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XVI
Hero tastete sich im Dunkeln vorsichtig bis zum Bug. Er hatte während der Nacht mehrere Male nach Vallon gesehen, Schafspelze und Decken über ihn gelegt, als der Wind auffrischte. Nun stand er vor dem formlosen Deckenhaufen und räusperte sich. Als der Franke davon nicht aufwachte, beugte er sich hinunter und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter.
Vallon richtete sich jäh auf.
«Erschreckt nicht, Herr. Ich bin’s nur. Ich habe Euch etwas Gemüsesuppe gebracht. Esst sie, solange sie noch warm ist.»
Vallon tastete stöhnend nach seinen Rippen. «Ich fühle mich wie gerädert.» Er aß einen Löffel aus der Suppenschale, sein Blick wanderte von links nach rechts. «Wie spät ist es?»
«Bald wird es hell. Wir sind die ganze Nacht ostwärts gesegelt.»
Vallon grunzte und aß weiter. «Das schmeckt besser als der Schweinefraß von Raul.»
«Das Mädchen hat sie gekocht. Anscheinend ist sie wieder ganz auf dem Damm. Sie ist ziemlich merkwürdig.»
Vallons Suppenlöffel erstarrte auf halben Weg zu seinem Mund. Dann zuckte er mit den Schultern und aß weiter. «Haben alle einen Schlafplatz gefunden?»
«Recht und schlecht. Wenn es hell ist, können wir uns besser einrichten.»
Vallon gab die Schale zurück, lehnte sich an den Vordersteven und sah zu den Sternen hinauf.
Hero drehte die Schale in den Händen. «Glaubt Ihr, dass wir nun Ruhe vor Drogo haben?»
Vallon lachte rau. «Wir sind wie ein Knochen, der ihm im Hals steckengeblieben ist. Er wird keine Ruhe geben, bis er ihn ausgespuckt hat.» Vallon musterte Hero genau. «Du hast gehört, was er über mich gesagt hat.»
«Seine Beleidigungen interessieren mich nicht.»
«Er hat die reine Wahrheit gesagt.» Vallon rutschte ein Stück zur Seite. «Setz dich. Vor uns liegt ein langer Weg, und du sollst ruhig erfahren, was für ein Mann es ist, der euch dabei anführt.»
Hero zitterte. Vallon zog eine Decke über ihn. Eine Weile saßen sie nur so da, das Schiff schaukelte über die Wellen, Snorri stand im Halbschlaf am Ruder, die Übrigen lagen schlafend über das Deck verstreut.
«Ich werde dich nicht mit einer langen Geschichte ermüden», sagte Vallon. «Meine Familie stammte aus niederem Adel und besaß eine kleine Landschenkung von Wilhelm, dem Herzog von Aquitanien und Grafen von Poitiers. Ich war an seinem Hof Page und habe im Alter von siebzehn Jahren unter seiner Fahne in meiner ersten Schlacht gekämpft. Ich habe mich gut gehalten und bin aufgestiegen. Meine Beförderung zum Hauptmann, noch bevor ich zwanzig war, hat bei einigen Rittern von edlerer Geburt zu Verstimmungen geführt. Ich habe meinen Feldzug in Spanien vor neun Jahren angetreten, da war ich einundzwanzig.»
Hero musste seine Überraschung irgendwie verraten haben.
«Du hast mich für älter gehalten», sagte Vallon. «Du wirst gleich erfahren, was mir diese Falten ins Gesicht geätzt hat. Aber zunächst noch einmal zurück zu dem Feldzug in Spanien. Der Papst hatte zu einem Kreuzzug gegen die Mauren aufgerufen. Wilhelm war einer von mehreren Adligen aus dem Frankenreich, die dem Aufruf gefolgt sind. Nachdem wir uns mit unseren spanischen Verbündeten zusammengeschlossen hatten, belagerte unsere Armee die Stadt Barbastro im muslimischen Königreich Lerida. Nach vierzig Tagen eroberten sie die Stadt. Ihre Bewohner wurden niedergemetzelt oder versklavt. Ich selbst habe an diesem Blutvergießen nicht teilgenommen – aber nur, weil ich losgeschickt worden war, um einen möglichen Gegenangriff aus Saragossa abzuwehren. Der Herrscher dieses Staates war der Bruder des Königs von Lerida, Emir al-Muqtadir. Merk dir diesen Namen. In Barbastro endete der Kreuzzug. Diejenigen, die bei dem Angriff mitgekämpft hatten, kehrten mit Unmengen von Beute und Sklaven zurück. Ich dagegen kam um keinen Deut reicher nach Hause. Im Jahr darauf heiratete ich ein Mädchen, das ich seit meiner Kindheit kannte. Sie war fünf Jahre jünger als ich. Es war eine vorteilhafte Verbindung, weil meine Braut eine gute Aussteuer mitbrachte.»
