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XVII
Als Wayland frierend und mit einem flauen Gefühl im Magen aufwachte, kroch gerade die trübe, graue Dämmerung über den Himmel. Er blieb liegen, lauschte auf den Wind, der klagend durch die Wanten fuhr, und hörte, wie sich jemand übergab. In seine Decke gehüllt stellte er sich an die Reling und blinzelte auf die endlosen weißen Schaumkronen hinunter. Nirgendwo war ein Segel oder Land in Sicht. Sie segelten immer noch auf Nordwestkurs, durchpflügten unruhige Wellen und peitschenden Regen. Bei dem Gestank nach Talg und Teer und Erbrochenem hob sich sein Magen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er klammerte sich mit beiden Händen an die oberste Seitenplanke und erbrach sich über die Reling. Als der Würgereiz nachgelassen hatte, lehnte er sich ans Dollbord und sah sich nach dem zweiten Opfer der Seekrankheit um. Es war Vallon, der sich über die Reling krümmte.
Mit Ausnahme von Snorri und Syth hatten sie alle einen elenden Tag vor sich. Syth war auf Segelbooten mitgefahren, seit sie laufen konnte und flitzte so unbekümmert auf dem Schiff herum wie eine Lerche über den Himmel. Trotz der Übelkeit schonte sich Vallon nicht, und er erlaubte auch den anderen nicht, sich vor ihren Aufgaben zu drücken. Zwischen manchen Plankenverbindungen hatten sich während der Zeit, in der das Schiff an Land lag, Trockenheitsfugen gebildet, und Wayland wurde damit beauftragt, den Laderaum auszuschöpfen und geteerte Wolle in die Holzspalten zu hämmern. Er lud Ballast um, damit die Trimmung verbessert wurde, und half, die Takelung nachzuspannen. Auf Vallons Anweisung hin unterrichteten Raul und Snorri die anderen in den Grundlagen der Seefahrt. Wayland erlernte die notwendigen Handgriffe zum Reffen und Absenken des Segels und den Einsatz des Wendebaums, um das Segel gebläht zu halten, wenn hart am Wind gesegelt wurde.
Als es Abend wurde, war er immer noch seekrank und suchte sich, ohne etwas zu essen und ohne seine nasse Kleidung zu wechseln, mittschiffs einen Schlafplatz. Nur durch die Körperwärme des Hundes an seiner Seite fand er in den Schlaf. Irgendwann wachte er zitternd vor Kälte unter einem klaren Himmel voller Sterne auf. Der Wind hatte gedreht und brachte eiskalte Luft aus dem Osten. Der Hund lag nicht mehr neben ihm. Wayland setzte sich auf und piff leise.
«Er ist hier unten bei mir.»
Wayland ging zum Rand des Landeraums. Syth war das Halbdeck auf der Achterseite als Schlafplatz zugewiesen worden. Ihre Augen glänzten hell im Sternenlicht.
Sie kicherte. «Er wollte ein warmes Plätzchen haben.»
«Es ist gut. Er kann bei dir bleiben.»
«Du zitterst. Warum kommst du nicht auch herunter? Ich möchte mit dir reden.»
Wayland warf einen Blick über die Schulter. «Nein, da unten wird mir wieder schlecht.»
Syth gähnte. «Armer Wayland. Dann gute Nacht.»
Doch die Nacht war noch lang. Was sollte er wegen Syth unternehmen? Das Problem schien sich wie ein Widerhaken in seinem Inneren zu verfangen. Natürlich konnte sie bei dieser gefährlichen Reise nicht mitfahren, aber was bedeutete das für ihn selbst? Auf keinen Fall wollte er zusammen mit einem Mädchen, das er kaum kannte, an einer fremden Küste festsitzen. Er wand sich ein bisschen, als er an das lächerliche Ultimatum dachte, das er Vallon gestellt hatte. Und was er von einem Schwur gefaselt hatte. Er hatte keinerlei Schwur geleistet. Er hatte einfach an seine Schwester gedacht – und Syth war nicht seine Schwester.
Er betrachtete die Sterne, und ihm wurde klar, dass er sie zurücklassen musste. Als er gedroht hatte, die Expedition zu verlassen, hatte er französisch gesprochen. Syth konnte ihn nicht verstanden haben, also konnte sie auch nicht den Eindruck haben, er würde sein Wort brechen. Sie musste verstehen, dass auf diesem Schiff kein Platz für sie war. Es wäre gefühllos, sie dazubehalten. Er hatte sein Leben riskiert, um sie vor den Normannen zu retten. Mehr konnte sie nicht erwarten. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr näherte er sich Vallons Standpunkt an. Sie mussten das Mädchen bei der ersten Gelegenheit an Land setzen.
Sobald er zu diesem Entschluss gekommen war, wickelte sich Wayland in seine Decke und rollte sich zum Schlafen auf die Seite.
Als er am nächsten Tag aufwachte, fühlte er sich wie neugeboren. Vallon hatte ihn lange schlafen lassen, die Sonne war schon auf gleicher Höhe mit der Rah und schien warm auf sein Gesicht. Seine Übelkeit war verschwunden, sein Kopf klar. Er setzte sich auf. In der spritzenden Gischt über dem Bug flimmerten die Farben des Regenbogens. Wasser rauschte am Schiffskörper entlang. Er sah, wie sich das Deck bog, als die Shearwater über eine Woge in ein Wellental glitt. Wie Snorri gesagt hatte, war das Schiff beinahe wie ein lebendiges Wesen. Wayland stand auf und lehnte sich an den Vordersteven aus dem Holz einer Eiche, die sein Großvater berührt haben konnte. Eine Schule Delfine begleitete sie, manche Tiere sprangen trudelnd und Tropfenkaskaden schleudernd vor dem Bug aus dem Wasser, und zwei ließen sich von der Bugwelle mittragen.
