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An einem milden, bewölkten Nachmittag Anfang April standen die Vagabunden ein paar Meilen südlich von Stamford an einer belebten Kreuzung der Earninga Straete. Auf den umliegenden Feldern pflügten und säten die Bauern, und der gleiche Anblick bot sich auf allen Feldern, die sich bis zum Horizont erstreckten, so als wären die Bauern selbst Feldpflanzen.
Sie hatten eine Rast eingelegt. Mit ausgestreckten Beinen, die Ferse des einen Fußes auf die Zehen des anderen gestellt, lagen sie im Gras und beobachteten den vorbeiziehenden Menschenstrom auf der Straße. Niemand behelligte sie. Nachdem sie drei Wochen lang im Freien übernachtet hatten, sahen sie aus wie eine Bande durchtriebener Spitzbuben. Das Gleiche galt auch für so manch andere, die auf der alten Römerstraße unterwegs waren. Fuhrleute, Viehhändler, Herumtreiber und Flüchtlinge bevölkerten die Kreuzung, wo an ein paar recht und schlecht zusammengezimmerten Ständen und Buden Erfrischungen, Amulette und Horoskope feilgeboten wurden. Eine normannische Reiterschwadron kam vorbei, doch die Soldaten blickten auf ihrem Weg Richtung Süden und London weder nach rechts noch nach links. Raul furzte.
«Worauf warten wir?», fragte Hero.
Vallon stand auf und spähte die Fernstraße Richtung Norden entlang, wo sich in der milchigen Luft ein kleiner, aber sehr bedeutsamer Umriss abzeichnete. Er kam langsam näher, langsamer, als ein Mann geht, und immer deutlicher wurde ein Wagenzug aus vier großen Karren erkennbar, jeder von einem sechsköpfigen Ochsengespann gezogen und so hoch mit Ballen und Fässchen beladen, dass sie an Belagerungsmaschinen erinnerten. Peitschen zischten und knallten in der Luft. Zwei grobschlächtige Reiter flankierten die Wagenreihe, und Mastiffs mit kupierten Ohren hetzten zwischen den Rädern herum. Ein verwilderter Junge sprang von Wagen zu Wagen und schmierte die Achsen mit Schweinefett. Der Kutscher des ersten Karrens war mager wie ein Strick und sein Gesicht so faltig wie ein ausgedörrter Weinschlauch. Neben ihm saß der Führer des Wagenzugs, ein unglaublich dicker Händler, dem fette Halsfalten über den Pelzkragen hingen.
Vallon trat mit Raul auf die Straße und hob die Hand. Der Fuhrmann trieb die Mastiffs mit gezielten Peitschenhieben zurück. Vallon lehnte sich an die Zugstange, und Raul übersetzte. Als Hero bemerkte, wie der Händler seine Schweinsäuglein auf ihn richtete, beschlichen ihn ungute Vorahnungen.
Geld wechselte den Besitzer. Vallon kam zurück, nahm Hero am Ellbogen ein Stück beiseite.
«Gehen wir nach London?»
«Du gehst nach London. Wir verabschieden uns hier.»
Hero hatte das Gefühl, von Hitze und Kälte zugleich überflutet zu werden. «Womit habe ich Euch verärgert?»
«Das hast du nicht. Die Wahrheit ist, dass unsere Reise von hier an noch gefährlicher wird, und dafür bist du nicht geschaffen.»
«Ich bin zäher als Richard.»
«Richard hat keine andere Wahl, als dieses Land zu verlassen. Du hingegen kannst aus deinem Leben etwas Besseres machen.»
«Aber ich habe geschworen, Euch zu dienen.»
«Ich entbinde dich von diesem Eid», sagte Vallon. Er küsste Hero auf beide Wangen und trat zurück. «Glaub nicht, deine Gesellschaft würde mir nicht fehlen. Die Abende werden nicht mehr dieselben sein, wenn du mit deinen endlosen Geschichten und Spekulationen nicht dabei bist.»
Es ging alles viel zu schnell für Hero, um Gegenargumente zu ersinnen. Der Fuhrmann ließ seine Peitsche knallen. Vallon hob den Arm. «Der Fahrpreis ist bezahlt. Der Händler ist ein Grobian, aber er wird dir nichts tun. Ich habe ihm erzählt, wir würden uns in London wieder treffen.» Er drückte Hero Geld in die Hand. «Es tut mir leid, mehr kann ich nicht entbehren. Ich weiß aber, dass du es auch so nach Hause schaffst. Widme dich deinem Studium. Schreib mir nach Byzanz. Bring mich mit deinen Erfolgen zum Staunen. Gott schütze und behüte dich.» Er drückte Hero die Schulter und ging weg.
Einer nach dem anderen kam, um Hero Lebewohl zu sagen. Richard schluchzte unverhohlen. Raul schloss Hero kräftig in die Arme. Wayland betrachtete ihn mit seinem kühlen Blick aus den blauen Augen, es hatte beinahe den Anschein, als wolle er ihm die Hand geben, aber dann nickte er doch nur und wandte sich ab.
Der Wagenzug setzte sich in Bewegung. Hero sah seinen Gefährten nach, die auf der Römerstraße Richtung Osten gingen. Vallon warf keinen einzigen Blick zurück.
Hero weinte. Sein Leben lang hatten ihn die Männer enttäuscht, die er geliebt hatte. Sein Vater hatte sämtliche fünf Schwestern auf den Knien gewiegt, und dann war er drei Monate vor der Geburt seines einzigen Sohnes gestorben. Cosmas, der Mann, von dem er so viel gelernt hatte, war kaum einen Monat bei ihm geblieben. Und nun schob ihn Vallon, der Herr, dem er Treue bis in den Tod geschworen hatte, einfach ab, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
Nun war er wirklich allein. Seine Gefährten waren in der einen Richtung hinter dem Horizont verschwunden, der Wagenzug in der anderen. Nur die Leibeigenen auf den Feldern blieben an Ort und Stelle, tief gebeugt und elend unter dem trüben Himmel. Hero raffte sich auf und begann Richtung London zu schlurfen.