«War sie schön?»
Vallon lehnte sich zurück, um Heros Gesicht sehen zu können. «Ja, das war sie.» Er hatte den Faden verloren. «Wie dem auch sei. Obwohl mir mein Einsatz in Spanien nichts einbrachte, hatte ich doch genug von dem Land gesehen, um zu wissen, dass es einem unvermögenden Ritter Chancen bot. Das maurische Reich hatte sich in zwanzig Kriegsparteien aufgesplittert. Ich erbat von Wilhelm von Aquitanien meinen Abschied, um als Söldner nach Spanien zurückzukehren. Auf seinen Vorschlag trat ich bei König Ferdinand von Kastilien und Léon in Dienst. Mein erster Einsatz unter Ferdinand war eine Strafexpedition gegen al-Muqtadir von Saragossa. Der Emir hatte Barbastro zurückerobert und die Garnisonsbesatzung aus Franken und Spaniern getötet. Bis zu diesem Zeitpunkt war er in Kastilien tributpflichtig gewesen. Ferdinand und Al-Muqtadir hatten sogar als Verbündete gegen die Widersacher Kastiliens gekämpft. Doch ermutigt von seinem Erfolg in Barbastro, brach der Emir die Beziehungen zu Kastilien ab. Unsere Strafexpedition hatte allerdings keinen Erfolg, und binnen eines Jahres war Ferdinand tot. Sein Reich wurde zwischen seinen drei Söhnen aufgeteilt, und ich habe meinen Treueid auf Ferdinands ältesten Sohn, Sancho II. von Kastilien, übertragen.
Zwei Jahre später belagerten wir Saragossa ein zweites Mal. Dieser Feldzug war ein Erfolg, und al-Muqtadir wollte Frieden, bezahlte ein hohes Lösegeld und musste sich durch Eid zu Tributzahlungen an Sancho verpflichten. Er war als Verbündeter sehr wichtig, denn zu dieser Zeit kämpfte Kastilien an drei Fronten zugleich – gegen Aragon im Osten und gegen Léon und Galicien im Westen und Norden.
Die nächsten drei Jahre kämpfte ich gegen Sanchos Feinde. Nach jeder Kampfsaison kehrte ich nach Aquitanien zurück. Meine Ehe war glücklich, und wir hatten drei Kinder. Das jüngste war noch nicht geboren, als ich meine letzte Reise nach Spanien antrat. Ich hatte einen Neffen des Herzogs von Aquitanien dabei, er hieß Roland. Wilhelm hatte mich gebeten, ihn unter meine Fittiche zu nehmen, damit er die Kriegskunst erlernte. Ich kannte ihn. Seine Besitzungen lagen einen Tagesritt von meinen entfernt, und er war häufig bei uns zu Besuch gewesen. Roland war neunzehn Jahre alt, ungewöhnlich schön, ein guter Sänger und Tänzer, jeder Zoll der vornehme Adlige. Kurz gesagt: Die Natur hatte ihn mit allen Talenten ausgestattet, die mir versagt geblieben waren.»
Vallon sah sich um. «Und außerdem war er heimtückisch und feige. Es hat eine Weile gedauert, bis ich seinen wahren Charakter erkannte. Mir gegenüber gab er sich charmant und respektvoll, aber hinter meinem Rücken spottete er über meine niedrigere Geburt und ließ sich über die Erniedrigung aus, unter meinem Kommando dienen zu müssen. Das Ereignis, das meinen Ruin nach sich zog, war banal. Sancho hatte erfahren, dass Emir al-Muqtadir das Friedensabkommen mit Kastilien brechen wollte. Ich wurde damit beauftragt, einen kleinen Aufklärungstrupp an die Grenze von Saragossa zu führen. Wir waren nur zu zwölft, einschließlich Roland und zweier seiner Freunde. Wir sollten feststellen, ob es Anzeichen dafür gab, dass der Emir einen Einmarsch plante. Aber wir sollten auf keinen Fall für Provokation sorgen.
