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VII
Wayland führte die Gruppe auf den bewaldeten Hügel, und die Flüchtlinge stolperten hinter ihm her. Der Nebel schlug sich auf den Bäumen nieder und tropfte mit entnervender Unregelmäßigkeit von den Zweigen auf ihre Köpfe herunter. Nach einem langen, mühsamen Aufstieg kamen sie aus dem Nebel und sahen das Meilenkastell vor sich. Als sie es erreicht hatten, kroch ein fahler, gelblicher Lichtsaum über den östlichen Himmel. Wayland warf einen Blick zurück auf das Wolkenmeer, das mit dunklen Riffen und Inseln durchsetzt war. Weit im Westen erhoben sich in der schwachen Helligkeit schneebedeckte Berge unter den verblassenden Sternen. Kein noch so schwacher Windhauch bewegte die Luft.
Richard lag im Gras und schluchzte, als bräche ihm das Herz. Raul stieg in den Turm, um die Vorräte zu holen.
«Seht», rief Hero und deutete auf einen winzigen Umriss, der sich über einem Hügel weit im Süden erhob. «Da ist der Galgen, an dem wir auf unserer Reise hierher vorbeigekommen sind.»
Vallon straffte sich. «Bei eurer Geschwindigkeit werden wir noch zu Krähenfutter, bevor es Mittag ist. Wo geht es jetzt weiter?»
Wayland deutete nach Westen, den Wall entlang. Sein Verlauf war meilenweit sichtbar, er hob und senkte sich im Nebel wie das Rückgrat eines Seeungeheuers.
«Dann los», sagte Vallon und ging voraus. Die anderen setzten sich nur zögernd in Bewegung. Vallon warf einen Blick über die Schulter. «Worauf wartet ihr?»
Wayland deutete auf die Käfige.
«Er will diese Greifvögel freilassen», sagte Raul.
«Es kümmert mich einen Rattendreck, was er will.»
«Hauptmann, Wayland macht alles auf seine eigene Art.»
«Aber jetzt nicht mehr. Und das gilt für dich genauso.»
«Verstanden, aber wir brauchen Wayland dringender als er uns. Am besten lässt man ihm seinen Willen.» Raul rülpste laut, schulterte den Verpflegungskorb und drehte sich wie ein dämonischer Straßenhändler jäh um. Nachdem Vallon einen Moment lang unschlüssig und ärgerlich dagestanden hatte, folgte er ihm.
Wayland ließ sich Zeit. Er wartete, bis die Sonne aufging und das Wolkenmeer rosa färbte, bevor er den Käfig mit dem Hühnerhabicht öffnete. Das Tier funkelte ihn an, ruckte mit dem Kopf, und erhob sich in die dunstige Luft. Schon am Abend würde der Vogel wieder so wild sein wie an dem Tag, an dem ihn Wayland eingefangen hatte. Dann ließ Wayland die Wanderfalken frei. Er hatte sie seit Sir Walters Weggang vor mehr als einem Jahr nicht mehr fliegen lassen. Sie hatten ihre Tage im Freigehege verbracht, wo sie die Flügel spreizten und ihre wilden Artgenossen beobachteten, die mit dem Wind segelten. Das Weibchen flog schwerfällig und landete auf dem Wachturm, doch der Terzel schwang sich in die Lüfte, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet und als wisse er genau, welche Richtung er einschlagen musste. Steigend und sinkend flog er, ein dunkler, flackernder Stern, den Wayland mit den Augen verfolgte, als trüge er all seine Hoffnungen und Träume mit sich. Unbewegt sah er dem Vogel nach, bis er im Himmel verschwunden war.
Die Flüchtlinge hatten mittlerweile das nächste Meilenkastell des Römerwalls erreicht. Vallon drehte sich zu Wayland um und winkte, dann ließ er den Arm sinken und führte die bunt zusammengewürfelte Truppe weiter. Als sie außer Sicht waren, ging Wayland in den Hof der Festung. Zwischen den langen Schatten wirkten die Erhebungen und Senken in dem Innenhof wie Gräber. Sein Blick wanderte über die einsamen Wälle. Er klatschte in die Hände, und der Hall wurde von den Mauern zurückgeworfen wie ein Echo durch die Zeiten. Er kraulte den Hund. Jetzt sind nur noch du und ich übrig.
Dann trat Wayland stirnrunzelnd wieder durch das Tor nach draußen. Schwaches Glockenläuten verriet ihm, dass ihre Flucht entdeckt worden war. Er setzte sich auf den Boden und stellte sich die Ereignisse in der Burg vor – die verschlafenen Soldaten fluchten, während sie sich mit dröhnenden Kopfschmerzen ungeschickt an ihren Rüstungen abmühten. Ihre Pferde waren erschöpft von der Jagd des Vortages, aber die Normannen würden Hunde einsetzen, um die Flüchtlinge aufzuspüren. Sie würden nicht weit kommen. Und inzwischen lichtete sich auch der Nebel.
Wayland schulterte sein Bündel und machte sich auf den Weg den Hügel hinunter zum South Tyne, auf den er mehrere Meilen flussaufwärts treffen würde. Er hatte keine Skrupel, die Flüchtlinge im Stich zu lassen. Vallon und Hero bedeuteten ihm nichts, und Richard war ein Normanne und deshalb ein Blutsfeind. Raul wünschte er zwar nichts Böses, doch er hegte auch keine freundschaftlichen Gefühle für ihn. Er hatte keine Freunde. Er brauchte keine Freunde. Er war wie der Habicht, ein Schatten im Wald, der nur flüchtig den Blick kreuzte.