Am abendlichen Lagerfeuer erklärte Vallon den Übrigen, dass sie die erste Etappe ihrer Reise beinahe hinter sich hätten. In zwei Tagen würden sie Norwich erreichen.
«Morgen besorgen wir uns drei Maultiere und neue Kleidung. Und übermorgen gehen wir einzeln nach Norwich. Richard, du reitest voraus, suchst uns eine Unterkunft und nimmst Kontakt mit dem Geldverleiher auf. Wayland wird dich bis zur Stadtmauer begleiten. Dann reitest du allein weiter. Das ist sicherer. Benutz einen falschen Namen und behaupte, du wärst in Familienangelegenheiten unterwegs.»
«Einer der Wachleute könnte mich erkennen. Wenn die Nachricht von unseren Verbrechen in Norwich angekommen ist …»
«Sollte es dazu kommen, sag ihnen die Wahrheit über das Lösegeld und den Geldverleiher. Denk daran, dass du immerhin Olbecs Sohn bist. Also lässt du dir von einem gemeinen Soldaten überhaupt nichts sagen. Wayland, wenn Richard Schwierigkeiten bekommt, warte am Westtor der Stadt auf uns. Raul und ich treffen dich dort bei Sonnenuntergang. Wir geben uns als Anführer einer militärischen Pioniereinheit und dessen Gehilfe aus.»
«Alle Tore werden bewacht», sagte Raul. «Die Wachen werden Papiere sehen wollen.»
«Lady Margaret hat mir Dokumente mit dem königlichen Siegel gegeben. Kein Soldat würde es wagen, sie zu öffnen.» Vallon verschränkte die Finger hinter dem Kopf. «Tja», sagte er gähnend, «übermorgen Abend werden wir wie die Fürsten speisen und unter Gänsedaunen schlafen.»
Seine Versprechungen trafen auf unbehagliches Schweigen. Jeder wusste, dass Norwich eine der stärksten Normannenfestungen in England war. Dreihundert Soldaten bemannten die Burg, und sie waren äußerst wachsam. Kaum ein Jahr zuvor hatte die Garnison die Einnahme der nur einen Tagesritt entfernten Isle of Ely unterstützt, wo die Engländer bis zuletzt gegen die Normannen Widerstand geleistet hatten. Der Anführer des Widerstandes, Hereward, war aus der Umzingelung entkommen und weiterhin auf freiem Fuß. Gerüchte besagten, dass er neue Widerstandsgruppen aufbaute.
Richard und Wayland machten sich beim ersten Hahnenschrei auf den Weg nach Norwich. Vallon und Raul folgten ihnen um die Mittagszeit. Sie ritten unter einem weiten blauen Himmel über die Ebene. Vallon hatte sein Haar kurz gestutzt, wie es die Normannen trugen, und war in unauffälliges Grau gehüllt. Schon Meilen vor Norwich sahen sie die Burg, die als höchster Punkt die Silhouette der Stadt dominierte.
Sie hielten an einer Viehtränke ein gutes Stück vor dem Westtor der Stadt und mischten sich unter die anderen Reisenden, die ihre Tiere zum Wasser führten. Eine Holzpalisade umgab die Stadt, und Wachtürme ragten über den Toren auf. Die Sperrstunde rückte näher, und auf der Straße herrschte lebhaftes Treiben.
«Keine Spur von Wayland», sagte Vallon. «Hoffen wir, dass ihn die Normannen nicht festgenommen haben.»
Raul spuckte aus. «Da könnten sie schon leichter den Wind einfangen.»
Vallon führte sein Maultier zurück zur Straße. Sie reihten sich in den Strom der Reisenden ein. Der wachhabende Unteroffizier, ein hartgesottener Veteran, sah ihnen entgegen.
«Der macht Ärger», sagte Raul.
Der Unteroffizier hob einen Finger. «Ihr zwei da. An den Rand der Straße. Absteigen.»
Vallon blieb auf dem Maultier sitzen. Der Unteroffizier kam mit energischen Schritten auf ihn zu. «Hast du nicht gehört?»
«Sogar sehr gut», sagte Vallon kühl. «Und ich hätte nicht übel Lust, dir für deine Anmaßung eins überzuziehen. Ich bin Ralph von Dijon, Pioniereinheit, und im Auftrag des Königs unterwegs. Worum es geht, hat dich nicht zu interessieren.»
«Papiere.»
Nachdem er das Siegel in Augenschein genommen hatte, gab der Unteroffizier die Dokumente zurück. Er rief einen Soldaten heran, der vor dem Torturm ein Pferd striegelte. «He, Fitz, du begleitest diese beiden hier zur Burg.»
«Das ist nicht nötig», sagte Vallon. «Ich will mir die äußeren Befestigungsanlagen der Stadt ansehen, solange es noch hell ist.»
Der Unteroffizier hob das Kinn. «Der Kastellan hat es nicht gern, wenn unangemeldete Besucher kommen. Ich schicke Fitz los, damit er Euch anmeldet.»
«Nein, das wirst du nicht tun. Meine Aufgabe besteht darin, die Verteidigungsanlagen so zu inspizieren, wie ich sie vorfinde. Das ist eine unangemeldete Kontrolle.» Er schlug sich mit den Dokumenten auf die Hand. «Verstanden?»
Der Unteroffizier nahm Haltung an. «Hauptmann.»
Sie hörten ihn vor sich hin fluchen, als sie durch das Stadttor ritten. «Der wird Euch nicht so schnell vergessen», sagte Raul.
«Ich weiß. Hoffen wir, dass er auf der Burg keine Erkundigungen über uns einholt.»
Raul stellte sich in den Steigbügeln auf. «Da ist Wayland.»
Der Falkner schlenderte ein Stück vor ihnen zwischen Verkaufsständen die Straße hinauf. Vallon und Raul folgten ihm, stets belästigt von einem Schwarm zwielichtiger Händler und Bettler. Lahme und Blinde tasteten sich mit ihren Stöcken hinter ihnen her. Aus jeder Tür wurden sie von gewitzten Stadtkindern beobachtet. Es war Monate her, dass Vallon in einer Stadt gewesen war. Er atmete die scharfe Geruchsmischung von Holzrauch, zersägten Balken, rohem Fleisch, Talg, Brot, Vieh und Unrat ein. An einer Kirche mit gemauertem Rundturm bogen sie um die Ecke und ließen den Gestank und den Trubel hinter sich. Nachdem sie noch zweimal abgebogen waren, befanden sie sich in einer engen Gasse, die bis auf ein im Dreck wühlendes Schwein vollkommen verlassen dalag. Wayland blieb vor einem eisenverstärkten Tor in einer hohen Mauer stehen und zog an einer Glockenschnur.
