158074.fb2 Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 28

Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 28

XXIII

Mitten in einer der ersten taghellen Juninächte legte Wayland mit Raul und Syth von Island ab. Ihr Lotse war ein Griesgram namens Gunnar, der häufig unter unerträglichen Kopfschmerzen litt. Ebenfalls an Bord waren die beiden Mönche. Der Fettwanst Vater Saxo besaß einen Schädel, der so kahl war wie geschälter Knoblauch, und nahm die Schwächen der menschlichen Natur mit Gelassenheit. Vater Hilbert dagegen war dünn, hatte Ohren wie eine Fledermaus und lebte in der unveränderlichen Überzeugung, der Mensch sei von Geburt an schlecht. Keiner der beiden hatte je zuvor seine Heimat verlassen, dennoch wussten sie ganz genau, was sie von Grönland und den Grönländern zu erwarten hatten.

«Wenn es Winter ist, dürfen sie es nicht wagen, aus dem Haus zu gehen», wurde Raul von Vater Saxo erklärt. «Tun sie es doch, werden sie von einer so starken Kälte erfasst, dass ihnen – wenn sie sich die Nase putzen – gleich die ganze Nase abbricht.»

Vater Hilbert nickte. «Und die Nasen, die abgebrochen sind, werfen sie einfach weg.»

«Dann passe ich besser auf, wenn ich pissen gehe», sagte Raul.

Die Mönche wechselten einen Blick. Dann beugte sich Saxo vor. «Wann warst du zuletzt in der Messe?»

«Nicht lange nach Ostern», sagte Raul, ohne eine Miene zu verziehen.

«Hast du deine Sünden gebeichtet?»

Raul zwinkerte Wayland zu. «Dafür hatte ich es zu eilig.»

Hilbert durchbohrte ihn mit ernstem Blick. «Möchtest du jetzt beichten?»

Raul blickte über den weiten Ozean. «Wie viel Zeit habt Ihr, Vater?»

Die Überfahrt verlief glatt. Sechs Tage, nachdem sie von Reykjavík abgelegt hatten, sah Wayland seine ersten Eisberge – ausgezehrte Gebilde, die nur aus Rippen und Höhlungen bestanden. Sie umrundeten Kap Farvel an der Südspitze Grönlands und segelten dann in diffusem Licht die riesenhaften Berge auf der Steuerbordseite entlang. Sie fuhren nicht bis zum Landeplatz der Ostsiedlung. Dazu hätten sie dreißig Meilen einen mit Eisschollen übersäten Fjord hinaufsegeln müssen. Stattdessen kreuzten sie vor der Küste und ruderten dann nur bis zum ersten Gehöft, das sie entdeckten. Hier verabschiedeten sich die Mönche. Mit ihnen ging der Lotse, der erklärte, er sei zu krank, um noch weiter zu fahren, und zwei isländische Seemänner. Es war nicht schwierig, Ersatz für sie zu finden. Es gab nur wenige Schiffe in Grönland, und ein halbes Dutzend Siedler bat darum, die Fremden auf die Fahrt nach Nordgrönland begleiten zu können. Nach zwei Nächten an Land segelten sie weiter und erreichten die Westsiedlung am Abend des dritten Segeltages.

Sie lag an der Spitze eines langgezogenen Fjordes – die Siedlung bestand aus kaum mehr als ein paar Grassodenhäusern und Heuwiesen vor der schwarzweißen Kulisse der Berge. Die Shearwater landete bei einem Bauernhaus in einer Bucht am Nordufer, und die Grönländer machen sich mit den verbliebenen Isländern auf, den Rest ihres Weges zu Fuß zurückzulegen. Wayland, Raul und Syth standen im abendlichen Zwielicht und wunderten sich darüber, dass es Menschen gab, die sich an solch einem entlegenen Zipfel der Welt ansiedelten.

Als sie sich am nächsten Morgen zum Frühstück hinsetzten, tauchte das grinsende Gesicht eines Mannes über dem Dollbord auf.