Davon abgesehen gab es nichts, was er zu ihrer Rettung tun konnte. Er hatte Vallons Bitte nur erfüllt, weil sie seinen eigenen Zwecken diente. Ihre Flucht würde die Normannen ablenken, während er selbst entkam. Bis zum Abend, wenn die anderen irgendwo in Stücke gehackt würden, hätte er sich im dichten Wald in Sicherheit gebracht.
Doch als ob eine unsichtbare Kraft seine Glieder beschwerte, wurden seine Schritte immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb. Der Hund beobachtete ihn mit aufgestellten Ohren. Wayland blickte zurück zum Römerwall und dann hinunter in das Tal. Dann beugte er sich vor und spuckte aus. Der Hund nahm seine nächste Bewegung vorweg und rannte den Hügel hinunter. Doch Wayland pfiff nach ihm und ging zurück zum Wall. Ich tue es nicht für die Fremden, sagte er sich. Ich tue es für Drogos Gesichtsausdruck, wenn ihm klar wird, wer ihn überlistet hat.
Bis er die anderen eingeholt hatte, war es heller Tag geworden, und nur noch wenige Nebelschwaden hingen in den Talsenken. Nach allen Richtungen erstreckte sich eine gleichförmige, flache Landschaft, in der kaum ein Baum wuchs.
«Wir müssen von dem Wall herunter», sagte Vallon keuchend.
Wayland kauerte sich hin und legte das Ohr auf das alte Pflaster.
«Wie weit hinter uns sind sie?»
Wayland deutete auf ein Meilenkastell und hob zwei Finger.
Er trieb die Gruppe an und konnte kaum glauben, wie langsam sich andere Menschen bewegten. Sie hatten das nächste Kastell beinahe erreicht, als er stehen blieb und einen Finger auf die Lippen legte. Gleich darauf hörten es alle – fernes Hundegebell. Hero und Richard stürmten weiter und warfen angsterfüllte Blicke über die Schulter. Als sie über eine Erhebung kamen, flüchtete eine erschreckte Schafherde vor ihnen quer über ein eingefriedetes Gelände. Eng aneinandergedrängt blieben die Schafe stehen, die Mutterschafe stampften unruhig, und alle Tiere blickten in Richtung des Walls. Zwei bösartig wirkende Hunde flogen pfeilschnell über das Gelände. Dann tauchten hinter einem Steinhaufen ein Junge und ein Mädchen auf und starrten die Flüchtlinge an.
«Das hat uns noch gefehlt», stöhnte Hero.
Die Kinder rannten auf die Schafe zu, schwenkten Weidenruten und riefen dabei etwas. Darauf schwenkten die Hunde ab und trieben die Herde durch eine Zaunlücke in eine vom Regen tief ausgewaschene Geländefurche.
Wayland nahm Raul und Hero ihre Umhänge ab. Richard wich vor ihm zurück. «Gib ihm den Umhang», sagte Vallon und streifte seinen eigenen ebenfalls ab.
Wayland schob ihn an den Rand des Walls und deutete auf die Geländefurche.
«Er will, dass wir den Schafen folgen. Schnell, bevor die Soldaten in Sicht kommen.»
Wayland packte Raul am Arm und beschrieb ihm mit Gesten den Weg, den sie nehmen sollten. Nach Süden bis zum Fluss und dann nach Westen zur ersten Furt. Auf der anderen Seite folgt ihr weiter dem Fluss, bis ihr an den Zufluss eines Stroms aus Süden kommt. Dann geht ihr das Tal hinauf, bis sich der Fluss teilt. Und dort wartet ihr auf mich.
Raul schlug Wayland zum Zeichen, dass er verstanden hatte, auf die Schulter, zog Richard mit sich und sprang vom Wall herunter. Wayland kümmerte sich nicht weiter um sie, band ein paar Umhänge an seinen Gürtel und die übrigen um den Hals seines Hundes. Dann zog er aus seiner Tasche ein Behältnis mit einer Mixtur aus Moschus und Rizinus. Mit dieser übelriechenden Schmiere bestrich er seine Schuhe. Das Bellen und die Rufe kamen näher.
Der nächste Abschnitt des Walls verlief schnurgerade. Wayland ließ sich auf der Südseite in den Graben hinunter und verfiel in leichten Trab. Der Hund hielt genau Schritt. Sie zogen an einem Meilenkastell vorbei, das nächste ragte vor ihnen auf wie ein fauler Backenzahn. Wayland stieg den halbzerfallenen Turm hinauf und legte sich mit dem Gesicht in die Richtung, aus der er gekommen war, auf den Boden. Seine Atmung beruhigte sich. Auf einen Stein neben ihm hatte ein gelangweilter oder heimwehkranker Legionär eine Gebet oder eine Obszönität oder eine Liebeserklärung gekratzt. Eine Lerche jubilierte so weit über ihm im weiten Blau, dass Wayland sie nicht sehen konnte – sie singt vor den Toren des Himmels, hätte seine Mutter gesagt.
Als Wayland vom Turm hinabspähte, sah er in einiger Entfernung zu beiden Seiten des Walls wie schwarze Punkte Reiter in der Landschaft. Einen, zwei, drei. Sie verschwanden in einer Niederung, und neue tauchten auf. Als keine Reiter mehr nachkamen, hatte Wayland dreizehn gezählt und zusätzlich vier Jagdhunde.