Er hörte Schritte auf dem Deck. Als er sich umdrehte, erstarb sein Lächeln. Syth kam mit einer Schale Brei zügig auf ihn zu. All ihre eiligen Gänge erledigte sie barfuß und beinahe lautlos. Sie hatte sich ungeschickt die Haare abgeschnitten, was ihre mädchenhaften Züge nur noch mehr zur Geltung brachte. Die Männerkleidung, die sie trug, konnte niemanden täuschen.
Wayland nahm die Schale entgegen. Syth ermunterte ihn mit einer Kopfbewegung zum Essen. Er wappnete sich.
«Wir gehen in ein oder zwei Tagen an Land.»
Ihr Mund war leicht geöffnet, und sie sah ihn mit ihren großen Augen forschend an. Sie wirkte wie ein Kind, das alles richtig machen will.
«Du wirst an Land gehen.»
«Mit dir?»
«Nein, natürlich nicht. Ich fahre nach Island.»
Entsetzen trat in ihren Blick. Sie wich ein paar Schritte zurück. Der Hund stand neben ihr und starrte Wayland an.
«Wir geben dir Geld. Du musst nicht ins Marschland zurück. Du könntest nach Norwich.»
«Ich will nicht nach Norwich. Ich will bei dir bleiben.»
«Das geht nicht. Wir werden monatelang unterwegs sein. Stell dir vor, mit lauter fremden Männern auf einem Schiff zusammengepfercht zu sein.»
Syth warf einen Blick über das Deck. «Das stört mich nicht.»
«Aber mich.»
Ihre Lippen zitterten. «Ich dachte, du magst mich. Warum sonst hast du mich gerettet?»
«Weil dich sonst die Normannen getötet hätten. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich für immer um dich kümmern muss. Und es liegt nicht nur an mir. Alle wollen dich vom Schiff haben. Du bist uns im Weg. Du störst uns.»
«Und womit?»
Wayland fuhr auf. «Mit deiner Art zu singen, ohne dass es dir überhaupt bewusst ist. Das macht mich verrückt.»
«Raul hat gesagt, es gefällt ihm. Es erinnert ihn an zu Hause.»
«Und wie du über Sachen lachst, die überhaupt nicht lustig sind.»
«Was denn zum Beispiel?»
«Zum Beispiel gestern, als Vallon geübt hat, wie man die Rah herunterlässt und sie herumgeschwungen ist und ihn zu Boden geworfen hat.»
«Das war lustig.»
«Nein, war es nicht. Er hatte sich gerade die Seele aus dem Leib gekotzt. Man lacht nicht über den Hauptmann.»
Syth sah auf ihre bloßen Füße hinunter Sie wackelte mit den Zehen. «Es tut mir leid. Ich werde nicht mehr singen oder lachen.»
Wayland schluckte. «Das ändert nichts. Du gehst.»
Syths Gesicht verzog sich, dann wirbelte sich herum und floh zusammen mit dem Hund. Alle hatten mit der Arbeit aufgehört und zugesehen. Vallon rief sie zu ihren Pflichten zurück. Wayland drehte sich um und klammerte sich an den Vordersteven. In seiner Brust breitete sich ein schmerzhafter Druck aus.
«Zurück zu Wasser und Brot», sagte Vallon und warf die Abfälle einer kalten und kargen Mahlzeit über Bord. Syth hatte sich mit dem Hund in den Laderaum zurückgezogen und war seit ihrem Auftritt mit Wayland nicht mehr gesehen worden.
Vallon betrachtete seine Gefährten. Bis auf Snorri, der allein am Ruder aß, waren sie alle um ihn versammelt. «Morgen versuchen wir, noch ein paar Männer zu finden. Snorri glaubt, dass wir spätestens bei Tagesanbruch in Küstennähe sind. Wenn dieser Wind anhält, werden wir irgendwo im Mündungsgebiet des Humbers ankommen.»
«Und dort wird uns Drogo erwarten», sagte Raul. «Er hat bestimmt an der gesamten Küste Späher aufgestellt.»
Vallon nickte. «Er weiß, dass wir es nicht riskieren können, in einen Hafen einzulaufen. Er wird sich denken, dass wir versuchen werden, in Fischerdörfern eine Mannschaft zusammenzubekommen, also setzt er in den größeren Dörfern Wachen ein und zu den kleineren schickt er regelmäßig Kundschafter. Am besten versuchen wir es also in einer Siedlung etwas weiter im Landesinneren. Snorri kennt ein paar geeignete Dörfer südlich des Humbers. Wir schleichen uns hin, bevor es hell wird.» Vallon sah Wayland und Raul an. «Glaubt ihr beiden, dass ihr das zu zweit schafft?»
Raul schabte mit dem Fingernagel ein Stück Knorpel zwischen seinen Zähnen heraus. «Wir sollen sie uns also einfach schnappen.»