«Da hab ich’s ja gut getroffen, ihr Weltenfahrer.»

Der Hund baute sich vor ihm auf. Der Fremde stieß einen bewundernden Pfiff aus. «Was für ein Ungeheuer», sagte er, streckte die Hand aus, und kraulte den Hund unter der Schnauze. «Der Wolf Fenrir, der Odin verschlungen hat, war bestimmt auch nicht größer. Wenn er eine Hündin deckt, während ihr da seid, zahle ich einen guten Preis für einen Welpen. Ich würde ihn Skoll nennen, nach dem Wolf, der die Sonne verfolgt.» Dann schwang er sich an Bord. Dem kräftig gebauten Mann folgte ein stämmiger Junge. Der Mann verbeugte sich vor Syth. «Guten Morgen, liebliches Geschöpf.» Wayland und Raul hatten sich etwas unsicher erhoben. Er schüttelte ihnen die Hand. «Orm der Gierige», sagte er. «Und das ist mein Sohn Glum. Wie ich höre, sucht ihr einen Führer in die Jagdgebiete im Norden. Ihr habt Glück. Ich habe dort seit dreißig Jahren beinahe jeden Sommer Fallen aufgestellt und gejagt.» Er schnupperte genüsslich in der Luft. «Heiße Weizenfladen mit frischer Butter. Lasst sie nicht meinetwegen kalt werden.»

Wayland sank auf seinen Sitz zurück. «Möchtest du vielleicht mit uns essen?»

«Auf jeden Fall», sagte Orm. Er ließ sich auf eine Ruderbank plumpsen, nahm sich einen Weizenfladen und strich Butter darauf.

Wayland musterte den Grönländer. Vor allem fiel das von grauen Strähnen durchzogene, rote Haar auf. Orm hatte einen dichten Schopf, einen langen, zottigen Bart, und seine buschigen Augenbrauen, die aufwärts wuchsen, verliehen ihm den Ausdruck immerwährenden Erstaunens. Die hellen blauen Augen lagen tief im faltigen Gesicht. Sein Sohn ähnelte ihm mit dem kräftigen Körperbau, war aber so befangen wie sein Vater offen und gesellig. An seiner rechten Schläfe hatte er eine Einbuchtung von der Größe und Form eines Hühnereis.

«Ihr seid hinter Falken her», sagte Orm. «Ich weiß, wo man sie findet.»

«Weiße?»

«So blass wie der Wintermond.» Orm hob seine unglaublich zotteligen Augenbrauen in Syths Richtung. «Kannst du noch ein bisschen Butter erübrigen, schönes Kind?»

Raul sah ihn misstrauisch an. «Was für eine Abmachung hast du im Sinn?»

Orm stopfte sich den nächsten Weizenfladen in den Mund. «Eine, mit der beide Seiten gut fahren. Ihr braucht eine Mannschaft und einen Führer. Ich brauche ein Schiff.»

«Wie viele Männer hast du?»

«Vier Freunde, meinen Sohn und ich. Wir werden Alkvögel fangen, Wale und Walrösser jagen und Fallen für die Füchse aufstellen. Die Fahrt dauert ungefähr sechs Wochen.»

«Es kommt mir so vor, als hättest du die größeren Vorteile bei diesem Handel.»

Orm hob sein Messer. «Die Falken sind schwer zu finden und noch schwerer zu fangen. Hinter wie vielen seid ihr her?»

Die Auslöseforderung schrieb vier Falken vor, aber Wayland hatte von Beginn an geplant, mehr mitzunehmen, falls nicht alle die Reise nach Süden überleben sollten. «Acht sollten genügen.»

«Da habt ihr eine Menge Schnäbel zu stopfen. Aber keine Sorge. Ich sorge dafür, dass es ihnen nie an Futter fehlt. Verträgst du es, dich in großer Höhe zu bewegen?»

Wayland zögerte. «Ich bin einmal im Sturm auf eine hundert Fuß hohe Buche gestiegen, um einen Falken zu befreien, der sich in seinen Geschühriemchen verfangen hatte.»