Richard öffnete und führte sie in einen Innenhof mit moosbewachsenen Pflastersteinen. Auf drei Seiten erstreckte sich ein altes Haus mit umlaufendem Balkon, dessen Holzdielen sich verzogen hatten. Unkraut spross aus den Ritzen. Tauben gurrten auf dem Ziegeldach. Der Hof war eine Oase des Friedens.
«Ihr habt gesagt, es soll leise sein.»
«Es ist perfekt.»
Richard strahlte. «Es hat einem englischen Händler gehört. Ich habe es von seiner Witwe gemietet und ihr zwei Monate im Voraus bezahlt. Sie glaubt, Ihr wärt ein französischer Weinimporteur. Für Wayland und Raul habe ich Zimmer im White Hart am Kornmarkt genommen.»
«Hast du den Geldverleiher gefunden?»
«Das war nicht schwierig. Sein Haus steht direkt unterhalb des Burgwalls.»
«Hat er Lady Margarets Briefe bekommen?» «Schon vor Tagen. Er wird morgen nach Sonnenuntergang mit uns sprechen.»
«Warum so spät?»
«Es ist Sabbat.»
«Wie hat er reagiert, als du ihm unsere Namen genannt hast? War er beunruhigt?»
«Ich habe ihn nicht selbst gesehen. Man hat mich nicht ins Haus gebeten. Ich habe durch ein Türgitter mit jemandem gesprochen.»
Die Glocken läuteten zum Komplet, als sich Vallon und Richard auf den Weg zu ihrer Verabredung mit Aaron machten. In den dämmrigen Straßen vernagelten die Ladenbesitzer ihre Fenster, und die Leute beeilten sich, nach Hause zu kommen. Der Burgfried ragte knochenweiß in den vom Abendrot gefärbten Himmel.
«Ich wünschte, Hero wäre bei uns», sagte Richard. «Er hätte es sich verdient, den Erfolg unseres Plans mitzuerleben.»
«Der Erfolg ist noch nicht sicher. Drogo hat unsere Absichten bestimmt erraten. Es gibt nicht viele Geldverleiher in England. Er könnte schon bei Aaron gewesen sein.»
«Er kann den Juden nichts befehlen. Sie sind nicht einmal normannische Untertanen. Der König hat sie als persönliches Eigentum aus Rouen hergebracht.»
Die Straße mündete in den weiten Platz um die Burg – ein massiver Bau, der auf einem künstlichen Erdhügel errichtet worden war. In der Mitte des Platzes standen ein Schafott und mehrere Geißelsäulen. Die Köpfe hingerichteter Übeltäter steckten auf Stangen, die über dem Burgtor aufgepflanzt worden waren. Das Haus des Juden Aaron lag in Sichtweite des Torwegs an der Ecke einer Straße, die zum Heumarkt führte. Es war ein beachtliches zweistöckiges Steinhaus mit fensterlosem Erdgeschoss. Die Fenster des ersten Stocks waren mit Eisenstangen und Läden gesichert. Stufen führten zu einer mit Eisenbändern beschlagenen Holztür in einem gemauerten Rundbogen. Vallon hob den schweren Klopfer.
Die Klappe hinter einer vergitterten Luke wurde geöffnet, und ein ernst blickendes Auge betrachtete sie durch das Gitter. Dann wurden mehrere schwere Riegel zurückgeschoben, und die Tür schwang auf. Ein junger, zartgliedriger Mann winkte sie herein. Statt der üblichen Wohnhalle betraten sie einen Flur, der an mehreren Zimmern vorbeiführte. Vallon hatte das Gefühl, dass sich hinter den geschlossenen Türen Menschen befanden. Er glaubte, gedämpfte Frauenstimmen zu hören. Die letzte Tür stand offen. Der Jüngling bat sie hinein. Der Raum war weder besonders groß noch aufwendig eingerichtet, doch ein Aufschimmern von Silber, der dicke, maurische Teppich und der Geruch nach Bienenwachs verliehen dem Zimmer eine Atmosphäre maßvoll gelebten Wohlstandes. Aaron, angetan mit einem seidenen Gewand und einem Turban, stand bei einem glänzend polierten Tisch, auf dem in einer Schale duftende Rosenblätter lagen. Hinter ihm war eine Feuerstelle in die Wand gemauert, in der wärmende Flammen züngelten. Neben dem geschlossenen Glasfenster zwitscherte ein Goldfinkenpärchen in einem Käfig.
«Bitte», sagte er. «Nehmt Platz.»
«Ich glaube, Ihr habt von meiner Mutter einige Briefe bekommen», sagte Richard.
Aaron strich glättend über ein gerolltes Pergament und ließ es dann wieder zusammenschnellen. «Lady Margaret wünscht Ländereien in der Normandie als Sicherheit für einen Kredit zu verpfänden.»
Richard griff unter seinen Umhang. «Hier habe ich die Urkunden. Nach meinem Verständnis ist der Besitz mehr als dreihundert Pfund wert.»
Aaron legte die Dokumente unters Kerzenlicht auf seinen Schreibtisch. «Auf dem Papier schon, aber ich muss meinen Mittelsmann um eine unabhängige Bewertung bitten.»
«Wie lange dauert das?»
«Schwer zu sagen. Nicht länger als sechs Wochen.»
«Sechs Wochen!»
«Es hängt davon ab, wie die Überfahrt verläuft. Als ich das letzte Mal in die Normandie gefahren bin, musste ich acht Tage auf günstigen Wind warten.»
Richard warf Vallon einen entsetzten Blick zu. «Die Frist für die Zahlung des Lösegeldes rückt immer näher. Das Leben meines Bruders steht auf dem Spiel.»