Du kannst dir wahrscheinlich schon denken, was passiert ist. Gegen Ende eines ermüdenden Tages, an dem wir außer ein paar Schäfern keine Menschenseele gesehen hatten, kamen wir um eine Wegbiegung und überraschten zwei maurische Späher. Sie galoppierten sofort durch ein ausgetrocknetes Flussbett davon. Bevor ich ihn aufhalten konnte, machten sich Roland und seine Freunde an die Verfolgung. Ich rief ihnen nach, dass sie es lassen sollten. Ich rief, dass dies eine Falle sei. Aber sie reagierten nicht.
Darauf sind wir anderen ihnen hinterhergejagt, aber wir kamen zu spät. Weniger als eine Meile den Flusslauf hinunter war Roland auf einen Trupp maurischer Reitersoldaten getroffen. Seine Freunde hatten sie schon getötet, und er selbst lag auf den Knien und bettelte um Gnade. Der Feind war zu stark für uns. Die Mauren töteten meine gesamte Patrouille, mit Ausnahme von Roland und mir. Ihn verschonten sie, weil er der Neffe eines Herzogs war und ein hohes Lösegeld einbringen würde, und mich nur deshalb, weil mich einer der maurischen Offiziere wiedererkannte.
Wir wurden nach Aljafería, in den Sommerpalast des Emirs in Saragossa, gebracht. Al-Muqtadir kannte meinen Ruf – er wusste, dass ich in der Armee gekämpft hatte, von der die Untertanen seines Bruders in Barbastro massakriert worden waren. Er hatte keinen Grund, mir gegenüber Gnade walten zu lassen, es sei denn, es bestünde Aussicht auf ein Lösegeld. Allerdings konnte ich die hohen Forderungen nicht erfüllen, und ich wusste, dass Sancho sich nicht für einen Glücksritter – denn nichts anderes war ich – einsetzen würde, der in einem kritischen Augenblick ein wichtiges Friedensabkommen aufs Spiel setzte. Roland versicherte mir, dass sein Onkel und mein Herr, der Herzog von Aquitanien, beide Lösegelder bezahlen würde. Er schrieb selbst den Brief an ihn, der bald auf den Weg gebracht wurde. Den darauffolgenden Monat verbrachten wir gemeinsam in einer komfortablen Unterkunft im Palast. Dann wurde Roland eines Morgens in den Thronsaal des Emirs gerufen. Er kehrte vollkommen bestürzt zurück. Sein Lösegeld war eingetroffen, meines aber aus unerfindlichen Gründen nicht. Er schwor, dass er meine Freilassung bewirken oder aber zurückkehren werde, um mein Schicksal zu teilen.»
Mit monotoner Stimme fuhr Vallon fort. «Ein Monat verging. Zwei Monate. Eines Tages, nach vier Monaten der Gefangenschaft, kamen im Morgengrauen Wachsoldaten zu mir. Ohne ein Wort der Erklärung fesselten sie mich und warfen mich auf einen Karren. Wir verließen die Stadt in südliche Richtung, und um die Mittagszeit hatten wir mein neues Gefängnis erreicht. Der Ort hieß Cadrete – es war eine schroffe Festung auf einem steilen Hügel. Als wir durch das Tor fuhren, zogen mir die Männer der Eskorte eine Kapuze über den Kopf, sodass ich nichts mehr sehen konnte. Während sie mich zu meiner Zelle brachten, versuchte ich mir eine Vorstellung von der Festungsanlage zu machen. Zuerst führten sie mich auf einem ebenen, gepflasterten Boden bis weit in die Festung hinein. Ich ging neunzig Schritte, bis wir vor einer Tür stehen blieben, die mit einem Schloss und drei Riegeln gesichert war. Auf der anderen Seite gingen wir zwölf gemauerte Stufen hinunter. Dann blieben wir erneut stehen, und ich hörte, dass Lampen angezündet wurden und sich eine Falltür im Boden öffnete. Wachleute ließen eine Leiter durch die Falltür hinab. Dann führten sie mich zu der Leiter und befahlen mir hinunterzusteigen. Ich zählte achtundzwanzig Sprossen, bis ich den Boden erreichte. Dann nahmen mir die Wachen die Kapuze ab, stiegen die Leiter hinauf, zogen sie hinter sich nach oben, schlossen die Luke und ließen mich in völliger Dunkelheit zurück.» Vallon hielt inne. «Weißt du, was eine Oubliette ist?»
Hero erschauerte. «Ein Loch, in dem Gefangene dem Vergessen überlassen werden.»
