158074.fb2 Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

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Nordwärts

XV

Die Shearwater trieb im Nebel auf der Gezeitenströmung. Jemand schrie herum. Es war Snorri. Er tobte im Laderaum, stampfte mit den Füßen und schüttelte seine Faust. «Gott», stöhnte Vallon. Er ging ins Heck und stolperte, als das Schiff in der Dünung rollte.

«Was zum Teufel ist los mit dir?»

«Dieses Mädchen, Hauptmann. Es muss vom Schiff.»

«Beruhige dich. Wir setzen sie bei der ersten Gelegenheit an Land.»

«Nein, nein. Sie ist verhext. Wir kommen nicht von der Stelle, solange sie an Bord ist.»

Vallon spähte durch den Laderaum. Das Mädchen saß in eine Decke gewickelt zwischen Wayland und dem Hund. Es musste schon ein sehr tapferer Mann sein, der es wagte, sich zwischen sie zu drängen.

«Was erwartest du denn von mir? Soll ich sie über Bord werfen?»

Snorri packte Vallon am Ärmel. «Sie kann auf meinem Stechkahn zurückpaddeln.»

«Den Normannen in die Arme? Bist du wahnsinnig?»

«Hauptmann, ich schwör’s. Wir sind dem Tod geweiht, wenn wir sie nicht loswerden.»

«Wir sind dem Tod geweiht, wenn du dieses Schiff nicht in Fahrt bringst.» Mit großer Anstrengung gelang es Vallon, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. «Du bist der Herr über die Segel. Wir verlassen uns auf dich.» Er drückte Snorri die Schulter und setzte leise hinzu: «Keine Sorge. Ich kümmere mich um das Mädchen.»

Snorri sah ihn mit leiser Hoffnung an. «Versprochen? Das ist ein durchtriebenes Weibsbild.»

Vallon drehte sich um. «Wayland, an Deck.»

Wayland stieg herauf und ging Richtung Heck. Vallon hielt ihn auf. «Ihr anderen, hier herüber. Wir setzen Segel.»

Raul sah lustlos auf. «Wir haben keinen Wind.»

«Das weiß ich, du Schwachkopf. Aber wir müssen bereit sein, wenn welcher aufkommt.»

Raul hievte sich auf die Füße. Hero und Richard rappelten sich hoch wie verletzte Insekten.

«Ihr glaubt, ihr hättet kein bisschen Kraft mehr», sagte Vallon zu ihnen. «Aber ich garantiere euch, dass ihr eure Schwäche augenblicklich vergesst, wenn uns die Normannen angreifen.» Er trat einen Schritt zurück. «Meister Snorri, setz den Mast.»

Snorri kicherte schrill. «Dazu haben wir nicht genügend Leute.»

«Was? Wie viele brauchst du denn?»

«Sechs, um ihn hochzuziehen, vier, um ihn aufrecht zu halten, und zwei, um ihn ins Kielschwein runterzulassen. Hab noch nie gesehen, dass es mit weniger als acht Männern gemacht wurde, und das war in einem Hafen, wo die Leute vom Ufer aus noch mit Seilen geholfen haben.»

Vallon starrte den Mast an – einen Kiefernstamm von vierzig Fuß Länge und dick wie ein Männerbauch. Sie hatten ein Dutzend Männer gebraucht, um ihn an Bord zu hieven und sein unteres Ende in den Laderaum zu senken. Und nun mussten sie ihn mit halb so vielen Leuten um siebzig Grad aufrichten – und zu diesen Leuten gehörten ein Einarmiger und zwei Jünglinge, die so schwach waren wie Novizen nach einer Fastenwoche.

«Raul hat Kraft für drei. Irgendwie bekommen wir ihn schon hoch.»

«Hauptmann, wenn er umfällt, zerschmettert er mein Schiff, und was machen wir dann?»

Hero trat vor. «Wir könnten den Mast zentriert halten, indem wir zwei Holzschienen längs im Laderaum verzurren.» Er deutete auf die Rah und die Ersatzrah an der Backbordseite. «Die sehen lang genug aus.»

«Wenigstens einer, der hier seinen Grips einsetzt.» Vallon wandte sich an die Übrigen. «Also, worauf wartet ihr?»

Raul drehte seine Kappe in den Händen. «Hauptmann, im Ernst, keiner von uns hat seit gestern irgendetwas gegessen.»

«Gut. Zieht euch etwas Trockenes an und nehmt euch etwas zu essen.»

Vallon war nach der ganzen Schinderei genauso am Ende wie die anderen. Schwer ließ er sich auf eine Ruderbank sinken und tastete seine Seite ab, wo er sich die Muskeln gezerrt hatte. Seine Handflächen waren mit Blasen und kleinen Schnitten übersät, seine Finger geschwollen, und die Fingerspitzen so weiß wie die eines Toten. Als er die feuchten Kniehosen von den Beinen schüttelte, stellte er fest, dass die Innenseiten seiner Oberschenkel bis aufs Blut aufgescheuert waren. Nachdem er sich mit Schwamm und viel sauberem Wasser gewaschen und frische Kleidung angezogen hatte, fühlte er sich ein wenig besser.

«Herr, hier, nehmt das», sagte Richard und bot ihm Brot, Hammelfleisch und einen Becher Ale an.

Er aß nur ein paar Bissen, bevor seine Unruhe wieder Oberhand gewann. «Drogo muss jetzt schon auf halbem Weg nach Lynn sein. Gehen wir an die Arbeit.»

«Das da ist das Kielschwein», sagte Snorri und deutete auf einen sarggroßen Eichenblock, der über die vier mittleren Querspanten im Laderaum griff. «Die Höhlung in der Mitte nimmt den Mastfuß auf. Der Holzblock darüber, der heißt bei uns Mastfisch. Er umschließt den Mast von vorn und an den Seiten. Das senkt die Spannung im Mast, wenn gesegelt wird. Schlag einen Keil in die Kerbe hinten, und dieser Mast sitzt felsenfest.»