Die Hunde hielten an der Stelle, an der die Flüchtlinge vom Wall abgebogen waren, und schnupperten am Boden. Einer rannte auf die Schafweide, doch die anderen folgten ihm nicht. Ihr Gebell wurde lauter. Ein Soldat trieb den Hund von der Schafweide mit einem Peitschenhieb zurück zu den anderen. Die Meute zog weiter.
Wayland stieg schnell vom Turm. Vor ihm teilte sich der Weg, eine breite Karrenspur führte in ebeneres Gelände Richtung Süden, der Wall dagegen beschrieb eine Spitzkehre um eine Felswand mit steilem Abhang an der Nordseite. Ein mit Seen durchsetztes Moorgebiet zog sich bis zu einem Wald mit alten Kiefern hinauf. Vor Jahren war Wayland mit seinem Vater in diesem Wald gewesen, und sie hatten gemeinsam an genau jener Stelle gestanden.
«Siehst du diese Bäume da vorn», hatte sein Vater gesagt. «Das sind kühne Krieger, die Odin bei ihrem Vormarsch dort festgebannt hat, indem er einen Blitz auf sie schleuderte.»
«Unsere Mutter sagt, Odin und all die anderen Götter gibt es nicht», hatte er widersprochen. «Sie sagt, es gibt nur einen Gott, und sein Sohn ist Jesus Christus, das Licht der Welt.»
Sein Vater hatte ihm das Haar zerzaust. «Jesus hat mit seinem Licht noch nicht überall hingeleuchtet. Aber erzähl deiner Mutter nicht, dass du das von mir gehört hast, sonst versagt sie mir einen Monat lang alle Freuden.»
Wayland überprüfte die Knoten, mit denen er die Umhänge der anderen befestigt hatte. Dann folgte er dem Anstieg des Walls. Als er den ersten Steilhang erreicht hatte, kletterte er an einer Stelle abwärts, an der ihm kein Pferd folgen konnte, und bewegte sich schnell weiter Richtung Norden, wobei er versuchte, sich unterhalb der Sichtlinie zu halten. Die Landschaft wurde rauer, holprige Wiesen und Wollgras wurden von Heide und weichen Moosteppichen abgelöst. Graubraune Vögel flogen vor ihm auf.
Als er die Baumgrenze erreicht hatte, blickte er zurück. Die Kette der Reiter bewegte sich den Steilhang hinauf, und an der Richtung, die sie einschlugen, erkannte Wayland, dass sie seinen Fluchtweg entdeckt hatten. Er hastete in den Wald.
Erst hier würde es ihn größere Anstrengung kosten, seinen Plan umzusetzen. Er wollte eine so große Entfernung zwischen die Verfolger und die Flüchtlinge legen, dass die Soldaten einen weiteren Tag brauchen würden, um ihren Nachteil wieder wettzumachen. Wayland fing an zu laufen, und sein Verstand schaltete sich ab. Er nahm nur noch seine Füße wahr, die über den Grund flogen, die Bäume, die er hinter sich ließ, und die Sonne, die zwischen den hohen, dunklen Baumkronen hindurchblitzte. Als er aus dem Wald kam, hatte er ein einsames Moor vor sich, und er rannte weiter. Auf einem Hügelkamm angekommen, sah er weit hinter sich zwei Männer auf zotteligen Ponys, die sich in den Steigbügeln aufgestellt hatten, um besser nach ihm Ausschau halten zu können. Als er den nächsten Hügelrücken überquerte, beobachteten sie ihn immer noch. Vielleicht fragten sie sich, ob dieser rennende Mann und sein riesenhafter Hund aus Fleisch und Blut waren oder eine Erscheinung aus mythischer Vergangenheit.
Immer weiter bewegte er sich vorwärts, rennend, trottend oder langsam gehend, je nach der Beschaffenheit des Untergrundes, bis er an den Rand eines Talkessels kam, um den spärlich ein paar Birken wuchsen. Auf dem Talgrund rauschte in Kaskaden ein von Schmelzwasser angeschwollener Bachlauf, der sich ein Stück weiter um einen Felsbrocken herum teilte, bevor er als Wasserfall in einer Schlucht verschwand. Wayland band die Umhänge los und verstaute sie in dem Beutel, den er auf dem Rücken trug. Während er abwartete, dass sich seine Atmung beruhigte, musterte er den Wasserfall, schätzte die Entfernung vom Ufer zu dem Felsbrocken und von dort zum jenseitigen Ufer. Dreißig Fuß mindestens. Das Wasser brandete schäumend an den Felsen und wusch manchmal darüber hinweg. Er konnte es mit zwei Sprüngen schaffen. Alles oder nichts.
Er holte zweimal tief Luft und raste den Abhang hinunter. Unten am Bach hätte er nicht anhalten können, selbst wenn er es gewollt hätte. Er sprang ab, kam mit einem Fuß auf dem Felsen auf, stieß sich wieder ab und glaubte, eine halbe Ewigkeit in der Luft zu schweben, bevor er mit solchem Schwung auf dem jenseitigen Ufer aufprallte, dass er die Erschütterung bis in die Augenhöhlen spürte. Mit einem dumpfen Geräusch kam der Hund neben ihm im Heidekraut auf. Wayland lachte atemlos und kraulte dem Hund durchs Fell. Dann trank er von dem torfigen Wasser aus dem Bach und plante den nächsten Schritt. Nicht weit oberhalb lag ein Brocken Basaltstein überwuchert von üppigem Heidekraut. Wayland ließ sich dagegensinken und teilte Fleisch und Brot mit seinem Hund.