«Ich glaube nicht, dass ihr Freiwillige finden werdet.»
Die Shearwater rollte in der abnehmenden Dünung etwa eine Meile vor der Küste. Möwen kreisten über ihr durch die Dunkelheit. England war unter dem Sternenhimmel zu einer länglichen schwarzen Masse geschrumpft. Eine Lücke in der Küstenlinie zeigte das Mündungsgebiet des Humbers an. Wayland konnte das Ende einer Landzunge erkennen, die sich am nördlichen Ufer erstreckte.
«Das Dorf liegt etwa eine Meile landeinwärts», murmelte Snorri. «Die Bauern gehen schon vor Sonnenaufgang auf die Felder.»
Vallon drehte sich um. «Seid ihr bereit?»
Wayland nickte, ihm wurde die Kehle eng.
«Geht keine Risiken ein. Wir können es genauso gut ein anderes Mal versuchen. Wir bleiben so lange wie möglich in der Nähe. Wenn ihr heute Abend nicht zurück seid, gehe ich davon aus, dass man euch gefangen genommen hat.»
Wayland und Raul wechselten einen Blick und nahmen ihre Waffen.
Snorri grabschte nach Waylands Arm. «Vergiss das Mädchen nicht.»
Wayland sah nach achtern. Syth war aus dem Laderaum aufgetaucht und stand mit dem Hund auf dem Achterdeck.
Vallon tastete nach seiner Börse. «Gib ihr das mit.»
Wayland starrte die Münzen an.
«Du hast zu mir gesagt, du hättest die Sache geklärt», sagte Vallon.
«Das habe ich auch. Ich meine, ich dachte, ich hätte sie geklärt.»
Syth biss sich auf die Fingerknöchel. Der Hund saß aufrecht und angespannt neben ihr.
«Worauf wartest du dann noch?»
«Sie will nicht gehen.»
«Was sie will, ist unerheblich. Du hast dich entschieden.»
«Ich habe gedacht …»
«Es ist zu spät, um noch länger zu überlegen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Hol sie.»
Wayland drehte den Kopf weg. Vallon biss die Zähne zusammen, sodass die Kieferknochen hervortraten. «Raul, setz das Mädchen in das Boot.»
Raul warf einen Seitenblick auf Wayland. «Hauptmann …»
«Raul», sagte Vallon ganz leise. «Hol das Mädchen.»
Ohne Wayland noch einmal anzusehen, ging Raul auf Syth zu. Noch bevor er drei Schritte getan hatte, war der Hund auf den Beinen, und ein lautes Knurren ließ seinen Körper erbeben. Raul blieb stehen. «Das riskiere ich nicht, Hauptmann. Nur Wayland kann sich zu dem Hund wagen, wenn das Vieh in dieser Stimmung ist.»
Vallon murmelte eine Obszönität, zog sein Schwert, und ging über das Deck. Der Hund machte einen Satz nach vorn. Speichelfäden hingen von seinen Lefzen herab.
«Nicht!», rief Wayland.
Vallon blickte sich zu ihm um, das Gesicht rot vor Zorn. «Hol das Mädchen, oder ich tue es.»
«Das ist nicht gut. Ich kann sie nicht verlassen. Ich wollte es, aber ich kann es nicht.»
«Gott im Himmel. Wenn du dir wirklich etwas aus ihr machen würdest, müsstest du der Erste sein, der sie an Land bringen will.»
«Ich weiß. Ich kann es nicht erklären.»
Schwer atmend ging Vallon auf ihn zu. «Also sind wir wieder dort, wo wir angefangen haben. Wenn das Mädchen geht, gehst du auch.»
«Ich will nicht gehen.»
Vallons Atmung normalisierte sich wieder, und der Zorn wich aus seiner Miene. Er warf einen Blick zu den verblassenden Sternen hinauf und steckte sein Schwert in die Scheide. «Es wird bald hell. Ihr holt jetzt besser die Leute.»
Wayland trat einen Schritt auf ihn zu. «Heißt das …»
«Geht!»
Snorri hastete auf Vallon zu. «Aber Ihr habt’s versprochen!»
Der Hauptmann schob ihn zur Seite. Raul packte Wayland am Ärmel.
Sie sprangen ins Beiboot. Als Raul die Leine losmachte, landete der Hund ebenfalls im Boot. Sie begannen ans Ufer zu rudern. Als er sich umdrehte, sah Wayland am Bug Syth. Sie schickte ihm ein überwältigendes Lächeln und ein begeistertes kleines Winken hinterher.
Knirschend lief ihr Boot auf den Kiesstrand, und sie zogen es über die Flutlinie aus getrocknetem Seetang. Nach drei Tagen auf See war Waylands Gang beunruhigend schwankend. Sie konnten gerade noch den Umriss der Knarr erkennen. Er befahl dem Hund, auf das Boot aufzupassen, und sie machten sich auf den Weg Richtung Inland. Graues Licht lag über den Wiesen. Ihre Schritte hinterließen schwarze Abdrücke im Tau. Bis sie die Dorfgrenze erreicht hatten, zwitscherten überall in den Hecken die Vögel.
Ein beschaulicher Fluss begrenzte die Felder. Das Dorf lag versteckt hinter einer Ulmenreihe. Nistende Saatkrähen veranstalteten einen unglaublichen Aufruhr in den Bäumen. Wayland setzte sich mit dem Rücken an eine Weide. Raul schnitt Stücke von einem Brotlaib und hielt Wayland eines hin.