«Es hatte die Form eines Bienenkorbs mit einer Falltür in der Decke zwanzig Fuß oberhalb des Bodens. Es gab keine andere Öffnung, und mein Wärter hielt die Falltür immer geschlossen, wenn er mir etwas zu essen brachte. Im Boden befand sich ein kleines Loch, das sich zu einer Grube erweiterte, die als Latrine und als Friedhof diente. Die Skelette ehemaliger Gefangener lagen verstreut in diesem Grab. Das habe ich an einem Abend gesehen, an dem mir mein Wärter meine Ration brachte. Seine Aufgabe bestand darin, mir einen Eimer mit Essen und einer Lampe herunterzulassen. Sobald ich gegessen hatte, zog der Wärter den Eimer und die Lampe wieder hinauf, sodass ich bis zum nächsten Tag wieder im Dunkeln saß. Ich gewöhnte mir an, möglichst langsam zu essen, um den Luxus dieses kleinen orangefarbenen Flämmchens länger genießen zu können. Einmal weigerte ich mich, die Lampe wieder nach oben zu schicken, und zur Strafe bekam ich tagelang nichts mehr zu essen und auch kein Licht. Wie viele Tage genau, kann ich nicht sagen. Abgesehen von dem täglichen Essensritual, hatte ich keine Möglichkeit festzustellen, wie die Zeit verging.»
«Dort habt Ihr Euch also mit der Ratte angefreundet», sagte Hero.
«Ich habe gern mit ihr gesprochen. Sie hatte so verlässliche Gewohnheiten, dass ich unruhig wurde, wenn sie zu spät kam. Ich machte mir Sorgen, dass sie gestorben sein könnte und ich vollkommen auf meine eigene Gesellschaft zurückgeworfen sein würde.»
«O Herr!»
Vallon richtete den Blick in unbestimmte Ferne. «Es ist mir gelungen, einen Steinsplitter von der Mauer zu lösen, mit dem ich dann einen Kalender in die Wand gekratzt habe. Die Wochen wurden zu Monaten. Mein Haar hing mir über den Rücken hinunter, und meine Fingernägel wurden zu Klauen. Außerdem plagten mich die Läuse.»
Hero kratzte sich unauffällig am Arm. «Ich wäre verrückt geworden. So etwas hätte ich nicht ausgehalten.»
«Ich war ein paarmal kurz davor, mich umzubringen. Noch heute frage ich mich, wie viele der Toten in der Grube sich selbst das Leben genommen hatten.» Vallon hielt inne und sprach dann entschlossen weiter. «Nachdem mir klargeworden war, dass ich aus Aquitanien keine Hilfe zu erwarten hatte, beschwor ich den Emir, bei König Sancho um Unterstützung für mich zu bitten und ihn daran zu erinnern, dass ich ihm und seinem Vater jahrelang treu gedient hatte. Nach etwa sieben Monaten der Haft brachte ein Diener des Emirs Sanchos Antwort. Der König hatte mir seine Gunst entzogen, ich stand nicht mehr unter seinem Schutz. Ihm war zugetragen worden, dass ich derjenige gewesen wäre, der in das Hoheitsgebiet des Emirs eingedrungen war. Roland hatte ihm den Verstand vergiftet.»
«Was für eine Schlange! Aber warum wurde sein Wort über Eures gestellt?»
«Roland war der Neffe des Herzogs. Seine Behauptungen würden immer mehr Gewicht haben als die eines Kommandeurs im mittleren Rang von bescheidener Herkunft. Vielleicht hatte sich Roland auch selbst davon überzeugt, dass seine Version der Geschichte stimmte. Ich habe gelernt, dass ein Mann, der andere betrügen will, zuerst sich selbst betrügen muss. Ich weiß bis heute nicht, wie er es angestellt hat. Ich hatte keine Zeit, es herauszufinden, als ich endlich entkam.»
«Aber Ihr seid entkommen. Dafür sei Gott gedankt.»
Vallon massierte sich die Rippen. «Ein weiterer Monat verging, und dann wurde mein Bewacher durch einen anderen ersetzt. Mein neuer Gefängniswärter war ein älterer Mann mit einer Schwäche für Wein. Er erfüllte seine Pflichten eher nachlässig und brachte mir meine Tagesration, wann immer es ihm passte. Einmal ließ er dabei die Falltür offen, und danach machte er sich nie mehr die Mühe, sie zu schließen. Warum auch sollte er sich diese Umstände machen? Die Falltür war für mich genauso unerreichbar wie der Himmel. Dieses Fehlverhalten gab mir Hoffnung. Die Kammer oben besaß ein Fenster, das genügend Licht hereinließ, um die Dunkelheit unten bei mir etwas zu erhellen. Dass eine Treppe von der Kammer zu einer verriegelten Tür führte, wusste ich schon. Mein Wärter ließ auch diese Tür oft aufstehen, wenn er mir meine karge Ration brachte. In dieser Zeit hörte ich manchmal, wie dort vor der Tür Säcke und Fässer auf Karren geladen wurden. Es war klar, dass der Raum dahinter eine Lagerhalle oder ein Warendepot sein musste, von dem aus man in den Hof der Festung kam.