«Es sind aber keine Bäume, auf die man steigen muss. Die Falken nisten in den Felswänden oben in den Wolken. Ich habe Vogelnester auf den Klippen ausgenommen, seit ich laufen kann. Glum auch. Dabei fällt mir ein – wie ich höre, habt ihr Eisen.»

Rauls Augen verengten sich. «Und wenn?»

«Ihr braucht Eisäxte. Ich kann sie bis morgen Abend schmieden lassen, und wir könnten mit der ersten Flut am Morgen auslaufen. Was sagt ihr dazu?»

Wayland sah zu Raul hinüber. Dann ließ er seinen Blick zu Glum wandern, der auf den Boden starrte. «Er ist noch ziemlich jung, oder?»

«Ein Junge kann sich halten, wo ein Mann abstürzen würde. Glum bewegt sich so geschickt wie eine Bergziege.»

«Was ist mit seinem Kopf passiert?»

«Er wurde von einem Stein getroffen, als er Alkvögel-Eier gesammelt hat. Da war er erst sieben. Aber macht euch keine Sorgen, er ist immer noch vollkommen bei Verstand. Er war nur schon immer ziemlich auf den Mund gefallen.»

«Syth kommt mit», sagte Wayland.

Nach einem winzigen Zögern sagte Orm: «Bestens. Ich habe seit dem Tod meiner Mutter keine so guten Weizenfladen mehr gegessen.»

«Nimm den letzten.»

«Sicher?»

Wayland stand auf. «Du sorgst für die gesamte Ausrüstung.»

«Gemacht.»

Wayland streckte die Hand aus. «Also sind wir uns einig.»

Orm besiegelte die Abmachung mit einem Händedruck, der einem anderen die Finger zerquetscht hätte. Zurück auf dem Anlegesteg blieb er noch einmal stehen. «Habt ihr Bier?»

«Wir haben noch ein bisschen Gerstenbier und Malzbier», sagte Raul.

«Dann haben wir alles, was wir brauchen. Ein Jäger braucht Bier, um auf seine Erfolge anzustoßen und sich über seine Misserfolge hinwegzutrösten.»

Damit ging er pfeifend davon. Raul und Wayland sahen sich zweifelnd an.

Am nächsten Tag beluden Orm und seine Freunde die Shearwater mit dem Zubehör für die Jagd. Sie hatten lange Taue aus Rosshaar, Sturmleitern, unterschiedliche Fallen und Netze, Harpunen, Angelschnüre und Haken, Fässer mit Salz und vergorener Molke und Zelte. Sie verstauten ein Ruderboot im Laderaum und vertäuten an Deck neben dem Beiboot der Shearwater eine Walfangschaluppe. Weil sie im Norden kein Holz finden würden, brachten sie Brennziegel aus Stroh und getrocknetem Kuhdung an Bord. Die Grönländer waren in Ferienstimmung, sangen und scherzten bei der Arbeit.

Etwa ein Dutzend ihrer Angehörigen kam zum Schiff, um ihnen eine erfolgreiche Fahrt zu wünschen und sie absegeln zu sehen. Die Shearwater wandte sich bei dichtem Nebel nordwärts, zog vorbei an Eisbergen, die in schweigender Erhabenheit aus dem Meer ragten. Drei Tage später entließ sie der Nebel in eine Zone andauernden Tageslichts und eine so klare Luft, dass die Besatzung ihr nächstes Ziel manchmal einen Tag früher sah, als sie es erreichte. Eisberge so groß wie Kathedralen drifteten in Teichen aus türkisfarbenem Schmelzwasser an ihnen vorbei, das kalte, blaue Licht tausendjähriger Winter in ihrem Kern eingeschlossen. Sie passierten einen der kalbenden Gletscher, die diese Giganten hervorbrachten, und beobachteten riesenhafte Eismassive, die donnernd ins Meer stürzten und dabei Wellen erzeugten, auf denen die Shearwater wild herumtanzte. Am nächsten Tag segelten sie in eine aufquellende, hyazinthfarbene Strömung, in und über der sich jedes einheimische Geschöpf einfand, ob es nun flog oder schwamm.