Aarons dunkler Blick blieb unergründlich. «Der Zustand des Besitzes kann sich inzwischen verschlechtert haben. Ich muss außerdem sicher sein, dass er nicht durch eine Fideikommissbestimmung gebunden ist. Es könnten auch noch andere Grundstücksbelastungen vorliegen.»
Vallon berührte Richards Handgelenk. «Ich bin der Mann, der Lady Margaret die Bedingungen für die Freilassung ihres Sohnes überbracht hat», sagte er. «Es bestehen familiäre Verwicklungen, die Richard aus Verlegenheit nicht zur Sprache bringt. Sir Walter hat einen gleichaltrigen Stiefbruder. Die beiden waren schon immer Konkurrenten. Bevor ich ankam, hatte der Stiefbruder allen Grund zu der Annahme, dass sein Bruder tot ist, sodass er sich selbst für den unangefochtenen Erben hielt.»
«Ich verstehe.»
«Er hat uns bereits einige Steine in den Weg gelegt. Wenn er genügend Zeit hat, wird er versuchen, unser gesamtes Vorhaben zu verhindern.»
Aaron faltete die Hände auf dem Tisch. «Das ist nicht die erste Lösegeldforderung, mit der ich zu tun habe. Und Ihr seid nicht die Ersten, die in einen Familienzwist verwickelt werden. Es tut mir leid, aber das ändert für mich nichts. Wenn alles gutgeht, sollten wir in drei Wochen so weit sein, dass wir den Vertrag besiegeln können.» Er zog die Augenbrauen hoch und sah an seinen Gästen vorbei. «Ja, Moise?»
Sein Sohn murmelte etwas auf Ladino, der spanisch-hebräischen Mischsprache, die von den Sepharden auf der Iberischen Halbinsel gesprochen wurde.
«Entschuldigt mich», sagte Aaron und ging zur Tür.
«Wir können nicht drei Wochen lang warten», flüsterte Richard.
«So lange sind wir vielleicht gar nicht mehr hier», sagte Vallon und beobachtete die beiden an der Tür. Die Unterbrechung kam überraschend. Aaron wirkte beunruhigt, dann niedergeschlagen, doch als er an den Schreibtisch zurückkehrte, war sein Gesichtsausdruck wieder höflich und unergründlich.
«Ein junger Mann hat sich an der Haustür gemeldet – ein Grieche, der hervorragend arabisch spricht. Er behauptet, Euer Diener zu sein.»
Vallon war sicher gewesen, dass der Besucher Drogo oder einer seiner Helfershelfer sein musste, daher brauchte er einen Moment, um diese Mitteilung zu begreifen. «Hero ist nicht mehr mein Diener. Ich habe ihn vor drei Tagen weggeschickt. Nein, ‹weggeschickt› klingt zu hart. Ich habe ihn freigegeben, damit er sein Studium fortsetzen kann.»
Aaron erkundigte sich höflich: «Was studiert er?»
«Medizin. Aber es gibt keinen Wissenschaftszweig, der seine Neugier nicht erregen würde.»
«Soll ich ihn abweisen lassen?»
«Mit Eurer Erlaubnis, es wäre besser, wenn er zu uns stoßen könnte.»
Aaron nickte Moise zu. Kurz darauf trottete Hero ins Zimmer. Er wirkte völlig erschöpft, und seine Augen waren so riesig und schwarz wie die eines Nachtfalters. Richard stieß besorgt die Luft aus und eilte zu ihm. Als Hero Vallon sah, begann er zu weinen. Gerade noch konnte Vallon den Sizilianer daran hindern, vor ihm auf die Knie zu fallen und ihm die Hände zu küssen.
«Setz dich», sagte Aaron und führte Hero zu einem Stuhl. «Du bist erschöpft. Du bist krank. Das allerdings ist paradox. Dein Meister sagt nämlich, dass du Medizin studierst.»
Schniefend nickte Hero.
«Welche Universität besuchst du?»
«Die von Salerno.»
Aarons Miene hellte sich auf. «Die beste in der gesamten Christenheit. Bist du jemals Konstantin dem Afrikaner begegnet?»
«Er war einer meiner Lehrer. Konstantin ist dafür verantwortlich, dass ich hier bin.»
Aarons Augenbrauen verschwanden beinahe unter seinem Turban. Er legte seinen Arm um Heros Schultern. «Das erklärst du mir jetzt einmal ganz genau. Moise, bring ein bisschen Suppe für den Jungen. Und für unsere anderen Gäste Wein und Gebäck.»
Während Hero berichtete, wie Konstantin ihn ausgewählt hatte, nippten Vallon und Richard an Wein aus edlen Bechern aus Damaskus-Glas. Als Hero fertig war, klopfte Aaron leise auf den Tisch. «Dein Meister hat recht. Geh zurück auf die Universität und schließe deine Ausbildung ab. Das ist ein aberwitziges Vorhaben. Vier Gerfalken sollen von Norwegen über Russland nach Anatolien gebracht werden, und das von Männern, die weder Händler noch Seefahrer sind. Das würde ich keinen Augenblick lang ernsthaft in Betracht ziehen.»
«Und doch nehmen wir das Risiko auf uns», sagte Vallon. «Ganz gleich, was uns geschieht, Ihr verliert dabei kein Geld.»
Aaron ging über diese Unhöflichkeit hinweg. Er stellte sich ans Feuer und wärmte sich die Hände. «Wie hoch ist die Mindestsumme, die Ihr bräuchtet?»
«Nicht weniger als einhundert Pfund.»
«Einschließlich der Kosten für die Handelswaren?»
«Ich bin kein Händler. Ich habe nicht vor, daraus eine Geschäftsreise zu machen.»
«Ihr müsst schon entschuldigen, aber wenn ich das Geld vorlegen soll, will ich, dass der Plan auch aufgeht. Es ist unsinnig, auf einem leeren Schiff zu reisen. Ich kann mir vorstellen, dass es in Norwegen an vielem fehlt.»
Hero nickte. «Sie haben keinen Wein und nur wenig Getreide.»
«Und die Norweger wiederum haben vermutlich Güter, die weiter südlich einen Markt finden würden.»
«Wolle, Salz- und Räucherfisch, Eiderdaunen.»