Aber wie sollte ich es bis dorthin schaffen? Die Leiter war die einzige Möglichkeit, und meine Wärter hatten sie erst einmal herabgelassen, seit sie mich in mein Gefängnis gebracht hatten. Ich beschloss, die Nachlässigkeit meines Wärters zu testen. Als er mir das nächste Mal etwas zu essen brachte, tat ich so, als wäre ich krank. Aber er verhöhnte mich nur und verschwand. Am nächsten Tag gab ich vor, bewusstlos oder tot zu sein. Er war ein schludriger Wärter, aber doch nicht so pflichtvergessen, dass er die Leiter allein hinuntergestiegen wäre. Er rief zwei Soldaten zur Bewachung der Falltür, während er hinabkletterte, um nach mir zu sehen. Nach beinahe einem Jahr in diesem Kerker war ich so ausgemergelt, dass mein Wärter schnell zu der Überzeugung kam, ich würde bald den Skeletten in der Grube Gesellschaft leisten. Ich hatte sogar ein wenig Sorge, dass er mir selbst den Garaus machen und mich in das Grab werfen würde. Aber schließlich kletterte er wieder nach oben.
Ich sah ihm aus dem Augenwinkel nach. Er zog die Leiter hinauf. Ich war sicher, dass er – weil die beiden anderen Soldaten dabei waren – die Falltür schließen würde. Doch er tat es nicht. Erst ließ er das Ende der Leiter über der Öffnung liegen, dann schob er es mit dem Fuß ein Stückchen weg. Ich wusste, dass das Leiterende höchstens einen Fuß oder zwei vom Rand der Öffnung entfernt lag.
Ich erkläre besser, was das für eine Leiter war. Sie war ungefähr fünfundzwanzig Fuß lang und hatte eine vierkantige Mittelstrebe von etwa sechs oder sieben Zoll Dicke. Die Mittelstrebe besaß Bohrlöcher, durch die man die Sprossen geschoben hatte. Sobald ich gehört hatte, wie an der äußeren Tür die Riegel vorgelegt worden waren, machte ich mich daran, mit einem Steinsplitter meine Decken in Streifen zu schneiden. Ich brauchte bis weit nach der Mittagszeit, um ein Seil zusammenzuknoten, das lang genug war, um bis zu der Falltür und etwas darüber hinauszureichen. An einem Ende dieses Seils knotete ich den Stein an.»
«Ihr hattet vor, das Seil in der Leiter zu verhaken und sie herunterzuziehen», sagte Hero.
«Nicht ganz. Die Leiter war schwer und die Öffnung zu klein, um sie hineinzuziehen. Das Beste, was ich erhoffen konnte, war, dass es mir gelänge, die Leiter über die Öffnung zu ziehen, um sie als Balken benutzen zu können. Ich versuchte es mindestens hundertmal. Die meisten Würfe verfehlten die Öffnung ganz, und manchmal traf mich das beschwerte Ende beim Herunterfallen. Denk daran, wie schwach ich war und dass ich im Halbdunkel stehend eine Öffnung von höchstens zwei Fuß Durchmesser zu treffen versuchte. Ein paar wenige Male traf der Stein die Leiter, doch nur, um an dem Holz abzuprallen. Nur einmal verhakte er sich, löste sich aber sofort wieder, als ich zu ziehen begann. Mein Nacken und mein Rücken schmerzten von der Anstrengung. Ich war beinahe froh, als es Nacht wurde und ich nicht weitermachen konnte. Ich ließ mich völlig erschöpft mit dem Rücken an einer Wand in die Hocke gleiten. Ich hatte zwei Tage lang nichts gegessen, und ich fror jämmerlich. Sommer oder Winter, in meiner Zelle war es kalt wie in einem Grab. In der Nacht wachte ich ständig in der Überzeugung auf, dass dies auch meine letzte Nacht wäre, und irgendwann überkam mich eine Art Frieden. Das Ende war nahe, und ich freute mich beinahe darauf. In dieser resignierten Stimmung wachte ich am Morgen auf und sah, wie die Helligkeit die Umrisse der Öffnung über mir hervortreten ließ.»