Der Tag war warm und ruhig, die Wolken ankerten mit ihren Schatten auf der Erde. Erstes Grün überzog die Birken mit einem zarten Schleier. Eine Mooreule strich über den Hang gegenüber. Wayland döste ein und wurde eine Weile später von den Geräuschen der Jagdhunde geweckt. Er beobachtete, wie sie der Witterung folgten, und erkannte sie an ihrer Fellzeichnung – Marte und Marteau, Ostine und Lose. Marteau hinkte auf drei Beinen, das vierte hatte er leicht angezogen.
Reiter standen oben am Rand des Talkessels und hielten nach einer Bewegung Ausschau. Inzwischen mussten sie sich fragen, wie die Flüchtlinge zu Fuß so lange hatten schneller sein können als sie selbst. Sie begannen den Abstieg, und an den Ausfallschritten der Pferde erkannte Wayland, dass die Tiere sehr erschöpft waren. Er schmierte sich Torf ins Gesicht und band ein Stück Sackleinwand um seinen Kopf. Dann suchte er sich seinen schwersten Pfeil heraus und steckte in neben seinem Bogen in die Erde.
Die Jagdhunde stürzten auf den Wasserfall zu und drängten sich vor der Fallkante. Sie prüften die Fließgeschwindigkeit des Wassers und schreckten vor seiner reißenden Macht zurück. Ihr Gebell verstummte. Dann rannten sie immer wieder den Bachlauf hinauf und zu dem Wasserfall zurück.
Die Reiter stießen zu ihnen. Die Pferde pumpten angestrengt Luft durch geweitete Nüstern. Einige der Soldaten stiegen ab. Die anderen ließen sich entkräftet vornüber auf die Hälse ihrer Pferde sinken. Ihre verschwitzten Gesichter wirkten immer noch vom Alkohol benebelt, und mit den dunklen Schatten unter ihren Augen erinnerten sie an Pestkranke. Einige trugen keine Rüstung. Drax hatte sich sein Kettenhemd übers Nachtgewand gezogen. Drogos Pferd schäumte, und der Kopf des Tiers war mit rötlichen Schweißflocken bedeckt. Mensch oder Tier, Drogo setzte sie alle rücksichtslos ein.
Der Jagdmeister kratzte sich am Kopf. «Die Hunde zeigen an, dass sie hier den Bach überquert haben.»
Drogo glitt vom Pferd. «Sei kein Dummkopf. Die Strömung hätte sie in den Wasserfall gerissen.»
«Einer von ihnen ist hinübergekommen.»
Drogos Kopf ruckte hoch. «Wayland?»
Der Jagdmeister nickte. «Ich habe einmal gesehen, wie er einen Hirsch verfolgt hat. Dabei hat er einen Sprung über eine Schlucht gemacht, den ich nicht einmal einem Pferd zutrauen würde.»
«Und wo sind dann die anderen?» Drogo sah sich um. «Das ist eine List. Sie müssen hier umgekehrt sein. Sie können nicht weit sein.»
«Hier sind sie nicht. Die Fährte ist frisch. Sie sind zu Fuß unterwegs. Wir hätten sie schon längst einholen müssen. Wayland führt uns an der Nase herum.»
Drogo streckte den Jagdmeister mit einem Faustschlag zu Boden. «Wo haben wir sie verloren?»
Der Mann betastete sein Kinn. «Ich weiß nicht», murmelte er.
Drogo versetzte ihm einen Tritt. «Sag schon, verdammt.»
«Am Wall, wo die Hunde herumgespürt haben und Ostine einer anderen Spur folgen wollte. Ich dachte, dass sie von Schafen in die Irre geführt wurde, weil sich die anderen Hunde eindeutig auf diese Spur gesetzt haben. Seitdem flüchten sie in die andere Richtung.»
Drogo starrte ihn mit ungläubiger Wut an. «Inzwischen könnten sie schon über den Tyne sein. Sie könnten sogar schon in der nächsten Grafschaft sein.»
Wayland spannte den eingekerbten Pfeilschaft in die Bogensehne.
Drogo ließ den Blick über seine Männer wandern. «Wer hat das frischeste Pferd? Guilbert, du reitest heim und schickst Spähtrupps in alle Richtungen. Schlag in Durham Alarm. Benachrichtige York. Ich komme dir nach.» Er ging zu seinem Pferd und schwang sich hinauf. Mit zornsprühenden Augen starrte er über das Wasser. «Der Bastard kann nicht weit sein. Vermutlich beobachtet er uns sogar gerade.»
«Wir schnappen ihn uns ein anderes Mal», sagte Roussel.
Drogo durchbohrte ihn mit seinen Blicken. «Das alles wäre nicht passiert, wenn du mit Drax den Franken ausgeschaltet hättest. Nun, das könnt ihr jetzt wiedergutmachen. Nehmt den Jagdmeister und vier andere Männer.» Drogo fasste nach den Zügeln. «Nichts anderes als der Kopf des Falkners auf einer Stange dürft ihr mir bringen, damit ich euch verzeihe.»
Wayland richtete sich auf, zog den Pfeil zurück, zielte und ließ ihn abschnellen. Der Pfeil rutschte im Schulterbereich an Drogos Kettenhemd ab. Sein Pferd bäumte sich auf, und augenblicklich griffen die anderen Reiter nach ihren Waffen.