Aaron breitete die Arme aus. «Seht Ihr. Ihr müsst kaufmännisch denken. Die Falken sind sehr empfindliche Güter. Ihr solltet Euch wenigstens gegen ihren möglichen Verlust absichern.»
Vallon kniff die Augen zusammen. «Soll das heißen, Ihr gebt uns das Geld?»
Aaron erlaubte sich ein kleines Lächeln. «Ich strecke Euch einhundertundzwanzig Pfund vor. Die Kreditfrist beträgt ein Kalenderjahr. Pro Pfund werden wöchentlich zwei Pence Zinsen fällig. Das sind mehr als fünfzig Prozent im Jahr. Ich weiß, was Ihr denkt. Wucher. Aber der König bekommt davon mehr als die Hälfte. Außerdem erwarte ich nicht, dass Ihr das Pfand auslöst.»
Unwillkürlich ließ Vallon seinen Blick umherschweifen. Aaron erriet, was ihm durch den Kopf ging.
«Ich bewahre das Geld nicht hier auf. Kommt übermorgen um die Mittagszeit wieder.»
Vallon stand auf. «Könnt Ihr uns helfen, ein Schiff zu mieten?»
«Ich kenne mehrere Händler, die in Flandern und der Normandie Geschäfte betreiben. Ich werde mich erkundigen, aber ich vermute, dass keiner von ihnen eine Überfahrt nach Norwegen machen will.»
Vallon wusste nicht recht, wie er seinen Dank ausdrücken sollte und ob das überhaupt klug wäre. Schließlich streckte er die Hand aus.
Aaron nahm sie. «Euer Gesicht kommt mir bekannt vor. Habt Ihr in Kastilien gekämpft?»
Vallon sah ihm in die Augen. «Ja.»
Aaron ließ seine Hand los. «Moise bringt Euch hinaus.»
Als sich Vallon und Richard schon umgedreht hatten, flüsterten Vater und Sohn kurz miteinander.
«Einen Augenblick noch.»
Vallon drehte sich um.
«Mein Sohn hat mich daran erinnert, dass vergangenen Sommer ein Mann hier war, um sich Geld zu leihen. Wie hieß er noch gleich? Nun gut, das spielt keine Rolle. Er war Norweger, einer der wenigen Angreifer, die den englischen Sieg bei Stamford Bridge überlebt haben. Er war auf einem Schiff entkommen, das dann von einem Sturm an die Küste von Ostanglien gedrückt wurde. Er wollte Geld, um das Schiff instand zu setzen. Im Tausch bot er mir Fisch an, und als ich ihm erklärte, kein Fischhändler zu sein, hat er versucht, mir ein englisches Waisenmädchen zu verkaufen. Doch selbst wenn er eine Sicherheit hätte bereitstellen können, hätte ich abgelehnt. Er war ein widerwärtiger Kerl, der es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, und noch dazu ein bisschen auf den Kopf gefallen.»
«Ich glaube, wir machen es besser als er.»
«Ich habe ihn nur aus folgenden Gründen erwähnt», sagte Aaron und begann diese Gründe an den Fingern abzuzählen. «Er hat ein Schiff. Er braucht Geld, um es zu reparieren. Er will in seine Heimat zurück.» Aaron hielt einen weiteren Finger hoch. «Und, wie ich schon sagte, er ist verrückt. Ich wünschte, ich würde mich an seinen Namen erinnern. Er fällt mir bestimmt ein, wenn Ihr gerade zur Tür hinaus seid.»
«Und wo finden wir ihn?»
Aaron sprach kurz mit Moise. «In einer Stadt namens Lynn. Sie liegt einen Tagesritt weiter nördlich am Wash.» Dann begleitete er sie hinaus.
Als sie draußen auf der Eingangstreppe standen, sah Vallon im Schein von Kohlepfannen Soldaten am Burgtor stehen.
«Hör zu», sagte Aaron zu Hero. «Du weißt, dass Juden in England keine anderen Geschäfte als das Geldverleihen betreiben dürfen.»
«Ja, Herr.»
«Ich bin ein reicher Mann. Ich kann jeden Ort im Königreich besuchen, ohne Wegezölle zu bezahlen. Vor Gericht wiegt mein Wort so schwer wie das von zwölf gebürtigen Engländern. Ich wurde reich gesegnet – mit meiner Familie, meiner Religion, meinen Büchern und meinem Garten. Doch die Wahrheit lautet, dass ich in einem Käfig sitze.»
«Wir sollten jetzt gehen», sagte Vallon, der weiter die Soldaten beobachtete.
«Ich habe mir den Beruf des Geldverleihers nicht ausgesucht», fuhr Aaron fort. «Die Rechtswissenschaften zogen mich an, aber …» Mit einer kleinen Handbewegung wischte er das Auf und Nieder der Geschichte weg. «Du musst ein vielversprechender Student sein, da du von Konstantinus Africanus ausgewählt wurdest. Vergeude deine Talente nicht mit der irregeleiteten Treue zu einem …», Aaron warf einen Blick auf Vallon, «… Condottiere.»
«Ich werde nach meiner Rückkehr noch genügend Zeit für mein Studium haben.»
«Ha! Der Optimismus der Jugend, der Segen der Unwissenheit. Man hat niemals genügend Zeit.»
Damit zog Aaron die Tür zu. Riegel wurden vorgeschoben, Ketten klirrten. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Hero sah Vallon an. «Seid mir nicht böse, Herr.»
«Warum bist du zurückgekommen?»
«Ich konnte nicht vergessen, was Cosmas gesagt hat. Dass eine unvollendete Reise ist wie eine Geschichte, der das Ende fehlt. Wie hätte ich gehen können, ohne zu wissen, wie dieses Abenteuer ausgeht?»
Vallon schüttelte den Kopf. «Nicht alle Reisenden kommen an ihrem Ziel an, nicht alle Reisen haben ein glückliches Ende.»
«Und es gibt noch einen anderen Grund – etwas, das mir schwer auf dem Gewissen liegt.»
Zwei der Soldaten bewegten sich über den Platz auf sie zu. «Das kannst du mir später erzählen.»