Vallon zuckte mit den Schultern. «Ich kann mich nicht einmal mehr an meinen letzten Wurf erinnern. Aber als ich danach an dem Seil zog, hielt es. Ich zerrte daran, um es von der Leiter zu lösen, und dieser falschen Hoffnung ein rasches Ende zu bereiten. Es hielt. Ich hängte mich mit meinem ganzen Gewicht daran. Die Leiter verrutschte ein Stück und rührte sich dann nicht mehr. Sie hatte sich an der Falltür verklemmt. Als sich das Seil nicht und nicht lösen wollte, ging ich zur Zellenwand zurück, hockte mich auf den Boden, und starrte an dem Seil hinauf. Jetzt, wo meine Chance gekommen war, wagte ich nicht, sie wahrzunehmen.
Es war schon später Vormittag, als ich mich dazu zwang, das Seil fest zu packen. Bei meinem ersten Versuch kam ich kaum vom Boden hoch, bevor ich wieder abrutschte. Ich versuchte es erneut, rutschte erneut zurück. Ich wurde wütend auf mich selbst. Jeder Moment, den ich vergeudete, war ein Moment weniger, bevor mein Wärter auftauchen würde. Ich betete mir vor, dass sich eine solche Chance kein zweites Mal ergeben würde. Dass ich, wenn ich jetzt nicht entkam, in ein paar Tagen tot wäre. Erneut packte ich das Seil, und es gelang mir, zwei oder drei Fuß daran hochzuklettern, bevor mich die Kräfte verließen. Da hing ich und stützte mich mit den Füßen auf einen Knoten, bis ich mich genügend erholt hatte, um weiterzumachen. Und auf diese Art, Zoll für Zoll und Fuß um Fuß, kam ich bis nach oben zu der Öffnung.»
Hero klatschte in die Hände.
«Ich kroch in die Kammer. Sie wurde von einem schmalen Fenster hoch oben in der Wand erhellt. Ich ging die Treppe zu der Tür hinauf. Sie war abgeschlossen und verriegelt. Als ich mein Ohr an die Tür legte, hörte ich nichts. Also wartete ich einfach auf der obersten Stufe ab und war beinahe eingeschlafen, als sich der Schlüssel im Schloss drehte. Schnell versteckte ich mich in dem Winkel hinter der Tür. Mein Wärter schob die Riegel zurück und kam herein.»
«Ihr habt ihn getötet.»
«Es ging schnell – schneller als der Tod, der ihn von der Hand des Emirs erwartet hätte. Ich nahm sein Schwert und sein Messer, stieß seine Leiche in meine Zelle und klappte die Falltür zu. Dann ging ich hinaus und schloss die Tür hinter mir ab.
Ich befand mich in einem Lagerhaus voller Wein, Mais und Öl. Am anderen Ende stand in einer schweren Doppeltür eine Luke aus Flechtwerk halb offen. Ich hatte beinahe ein Jahr lang die Sonne nicht gesehen, und das Licht blendete mich. Als ich wieder etwas sah, stellte ich fest, dass auf dem Festungshof lebhaftes Treiben herrschte. Es war ein wolkenloser Morgen. Ich dachte, es wäre Anfang September, in Wahrheit aber hatten wir schon fast Oktober.
Zwei Bauern mit Maultieren gingen auf die Doppeltür zu. Hinter dem Eingang stand ein Karren, der mit Weinfässern beladen war. Ich klopfte auf die Dauben und entdeckte, dass die Fässer leer waren. Mir blieb gerade noch genug Zeit, um in ein Fass zu steigen und den Deckel über mich zu ziehen, bevor die Fuhrmänner hereinkamen.
Sie hatten es anscheinend überhaupt nicht eilig, doch irgendwann hörte ich endlich, dass sie die Maultiere anschirrten. Bevor sie damit fertig waren, kam ein Soldat herein. ‹Ist Yasin bei dem Franken?›, fragte er und bezog sich damit auf meinen Wärter. Ich hörte die Antwort nicht, aber es musste eine gegeben haben, weil der Soldat sagte: ‹Komisch. Ich habe ihn nach dem Morgengebet auf dem Weg hierher gesehen.› Dann hörte ich ihn durch das Lagerhaus gehen. Darauf folgte eine schreckliche Stille, die – da war ich sicher – gleich von Alarmrufen unterbrochen werden würde. Stattdessen aber hörte ich den Soldaten zurückkommen. ‹Wenn er auftaucht, sagt ihm, dass der Hauptmann ihn sprechen will.›
Darauf folgte die schönste aller Antworten. ‹Wir brechen gerade auf›, sagte einer der Fuhrmänner. ‹Wir wären schon längst weg, wenn unser Begleitschutz pünktlich wäre.› Also überstand ich gezwungenermaßen noch eine Wartezeit, bis dieser Mann auftauchte. Er war beritten. Die Fuhrmänner kletterten auf den Karren und fuhren damit in den Hof. Am Festungstor hielten sie an, und ein Wachmann fragte sie nach ihrem Ziel.