Eine unheilvolle Wolke weit über dem Meer entpuppte sich als ein Schwarm Alkvögel von einer Meile Durchmesser, der wie eine rußige Böe an ihnen vorbeifegte. Wohin Wayland auch schaute, sah er Wale an die Wasseroberfläche kommen und Fontänen blasen. Der laute Widerhall, mit dem ihre Schwanzflossen aufs Wasser klatschten, ließ ihn ebenso wenig schlafen wie die Sonne, die auch um Mitternacht noch schien.

Unter derselben Mitternachtssonne zogen Orkas, deren Rücken wie poliertes Mangan glänzten, vor dem Schiff ihre Kreise. Einer von ihnen stieß aus dem Ozean in die Höhe und drehte sich um sich selbst, bevor er mit lautem Klatschen wieder zurückfiel. Dann verschwand die Herde, und eine seidige Stille legte sich übers Meer. Syth stand neben Wayland im Bug, und er betrachtete sie, als sie sich eine sonnengebleichte Haarsträhne aus den Augen strich. Er stellte fest, dass ihre Augen die Farben des Meeres annahmen – Amethyst, Violett, Kobalt. Sie hatte zugenommen und war von einem Mädchen zur jungen Frau geworden. Er sammelte sich, um zu sprechen, ohne zu wissen, was er sagen würde – nur, dass es unwiderruflich wäre.

Sie bemerkte seine Anspannung, stemmte die Hände auf die Hüften und zog zum Schein eine Schnute. «Was ist?»

«Nichts», sagte er und meinte ‹alles›. «Ich bin froh, dass dein Haar wieder gewachsen ist. Damit siehst du … hübsch aus.» Er wand sich bei diesem lahmen Kompliment.

Sie senkte den Blick, mit einem Mal so scheu, wie sie es tatsächlich war. «An dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hast du gesagt, ich würde dich an jemanden erinnern. Aber du hast mir nie gesagt, an wen.»

In Waylands Kopf kreisten die Gedanken, und er sagte einfach: «Meine Schwester.»

Ihr Lächeln wirkte nun etwas verspannt. «Oh.»

«Aber nur auf den ersten Blick.»

Orm erlöste Wayland mit einem kräftigen Hieb zwischen die Schulterblätter. «Jetzt ist es nicht mehr weit.»

Syth drehte sich, nun wieder ganz das Mädchen, eifrig um. «Und werden wir auch Schneebären sehen?»

Orm lachte. «Das bezweifle ich, liebes Kind. Ich habe auf all meinen Fahrten erst drei zu Gesicht bekommen. Sie leben weiter nördlich.» Er wackelte mit den Augenbrauen. «Und das ist auch gut so. Sie sind größer als Ochsen und so stark, dass sie einen Seehund über ihre Schulter schleudern können. Und man sieht sie nicht kommen. Weißt du, warum?»

Syth schüttelte den Kopf.

«Sie verbringen ihr ganzes Leben im Schnee, und sie sind vollkommen weiß – abgesehen von ihrer schwarzen Nase. Wenn sie also eine Beute verfolgen, verbergen sie ihre Nasen mit den Pranken …», Orm führte es vor, «… und dann schleichen sie sich an, näher und immer näher …», Orm wand sich in einer Nachahmung dieser Jagdstrategie, «… bis sie dich in ihren Fängen haben, und dann – Brrr! Nein, sei lieber froh, dass du keine Bären sehen wirst.»

Syth kicherte. «Das glaube ich Euch nicht. Dass die Bären ihre Nasen verstecken, meine ich.»

«Warum, glaubst du denn, sind meine Augenbrauen so gesträubt? Das liegt an all den unglaublichen Dingen, die ich im Nordland schon gesehen habe. Hier oben ist es, als würde man in einem Tagtraum leben.»

Darauf breitete sich eine heitere Stille aus. Das Segel der Shearwater sank zusammen und blähte sich wieder. Die Sonne berührte den niedrigsten Punkt auf ihrer endlosen Bahn.