Sie waren am Fuß der Treppe, als die Luke in der Haustür geöffnet wurde. «Snorri!», rief Aaron. «So heißt der Norweger.»
«Lass uns allein», sagte Vallon. Er wartete, bis Richard hinausgegangen war, dann setzte er sich auf einen Stuhl am offenen Fenster. Hero blieb mitten im Raum stehen und hielt sich an seinem Medizinkasten fest. Auf dem Tisch brannte eine einzelne Kerze. Die einzige andere Lichtquelle war der Mond, der im Osten aufging.
«Nun?»
Hero sprach so leise, dass seine Worte kaum zu verstehen waren. «Als Ihr mich gefragt habt, warum Cosmas solche Mühen auf sich nehmen wollte, um Walter zu retten, habe ich Euch erzählt, er hätte aus Mitleid gehandelt und aus dem Wunsch heraus, England kennenzulernen. Das war nicht die ganze Wahrheit.»
Vallon erinnerte sich an seine Zweifel, was die Beweggründe des alten Mannes anging. Er legte einen Fuß auf das Fensterbrett. «Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir, und mir steht der Sinn nicht nach langen Fragen. Wenn du etwas zu beichten hast, dann tue es einfach.»
«Es stimmt, dass Cosmas nach der Katastrophe von Manzikert ins Lager des Sultans gegangen ist. Und es stimmt, dass er die Verhandlungen über die Bedingungen zur Freilassung einiger bedeutender Gefangener unterstützt hat, zu denen auch Kaiser Romanus gehörte. Während er mit diesen Verhandlungen beschäftigt war, erhielt er eine Nachricht von Sir Walter. Es war eine recht ungewöhnliche Botschaft, und sie erregte augenblicklich seine Neugier. Walter behauptete, Dokumente in seinem Besitz zu haben, die vom Herrscher eines fernen, christlichen Reiches stammten. Eines dieser Dokumente war ein Brief an den Kaiser von Byzanz, und er enthielt das Angebot einer Allianz gegen die Türken und Sarazenen.»
«Und wie war Walter in den Besitz dieses Briefes gelangt?»
«Während des Überfalls auf Armenien hatte er eine muslimische Stadt eingenommen. Der Statthalter hat ihm die Dokumente im Tausch für sein Leben gegeben. Der Statthalter selbst hatte sie an sich gebracht, als seine Truppen eine Karawane aus dem Osten abfingen. Cosmas wusste, wie wichtig solch eine Allianz sein konnte. Er glaubte, dass die Niederlage bei Manzikert zu einem Heiligen Krieg führen würde. Also ging er in das Lager, in dem Walter festgehalten wurde. Der Normanne zeigte ihm die Dokumente und bot sie ihm im Austausch für seine Freilassung an. Cosmas überzeugte Walter davon, ihm die ersten paar Seiten des Briefes zu überlassen, auf denen der Herrscher die Allianz anbietet und die Herrlichkeiten seines fernen Reiches beschreibt. Von dem Rest des Briefes – in dem erklärt wird, welchen Weg eine Gesandtschaft nehmen muss, um sein Land zu erreichen – und dem anderen Dokument wollte sich Walter nicht trennen. Er sagte, er würde sie herausgeben, sobald ihn Cosmas freigekauft hätte.»
«Für ein königliches Lösegeld.»
«Das war der erste Rückschlag. Der Emir verstand nicht, warum Cosmas einen recht unbedeutenden Söldner befreien wollte, also hat er seine Forderung aus Bosheit oder Misstrauen unglaublich hoch geschraubt.»
«Sprich weiter.»
«Cosmas hatte vor, den Patriarchen von Konstantinopel zur Bezahlung des Lösegeldes zu überreden, doch noch bevor er in der Hauptstadt anlangte, musste er feststellen, dass der eben zurückgekehrte Kaiser von seinem Neffen entmachtet worden war.»
«Der Verräter, der die Niederlage von Manzikert herbeigeführt hatte.»
«Ja, Herr. Cosmas wusste als einer von Romanos’ Beratern, dass auch sein eigenes Leben in Gefahr war. Also ist er nach Italien geflüchtet.» Heros Stimme erstarb.
«Setz dich», sagte Vallon. Er wartete. «Also, wir sind in Italien. Was geschah dann?»
«Er hat seinen alten Freund Konstantin besucht. Damals wurde ich zu seinem Begleiter bestimmt, aber ich schwöre, dass ich zu diesem Zeitpunkt nichts von den Dokumenten wusste. Sie haben mir nur gesagt, dass wir in einer sehr wichtigen Angelegenheit nach England reisen würden. Als wir Rom verließen, zeigten sich bei Cosmas schon die ersten Anzeichen seiner tödlichen Krankheit. Ich drängte ihn zur Umkehr, doch er wollte die Reise nicht abbrechen. Diese Mission war zur Besessenheit geworden.»
«Und wann hat er dich ins Vertrauen gezogen?»
«Erst in der Sturmnacht, in der Ihr uns in der Hütte gefunden habt. Und bevor er starb, hat er mir den Brief gegeben.»
«Hast du ihn noch?»
«Ja, Herr. Er ist in meinem Medizinkasten versteckt.» Hero machte Anstalten, den Kasten zu öffnen.
«Später. Wie heißt dieser Herrscher?»
«Er schmückt sich nicht mit Titeln. Aus christlicher Bescheidenheit nennt er sich Prester – oder Priester – Priester Johannes.»
Vallon sagte stirnrunzelnd: «Ich habe die Mauren von ihm sprechen hören.»
«Genau wie ich. Cosmas hatte sogar im Osten bis Samarkand und im Süden bis Ägypten Gerüchte über ihn gehört. Manche sagen, er stammt von einem der Heerführer Alexanders des Großen ab. Andere behaupten, seine Herkunft ginge auf Kaspar zurück, einen der drei Weisen, die das Jesuskind in Bethlehem aufgesucht haben.»
«Und wo liegt sein Reich?»