«Verstanden?», fragte Vallon in die Runde.

Zuerst zogen sie den Mast einen Fingerbreit nach dem anderen nach vorn, um seinen Fuß genau über der Kerbe am Kielschwein zu platzieren. Schon diese Aufgabe, die nur ganz langsam ausgeführt werden konnte, zeigte Vallon, mit welchem Gewicht und welchen Kräften sie es zu tun hatten. Snorri bereitete den Mastfisch vor und fettete die Öffnung ein, damit der Mastfuß leichter hineinglitt. «Ich brauche hier unten einen Mann, der den Fuß ins Loch lenkt.»

Vallon sah sich um. «Wayland, das ist deine Aufgabe.»

Raul versetzte dem Falkner einen Schubs. «Ich hab mal gesehen, wie ein Mann bei dieser Sache seine Griffel verloren hat.»

«Verdammt, halt doch dein Maul.»

Snorri legte eine Silbermünze in den Sockel.

«Wozu soll das gut sein?», fragte Wayland.

«Damit zahl ich den Fährmann in die Anderwelt, falls ich ersaufe.»

Raul warf Vallon einen kurzen Blick zu und schnippte ebenfalls eine Münze in den Sockel.

Parallel zum Mast verzurrten sie die Rahe an jedem Ende des Lagerraums an Ruderbänken. Auf Heros Vorschlag hin befestigten sie zwischen ihnen noch ein Querholz, damit der Mast nicht zu weit nach vorn rutschen konnte.

Snorri wickelte einhändig das Ankerseil auf. «Brauch jemand, der sich mit Knoten auskennt, der muss das Seil hier an die Mastspitze binden.»

Raul zog sich an dem schrägliegenden Mast hinauf und befestigte das Seil etwa fünf Fuß unterhalb der Spitze. «Sicher, dass das hält?», rief Snorri.

«Kannst dich ja dran aufknüpfen, dann werden wir’s schon sehen.»

Snorri ging übers Deck und ließ dabei das Seil ablaufen. «Jetzt takeln wir die Falle.»

Das war ein kräftiger, fünfzehn Fuß langer Pfosten mit gegabelter Spitze. Snorri zog das freie Ende des Seils durch die Gabelung, dann richteten Wayland und Raul den Pfahl gemeinsam auf und stellten ihn in einen Sockel vorn im Laderaum. Das Seil verlief nun oben vom Mast zu der Gabelung im Pfosten und von dort aus bis zum Vordeck, auf dem alle bereitstanden. Snorri bezog neben ihnen Aufstellung und gab die Befehle. «Das Seil straffziehen.»

Vallon zog gemeinsam mit den anderen.

«Fester. Es hängt durch.»

Vallon zog, bis er den Gegenzug des Mastkörpers spürte.

«Alle zusammen jetzt – ziehen!»

Vallon stemmte sich auf den Fersen zurück. Das Hanfseil spannte sich surrend, doch der Mast rührte sich nicht.

Snorri, der halb in die Hocke gegangen war, trieb sie an. «Zieht schon. Oder seid ihr zu blöd dazu? Lang und gleichmäßig. Hängt euch rein. Was soll denn das sein? Das hab ich ja schon Säuglinge besser machen sehen. Zieht um euer Leben, verdammt. Brecht euch das Kreuz. Lasst eure Lungen platzen!»

Dieses Mal bekamen sie den Mast ein paar Fingerbreit hoch, doch er war zu schwer und sackte gleich wieder ab.

Schwer atmend standen sie da und schüttelten ihre Hände aus.

«Wir brauchen mehr Hebelkraft», keuchte Vallon. Sein Blick fiel auf einen der Riemen. Er ging darauf zu.

«Zerbrecht mir bloß nicht die Riemen», schrie Snorri. «Im Laderaum sind Balken.»

Vallon fand einen acht Fuß langen Eichenbalken, stellte sich hinter den Mast und hob den Balken wie eine Harpune. Erneut nahmen die anderen das Seil und zogen. Der Mast hob sich ein paar Fingerbreit – und das genügte Vallon, um den Balken in die Lücke zu schieben. Er griff möglichst weit nach oben und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Hebel. Seine Halsschlagader trat hervor. An seiner Nase hing ein Schleimfaden.

«Er kommt», schrie Snorri.

Mit einem empörten Knarren bewegte sich der Balken ein paar Grad Richtung Senkrechte. Der Balken glitt weg, und Vallon stolperte, doch als er in die Höhe sah, schwebte der Mast noch. «Festhalten», rief er atemlos und schwankte zu den anderen zurück.

Der Hebel hatte den entscheidenden Unterschied gemacht. Langsam schwang die Mastspitze nach oben, mit jeder gewonnenen Handbreit wurde es leichter, ihn weiterzuziehen. Snorri gab ihnen Anweisungen. «Noch ein bisschen weiter. Bloß noch ne Winzigkeit. Brrr!»

Kurz bevor er in der Senkrechten war, schien der Mast beinahe gewichtslos. Snorri nahm ihnen das freie Ende des Seils ab und wand es um den Vordersteven. «Und jetzt passen wir den Fuß ein.»

Nachdem Raul und Wayland eine Zeitlang geschoben und gehebelt hatten, schien der Mast seinen Weg in das Kielschwein beinahe von selbst zu finden und sank mit einem dumpfen Dröhnen in den Sockel.

Snorri und Raul verzurrten den Mastfisch um die Basis. Als sie den Keil eingeschlagen hatten, richtete Snorri sich auf, begutachtete den Mast von allen Seiten und blickte dann Vallon an. «Gar nich ma schlecht.»

Die Mannschaft sank stöhnend auf die Decksplanken.

«Herumsitzen können wir später», sagte Vallon. «Wir müssen noch auftakeln.»