«Wo endet Grönland?», fragte Wayland schließlich.

«In Nebel und Eis, am Abend der Welt und an ihrer Morgendämmerung, am Wohnsitz der Toten und am Reich der ersten Götter.»

Wayland deutete mit dem Kopf in Richtung Westen. «Weißt du, was am anderen Ende des Meeres liegt?»

Orm und er standen Schulter an Schulter. «Das tue ich, denn es gibt Männer, die zu meinen Lebzeiten dorthin gesegelt sind. Wir nennen es das Westland, aber man erreicht es nicht, indem man der Sonne folgt. Es ist dort zu viel Eis auf dem Meer. Man muss der Strömung nach Norden folgen, bis es nicht mehr weitergeht, und dann eine Meerenge nach Westen überqueren. Zuerst kommt man nach Slabland und Flatland, wo der Schnee im Sommer niemals schmilzt. Auf der Passage nach Süden kommt man an Markland und den Wunderstrands vorbei, bevor man Winland erreicht, wo sogar die Winter schneefrei sind und die Nächte um das Julfest so lang wie die Tage. Die Erde ist dort so fruchtbar, dass der Weizen zu Broten reift, und der Tau ist so süß, dass die Kühe nur am Gras lecken müssen, um fett zu werden. In Winland reichen die Bäume bis halb in den Himmel, und in den Wäldern wimmelt es vor Rotwild und Zobeln und Bibern. Und im Meer gibt es so viele Dorsche, dass ein Mann auf ihren Rücken von einer Insel zur anderen gehen kann.»

Wayland lächelte. «Grönland ist ein raues Land. Es wundert mich, dass du nicht fortziehst, um in diesem Paradies eine neue Heimat zu finden.»

«Das haben meine Vorfahren ja getan. In den Zeiten meines Urgroßvaters haben sich mehr als hundert von ihnen in Winland angesiedelt. Als Junge habe ich den letzten Überlebenden dieser Kolonie gekannt. Bjarni Sigurdason hieß er, und er hörte nie auf, von den Wundern des Westlandes zu erzählen.»

«Warum sind sie zurückgekommen?»

«Warum sind Adam und Eva aus dem Paradies fort? Streit um Frauen. Krankheiten. Und vor allem der Kampf mit den Skraelingern.»

«Skraelinger?»

«Schreihälse. Hässliche Menschen. Es hat Gott in seiner Weisheit gefallen, das Westland Wilden zu geben, die nicht einmal seinen Namen kennen. Zuerst waren sie freundlich und handelten gern. Sie waren so weltfremd, dass ein Siedler ein Bündel Pelze gegen ein fingerbreites Stück Wollstoff eintauschen konnte. Aber bald wurden sie zur Gefahr. Sie haben das Vieh der Siedler gestohlen, weil sie nicht verstanden haben, dass Tiere ein persönlicher Besitz sein können, und sie haben die Jäger in den Wäldern bedroht und behauptet, der Wald wäre ihre eigenes Wildreservat. Es gab Blutvergießen, aber die Skraelinger waren viele, und die Siedler waren wenige. Nach drei Wintern ist der Anführer der Kolonie zu dem Schluss gekommen, dass es mit den Heiden niemals Frieden geben könne, und er hat die Überlebenden zurückgebracht.»

Er verfiel in Schweigen, und als er wieder zu sprechen begann, deutete er nach Norden.

«Ich habe in Grönland einen Skraeling gesehen – ganz am Ende der nördlichen Jagdgebiete. Da war ich unterwegs, um auf dem Packeis Robben zu jagen. Als ich abends zu meinem Lager zurückgekommen bin, habe ich Fußspuren entdeckt. Also habe ich meinen Bogen genommen und bin ihnen gefolgt. Zuerst dachte ich, es wäre ein blinder Bär, weil er von Kopf bis Fuß in Felle gekleidet war und dort, wo die Augen sein sollten, weiße Scheiben trug. Er entdeckte mich und hob seinen Speer. Ich zielte mit meinem Pfeil auf sein Herz, aber ich schoss nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Da hob er die Hand, und ich hob meine, und dann begann er sich zurückzuziehen. Was dann geschah, war einfach unglaublich.»