Er schüttelte den Kopf.
Raul sah ihn unentwegt an.
«Du kannst dir die Mühe sparen», sagte Wayland. «Alles, was du mir an den Kopf werfen könntest, habe ich schon von Vallon gehört.»
Raul begann zu kauen. «Ich kenne dich, seit dich Walter aus dem Wald gezerrt hat, und ich habe dich noch nie irgendetwas Rührseliges tun sehen, bis dieses Mädchen aufgetaucht ist. Du hast ja nicht mal einen einzigen Blick auf die Dienstmädchen geworfen. Und jetzt sieh dich an. Isst nichts mehr. Schläfst nicht mehr. Du bist rettungslos verliebt, mein Freund.»
Wayland musterte die Bäume. Ein Hahn krähte. «Ich fühle mich schrecklich.»
«Da gibt’s nur ein Gegenmittel. Werd sie los, bevor es zu spät ist. Du kommst schnell drüber weg. Sie ist ziemlich hübsch, das stimmt, aber es gibt immer ein anderes Mädchen in der nächsten Stadt. Und ein so schöner Junge wie du muss für sein Vergnügen bestimmt nicht mal bezahlen.»
Wayland zupfte ein Grasbüschel aus der Wiese.
«Es ist ja nicht so, dass sie verhungern müsste.»
«Ich weiß. Ich hatte den Entschluss ja auch gefasst, aber als es so weit war, hat mir der Mut gefehlt.»
Raul hörte auf zu kauen und schien Wayland in einem ganz neuen Licht zu betrachten. «Sie hat dich verhext.»
Wayland war bereit, alles zu glauben. «Meinst du wirklich?»
«Ich weiß es. Nur eine Hexe kann dich dazu gebracht haben, im Angesicht einer Normannenarmee ins Meer zu springen. Und über den Hund hat sie auch einen Zauber verhängt. Sieh dir doch bloß an, wie er ihr folgt, als wäre er ein unschuldiges Lämmchen. Und ihre Augen – sehr eigenartig.»
Wayland warf das Grasbüschel weg. Hinter ihnen war die Sonne aufgegangen. Am Himmel wurde eine zarte Wolkenbank sichtbar. Der schläfrige Ruf eines Kuckucks tönte von einem Dickicht herüber.
Raul lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. «Ich kenne einen Mann, der sich in eine Hexe verliebt hat. Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte. Blond wie deine Syth, aber mit ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen. Jedenfalls hat dieses hinreißende Wesen den Mann mit in ihr Bett genommen und ihm jede Wonne zuteilwerden lassen, die er sich nur wünschen konnte. Schließlich hatte er sein Vergnügen gehabt und legte sich mit seiner Liebsten in den Armen im Bett zurück. Und weißt du, was dann passiert ist?»
«Was?»
Raul setzte sich auf. «Dann ist vor seinen Augen ihr Gesicht von ihrem Schädel gerutscht und das Fleisch von ihren Rippen abgefallen. Statt eine Schönheit umarmte er plötzlich eine Leiche, in der Würmer und Maden herumwimmelten.»
Wayland starrte ihn entsetzt an.
Raul wischte sich ein paar Krümel vom Mund. «Da vorne kommt einer.»
Wayland löste seinen Blick von Raul. Ein blasser, zerlumpter Junge trödelte in ihre Richtung und sah sich dabei so staunend um, als wäre die ganze Welt eine Wunderkammer. Dann betrat er ein schmales Roggenfeld und klatschte in die Hände. Darauf flogen ein paar Ammern in die nächste Hecke. Nachdem er noch mehrere Male halbherzig in die Hände geklatscht hatte, spähte der Junge verstohlen um sich, bevor er den Grenzstein am Feld seiner Familie anhob und ein Stück weiter wieder ablegte. Dann ging er zu der Hecke und begann daran entlangzugehen, immer auf der Suche nach Vogelnestern.
Raul stand ungeduldig auf. «Wo bleiben denn die übrigen Faulpelze?»
Eine Glocke begann zu läuten.
Raul schlug sich aufs Knie. «Was sind wir bloß für Tölpel! Heute ist Sonntag. Da sind alle in der Kirche.» Er kicherte boshaft in sich hinein. «Umso besser.»
Sie gingen einen Weg entlang, der von Gurtbogenhäusern gesäumt wurde. Vor den Häusern lagen Gemüsegärten, dahinter Viehkoppeln. Milchkühe sahen sie mit ihren verträumten Blicken an, üppige Büschel Frühlingsgras hingen aus ihren Mäulern. Die Baumblüte hatte begonnen und die Apfelbäume und Quitten weiß und rosa überhaucht. Kinder, die Wasser oder Futter holten, flohen kreischend vor den unbekannten Gesellen, hielten erst in sicherer Entfernung an und beobachteten sie zwischen ihren Fingern hindurch. Dann folgten sie ihnen in einiger Entfernung, und die kühneren Jungen drückten die Brust heraus und schwangen die Glieder, um Rauls Gang nachzuahmen. Bis Wayland und Raul bei der Kirche waren, hatten sie eine ansehnliche Gefolgschaft hinter sich versammelt.