Wayland kroch durch das Heidekraut davon. Schlecht gezielte Armbrustbolzen zischten über seinen Kopf hinweg. Als er außer Reichweite war, stand er auf. Drogo hielt sich die Schulter, obwohl der Pfeil das Kettenhemd nicht durchbohrt hatte. Die Reiter waren in Kampfstellung Schild an Schild zusammengerückt. Wayland schwenkte seinen Bogen. Dann warf er seinen Kopf zurück und breitete die Arme in einer stummen Siegesgeste aus.
Bald darauf saß er im schräg einfallenden Sonnenlicht des Nachmittags am Waldrand und beobachtete seine Verfolger, die sich weit unterhalb von ihm einen Weg über den South Tyne suchten. Der Jagdmeister hatte den lahmenden Marteau quer vor sich über den Rücken seines Pferdes gelegt, und die anderen Jagdhunde spürten lautlos dem Weg nach. Als alle sieben Reiter den Fluss überquert hatten, erhob sich Wayland und massierte sich die schmerzenden Waden. Seit der Morgendämmerung hatte er über zwanzig Meilen zurückgelegt. Dann hängte er sich den Bogen über die Schulter und verschwand in den Wald, mitten hinein in die Kindheitsgerüche von Veilchen und Waldanemonen. Der Hund erinnerte sich an den Wald und heftete sich mit gesenktem Schwanz dicht an Waylands Fersen. Wayland betrat die heimatliche Lichtung mit dem schleppenden Schritt eines Trauernden. Eschen und Haselsträucher hatten die Gemüsebeete erobert, und die Stelle, an der das Haus gestanden hatte, war ein einziges Nesselgestrüpp.
Hinter dem Haus war der Kuhstall zu einem Balkenhaufen zusammengestürzt, den Efeu und Brombeergestrüpp überwucherten. Wayland zwängte sich dazwischen. Das Dickicht würde kein angreifendes Pferd aufhalten können, doch das Unkraut wuchs dicht genug, um ihn zu verbergen. Er war an mehreren Stellen vorbeigekommen, an denen er die Normannen ohne große Gefahr für sich selbst in einen Hinterhalt hätte locken können. Aber er wollte sie wissen lassen, warum er sie hierhergeführt hatte. Roussel und Drax waren bei dem Trupp gewesen, der seine Familie ums Leben gebracht hatte. Wayland wollte, dass sie diesen Ort wiedererkannten, bevor er sie tötete.
Während er wartete, zog er seinem Hund Kletten zwischen den Krallen heraus. Dann nahm er sechs Eschenpfeile aus seinem Köcher und legte sie bereit. Hinter den Bäumen versank die Sonne. Bläuliche Dämmerung brach an, Raben krächzten in ihren Nestern. Alles war friedlich.
Dann schrie im Wald ein Häher, und die Raben flogen von ihren Nestern auf. Am anderen Ende der Lichtung schimpfte ein Zaunkönig. Wayland hörte das heisere Hecheln der Jagdhunde und zog sein Messer. Dann schwankte das Gebüsch, und Ostine stand vor ihm. Sie verharrte auf der Stelle und warf den Kopf zurück, doch bevor sie Laut geben konnte, stürzte sich der Hund auf sie und warf sie um. Die anderen Jagdhunde brachen aus der Deckung hervor. Als sie seinen Hund wahrnahmen, winselten sie und duckten sich unterwürfig. Wayland kauerte sich vor sie und zog ihnen die Maulkörbe über die Schnauzen. Er sah ihnen in die Augen und lächelte. Ein Geräusch, und ich schneide euch die Kehle durch. Die Hunde legten sich hin und begannen sich die schmerzenden Glieder zu lecken.
Gleich darauf tauchten zwei Reiter aus dem Wald auf. Sie hielten an und musterten die Lichtung. Dann gab einer von ihnen ein Zeichen, und die andern fünf kamen nach. Alle trugen Kettenhemden und Helme. Zwei von ihnen hatten ihre Armbrust schussbereit gemacht. Waylands Mund wurde trocken. Er wischte sich die Hände ab und hob seinen Bogen.
Der dichte Wald rund um die Lichtung machte die Soldaten unruhig. Sie rückten Steigbügel an Steigbügel vor und spähten über ihre Schilde. Wayland spannte seinen Bogen und zielte auf Roussels Brust. Das ist nah genug. Sie kamen näher. Erst zwanzig Schritt vor ihm blieben sie stehen. Mückenschwärme umtanzten sie. Die Pferde warfen die Köpfe hoch, ihre Flanken zitterten.
Roussel fuhr sich mit dem Unterarm über die Wange. «Ich werde bei lebendigem Leib aufgefressen.»
Drax ließ seinen Blick immer wieder von einer Seite der Lichtung zur anderen wandern. Wayland beobachtete seinen Gesichtsausdruck. Schieß in dem Moment, in dem ihm klar wird, wo er ist. Schieß und dann lauf.
«Roussel.»
«Was?», fragte Roussel und kratzte sich mit dem Rand seines Schildes am Handgelenk.
«Ich kenne diese Lichtung. Wir beide kennen sie.»
Roussel hörte auf, sich zu kratzen.
«Erinnerst du dich nicht? Da drüben stand ein Cottage. Die Beete kann man immer noch erkennen.»
Roussel packte die Zügel fester. «Gott, du hast recht.»