Doch nur Snorri und Raul wussten, wie das überhaupt zu bewerkstelligen war. Nachdem er geholfen hatte, die Rah hochzuziehen, sah er zu, wie die Wanten und Stage befestigt wurden. Dann ging Vallon zum Bug, um den Gezeitenstand zu überprüfen. Noch immer hielt sie der Nebel umfangen. Tau tropfte wie Regen vom Takelwerk. Die Kleidung, die er trocken angezogen hatte, sog sich schon wieder mit Feuchtigkeit voll.

Er spürte, dass ihm jemand nachkam. Hero bot ihm mit gesenktem Blick einen Becher Ale an. Vallon leerte ihn und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. «Was meinst du, wie viel Uhr es ist?»

«Ich kann es nicht mehr einschätzen. Ich weiß nicht einmal, in welche Richtung das Schiff fährt. Gott sei Dank ist Drogo genauso blind wie wir.»

«Da bin ich nicht so sicher. Hör mal das Geschrei, das die Vögel draußen auf See machen. Ich vermute, dass der Nebel nur an der Küste liegt und die Normannen da draußen abwarten, bis wir die Nase rausstrecken. Wir sind schließlich immer noch im Mündungsgebiet des Flusses, nicht auf dem offenen Meer.»

«Dann müssen wir beten, dass sich der Nebel bis zum Dunkelwerden hält.»

Mit einem Mal überkam Vallon eine Erinnerung. «Haben Tiere einen Verstand?»

Hero blinzelte bei dieser merkwürdigen Frage überrascht. «Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch das einzige vernunftbegabte Tier ist. Warum?»

Vallon starrte in den Nebel. «Ich habe einmal das Quartier mit einer Ratte geteilt, die beinahe menschliche Schläue gezeigt hat. Jeden Abend, nachdem ich gegessen hatte, ist die Ratte erschienen, um die Krümel zu fressen. Sie kam immer um die gleiche Zeit, aus demselben Loch und durchquerte den Raum auf demselben Weg. Um sich zu verstecken, hat sie auf dem Rücken einen Stofffetzen mit sich herumgezogen. Würdest du nicht sagen, das zeigt, dass sie denken konnte?»

Hero ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. «Weil die Ratte Euch nicht sehen konnte, ist sie davon ausgegangen, dass auch Ihr sie nicht sehen konntet. Genau genommen ist ihre Schläue eigentlich Dummheit, denn Ihr hättet sie jederzeit töten können.» Er verlagerte sein Gewicht auf den Füßen. «Herr, das Quartier, von dem Ihr da sprecht – war es das Gefängnis, das Ihr erwähnt habt?»

Vallon nickte. «Ich erzähle dir ein anderes Mal davon.»

Snorri stieß einen Ruf aus. Vallon drehte sich um und rieb sich über die Wange. Die leichte Brise war beinahe sofort wieder erstorben, trotzdem spürte Vallon sie noch im Gesicht. «War das ein günstiger Wind?»

«Ja, aus Südwest.»

«Sind wir bereit zum Segeln?»

Snorri sah Raul finster an. «Is noch ein Haufen zu tun, aber wir werns schon schaukeln.»

Alle warteten und hoben gelegentlich mit prüfender Miene das Gesicht. Vallon öffnete und schloss die Fäuste. Dann bemerkte er, dass ihn Raul beobachtete, und er zwang sich zur Bewegungslosigkeit.

Dann strich die nächste Brise übers Meer. Das Segel blähte sich einmal träge und sackte wieder zusammen.

«Ich wünschte, es wäre schon dunkel», sagte Hero.

«Psst!»

Wayland hastete an Backbord nach vorn.

Vallon schlich so leise wie möglich zu ihm hinüber und beugte sich über die Reling. Er konnte nichts anderes als das ferne Möwengeschrei hören, aber er zweifelte nicht daran, dass Waylands Warnung ernst zu nehmen war. Der Junge hatte Ohren wie ein Luchs. Schließlich vernahm auch Vallon das schwache, rhythmische Geräusch von Rudern im Wasser. In einem Moment wurde der Klang so deutlich herangetragen, dass er sogar Stimmen hören konnte, im nächsten Moment war er wieder verschwunden.

Er sah über die Schulter zurück. Raul spannte seine Armbrust. Vallon beugte sich zu Wayland. «Wo sind sie?», flüsterte er.

Wayland deutete hin.

Vallon spähte angestrengt in die Richtung, die Wayland angezeigt hatte. Er hörte das Klatschen eines missglückten Ruderschlags und sah weißliche Gischt aufspritzen. Und dann glitt keine hundert Schritt entfernt die verwischte Silhouette eines Schiffs durch den Nebel. Es fuhr mit eingerolltem Segel aufs Land zu, die Männer waren über die Riemen gebeugt. Sie kamen so dicht vorbei, dass für einige Augenblicke jeder von ihnen die Shearwater mit einem Blick nach rechts entdeckt hätte. Doch keiner sah herüber, und einen Moment später war das Schiff wie eine Geistererscheinung verschwunden.

«Hol deinen Bogen», sagte Vallon zu Wayland. «Vermutlich sind sie mit mehreren Schiffen unterwegs.»

«Es kommt Wind auf», sagte Raul und sah achteraus.

Die Shearwater tauchte mit dem Bug in ein Wellental. Das Segel füllte sich, und der Mast knarrte. Wayland spannte eine Bogensehne ein. Die alte war in der Feuchtigkeit schlaff geworden. Die Shearwater nahm etwas Fahrt auf und zog eine gurgelnde Kielwasserspur hinter sich her. Die Nebelschwaden zogen wie träge Regenschleier vorbei. Von Zeit zu Zeit tauchte eine Lücke in dem Dunst auf, und Vallons Blicke flogen in Erwartung weiterer Normannenschiffe übers Wasser. Dann lichtete sich vor ihnen der Nebel und wurde zu einem rosigen Schein. Die schrägen Strahlen der Abendsonne warfen den Schatten der Shearwater auf die Nebelwand, und mit einem Mal, als wäre eine Tür aufgestoßen worden, waren sie unter freiem Himmel.