Hinter ein paar dunklen Eiben sah Wayland ein gemauertes Kirchenschiff und einen quadratischen Turm mit Bogengängen und Spitzfenstern. Auf dem Friedhof grasten Schafe. Sie lehnten ihre Waffen außen neben die schwere Eichentür.
«Findest du nicht, wir sollten abwarten, bis die Messe vorbei ist?», fragte Wayland.
«Überlass das mir. Denk dran, dass wir es mit armen Schluckern zu tun haben, die noch nie weiter als bis zum nächsten Dorfmarkt gekommen sind. Es bringt nichts, ihre Rübenköpfe mit irgendwelchem Gerede über Island oder Griechenland durcheinanderzubringen.»
Dann zog sich Raul die Mütze vom Kopf und betrat die Kirche. Wayland duckte sich hinter ihm hinein und bekreuzigte sich. Die Sonne strahlte durch die Fenster und beschien die Gemeindeversammlung rechts und links des Mittelgangs. Einige der Leute lehnten an Säulen, andere standen aufrecht, und die meisten saßen auf dem mit Binsenstroh bestreuten Boden. Viele schienen zu schlafen. Zwei Bauern, die ganz hinten in der Kirche saßen, stießen ihre Nachbarn an, um sie auf Raul und Wayland aufmerksam zu machen. Die Warnung breitete sich aus, bis die ganze Gemeinde aufgestanden war und sie anstarrte. Raul legte einen Finger auf die Lippen. Nur der Priester am Altar hatte ihre Anwesenheit nicht bemerkt. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf fuhr er damit fort, kaum hörbar die Messgebete zu murmeln. Waylands Blick hob sich zu der Gewölbedecke, die in tiefen Schatten lag. Dann betrachtete er das Wandgemälde vom Jüngsten Gericht, das Christus auf seinem Thron zeigte, die Gerechten mit Engelsflügeln zu seiner Rechten, die Sünder nackt und verängstigt zu seiner Linken, und unter ihnen die Verdammten, die ins ewige Höllenfeuer geworfen wurden. Er dachte an seine Familie in ihren namenlosen Gräbern.
Das dumpfe Gebetsgeleier erstarb. Der Priester kam zur Tür des Lettners und warf einen ärgerlichen Blick auf seine Schäfchen. «Bei seinem letzten Besuch», sagte er, «hat mich euer weltlicher Herr mit einer Beschwerde über diese Gemeinde zu sich bestellt. Er ist zutiefst verstimmt von die Sünde der Faulheit, der sich viele von euch ergeben haben.»
Raul stieß Wayland an. «Verdammt, bestimmt will er ihnen eine ewig lange Moralpredigt halten. Du behältst die Leute im Auge.» Der Deutsche stürmte den Mittelgang hinauf.
Der Priester starrte ihm erschrocken entgegen. «Wer bist du?»
«Tretet zur Seite. Ich werde an Eurer Stelle die Predigt halten, das wird uns Zeit sparen und genauso gut helfen, ein paar Seelen zu retten.»
«Faulheit», sagte er und ließ das Wort im Kirchenschiff widerhallen. «Die Faulheit ist der Feind jedes Vorhabens und der Blutsauger des Gewinns. Ich und mein Gefährte wurden von unserem Hauptmann ausgesandt, um zwei oder drei Männer anzuwerben, die uns auf unserer Handelsreise begleiten sollen. Wir suchen nach starken, entschlossenen Männern, bevorzugt nach solchen, die schon Erfahrungen im Kampf und auf Segelschiffen gemacht haben. Wir haben diese Gemeinde aufgesucht, weil wir gehört haben, dass hier viele tapfere Männer wohnen.»
Wayland, der von der Tür aus zusah, schüttelte den Kopf. Mit seiner fremdartigen Schläfenlocke, dem verfilzten Bart und der verdreckten Jacke sah Raul aus wie der Überrest einer geschlagenen Barbarenhorde. Und er stank wie ein Iltis.
Raul ließ ein paar Münzen klimpern. «Einen Halfpenny für jeden Tag, den ihr bei uns dient, einschließlich Ruhetage und Feiertage. Und außerdem», sagte er und hob einen Finger, als wolle er die Gemeinde segnen, «volle Verpflegung. Ihr werdet keinen Penny von eurem Lohn für Bett und Tisch ausgeben müssen.» Er führte den Trick vor, bei dem er eine Münze verschwinden ließ. «Und das ist immer noch nicht alles. Jeder Gewinn, den wir machen, wird aufgeteilt. Gerechte Anteile für alle. Stimmt das etwa nicht, Wayland?»
Die versammelte Gemeinde drehte sich um und gaffte Wayland an.
«Ihr werdet gut bezahlt und gut behandelt.»
«Habt ihr das gehört? Das Wort eines Engländers.» Raul grinste breit. «Es ist klar, dass wir nicht jeden nehmen. Wir sind wählerisch. Aber für zwei oder drei, die sich nicht vor ehrlicher Arbeit scheuen, ist das die Gelegenheit, im Leben weiterzukommen.»
Die Leute nickten und tauschten Bemerkungen aus. Wayland fing an zu glauben, dass Raul Erfolg haben könnte.
«Wie weit segelt ihr?», fragte jemand.
«So wie es aussieht, seid ihr zur Ernte im Herbst wieder da. Nicht, dass ihr euch dann noch mal auf den Feldern schinden müsstet – nicht bei eurem Anteil Silber.»