«Was hat er getan?»

«Er ist auf einen Schlitten gesprungen und hat sich von acht Wölfen wegziehen lassen.» Orm warf Wayland einen wilden Blick zu. «Ich schwöre bei Gott, das ist die Wahrheit. Vor drei Jahren war das, und seitdem frage ich mich immer wieder, wie er so weit in den Norden gekommen ist und wie er in dieser Gegend mit zahmen Wölfen leben kann, wo wir Grönländer es dort höchstens drei Monate im Jahr aushalten.»

«Vielleicht ist er aus dem Westland gekommen.»

Orm stach seinen Zeigefinger gegen Waylands Brust. «Genau, mein Junge! Das sage ich zu meinen Leuten auch immer, aber sie lachen bloß und fragen, wie Skrealinger, die keine Schiffe haben, die nichts von Eisen wissen, die in Hütten aus Zweigen und Blättern leben – wie solche Wilden über das Eismeer nach Grönland gekommen sein sollen. Ihr werdet schon sehen, sage ich dann. Wo einer ist, werden ihm andere folgen. Und was dann?»

Glum, der auf der anderen Seite des Schiffes stand, stieß einen Warnruf aus. Sein Vater hastete zu ihm hinüber, und beide lehnten sich über die Reling. «Kommt schnell!», rief Orm.

Die ganze Schiffsbesatzung scharte sich um ihn. Unter dem Rumpf glitt eine Schule Fische oder Wale mit fahlen, gesprenkelten Körpern hindurch, aus deren Köpfen spiralförmig gedrehte Lanzen ragten.

«Leichenwale», sagte Orm. «Manche nennen sie auch die Einhörner des Meeres. Vergesst die Falken. Wenn ihr so einen Wal fangt, habt ihr für immer ausgesorgt. Ich habe gehört, dass man in Miklagard das Gewicht eines Narwalzahns zweimal in Gold aufwiegt.»

«Und wie fängt man sie?»

«Sie schwimmen zum Kalben in die Fjorde, und wir harpunieren sie in den Buchten, in denen sie ihre Jungen zur Welt bringen. «Das ist ein gutes Omen, mein Freund. Sie sind auf dem Weg zu den Fjorden, bei denen die Falken nisten.» Er deutete auf die Küste. «Das Rote Kap. Wir haben die Jagdgebiete beinahe erreicht.»

Wayland blickte über die goldene Straße, die von der Mitternachtssonne aufs Meer gelegt wurde, und ihm fiel auf, dass sie an einem kolossalen Steilhang endete, der zwei Eisbuchten trennte.

Im abflauenden Wind ruderte die Mannschaft auf den riesenhaften, rötlich gefärbten Eisvorsprung zu, der wie ein Schiffsbug ins Meer ragte. Hunderte Robben schaukelten in den Wellen und beobachteten sie neugierig. Enorme Eiderentenverbände schwammen auf dem Wasser und teilten sich erst, wenn der Schiffsbug sie schon beinahe berührte. Riesige Alkvögel, so groß wie Gänse, jedoch mit Flügeln so klein wie eine Kinderhand, watschelten zum Rand einer Schäre und sprangen ins Nass. Unter Wasser flogen sie so graziös dahin wie Schwalben. «Gott hat vergessen, ihnen ein Gehirn zu geben, als er sie gemacht hat», sagte Orm. «Man kann sich mitten in eine Schar von ihnen stellen und ein Tier nach dem anderen mit der Keule erschlagen.»