«Das muss Zufall sein. Wir haben keinen am Leben gelassen.»
«Sei dir da nicht zu sicher. Walter hat den Falkner nicht weit von hier eingefangen. Er muss in diesen Wäldern aufgewachsen sein.» Roussel sah sich auf der Lichtung um. «Willst du wissen, was ich denke?»
«Was?»
«Er hätte uns jederzeit entkommen können. Wir jagen ihn nicht; er jagt uns.»
Drax lachte unruhig auf. «Einer gegen sieben. Glaubst du das im Ernst?»
«So günstig sieht es für uns vielleicht gar nicht aus. Der Franke muss Richtung Süden geflohen sein. Und den Falkner haben wir in einem Kreis verfolgt. Er könnte uns in einen Hinterhalt locken.»
«Worauf willst du hinaus?»
«Ich sage, wir verschwinden von hier.»
«Dafür nagelt uns Drogo ans Kreuz.»
«Wir erzählen ihm, wir hätten den Falkner bis zum Dunkelwerden verfolgt und seien in einem Wald gelandet, in dem es weder Unterschlupf noch etwas zu essen gab. Was hätten wir denn tun sollen?» Roussel drehte sich zu dem Jagdmeister um. «Ruf die Hunde zurück.»
Wayland spürte Erleichterung in sich aufkeimen. Nur ein paar Schritte von sieben bewaffneten Reitern entfernt, hatte er gespürt, wie seine Entschlossenheit schwand. Im besten Fall hätte er einen einzigen Pfeil abschießen können. Und er war nicht mehr sicher gewesen, dass dieser Pfeil sein Ziel auch getroffen hätte, denn so lange mit dem gespannten, schweren Bogen dazustehen, brachte seine Muskeln zum Zittern. Er senkte den Bogen und atmete tief durch.
Wenn nur der Jagdmeister sein Horn benutzt hätte. Stattdessen nahm er die Knochenpfeife, die er an einer Schnur um den Hals trug, und blies einen leisen, hohen Ton, der für ein menschliches Ohr kaum vernehmbar war. Einer der Jagdhunde winselte.
Roussel hob sein Schwert. «Genau vor uns!»
Wayland spannte den Bogen und schoss. Der Pfeil fuhr am Handgelenk in den Ärmel von Roussels Kettenhemd und bohrte sich weiter durch seinen Helm, den Schädelknochen, und bis tief ins Gehirn. Wayland sah, wie sich Roussels Körper nach hinten bog, die Hand an die Stirn geschlagen, so als sei er über irgendetwas höchst empört.
«Angriff!»
Wayland drehte sich um und rannte los, kämpfte sich zwischen den Balken und dem Dornengestrüpp hindurch. Er hatte damit gerechnet, dass die Normannen durcheinandersprengen würden, doch er hatte ihre Disziplin genauso unterschätzt wie ihr Vertrauen auf ihre Rüstungen und Pferde.
«Dort ist er!»
Er war bereits im Wald und rannte auf die Schlucht zu, als er seinen zweiten Fehler erkannte. In den Jahren seit er nicht mehr in dieser Wildnis lebte, hatte Dickicht die vertrauten Pfade überwuchert. Zweige peitschten gegen seinen Körper, und Gestrüpp behinderte ihn. Während er kämpfte, um Vorsprung zu gewinnen, konnten die Pferde das Unterholz einfach niedertrampeln. Schließlich waren sie so aufgerückt, dass ihm keine Zeit blieb, einen Pfeil einzulegen.
«Ich sehe ihn. Verteilt euch. Lasst ihn nicht über die Flanken entkommen.»
Ein umgestürzter Baum versperrte Wayland den Weg. Der Stamm war zu dick, als dass er einfach darüber hätte hinwegspringen können, und zu lang, um außen herum zu laufen. Er stieg auf den Stamm, und gerade, als er auf der anderen Seite herunterspringen wollte, traf es ihn wie ein Keulenschlag zwischen die Schultern.
«Ich hab ihn! Hab ihn genau erwischt!»
Keuchend lag Wayland auf der anderen Seite des Baumstamms. Er wusste, dass er schwer getroffen worden war. Die Tatsache, dass er keinen Schmerz spürte, hatte nichts zu bedeuten. Er hatte einen Hirsch gesehen, der mit einem Pfeil im Herzen noch hundert Schritt weitergeflüchtet war, bevor die Beine unter ihm nachgaben. Wayland spuckte Sand aus und schleppte sich mit stechendem Atem weiter. Das Gelände fiel in Richtung der Schlucht steil ab, und er musste sich an den Bäumen entlanghangeln, um nicht haltlos den Hang hinunterzutaumeln. Eine abgestorbene Birke knickte unter seinem Griff. Mit rudernden Armen stolperte er abwärts. Die Schlucht gähnte ihm immer schneller entgegen. Er warf sich zu Boden und schlidderte mit den Füßen voran durch feuchten Mulch. Sein rechtes Knie prallte böse verdreht auf einen Baumstumpf. Er krallte sich mit den Händen in den Boden, und es gelang ihm, nur noch ein paar Fuß von der Absturzkante entfernt, zum Halt zu kommen. Als er sich umdrehte, sah er vier Normannen, die zu Fuß den schlüpfrigen Abhang herunterhasteten. Er stand auf. Der Schmerz in seinem Knie ließ sein Bein unter ihm einknicken. Er musste seinen Plan aufgeben, in die Schlucht hinunterzuklettern und dort abzuwarten, bis es vollkommen dunkel geworden war.