Die Sonne ging gerade unter, und das Meer glühte wie flüssiges Feuer zwischen den schwarz glänzenden Wattablagerungen.

«Verflucht!»

Im Fahrwasser genau vor ihnen, keine Viertelmeile entfernt, lag ein Fischerboot sanft schaukelnd auf den leichten Wellen. Bis an die Dollborde drängten sich darauf bewaffnete Normannen. Ein paar der Soldaten stürzten an die Riemen. Andere zogen das Segel auf. Einer von ihnen entdeckte die Shearwater und begann aufgeregt herumzuschreien.

«Da kommen noch mehr aus Richtung Lynn!», rief Wayland.

Vallon sah die Segel weit im Süden. «Die könnt ihr fürs Erste vergessen.»

Ihre Lage schien hoffnungslos. Die Normannen lagen direkt in Windrichtung und blockierten die Mitte der Fahrrinne, während sich zu beiden Seiten die Schlickbänke des Watts ausbreiteten. Es war kein Platz, ihnen auszuweichen. Selbst wenn sie leewärts hätten fahren können, die Normannen waren an den Rudern schneller, als die Shearwater bei dem schwachen Wind segelte. Mit Schrittgeschwindigkeit hielten sie auf das Fischerboot zu. Bald wären sie in Reichweite der Bogenschützen. Vallon legte die Hände um den Mund. «Snorri, Kurs halten. Hast du mich verstanden? Kurs geradeaus.»

Raul sog die Luft zwischen den Zähnen ein. «Hauptmann, die sind uns fünf zu eins überlegen.»

«Ich weiß. Dreißig Männer in einem Boot, das halb so groß ist wie unser Schiff. Sieh dir an, wie sie sich gegenseitig behindern. Und sie werden nicht mehr viel Kraft haben, nachdem sie von Lynn hierhergerudert sind.»

Die Soldaten stolperten übereinander, während sie sich hastig auf den Angriff vorbereiteten. Ihre Bewegungen brachten das Boot so heftig zum Schwanken, dass sie zu kentern drohten. Ein paar Männer auf den Ruderbänken fuchtelten mit ihren Riemen wild in der Luft herum. Andere kämpften sich in ihre Kettenhemden. Das Boot schaukelte steuerlos im Wasser.

«Sie werden sich für uns fein gemacht haben, bis wir dort sind», sagte Raul.

Vallon beschattete sich die Augen mit der Hand. «Ich sehe keine Bogenschützen.»

«Nein, das sind Landtruppen. Mit Schwertern und Lanzen.»

Die Shearwater krängte, weil der Bug herumschwang.

«Was zum …!» Vallon rannte nach achtern. «Ich habe gesagt, du sollst Kurs halten.»

«Ich kann um die herum fahren!», schrie Snorri, der sich gegen das Ruder stemmte.

«Sie haben uns eingeholt, bevor wir eine Achtelmeile geschafft haben.» Vallon entwand ihm das Ruder. «Wir müssen sie rammen.»

«Ich zerstöre nicht mein eigenes Schiff!»

«Es ist doppelt so groß wie diese Nussschale. Wir brechen sie einfach in der Mitte durch.»

Mit einem dumpfen Surren schnellte der Bolzen aus Rauls Armbrust. Vallon hob sein Schwert. «Tu … was … ich … sage.»

Snorri schüttelte die Faust. «Ihr zahlt mir jeden Schaden.»

Vallon hastete zum Bug zurück. Raul zog ein Gesicht. Er hatte vorbeigeschossen.

Langsam wurden die Gesichtszüge der Gegner erkennbar. Ein Offizier hatte die Hälfte der Soldaten an die Ruder geschickt. Im Bug drängten sich ein halbes Dutzend Speermänner, die versuchten, sich genügend Platz zu verschaffen. Die Übrigen standen an den Längsseiten des Bootes, schlugen ihre Schwerter an die rautenförmigen Schilde und schrien im Rhythmus: «Dex aie. Dex aie.»

In einer einzigen flüssigen Bewegung hob Wayland den Bogen, spannte und ließ den Pfeil abschnellen. Vallon sah dem Pfeil nach, der in einem Bogen in die Höhe schoss, verlor ihn aus den Augen, als er niederging, und hörte dann den Schrei des Mannes, der getroffen worden war.

«Zufall», sagte Raul, der seine Waffe nachlud. Wayland hatte schon den nächsten Pfeil eingelegt und zielte.

Das Fischerboot war nun keine hundert Schritt mehr entfernt, und den Normannen war klargeworden, dass die Shearwater auf Kollisionskurs fuhr. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit schien nun nicht mehr so schlagend, als sie ein viermal so schweres Schiff auf sich zuhalten sahen. Ihre Kriegsrufe erstarben. Einige der Männer ihm Bug suchten mit ihren Blicken rechts und links nach einem Fluchtweg.

«Steuerbord halt!», rief der Offizier.

«Zu spät», murmelte Vallon, als das Fischerboot begann, über die Backbordseite herumzuschwingen. Die merkwürdige Stille, die einem Kampf vorausgeht, legte sich über die Männer. Sie ist merkwürdig, weil sie ganz gewöhnliche Geräusche umso lauter erscheinen lässt – das Kreischen der Möwen, das Gurgeln des Wassers unter dem Bug, das Knarren des Segels.

«Nach den Speeren zum Entern bereit machen.»

Raul drückte den Schaft seiner Armbrust gegen die Schulter und löste einen Bolzen aus, der einen der Soldaten um die eigene Achse wirbeln ließ.

Der Kurswechsel und die tödlichen Pfeile hatten Unruhe unter den Speermännern gestiftet, und nur vier schleuderten ihre Lanzen. Doch sie konnten weder genau zielen, noch hatten sie sicheren Stand, sodass die drei Männer auf dem Vordeck der Shearwater den Lanzen leicht ausweichen konnten. «Wappnet euch für den Aufprall», sagte Vallon.