«Irgendwo in den Drei Indien. Als Cosmas einmal eine Expedition nach Groß-Indien unternommen hat, entdeckte er mehrere christliche Gemeinden, die von dem Apostel Thomas gegründet worden waren. Thomas ist auch der Schutzheilige des Reiches von Priester Johannes. Cosmas glaubt, dass dieses Reich im jenseitigen Indien zu finden ist, einem Land, das die Reisenden früherer Tage Äthiopien nannten.»
Vallon nickte, ohne sämtlichen Einzelheiten folgen zu können. Für ihn war Indien eine Gegend, die hinter Mythen und Nebeln verborgen lag.
«Beschreibe es.»
Hero fuhr über den Deckel des Kastens. «Priester Johannes sagt, sein Reich liege an der Grenze zum Paradies. Es ist in zweiundsiebzig Provinzen aufgeteilt, jede mit eigenem König, von denen einige heidnisch sind, ihrem obersten Herrscher aber ebenso wie alle anderen tributpflichtig. Zwölf Erzbischöfe und zwanzig Bischöfe spenden den Untertanen zur Erhaltung ihres geistlichen Wohls die Sakramente. Ein Fluss namens Ydonus fließt aus dem Garten Eden in sein Reich. Neben diesem Fluss entspringt eine klare Quelle mit Wunderkräften. Jeder, der aus ihr trinkt, erhält Jugend und Lebenskraft zurück.»
Vallon unterdrückte ein Lächeln. «Cosmas war todkrank. Hat er darauf gehofft, im Jungbrunnen zu baden?»
«Davon weiß ich nichts, aber er hat mir gesagt, er würde die Dokumente verkaufen, wenn er sie alle bekäme, um eine Reise an Priester Johannes’ Hof zu finanzieren.»
«Also gibt es noch andere Dokumente.»
«Ja, Herr. Das andere ist ein Evangelium, dessen Existenz lange vermutet wurde, aber bisher niemals bestätigt werden konnte – das Evangelium nach Thomas.»
Vallon richtete sich auf seinem Stuhl auf. «Das Evangelium nach Thomas.»
«Einschließlich der geheimen Worte Jesu, die zu seinen Lebzeiten aufgeschrieben wurden.»
Vallon kratzte sich am Kopf. «Braucht die Welt noch ein weiteres Evangelium?»
«Cosmas hat mir erklärt, dass dieses eine von unschätzbarem Wert ist. Die Gelehrten glauben, dass die vier biblischen Evangelien lange nach dem Tod der Apostel von anderen Jüngern geschrieben wurden. Aber das Thomasevangelium wurde zu seiner eigenen Lebenszeit geschrieben, in seinen eigenen Worten diktiert. Stellt Euch nur vor – eine Erzählung vom Leben Jesu aus erster Hand, von einem seiner vertrautesten Jünger. Lasst Euch von mir die ersten Absätze vorlesen.»
Hero öffnete das Geheimfach und nahm ein Pergament heraus. «Das Evangelium ist auf Altgriechisch geschrieben. Walter hat Cosmas erlaubt, einen Teil zu lesen und die erste Seite zu transkribieren. Der Anfang lautet so: «Hier ist niedergelegt die Heilsbotschaft des Judas Thomas genannt Didymus, in welcher ich euch zeigen werde, was kein Auge je gesehen, sagen werde, was kein Ohr gehört, geben werde, was keine Hand berührt. Die geheimen Winkel des menschlichen Herzens werde ich aufschließen.»
Die Worte hallten in Vallons Kopf wider. Seine Haut kribbelte. «Du hast gesagt, dass Cosmas die Dokumente verkaufen wollte.»
«Aber nicht zu seinem persönlichen Gewinn. Im Jahr meiner Geburt haben Rom und Konstantinopel über die Frage, welche die Mutterkirche ist, ihre Beziehungen abgebrochen. Cosmas hat gehofft, dass Priester Johannes’ Angebot einer Allianz gegen die Feinde der Christenheit helfen könnte, dieses Schisma zu beenden. Cosmas hatte noch weitere Überlegungen. In seiner Lebenszeit war die politische Macht von Konstantinopel auf Rom übergegangen. Obwohl das Byzantinische Reich das wohlhabendere ist, sind seine Gebiete klein und abgelegen, während sich Roms geistlicher Einfluss über ganz Europa erstreckt. Cosmas glaubte, dass der Besitz des Thomasevangeliums die Position des Patriarchen von Konstantinopel in den Verhandlungen mit dem Papst in Rom stärken würde.»
An Kirchenpolitik hatte Vallon keinerlei Interesse. Ihm genügte es, an Gott zu glauben, mehr oder weniger täglich zu beten und nicht zu überrascht oder enttäuscht zu sein, falls seine Gebete nicht erhört wurden.
«Warum hast du mir das alles nicht schon früher gesagt?»
«Cosmas hat mich schwören lassen, dass ich es für mich behalte. Er wusste, abgesehen davon, dass Ihr ein Söldner wart, nicht das Geringste über Euch. Er dachte, Ihr könntet den Brief stehlen und ihn nach Rom verkaufen. In den letzten Tagen war sein Verstand ein bisschen getrübt.»
«Hat er erwartet, dass du die Mission alleine weiterführst?»
Hero ließ den Kopf hängen. «Zuerst habe ich mich geehrt gefühlt, dass er mir diese Aufgabe übertragen hat. Doch als ich einmal gründlich überdachte, was diese Aufgabe mit sich bringen würde, war mir klar, dass ich es nicht schaffen konnte. Ich wollte es Euch erzählen, aber mit jedem Tag, der verging, wurde es schwerer, meine Verschleierung zu beichten. Ich fürchtete Euren Zorn. Ich dachte, Ihr würdet mich zur Strafe wegjagen.»
«Und was wolltest du mit diesem Wissen anfangen?»
«Es geheim halten, bis wir die Reise nach England hinter uns gebracht hätten. Ich hatte gehofft, dass uns Olbec belohnen würde, wenn wir ihm Neuigkeiten von seinem Sohn gebracht hätten. Mir war nicht klar, dass Walter den Reichtum seiner Familie übertrieben dargestellt und Drogos Existenz verschwiegen hatte. Mein Plan war, von England aus nach Italien zurückzukehren und den Brief in Sizilien dem Patriarchen zu übergeben.»
«Alles, ohne mir ein Wörtchen davon zu erzählen.»