Er hinkte nach rechts weiter, flussabwärts, auf den Topf zu. Die Felsen dort neigten sich über den Weiher, und solange er denken konnte, war die Lücke zwischen ihnen von einer umgestürzten Esche überbrückt worden. Er dachte an das entsetzte Gesicht seiner Mutter, als sie ihn zusammen mit Edith auf dieser Brücke bei einer Mutprobe entdeckt hatte. Aber das war Jahre her. Inzwischen konnte der Baum verrottet und durchgebrochen sein. Aus dem Augenwinkel sah er zwei berittene Normannen, die oben auf der Kuppe des Abhangs mit ihm Schritt hielten.
Der Baum war noch da, überzogen mit einem Teppich aus Moos und Pilzen. Wayland warf einen Blick über die Schulter, um festzustellen, wie viel Zeit ihm blieb. Noch verwundet und hinkend war er schneller als die Soldaten, die ihn zu Fuß verfolgten. Er tastete nach seinem Rücken. Ein Armbrustbolzen hatte seinen Beutel durchbohrt. Als er die Hand wieder vors Gesicht hob, war Blut daran. Die Wunde musste tödlich sein, aber er konnte nicht anders, als all seine übriggebliebenen Kräfte einzusetzen, um sich vor den Verfolgern in Sicherheit zu bringen. Es war der Instinkt eines waidwunden Tieres.
Die Rufe der Soldaten wurden lauter. Die Reiter oben auf dem Hang sagten den anderen die Richtung an. Einer von ihnen blieb stehen und legte mit seiner Armbrust an. Wayland schaute ihm dabei zu, als wäre er in einem Traum gefangen. Der Bolzen schoss aus der Führungsschiene. Wayland ließ sich kopfüber fallen und hörte den Bolzen vorbeizischen, bevor er auf der anderen Seite der Schlucht am Fels zersplitterte. Er warf sich auf den Eschenstamm. Das schwammige Holz löste sich in großen Fetzen ab. Fünfzig Fuß darunter rauschte der Fluss in die schwarzen Wasser des Topfs, in dem er die Leiche seiner Schwester entdeckt hatte.
Ohne die Schmerzen in seinem Bein zu beachten, lief er schnell und möglichst vorsichtig auftretend über den Stamm. Als er auf der anderen Seite heruntersprang, zerrte ein Armbrustbolzen am Stoff seines Ärmels. Auf dieser Seite der Schlucht bestand das Unterholz aus einem dichten Gewirr von Stechpalmen und Haselsträuchern. Wayland brachte sich in Deckung und schleppte sich den Hang hinauf bis zu einer Erle. Er ließ sich mit dem Rücken gegen den Baum sinken und schluchzte vor Erschöpfung und Schmerz. Übelkeit stieg in ihm auf, und zugleich verschwamm alles vor seinen Augen. Er hatte wohl so viel Blut verloren, dass er bald das Bewusstsein verlieren würde. Der Hund schnupperte an ihm und begann an seinem Rücken herumzulecken. Wayland erschrak so, dass er dem Hund einen Schlag auf die Schnauze gab. Das Tier zuckte zurück, legte sich mit dem Kopf auf den Pfoten hin, und bedachte Wayland mit vorwurfsvollen Blicken.
Wayland erriet, was in dem Hund vorging. Zögernd tastete er nach dem Beutel. Merkwürdig. Er hatte erwartet, dass dieser von dem Armbrustbolzen an seinen Rücken genagelt wäre, doch er ließ sich ganz leicht bewegen. Er griff über seine Schulter, packte den Armbrustbolzen und zog. Der Beutel löste sich. Mit einem Schlag verstand er, was passiert war. Er warf den Kopf zurück und lachte. Verstört von diesem fremden Geräusch, rückte der Hund von ihm ab und rollte sich ein gutes Stück entfernt zusammen.
Wayland befreite sich von dem Beutel. Der untere Teil war blutgetränkt und roch süßlich. Er schnürte den Beutel auf, fuhr mit der Hand hinein und schöpfte eine Handvoll blutigen Haferbrei heraus. Das geronnene Blut stammte von dem Eber, den sie am Vortag erlegt hatten. Wayland hatte das Blut in eine Schafsblase gefüllt, weil er es für einen Pudding verwenden wollte. Er streckte dem Hund das rötliche Gemisch entgegen. Doch Waylands Stimmungsumschwünge hatten das Tier misstrauisch gemacht, und es blieb, wo es war.
Wayland hatte das Zeitgefühl verloren. Er konnte nicht einschätzen, wie lange er schon an die Erle gelehnt dasaß. Vermutlich hatten die Normannen die Brücke überquert und schlichen sich zu ihm herauf. Er kroch ein Stück aus der Deckung. Die Soldaten waren immer noch auf der anderen Seite, vier von ihnen kauerten hinter Bäumen in Deckung, und der Jagdmeister kniete auf dem Boden.
«… blutet wie ein angestochenes Schwein. Der wird nicht mehr weit kommen.»
Drax berührte die Hand des Jagdmeisters, musterte die rötliche Verfärbung seiner Finger, und beugte sich dann hinunter, um sie an ein paar halbverfaulten Blättern abzuwischen. Er starrte zur anderen Seite der Schlucht.