Der Vordersteven der Shearwater prallte auf das Boot, schlug knapp hinter dem Bug ein Loch hinein und schor ein paar Ruder ab. Männer stürzten. Stage rissen knallend, und der Mast legte sich schräg. Von dem halben Dutzend Normannen, die sich aufs Entern vorbereitet hatten, schafften es nur zwei, die anderen wurden weggestoßen oder waren zu kurz gesprungen. Wayland traf einen der Enterer mitten im Sprung mit einem Pfeil. Raul stürzte sich auf den anderen, hob ihn hoch, als wäre er eine Strohpuppe, und warf ihn über Bord.

«Hinter Euch!», schrie er unmittelbar darauf.

Vallon fuhr herum und sah einen weiteren Soldaten an Deck klettern. Bevor Vallon ihn erreicht hatte, war er bereits auf den Füßen. «Zu mir!», rief der Soldat, machte einen Schritt vorwärts und erstarrte, weil ihn ein Speer seines eigenen Kameraden durchbohrt hatte. Vallon fing ihn unwillkürlich auf, als er weitertaumelte, und die beiden sahen sich einen Moment lang wie Liebende in die Augen.

«Tapferer Kerl», sagte Vallon, dann schob er den Toten aus dem Weg.

Der Zusammenprall hatte der Shearwater kaum etwas von ihrer Fahrtgeschwindigkeit genommen. Vallon sah eine Reihe wutverzerrter Gesichter an sich vorbeiziehen. Ein weiterer Speer verfehlte ihn. In seiner Wut schleuderte einer der Soldaten sein Schwert in wirbelndem Flug auf die Shearwater.

Dann hatten sie das Boot hinter sich gelassen, schon leckten die Wellen darüber, und die Soldaten, die zu ertrinken fürchteten, stießen entsetzte Schreie aus.

«Irgendwer verletzt?», rief Vallon. «Hero? Richard?»

Die beiden stiegen aus dem Laderaum und schlugen sich die Hände vor den Mund, als sie die beiden Toten sahen. Vallon drehte sich zu Raul um. «Wirf die Männer über die Reling.»

Dann ging Vallon ins Heck und hielt sich mit beiden Händen am Achtersteven fest. Das Fischerboot lag auf der Seite, und die Normannen klammerten sich daran fest. Die Brise hatte inzwischen den Nebel vertrieben, und Vallon sah das Schiff, das an ihnen vorbeigefahren war, wieder Richtung Meer steuern.

Als er sich umdrehte, begegnete er Heros entsetztem Blick. Vallon schob sein Schwert in die Scheide. «Ich habe dich weggeschickt, weil ich dir solche Anblicke ersparen wollte.» Er ging an Hero vorbei und blieb erneut stehen. «Wenn es eine Vorsehung gibt, die sich um Ratten kümmert, warum sollte sie es dann mit uns nicht auch gut meinen?»

Langsam versank der Sonnenball hinter dem Land. Das normannische Schiff hatte gehalten, um die Überlebenden aus dem Fischerboot aufzunehmen. Snorri kletterte eilig aus dem Laderaum. «Ich hab Euch ja gesagt, dass Euer Wahnsinn unser Untergang sein wird. Wir haben Risse in den Planken. Wir ziehen Wasser. Gleich sinken wir.»

Vallon deutete müde auf Raul. «Sieh es dir mal an.»

Raul spuckte bedächtig aus. «Ich schätze, ich bin gestorben, ohne dass es mir jemand gesagt hat, und jetzt muss ich mir meinen Weg durch die Hölle suchen.»

«Selbst der Kerl dort unten würde dich nicht haben wollen.»

Raul grinste, als hätte ihm Vallon ein Kompliment gemacht.

Mit Vallon am Ruder segelte die Shearwater weiter. Er achtete genau auf die übrigen Schiffe, die etwas südwärts fuhren. Es waren fünf, sie hielten sich auf Parallelkurs mit der Shearwater und unternahmen keinen Versuch, näher heranzukommen. Sie hatten vor, die Mündung des Wash zu blockieren, an der die Ausfahrt ins offene Meer von Sandbänken verengt wurde. Wenn die Normannen zuerst dort ankamen und mit ihren Schiffen eine Sperrkette errichteten, würde die Shearwater zwischen den Schiffen durch eine Lücke fahren müssen, die höchstens eine halbe Meile breit wäre. Langsam wurde der Himmel grau, und der Abend zog herauf. Das Meer verwandelte sich in eine schwarze Fläche, und die feindlichen Schiffe waren nicht mehr zu erkennen. Am Himmel glänzten die ersten Sterne. Es würde nicht lange so dunkel bleiben. Bald würde der Mond aufgehen, dem nur noch eine Nacht zum Vollmond fehlte, und das Meer so hell erleuchten wie der Tag.

Vallon sah zu Wayland hinauf, der dreißig Fuß über dem Deck auf der Rah balancierte. «Siehst du sie noch?»

«Ja. Sie halten weiter Kurs.»

Snorri und Raul stiegen aus dem Laderaum. «Nur ein kleines Leck», sagte Raul. «Wir haben es gestopft. Das Mädchen achtet darauf, ob es dicht bleibt.»

Snorri nahm die Ruderpinne. Bald darauf schien sich im Osten ein unterirdisches Leuchten auszubreiten, und ein riesiger Mond ging auf, goldfarben zuerst, dann verblassend bis zur Farbe einer marmorierten Eierschale. Wie fahle Laternen waren die Normannenschiffe wieder auf dem Wasser zu erkennen.

«Schaffen wir es, als Erste an der Mündung zu sein?», fragte Vallon Snorri.

«Das wird verflucht eng.»

«Du hast gesagt, die Shearwater könnte jeden englischen Schlammfloh überholen.»

«Stimmt, aber sie haben eine offene Passage durch die Fahrrinne von Lynn, während wir um den Mare’s Tail herummüssen.»