«Wie weit?»
«Richtung Norden.»
«Wohin im Norden?»
Raul funkelte den Fragesteller wütend an. «Orkney.»
Die Kirchgänger schoben ihre Unterlippen vor und zuckten mit den Schultern. «Liegt das am anderen Flussufer?», fragte einer.
«Klar, du Hohlkopf», schnaubte jemand. «Auf dieser Seite des Humbers gibt es schließlich kein Orkney.»
«Es ist weiter nördlich als der Humber», räumte Raul ein. «Nicht sehr weit.»
Eine Schwalbe tauchte zur Tür herein, verfehlte Waylands Kopf nur knapp und schwang sich zu ihrem Nest unter einem Deckenbalken hinauf.
Raul ließ die Silbermünzen von einer Hand in die andere gleiten. «Einen Halfpenny pro Tag bei freier Kost und Logis.»
Sie überdachten es wie ein Philosophenkongress. Kein einziger Mann trat vor.
«Seid ihr denn so zufrieden mit eurem Dasein?», bohrte Raul. «Geht euer Grundherr so gut mit euch um?»
«Er geht mit uns um wie mit den Weidenbäumen», rief jemand von hinten. «Er denkt, je mehr er uns zusammenstutzt, desto besser treiben wir aus.»
Dem Gelächter folgten weitere Beschwerden. «Er verhängt Geldstrafen, wenn wir heiraten. Und er verhängt Geldstrafen, wenn wir sterben.»
«Er verbietet uns, unser Getreide zu Hause zu mahlen, und verlangt, dass wir seine Mühle benutzen und dafür bezahlen.»
«Und dann müssen wir drei Tage auf Mehl warten, das aus der schimmligen Nachlese des letzten Jahres gemahlen worden ist.»
Raul breitete mit missionarischem Eifer die Arme aus. «Brüder, hier ist die Gelegenheit, euer Joch abzuwerfen. Hier ist die Erlösung aus euren irdischen Leiden.» Er machte einen Schritt auf einen der Misstrauischen zu, einen kräftigen Mann von etwa dreißig Jahren. «Du bist ein mutiger Redner. Du gefällst mir. Ich vermute, du hast schon auf dem Schlachtfeld gestanden, oder?»
«Ich habe mit der Fyrd des englischen Königs bei Stamford gekämpft.»
«Ich wusste es. Du gehörst zu genau der handfesten Sorte, die wir suchen.»
Der Mann schüttelte den Kopf. «Ich habe eine Frau, drei Kinder und eine schwerkranke Mutter.»
«Ah, aber denk daran, wie gut du sie versorgen kannst, wenn du zurückkommst.»
«Ich kann nicht. Ich bin an meine Felder gefesselt.»
«Kein Mann ist an irgendetwas gefesselt. Komm schon, klopf dir den Schlamm von den Schuhen.»
«Lass ihn», sagte Wayland.
Raul sah ihn böse an und wandte sich an einen anderen Fronarbeiter. «Und was ist mit dir?»
Der Mann rieb sich übers Kinn und sagte dann etwas Unhörbares. Raul legte die Hand hinters Ohr. «Was war das?»
Wayland machte einen Schritt auf ihn zu. «Er sagt: ‹Wer kümmert sich um meine Bienen?›»
Raul warf seine Schläfenlocke zurück. «Lieber Gott. Das ist ja, als wollte man einer Kröte die Federn ausrupfen.»
Er ging von einem Mann zum nächsten und erhielt eine gemurmelte Ablehnung nach der anderen. Schließlich legte er den Kopf in den Nacken und rief: «Was? Kein Einziger von euch? Eure Wikinger-Vorfahren drehen sich im Grabe herum. Na gut. Dann träumt weiter von euren Runkelrüben. Zählt eure Heuhaufen. Verbringt den Rest eures Lebens damit, den Arsch eures Ochsen anzustarren, während ihr durch den Dreck stapft, mit durchlöcherten Schuhen, zerlumpten Kleidern und Kindern, die zu Hause verhungern.»
«Ich komme mit.»
Raul drehte sich um. «Zeig dich.»
Aus der Versammlung humpelte ein großer, magerer Arbeiter hervor, dessen Kleidung aus selbstgewebtem Leinen so durchgescheuert war, dass man Knie und Ellbogen sah. Seine enormen Hände hingen an knochigen Handgelenken.
Raul betrachtete ihn zweifelnd. «Und wer bist du?»
«Garrick, ein Witwer und armer Freibürger. Der Tod hat mir all meine Verwandten genommen, und ich werde ihnen bald Gesellschaft leisten, wenn ich hierbleibe, weil meine Felder zu klein sind, als dass ich mich davon ernähren könnte.»
Raul umrundete den Bauern und versuchte ihn einzuschätzen. «Du hinkst. Stammt diese Verletzung vom Schlachtfeld?»
Jemand lachte. «Er ist als Kind vom Baum gefallen. Pech und Ärger verfolgen Garrick schon sein ganzes Leben.»
Raul schob ihn zur Seite. «Es tut mir leid, wir brauchen kräftige, gesunde Männer.»
«Ich will ihn mir ansehen!», rief Wayland.
«Vallon wird nicht begeistert sein, wenn wir ihm so eine Vogelscheuche bringen.»
«Bring ihn her.»
