich, und eine Frauenstimme sagte:»Ich hörte, daß Sie auf der Admiralität waren, Captain.»
Er blickte die elegante Dame an, die verschwörerisch auf ihn herablächelte: Catherine Pareja.
«Kate!«stammelte er. Ein anderes Wort fand er nicht.
Sie klopfte ans Kutschendach.»Robert! Helfen Sie dem Captain beim Einsteigen!«Und als Bolitho neben ihr in die Polster sank, flüsterte sie:»Wir werden zusammen dinieren. «Ihre Mundwinkel hoben sich zu dem Lächeln, das er so gut kannte.»Und dann. «Ihr leises Lachen ging im Rollen der Räder unter, als die Kutsche sich flink in den Strom der Wagen einordnete.
Von seinem hohen Fenster sah Admiral Beauchamp hinter ihnen her und nickte nachdenklich. Er hatte einen guten Griff getan, soviel war klar. Ganz entschieden war Bolitho ein Mann, auf den die Flotte stolz sein konnte.
Sir Walter Raleigh, 1618 hingerichtet; Seefahrer, Günstling der Königin Elisabeth I, Gründer der englischen Kolonie Virginia in Nordamerika