«Ist das eine Sandbank?»

«Bei der Größe eher ne Insel. Drei Meilen lang un Richtung Süden geschwungen.»

«Das heißt, wir sind gezwungen, dichter an die normannische Flotte heranzufahren.»

Snorri lachte in sich hinein, wie immer, wenn er unter Anspannung stand. «Genau. Wir müssen ihnen direkt in den Weg fahren.»

Wayland blieb mit dem Auftrag, nach Sandbänken Ausschau zu halten, auf der Rah über Deck. Raul lud seine Armbrust nach. Er stellte sich dazu mit den Füßen auf die Bogenarme der Waffe, atmete tief ein, und spannte die Sehne in einem einzigen kräftigen Zug, der ihm die Adern unter der Haut hervortreten ließ. Einmal hatte er behauptet, er würde sie mit solcher Kraft spannen, dass er einen Bolzen glatt durch zwei gepanzerte Soldaten schießen konnte. Vallon bezweifelt das keineswegs. In einem untätigen Moment hatte er einmal versucht, die Sehne zu spannen, nur um festzustellen, dass er sie kaum einen Fingerbreit bewegen konnte. Seit sie zusammen aufgebrochen waren, führten Raul und Wayland einen Dauerstreit darüber, wer von ihnen die tödlichere Waffe besaß. Raul bestand darauf, dass die Armbrust genauer und durchschlagskräftiger war, während Wayland – falls er sich zu einer Antwort herabließ – betonte, dass er in der Zeit, in der Raul einen Bolzen loswurde, sechs Pfeile abschießen konnte.

«Sandbank voraus», rief Wayland.

Sie hob sich aus dem Wasser wie der Rücken eines halb aufgetauchten Wals. Snorri lenkte das Schiff ein paar Grad nach Steuerbord, während Raul mit einer Spiere, die an der Spitze des Unterlieks befestigt war, das Segel spreizte, um möglichst viel Wind aufzunehmen.

Die Shearwater fuhr kaum langsamer, obwohl sie nun schräg auf den Feind zusegelten. Die Normannenschiffe setzten sich an die Spitze. Vallon sah die Landzungen an den Mündungsufern des Wash und wusste, dass die beiden Führungsschiffe der gegnerischen Flotte die Mündung als Erste erreichen würden. Selbst wenn die Shearwater ihrem ersten Angriff entkam, würden die Verzögerungen durch die Kursmanöver dazu führen, dass auch die beiden anderen normannischen Schiffe noch angreifen konnten. Das nächste Schiff fuhr nicht mehr als eine Viertelmeile entfernt auf Steuerbord, und die Shearwater hatte das Ende des Mare’s Tail noch immer nicht erreicht.

Vallon klopfte gedankenverloren mit dem Fuß auf den Boden. Sie waren noch nicht um die Sandbank herumgesegelt, und bis auf eines lagen die Normannenschiffe schon mit dem Heck vor ihnen. Der Nachzügler fuhr in solcher Nähe schräg zur Shearwater, dass Vallon Männer an Deck entlanggehen sehen konnte.

«Die Führungsschiffe reffen die Segelfläche!», rief Raul. «Sie warten auf die anderen.»

Vallon beobachtete die langsame Annäherung. Die beiden vordersten Normannenschiff bewegten sich voneinander weg, und die anderen fuhren auf die Lücke zu. Vallon ging zu Snorri hinüber. «Irgendwelche Einfälle?»

«Wir können nicht einfach durchbrechen. Die Schiffe sind genauso groß wie die Shearwater

«Freies Wasser voraus», rief Wayland.

«Es gibt einen Trick, den wir versuchen könnten», sagte Snorri. «Sobald wir um Mare’s Tail rum sind, drehen wir hart auf Backbord und versuchen, so schnell wie möglich in eine Fahrrinne zu kommen, die zur Nordspitze des Wash führt. Die Normannen können sich nicht in den Wind drehen. Sie müssen zuerst um die hintere Seite der Sandbank herumfahren.»

Die Shearwater glitt um das gekrümmte Ende der Sandbank. Vallon sah, dass der Kurs, den Snorri vorgeschlagen hatte, dicht am Rand der Bucht entlangführte.

«Wir müssen uns entscheiden», drängte Snorri.

«Dann mach’s.»

Snorri rief nach Raul und stemmte sich ins Ruder. In dem diffusen Licht entdeckten die Normannen den Kurswechsel nicht, oder vielleicht hielten sie ihn auch für eine Finte. Bis sie reagierten und anfingen, ihnen über die Buch zu folgen, segelte die Shearwater schon nordwärts, gegen den Wind.

Die beiden normannischen Führungsschiffe hatten immer noch den Vorteil, genügend Platz zum Steuern zu haben. Vallon dagegen befürchtete, als das Land immer näher an sie heranrückte, dass sie sich mit Snorris Schachzug in die Katastrophe manövriert haben könnten. Vor ihnen lag die Fahrrinne zwischen küstennahem Wattgebiet und einer schmalen Sandbarre. Eines der Normannenschiffe war ihnen keine halbe Meile entfernt auf den Fersen, während sein Schwesterschiff einen etwas meerseitiger gelegenen Kurs gewählt hatte. Sie hatten die Einmündung in die Fahrrinne beinahe erreicht. Wenn sie erst einmal hineingefahren waren, hätten sie sich festgelegt. Und dann würden sie, falls das normannische Schiff zuerst am anderen Ende ankam, unweigerlich abgefangen werden.

Die Shearwater nahm die landwärts gelegene Durchfahrt. Das Normannenschiff hielt sich mit etwa zweihundert Schritt Vorsprung auf der anderen Seite der Sandbarre. Vallon hörte den Kommandanten Befehle rufen. Auf der Shearwater herrschte Schweigen. Wayland hielt seinen Bogen gesenkt und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund.

«Ich glaube, wir holen auf», sagte Hero.