‹Wir holen Wein aus Peñaflor›, sagte der berittene Begleitschutz. Ich kannte diesen Ort. Es ist ein Dorf etwa zehn Meilen nördlich von Saragossa.
Der Karren setzte sich den Festungshügel hinunter in Bewegung. Als wir ein gutes Stück geschafft hatten, hob ich den Deckel meines Fasses an und spähte vorsichtig durch den Spalt. Es war aussichtslos, einfach weglaufen zu wollen. Die Straße war sehr belebt, und ich war so schwach, dass mich der Begleitschutz nach ein paar Schritten eingeholt hätte. Wir fuhren durch Saragossa und wandten uns nordwärts. Ich war sicher, dass die Mauren meine Flucht inzwischen bemerkt haben mussten. Die Wachen würden bald genug darauf kommen, wie ich aus der Festung geflohen war, und Reiter würden die Verfolgung aufnehmen. Jede Meile, die wir so voranzockelten, erhöhte für mich die Gefahr. Doch obwohl es auf der Straße jetzt ruhig zuging, war ich durch das Kauern in dem engen Fass so steif geworden, dass ich es nicht wagte, hinauszuklettern.
Schließlich hielten wir an. Ich hört die Fuhrmänner etwas rufen und vom Karren steigen. Kurz darauf brachte ein Kind Futter und Wasser für die Maultiere. Dann wurde alles still. Ich drückte den Deckel auf. Es war inzwischen später Nachmittag, und mein erster Anblick war ein Hügel mit Rebterrassen. In der anderen Richtung lag ein Bauernhaus, vor dem das Pferd des Mannes vom Begleitschutz angebunden worden war. Zwei Kinder spielten im Staub. Dann rief eine Frau nach ihnen, und die Kinder rannten ins Haus. Ich stieg unbeholfen aus dem Fass. Meine Beine waren eingeschlafen, und ich polterte wie ein Holzklotz von dem Karren. Dann schleppte ich mich in den Weinberg. Als ich wieder stehen konnte, ohne dass meine Beine jeden Moment unter mir nachgeben wollten, ging ich langsam den Hügel hinauf.»
Hero sah, wie Vallon der Kopf auf die Brust sank. Er schien eingeschlafen zu sein. Hero berührte ihn am Arm, und Vallon hob den Kopf wieder. Er sah alt aus.
«Viel gibt es nicht mehr zu erzählen. Ich habe mich am Sonnenstand orientiert und bin, bevorzugt nachts, Richtung Norden gezogen. Ich habe keinerlei Anzeichen für eine Verfolgung entdeckt. Ich hatte keine Schuhe, und spitze Steine schnitten mir die Fußsohlen auf. Ich war kurz vorm Verhungern. Einmal bin ich in einen Hühnerstall eingebrochen und habe ein paar Eier gestohlen. Auch als ich die Grenze nach Aragon überschritten hatte und auf eine spanische Patrouille traf, war ich noch nicht in Sicherheit. Aragon lag mit Kastilien im Krieg, also tat ich so, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. Ich war in einem so verlausten und heruntergekommenen Zustand, dass die Soldaten nichts mit mir zu tun haben wollten und mich mit einer Brotrinde und ein paar Münzen weiterschickten. Irgendwie gelang es mir, die Pyrenäen zu überqueren.»
Hero warf Vallon einen Blick zu, sah aber schnell wieder weg. «Ihr seid nach Hause gegangen.»
Vallon strich sich über den Mund, als hätte eine Spinne ihr Netz darüber gewebt. «Bei jedem einzelnen Schritt dieses Weges habe ich von meiner Ankunft dort geträumt. Die Trauben wären bald reif, die Bienen würden über den Lavendel summen. Ich würde das Tor aufdrücken und den Pfad hinaufgehen, durch die Tür treten und aus der Wohnhalle die Stimmen meiner Frau und meiner Kinder hören. Ich würde eintreten, und meine Frau würde von ihrer Nadelarbeit aufsehen, und das Feuer würde einen warmen Schein auf ihr Gesicht werfen. Im ersten Augenblick würde sie mich nicht erkennen, dann würde das Erschrecken langsam aufkeimender Hoffnung weichen, und sie würde aufstehen und sich über den Rock streichen und einen Schritt auf mich zu machen, als hätte sie einen Geist vor sich.»