Raul eskortierte Garrick zur Kirchentür. Hunger und die Plackerei auf den Feldern hatten sich in seine Züge eingegraben, doch in seinen tiefliegenden grauen Augen lag ein sarkastisches Funkeln. Aus irgendeinem Grund erwärmte sich Wayland für ihn.
«Bist du krank?»
«Wenn Hunger eine Krankheit ist, dann bin ich todkrank.»
Wayland lächelte. «Zeig mir deine Hände.»
Garrick streckte ihm seine schwieligen Schaufelhände entgegen.
«Wir haben eine sehr schwierige Reise vor uns.»
«Hier zu überleben ist noch schwerer. Den letzten Rest von meiner Ernte habe ich schon vor der Fastenzeit gegessen.»
«Er schafft es», sagte Wayland. «Such noch einen, und dann verschwinden wir.»
Raul starrte wütend ins Kirchenschiff. «Dieses Pack könnte ja nicht mal der Erzengel Gabriel durch die Himmelspforte locken. Ich schnappe mir einfach einen, der mir passt.»
«Ich will nicht, dass jemand von seiner Familie getrennt wird», sagte Wayland.
«Du hast gehört, was Vallon gesagt hat. Schnappt sie euch, hat er gesagt. Wir können nicht ewig verhandeln, bis sich diese Bauerntölpel endlich zu einem Entschluss durchringen.»
Da begannen die Jungen draußen auf dem Kirchhof zu rufen und aufgeregt herumzuspringen. Sie deuteten auf einen Reiter und zwei Männer zu Fuß, die eilig über die Felder heranhasteten.
Wayland ging ein paar Schritte den Weg hinunter. «Wer ist das?», fragte er Garrick.
«Daegmund der Büttel und seine Schläger Aiken und Brant. Sie sind der Fluch und der Stachelstock, die unser Leben bestimmen.»
Wayland beschattete seine Augen mit der Hand. Der Büttel trieb sein Maultier rücksichtslos über die bepflanzten Felder der Bauern. Er wurde auf dem Sattel durchgerüttelt, und seine Topfschnitt-Frisur hüpfte auf und ab. Zwei Fußsoldaten in schäbigen Lederharnischen trotteten hinter ihm her.
«Wir warten besser nicht, bis sie hier sind», sagte Garrick.
Wayland nahm seinen Bogen und griff nach einem Pfeil. «Werden sie uns angreifen?»
«Daegmund bestimmt nicht. Das ganze Ausmaß seiner Tapferkeit stellt er unter Beweis, wenn er mindestens einmal am Tag einem Dieb den Holzkragen umlegt. Für die groben Sachen setzt er seine Schläger ein.»
«Sind sie von hier?»
«Nein. Daegmund traut den Männern vom Lehnsgut nicht. Er hat zu viele krumme Geschäfte zu verbergen. Er hat diese Kerle in Grimsby angeheuert.»
Die Gottesdienstbesucher waren aus der Kirche gekommen. Vor dem Friedhof hielt der Büttel sein Maultier an. Er war dicklich und schwitzte und wirkte nicht gerade tapfer, wenn er auch ein Schwert führte und zwei Männer befehligte. Nun kamen keuchend auch seine Wachen an, postierten sich rechts und links von ihm, kratzten Lehmklumpen von ihren Schuhen und versuchten zu überspielen, wie sehr sie außer Atem waren. Sie trugen alte, schartige, einschneidige Sachsenschwerter. Aus ihren gesteppten Leder-Gambesons war schon ein Gutteil der Wattierung herausgefallen. Daegmund fuhr sich mit der Hand über die Augen.
«Was sind das für Spione? Was hat das zu bedeuten? Das ist verbotenes Eindringen in die Ländereien meines Herrn. Bewaffnete, die Ärger machen. Unruhestifter, die den Frieden des Königs stören. Meldet an, was ihr hier zu tun habt.»
Raul sagte zurückhaltend: «Wir suchen Männer für eine Handelsexpedition.»
Der Büttel riss die Augen auf. «Diese Fronarbeiter sind im Besitz meines Herrn. Jeder Mann hier samt seinem Hab und Gut darf nur nach dem Willen meines Herrn leben und muss sich seinen Anordnungen beugen.»
«Sie werden ihm nicht fehlen.»
Der Büttel fuchtelte mit dem Schwert in Richtung seiner Getreuen. «Nehmt diese Kerle fest. Fesselt sie. Jeder Mann, der euch hilft, bekommt einen Monat lang seine Arbeitswoche erlassen.»
Raul drückte mit der Zunge von innen gegen die Wange. «Was für ein großzügiger Mensch, nicht wahr?»
Der Bailiff deutete mit vor Zorn bebendem Zeigefinger auf ihn. «Ich habe schon längst Alarm geschlagen. Die Soldaten sind unterwegs. Ihr werdet hängen.»
«Wenn sie uns kriegen, werden sie Schlimmeres mit uns machen als uns zu hängen.»
Einer der Wachen klopfte dem Büttel aufs Knie. Daegmund beugte sich zu ihm hinunter und legte die Hand hinters Ohr. Nachdem er gehört hatte, was die Wache zu sagen hatte, fuhr er mit einem Ruck auf. Sein Gesicht war so rot wie ein Hahnenkamm.
«Diese Männer sind Verbrecher und Mörder. Sie gehören zu einer Bande, die aus Norwich geflohen ist, nachdem sie die Wachmannschaft abgeschlachtet haben. So groß ist ihre Verruchtheit.»