Minuten voller Anspannung vergingen, bevor Vallon zu glauben wagte, dass Hero recht hatte. Sie kamen auf gleiche Höhe, und die beiden Schiffe segelten neben der Sandbank hinauf, als wäre das eine der Schatten des anderen. Die Normannen drängten sich, Beleidigungen und Herausforderungen brüllend, an der Reling.

«Wir überholen sie!», rief Hero.

Auch die Soldaten drüben sahen es, und ihre herausfordernden Rufe wurden von ärgerlichem Gebrüll abgelöst. Auf der Seeseite hatten sie zwar mehr Wind, aber im Windschatten der Küste war die Shearwater dennoch das schnellere Schiff.

Schritt für Schritt vergrößerte die Shearwater ihren Vorsprung. Als sie aus der Fahrrinne glitt, war sie einen Pfeilschuss vor ihrem Verfolger und nur zwei Pfeilschüsse vom Ufer entfernt. Sie fuhren so dicht an der Küste entlang, dass Vallon Licht im Fenster einer Fischerkate sehen konnte.

Snorri tanzte vor Begeisterung. «Jetzt kriegen sie uns nicht mehr.»

Vallon ging nach achtern und streifte im Vorbeigehen allen seinen Männern über den Arm. «Gut gemacht», murmelte er. «Gut gemacht.»

Raul stieß die Faust in die Luft.

Sie fuhren aufs offene Meer hinaus. Vallon hielt so lange im Heck Ausschau, bis die normannischen Segel kaum noch zu erkennen waren. Dann erst drehte er sich um.

«Alle wegtreten. Schlagt euch die Bäuche voll und schlaft ein bisschen.» Er setzte sich auf eine Ruderbank. Als Wayland an ihm vorbeiging, hielt ihn Vallon am Ärmel fest. «Du nicht.»

Schweigend und mit herausfordernder Miene blieb Wayland vor ihm stehen. Sein Verhalten war unverzeihlich. Vallon hatte Männer schon wegen geringerer Vergehen aufhängen lassen. Er musste ein Exempel statuieren. Die Disziplin in dieser Truppe war weiß Gott auch so schon lax genug. Wenn er Waylands Insubordination unbestraft durchgehen ließ, würden das alle als Freibrief ansehen, zu tun, was ihnen gerade in den Sinn kam. Das war Vallon vollkommen klar, doch gleichzeitig war ihm bewusst, dass er es sich nicht leisten konnte, den Falkner zu verlieren. Dass ihn diese Tatsache bei der Wahl seiner Strafe einschränkte, machte ihn nur noch wütender.

«Du hast uns alle in Lebensgefahr gebracht, indem du zurück bist, um das Mädchen zu holen. Wenn wir nicht sowieso schon zu wenig Leute wären, hätte ich dich zurückgelassen, damit dich die Normannen töten.»

«Ich danke Euch, dass Ihr uns davor verschont habt. Wir beide danken Euch.»

«Lass gut sein. Aber das Mädchen kann nicht bleiben. Ein Schmusepüppchen hat keinen Platz auf diesem Schiff.»

Wayland saugte die Innenseiten seiner Wangen ein und starrte an Vallon vorbei.

«Wir setzten sie an Land, wenn wir das nächste Mal ans Ufer kommen.»

«Sie kann nirgendwohin. Ihre Familie ist tot.»

Vallon schlug mit der Faust auf die Reling. Wir sind kein Waisenheim. Das Mädchen muss gehen.»

Wayland schluckte und hob den Blick.

«Wenn dir etwas an ihr liegt, musst du doch selbst erkennen, dass es zu ihrem eigenen Besten ist. Denk doch einmal an all die Gefahren, die auf sie warten, wenn sie bleibt.»

«Sie fürchtet sich nicht vor der Reise. Ihr Vater war Fischer.»

«Ich spreche nicht von den Tücken der See. Mit einer Frau auf einem Schiff voller Männer ist Unheil vorprogrammiert. Du weißt doch, wie sich Raul benimmt, wenn er betrunken ist.»

«Raul würde es nicht wagen, sie anzurühren.»

«Siehst du? Jetzt denkst du schon darüber nach, dass es ihn vielleicht reizen könnte.» Vallon lehnte sich an die Reling. «Wir werden noch mehr Männer aufs Schiff holen, und ich kann in meiner Situation nicht wählerisch sein. Ganz bestimmt stehen wir am Ende mit mehr als einem niederträchtigen Mann da. Ich habe schon erlebt, welcher Wahnsinn unter Soldaten um sich greift, wenn man eine Frau zu ihnen lässt. Und ich habe genügend Opfer dieses Wahnsinns beerdigt, Gott ist mein Zeuge.»

«Der Hund tötet jeden, der ihr zu nahe kommt.»

«Und damit willst du mich beruhigen?»

Wayland verfiel in Schweigen.

«Außerdem ist da noch Snorri», sagte Vallon.

Wayland sah ihn an. «Was ist mit ihm?»

«Tu nicht so, als gäbe es kein böses Blut zwischen ihm und dem Mädchen. Mir ist sein Aberglaube völlig gleichgültig, aber wir hängen von ihm ab.»

Wayland lächelte verächtlich. «Er wird uns betrügen, ob das Mädchen dabei ist oder nicht.»

Vallon kniff die Augen zusammen. «Was willst du damit sagen?»

«Er ist nicht mehr ganz klar im Kopf. Er redet mit sich selbst und merkt es nicht mal. Er hat vor, uns auszurauben.»

Vallon rutschte auf seiner Bank herum. «Um dieses Problem kümmere ich mich zu gegebener Zeit.» Dann wurde sein Tonfall härter. «Es ändert nichts. Das Mädchen geht.»

Wayland sah auf seine Füße hinunter. «Es tut mir leid.»