Vallon lachte bitter in sich hinein. «Ich bin mitten in der Nacht zu Hause angekommen, ein Unwetter zog auf. Blitze hoben die Gebäudemauern aus der Dunkelheit. Wie ein Dieb ging ich auf mein Haus zu. Die Türen und Fenster waren verriegelt, die Läden geschlossen, alle schliefen. Ich drückte ein Fenster auf und stieg ein. Das Unwetter kam näher. Ich ging in die Eingangshalle. Ein Blitz erleuchtete mir ein Schwert, das auf einem Kasten lag. Es war mein Schwert, das ich dem Emir von Saragossa hatte übergeben müssen. Ich nahm es und ging die Treppe hinauf zum Zimmer meiner Frau.
Ich öffnete die Tür. Inzwischen war das Unwetter direkt über dem Haus. Grelle Blitze enthüllten mir, dass meine Frau neben einem Mann lag. Die Wolken rissen auf, und Regentropfen von Traubengröße klatschten aufs Dach. Ich öffnete die Läden und atmete den staubigen Geruch von Regen ein, der auf ausgedörrte Erde fällt. Ich wusste, dass ich mein Haus niemals mehr wiedersehen würde.»
Vallons Gesicht hatte sich zu einem starren Lächeln verzogen.
«Ich stand da und wartete. Mit dem Regen kam der Wind und rüttelte an den Fensterläden. Mit einem Ruck wachte Roland auf. Es donnerte, und der Blitz erfüllte den Raum mit bläulichem Licht. Roland fuhr hoch. ‹Wer ist da?›, rief er.»
Hero griff sich an die Kehle.
«Ich antwortete nicht. Meine Frau erwachte ebenfalls und klammerte sich an ihren Liebhaber. Ich wartete auf den nächsten Blitz, und das war das Letzte, was sie sahen. Ich habe sie nicht lange leiden lassen. Ich habe ihr Leben mit zwei Hieben beendet.»
Hero schwieg eine Weile. Dann sagte er: «Und Eure Kinder?»
«Ich wollte auch sie töten.» Vallon sah Hero ins Gesicht. «Die Ehre verloren, die Zukunft verloren, alles verloren. Was hättest du getan?»
Hero schüttelte den Kopf.
«Ich bin ins Kinderzimmer gegangen. Das Unwetter hatte sie geweckt, und ihre alte Kinderfrau beruhigte sie. Meinen Sohn, der noch nicht geboren war, als ich nach Spanien aufbrach, hielt sie in den Armen. Nicht einmal meine älteste Tochter wusste, wer ich war, und schrie vor Angst. Ihre Kinderfrau war auch meine gewesen, und sie war es, die in dem blutbespritzten Dämon ihren Herrn erkannte. Sie zog die Kinder an sich und flehte um Gnade. Sie schwor, dass meine Frau geglaubt hatte, ich wäre tot. Roland hatte ihr erzählt, ich wäre im Kampf verletzt worden und in der Gefangenschaft gestorben. Er selbst hätte bei meiner Bestattung geholfen. Ich vermute, er hatte den Emir bestochen, damit er mich tötet, aber der alte Fuchs hatte es wohl vorgezogen, mich lebendig zu begraben, für den Fall, dass ich ihm in Zukunft noch einmal zu irgendetwas nütze sein könnte. Die Kinderfrau erzählte mir, wie Roland angefangen hatte, meine Frau zu besuchen, um sie in ihrem Kummer zu trösten. Die Freundschaft vertiefte sich und … Ach, wen kümmert das? Ich habe meinen Kindern nichts getan, habe ein Pferd und meine Rüstung genommen und bin weggeritten. Richtung Osten, um über die Grenze nach Italien zu kommen. Drei Wochen später habe ich dich und deinen einäugigen Meister getroffen.»
Hero zupfte am Stoff seiner Kniehose. «Wenn Ihr gewusst hättet, dass Roland Eure Frau getäuscht hat, hättet Ihr sie dann verschont?»
«Nein. Natürlich nicht.»
«Habt Ihr sie geliebt?»
«Was hat das damit zu tun?»
Hero bemerkte, dass sich die Morgendämmerung ankündigte. «Wie hieß sie?»
Vallon schüttelte den Kopf. «Das ist gleichgültig.»