Hero wandte den Blick ab. «Bestraft mich, wenn Ihr es für richtig haltet. Wenn Ihr mich wieder wegjagt, habe ich es verdient.»
Vallon beugte sich vor. «Hero, ich habe dich während unserer langen Reise sicher geführt. Für dich habe ich mein Leben riskiert und Kälte, Hunger und Erschöpfung ertragen.» Er stieß den Zeigefinger vor. «Von Rechts wegen müsste dich töten.»
Hero starrte ihn an. «Ja, Herr. Meine Hinterlist ist unverzeihlich.»
Vallon sah ihn an. «Was für ein Narr du doch bist.» Mit einem Tritt ließ er den Stuhl umkippen. «Und was für ein Narr bin ich erst selbst!» Er ging im Raum auf und ab. «Unter anderen Umständen wäre mir klar gewesen, dass Cosmas niemals ohne heimlichen Grund nach England gereist wäre. Und warum war es mir nicht klar? Weil der Kummer mir den Verstand vernebelt hatte.» Vallon blieb stehen, seine Miene verdüsterte sich, er hob den Finger. «Du hast dich dumm gestellt und mir geschmeichelt.» Vallon fuhr mit hoher, weinerlicher Stimme fort: «‹Oh, Herr, Ihr seid stark und ich bin schwach. Bitte, helft mir.›» Vallon wirbelte herum, stützte sich mit den Händen rechts und links am Fensterrahmen ab und starrte blicklos hinaus.
Hero begann zu schluchzen. «Ich weiß, dass Ihr Sorgen hattet und immer noch Sorgen habt.»
Vallons Blick klärte sich. Er sah in den Garten hinaus. Ein Nebelteppich war vom Fluss herangezogen, und Enten quakten im Halbdunkel. «Was sind die Dokumente wert?»
«Jeden Preis, den Ihr dafür verlangt. Genügend Gold, um für den Rest des Lebens ein schönes Auskommen zu haben. Aber vorher müsstet Ihr sie in die Hand bekommen, und ich glaube, das ist unmöglich.»
«Warum?»
«Es ist, wie Aaron sagte. Eine Reise nach Norwegen und dann weiter durch Rus und über das Schwarze Meer, Herr, selbst eine Armee könnte solch ein gewaltiges Unternehmen nicht bewerkstelligen.»
Vallon drehte sich um. «Eine kleine Gruppe entschlossener Männer kann weiter und schneller reisen als jede Armee. Cosmas hat es bewiesen. Du hast mir erzählt, dass er bis in die entlegensten Weltgegenden gekommen ist und nicht einmal eine Waffe getragen hat.»
«Ja, Herr. Aber Cosmas war ein sehr außergewöhnlicher Mensch.»
«Weiß Walter, was die Dokumente wert sind?»
«Er weiß, dass er sie sehr teuer verkaufen könnte, aber er versteht nicht, worin ihr eigentlicher Wert besteht. Er kann nicht lesen, und seine momentane Situation macht es ihm unmöglich, sich den Inhalt übersetzen zu lassen.»
Vallon blickte ins Dunkel hinaus, in seinem Kopf begann sich ein ungeheurer Plan zu formen. «Geh schlafen.»
«Herr?»
«Geh schlafen. Ich muss nachdenken.»
«Ist die Sache damit erledigt, oder verschiebt Ihr nur meine Bestrafung?»
«Ich werde dich nicht bestrafen. Dein Hartnäckigkeit hat uns vielleicht das Leben gerettet. Wenn du nicht bei Aaron aufgetaucht wärst, hätten wir den gesamten nächsten Monat Däumchen drehen müssen.»
«Heißt das, dass ich bleiben kann?»
«Vielleicht erweist sich ja genau das als deine Strafe. Ich habe dir die Gelegenheit gegeben, aus der Sache auszusteigen. Eine zweite gibt es nicht. Jetzt ist dein Leben an mein Schicksal gekettet.»
«Wie Ihr es wünscht.»
«Solange wir das Geld nicht haben, können wir nichts unternehmen. Bis dahin will ich nicht, dass du draußen auf der Straße herumstreunst. Und du erzählst niemandem etwas von den Dokumenten.»
Darauf folgte Stille. Schließlich sagte Hero: «Ich hätte mich beinahe Richard anvertraut. Die Last war für mich allein zu schwer zu tragen.»
«Jetzt teilst du sie mit mir. Und so bleibt es.»
Mit schlurfendem Schritt machte sich Hero auf den Weg aus dem Zimmer.
Vallon hob die Hand. «Wenn ich darüber nachdenke, kannst du dich auch nützlich machen.»
«Was immer Ihr befehlt.»
«Erhol dich, so gut du kannst. Und übermorgen gehst du nach Lynn und suchst den Norweger. Nimm Raul und Wayland mit. Vermutlich findet ihr ihn nicht, aber es wird euch drei davon abhalten, irgendwelche Dummheiten zu begehen.»
Als Hero gegangen war, stellte sich Vallon ans Fenster und sah zum Mond hinauf. Er fröstelte. Es war jedoch nicht die feuchte Flussniederung, die ihm eine Gänsehaut über den Körper jagte. Er hatte sich diese Reise als Buße auferlegt, doch nun hatte sich darin ein höheres Ziel enthüllt – ein gottgewolltes Ziel. Er war dazu bestimmt, Hero den Weg zu weisen, hatte Cosmas gesagt und ihn dabei mit seinem dunklen, allwissenden Blick aus seinem einen Auge fixiert. Vallon fiel auf die Knie und faltete die Hände zum Gebet.
«Gütiger Herr, ich danke dir für diese Aufgabe. Ich werde sie mit all meinen Kräften zu erfüllen versuchen, und wenn es mir gelingt, dann bitte ich Dich im Namen Deiner Gnade, mich, wenn es Dir gefällt, von meinen schlimmen Sünden freizusprechen.»
Das Mondlicht ließ sein Profil scharf hervortreten und tiefe Schatten auf sein Gesicht fallen. Es war spät. Vallon schloss die Fensterläden, legte sich auf sein Lager und schlief zum ersten Mal seit Monaten tief und fest bis zum Morgen.