«Es stimmt», rief Raul und brachte damit alle zum Schweigen. «Ich habe nach den ersten zwanzig aufgehört zu zählen, wie viele Normannen wir umgebracht haben.»
Der Blick des Büttels flackerte über die Versammlung. «Ich setze zehn Schilling auf ihren Kopf aus. Für jeden von ihnen.»
Raul ging einen Schritt auf ihn zu. «Du bist ein elendes Lügenmaul. Die Belohnung war vor zwei Wochen schon höher als ein Pfund, und das war, bevor wir ein Normannenschiff versenkt hatten. Inzwischen müssen wir mindestens das Doppelte wert sein.»
«Einen Anteil der Belohnung für jeden Mann, der hilft, sie festzunehmen.» Daegmund versetzte einer seiner Wachen einen Tritt. «Vorwärts. Ergreift sie.»
Als Brant und Aiken auf den Friedhof vorrückten, richtete Raul seine Armbrust auf den Büttel. «Lass sie nur weitergehen. Dann bist du der Erste, der stirbt.»
Daegmund winkte seine Männer so heftig zurück, als würde er mit bloßen Händen ein Feuer ausschlagen. Wayland musterte die beiden Wachmänner. Beide waren mittelgroß, hatten gerötete Gesichter und einen Körperbau, der an Brauereipferde erinnerte.
«Wie wär’s, wenn wir diese beiden mitnehmen?»
Raul schniefte. «Könnten’s schlimmer treffen, schätze ich.»
Wayland versuchte sich darüber klar zu werden, welche Stimmung unter den Bauern herrschte. Es war nie klug, Bauern zu unterschätzen. Dann begann er, auf den Büttel und seine Wachen zuzugehen.
«Hilfe!», kreischte der Büttel und zerrte sein Maultier herum.
Einer der Wachmänner riss sein Schwert hoch. Wayland blieb stehen.
«Welcher von euch ist Brant?»
«Sag’s ihm nicht», kam es von dem auf der rechten Seite.
Wayland lächelte den auf der linken Seite an. «Also bist du Brant.»
Brant nickte. Er wirkte ein wenig schlicht.
«Wir sind auf einer Handelreise nach Norden unterwegs. Wir suchen nach Männern, die für einen guten Lohn hart arbeiten wollen. Du und dein Gefährte – ihr seht aus, als könntet ihr die Richtigen sein.»
«Was redet er da?», rief der Büttel aus sicherer Entfernung.
«Wie viel zahlt euch dieser Fettsack?»
«Antworte nicht», sagte Aiken. «Du bringst uns bloß in Schwierigkeiten.»
«Ihr seid schon in Schwierigkeiten.»
«Vier Schilling an jedem Zahltag», sagte Brant. «Und auf den Lohn vom letzten Vierteljahr warten wir noch.»
«Schließt euch uns an, und wir zahlen euch das Doppelte und noch dazu einen Anteil am Gewinn. Zeig es ihnen, Raul.»
Beim Anblick der Silbermünzen fuhr sich Brant mit der Zunge an den Zähnen entlang und warf einen Blick auf seinen Gefährten.
«Reden kostet nichts», erklärte ihm Aiken. «Wenn sie dich erst einmal auf ihrem Schiff haben, zählen ihre großartigen Versprechungen auf einmal nichts mehr. Sie lassen dich wie einen Ochsen schuften und behandeln dich noch dazu wie einen Hund.»
«Und was glaubst du, wie dich dein Herr behandeln wird, wenn wir mit Garrick verschwinden?», fragte Wayland.
Der Büttel war wieder näher herangeritten. «Gebt nicht nach. Tut eure Arbeit, und ich vergesse alle Pflichtverletzungen, die ihr heute begangen habt.»
Wayland hob das Kinn in die Richtung des Büttels. «Wem glaubt ihr? Ihm oder mir?»
«Er hat recht», sagte Brant zu Aiken. «Entweder wir halten sie auf, oder wir können unser Testament machen.»
Aiken sah weg, seine Kiefer mahlten.
«Unser Schiff wartet», sagte Wayland.
Brant legte Aiken die Hand auf den Arm. In seiner Miene stand Begeisterung. «Komm, wir fahren mit ihnen und machen unser Glück.»
Aiken starrte finster auf den Boden und begann den Kopf zu schütteln.
Brant lachte. «Dann gehe ich eben allein.» Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen, als müsste er sich alles genau einprägen, atmete zweimal tief durch und ging zu Wayland hinüber. Als er sich umdrehte, schien er über eine unsichtbare Grenze zu zurückzublicken. «Ich komme als reicher Mann wieder», sagte er. «Du wirst schon sehen.»
Aiken hob den Kopf. «Die halbe Armee der Normannen jagt diese Piraten. Du bist noch vor nächsten Sonntag tot.»
Daegmund schüttelte die Faust und sah aus, als stünde er kurz vor einem Tobsuchtsanfall.
«Wir sind hier fertig», sagte Wayland zu Raul.
Mit Garrick und Brant zogen sie sich zurück. Die Gemeindemitglieder beobachteten sie ernst. Sobald sie die Friedhofsmauer erreicht hatten, trieb der Büttel sein Maultier immer wieder im Kreis um Aiken herum und schlug hemmungslos auf ihn ein.