«Es ist fast dunkel», sagte einer der Soldaten. «Und er hat den Hund bei sich. Wahrscheinlich ist er zum Sterben in irgendeine Höhle gekrochen. Warten wir bis zum Hellwerden.»
Drax sah zu den Bäumen empor, die in den dunkler werdenden Himmel aufragten. «Roussel war mein Waffenbruder. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, mir die Leiche seines Mörders zu holen. Rufus, komm mit. Und ihr anderen gebt uns Deckung.»
Drax kletterte auf den Stamm und begann sich darauf vorwärtszuschieben. Schwert und Schild hielt er in den seitlich ausgestreckten Armen, um das Gleichgewicht zu wahren. Wayland beobachtete ihn. Er wartete, bis Drax in der Mitte angekommen war, bevor er den Bogen spannte. Es war ein schwieriger Schuss, in einem schräg abwärts gerichteten Winkel, und das Ziel war in dem diffusen Licht nur undeutlich zu erkennen. Er sah nicht, wohin sein erster Pfeil flog. Drax hatte das Zischen gehört, blieb stehen, und suchte schwankend das Gleichgewicht zu halten. Wayland ließ einen weiteren Pfeil abschnellen und schnalzte ärgerlich mit der Zunge, als das Geschoss neben Drax’ Füßen im Baumstamm stecken blieb.
«Kommt zurück!»
Rufus schaffte es mit trippelnden Schritten, sich in Sicherheit zu bringen, Drax drehte sich schwerfällig wie ein alter Mann um. Wayland suchte sich eine bessere Schussposition, doch er musste den Bogen nicht mehr spannen. Drax glitt aus. Seine Beine rutschten ihm unter dem Körper weg. Er ließ seine Waffen rechtzeitig fallen, um noch die Arme um den Baumstamm schlingen zu können. So hing er mit zappelnden Beinen da und versuchte, sich wieder hinaufzuziehen, aber das stark verrottete Holz bot keinen Halt. Einen Moment konnte er sich dank der schieren Kraft seines Entsetzens noch festklammern, dann stürzte er mit einem langgezogenen Schrei in die Schlucht.
Die Soldaten gaben keinen Laut von sich. Wie besiegte Geister zogen sie sich hinter ihren erhobenen Schilden in den Wald zurück. Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Wayland rücklings auf den Waldboden fallen und streckte die Glieder von sich. So lag er unbeweglich, während der Himmel schwarz wurde und allmählich Sterne durch das Kronendach der Bäume blitzten. Er begann zu frieren, bewegte sich aber noch immer nicht. Fledermäuse sausten über ihm durch die Luft. Neben ihm verschlang der Hund das blutige Haferbreigemisch. Wie Luftblasen stiegen die Bilder des Tages vor Wayland auf. Seit seine Familie niedergemetzelt worden war, hatte er jeden Tag von seiner Rache geträumt. Er hatte sich das berauschende Triumphgefühl ausgemalt, das ihn erfüllen würde. Doch nun, wo der Moment gekommen war, fühlte er gar nichts.
Er überquerte den Fluss etwas weiter stromaufwärts und schickte den Hund voraus, um den Weg zu sichern. Als das Tier unaufgeregt zurückkehrte, war klar, dass die Soldaten abgezogen waren. Im Dunkeln brauchte Wayland lange, um die Gräber seiner Familie zu finden. Er kniete neben den unkrautüberwucherten Erdhügeln nieder und entzündete fünf Kerzen. Die Flammen beschworen Geister herauf. Sie schwebten um ihn; seine Mutter besorgt und missbilligend, sein Großvater frohlockend, Edith immer noch einsam und verängstigt.
Er konnte sie nicht wieder lebendig machen. Auch wenn er hundert Normannen tötete, würden sie nicht wiederkommen. Erinnerungen waren die einzige Brücke zwischen den Lebenden und den Toten. Er war zum Haus seiner Eltern zurückgekehrt, um diese Verbindung zu halten, doch jetzt, wo er da war, wurde ihm bewusst, dass die Wälder ihm nicht lange Schutz bieten würden. Diese Welt, die ihm als Kind so groß erschienen war, schrumpfte jedes Jahr ein Stück mehr. Die Normannen hatten ihn einmal gefangen; früher oder später würde es ihnen wieder gelingen. Um zu überleben, würde er weggehen müssen, über den Wasserfall im Westen in unbekannte Gebiete.
Einsamkeit überwältigte ihn. Zum ersten Mal seit Jahren sehnte er sich nach menschlicher Gesellschaft. Er dachte an die Flüchtlinge. Wenn sie seinen Anweisungen gefolgt waren, mussten sie jetzt ein paar Meilen flussauf ihr Lager aufgeschlagen haben. Wayland benutzte seinen Bogen wie eine Krücke, um sich aufzurichten, und dann stand er mit gesenktem Kopf da.
Geliebte Eltern und Großvater, liebe Brüder und Schwestern, verzeiht mir. Ich muss fort. Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich führen wird, aber ich glaube nicht, dass ich noch einmal hierher zurückkehre. Doch wo immer ich auch hingehe, trage ich euch im Gedächtnis.
Dann hinkte er davon. Am Rand der Lichtung blieb er stehen und warf einen letzten Blick zurück. Die Kerzen flackerten als winzige Lichtpunkte in der Dunkelheit. Wenn sie ausgingen, wäre nichts mehr übrig, was einem Fremden verraten würde, dass hier einmal eine Familie gelebt hatte. Tränen verschleierten Waylands Blick. Er drehte sich um und ging weiter.