Wieder sanfter sagte Vallon: «Ich bin sicher, dass du nur Gutes im Sinn hattest, und zum Glück hat uns deine Unbesonnenheit nicht den Tod gebracht. Wenn wir das Mädchen an Land bringen, werden wir es ausreichend versorgen. Das Geld wird von deinem Anteil des Gewinns abgezogen. Das wird deine Strafe sein, und du musst zugeben, dass sie milder ist, als du es verdienst.»

Wayland sah Vallon an. «Ich meinte, es tut mir leid, dass ich nicht in Euren Diensten bleiben kann.»

«Erzähl mir nicht, dass du mit ihr gehen willst.»

«Ihr habt gesagt, ich kann weg, sobald die Segel gesetzt sind.»

Vallon deutete zur Küste hinüber. «Dieses Mädchen hat dir den Verstand geraubt. Du stammst nicht aus dieser Gegend. Hier erwarten dich nur Armut und der Tod. Du bist ein Vogelfreier, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt wurde. Irgendwer wird dich verraten. Auch wenn du nicht an der Küste bleibst, hast du kein Land, um etwas anzubauen, und niemanden, der dich schützen kann. Im besten Fall endest du als Leibeigener hinter einem Pflug. Ist es wirklich das, was du willst?»

Wayland blitzte ihn an. «Ich finde einen Wald, in dem wir so gut leben wie nur irgendein Herr mit seiner Dame.»

«Unsinn. Als du in der Wildnis gelebt hast, warst du allein. Überleg dir einmal, was es wirklich bedeutet, dir ein Mädchen aufzubürden. Du bist erst … siebzehn … achtzehn? Viel zu jung, um dich zu binden.»

Darauf erwiderte Wayland nichts. Vallon hatte in einem heiseren Flüstern gesprochen, weil ihm klar war, dass Snorri versuchte, sie zu belauschen. «Unser Verhältnis war von Anfang an heikel. Du hast mir gegenüber nicht den angemessenen Respekt gezeigt. Ich spreche aus Erfahrung, nicht aus verletzter Eitelkeit. Jedes Vorhaben braucht einen Anführer. Von Anfang an hast du dich meinen Befehlen nur gefügt, wenn es dir gepasst hat. Ich hätte dich schon längst deiner eigenen Wege gehen lassen, wenn ich an dir nicht ein paar herausragende Eigenschaften entdeckt hätte. Du bist tapfer, einfallsreich und klug. Lerne, dich deinen Vorgesetzten unterzuordnen, und dir steht eine glänzende Zukunft offen.»

Wayland hielt den Blick gesenkt.

«Ich dachte, du willst Gerfalken fangen.»

Wayland hob den Kopf. «Das will ich auch. Deswegen bin ich mit Euch gekommen.»

«Dann vertu’ diese Gelegenheit nicht. Ein Mann kann nur einmal im Leben einen Traum wahr machen.»

Wayland antwortete mit erstickter Stimme. «Ich kann sie nicht aufgeben. Ich habe einen Schwur abgelegt.»

«Sie zu heiraten?»

«Das ist es nicht.»

«Was dann?»

Der Hund trabte über das Deck auf sie zu. Wayland gab ihm einen Klaps, und das Tier legte sich hin und fixierte Vallon mit seinem Blick. Vallon verschränkte die Arme.

«Das ist also dein letztes Wort. Wenn das Mädchen geht, gehst du auch.»

Wayland straffte sich. «Ja.»

Vallon stieß einen langgezogenen Seufzer aus und betrachtete die Silberspur, die der Mond aufs Wasser warf. Es war kein Land mehr in Sicht. Der Horizont war leer. Er rieb sich über die Stirn.

«Bring sie her.»

«Aber Ihr jagt ihr keine Angst ein!»

«Hol sie einfach.»

Als Wayland gegangen war, hielt sich Vallon vor Augen, wie tief er gesunken war. Noch zwei Jahre zuvor hatte er ganze Armeen kommandiert. Er hatte nur den Arm zu heben brauchen, um Schwadronen in Bewegung zu setzen. Er war an der Spitze seiner Truppen in Städte eingeritten, und die Einwohner hatten hinter geschlossenen Fensterläden vor ihm gezittert, weil sie wussten, dass er die Macht über Leben und Tod besaß. Er hatte Deserteure zum Tode verurteilt und Feiglinge zum Strick, ohne weiter darüber nachzudenken. Und nun musste er mit einem Bauern über sein Liebchen verhandeln.

Syth bewegte sich so leise, dass er sie nicht kommen hörte und erst aufsah, als ihr Schatten über ihn fiel. Sie war größer, als er gedacht hatte, gertenschlank, mit Katzenaugen, und sie hatte etwas seltsam Entrücktes an sich. Vallon war versucht, sie anzufassen, um zu prüfen, ob sie auch keine Erscheinung war.

«Du bist also die Taube, die meinen wilden Habicht weggelockt hat.»

Sie warf Wayland einen Blick zu.

«Wie heißt sie?»

«Syth.»

Vallon starrte aufs Meer hinaus. «Die Normannen wissen, dass wir noch in der Nähe sind. Sie werden an der gesamten Küste nach uns suchen. Wir können es noch mehrere Tage nicht riskieren, euch an Land zu setzen – Zeit genug für dich, um zur Vernunft zu kommen. Bis dahin muss sie sich das Haar abscheren und Männerkleidung tragen. Sie schläft allein und du hältst züchtigen Abstand zu ihr. Solange sie bei uns ist, soll sie ihren Unterhalt verdienen. Kann sie kochen und nähen? Hat sie sonst noch irgendwelche Fähigkeiten?»

Wayland übersetzte Vallons Bedingungen. Das Mädchen griff sich ins Haar.

«Sie wird keine Schwierigkeiten machen», sagte Wayland.

Vallon schickte sie mit einer Handbewegung fort. «Geht und nehmt euch etwas zu essen.»

Wayland zögerte. «Und was ist mit Euch, Herr?»

Vallon zog sich seinen Umhang enger um die Schultern. «Geht mir einfach aus den Augen.»