Von demselben Inselchen schoben sich auf ihren Flossen plumpe Meeresungeheuer mit abwärtsgerichteten Stoßzähnen und groben Schnurrbärten herunter und glitten in die Wogen. «Walrösser», sagte Orm und strich sich über seinen eigenen Backenbart, um Syth zum Lachen zu bringen. Von den Klippen drang unausgesetztes, schrilles Vogelgeschrei zu ihnen herunter. Jeder Absatz und jede Felsnische war von Alkvögeln und Möwen und Gott weiß von welchem anderen Federvolk besetzt. Die Klippen ragten so hoch auf, dass die Vögel, die oben vor ihnen kreisten, klein wie Mücken erschienen.

«Es gibt in beiden Fjorden Falkennester», sagte Orm. Er deutete auf die Steilhänge, die zu dem südlichen Meeresarm hin abfielen. «Ein Horst ist dort oben.»

Wayland ließ seinen Blick von dem mit Eisschollen übersäten Meeresarm bis zu den Klippengipfeln und dann wieder zurückwandern. Die Klippen fielen senkrecht zum Wasser ab oder wurden von Abhängen mit Geröllhalden unterbrochen, die so steil waren, dass einem vom bloßen Anblick schlecht werden konnte. Zum Wasser hin gab es keinerlei flachere Felsen, keine einzige Stelle, an der man an Land gehen konnte.

Raul hatte nachdenklich den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. «Da können wir nicht raufklettern.»

«Nicht von unten jedenfalls», sagte Orm. «Es gibt auf der anderen Seite des Kaps einen Pfad auf die Klippen. Glum führt euch hinauf. Ihr müsst von dort oben aus zu den Nestern hinunterklettern. Allerdings könnt ihr die Nester von oben nicht sehen. Ich werde mit dem Schiff den Fjord hinauffahren, und euch vom Wasser aus zeigen, wo ein Horst ist. Aber zuerst müssen wir zum Lager.»

Sie ruderten mit der Sonne im Rücken, und das Wasser tropfte rot wie Blut von ihren Ruderblättern. Auf der Nordseite des Kaps gab es einen Uferstreifen, der mit herabgestürzten Felsbrocken übersät war. Das Skelett eines Wals lag auf dem Strand wie das Gerippe eines Schiffswracks. Auf jedem Wirbel stand ein Kormoran mit ausgebreiteten schwarzen Schwingen, sodass die Vögel an unheilvolle Kreuze erinnerten. Orm steuerte zwischen Felsvorsprüngen in eine schmale Fahrrinne und ließ die Shearwater auf den schmalen Strand laufen. Wayland sprang in stinkenden Guano und das Gelärm zankender Vögel an Land. Ein Seeadler mit Flügeln so groß wie Tischplatten strich an ihren Gelegen vorbei und wurde von einem Möwenschwarm verjagt. Unterhalb der Felsvorsprünge saßen Blaufüchse und warteten auf Eier oder Jungvögel, die aus den Nestern abstürzten.

Orms Basislager war eine Abschirmung aus Granitblöcken. Das Dach war unter der Last des Winterschnees zusammengebrochen, und die erste Aufgabe bestand darin, es instand zu setzen. Dann trugen sie ihre Ausrüstung ans Ufer und verstauten sie im Lager. Orm schlug vor zu essen, doch Wayland wusste, wie kurz der Grönlandsommer war, und beharrte darauf, sofort zu einem Falkennest hinaufzusteigen.

«Syth und der Hund bleiben besser bei mir», erklärte Orm. Sie suchten die Ausrüstung zusammen. Glum hängte sich zwei aufgewickelte Seile und eine Eisenstange über den Rücken, Raul trug weitere Seile. Wayland schnallte einen Weidenkorb an seiner Schulter fest.

Die Sonne war weiter nach Süden gewandert, und sie kletterten in dämmrigen blauen Schatten über die Felsbrocken am Strand und verdrehten sich dabei die Knöchel. Dann arbeiteten sie sich eine Geröllhalde hoch bis zum Beginn eines diagonal über die Steilwand verlaufenden Felsbruchs. Zwischen senkrecht abstürzenden Klippenvorsprüngen, von denen Eiszapfen wie Fangzähne herabhingen, stieg in schrägen Stufen eine steile Eisrinne aufwärts.

Raul blieb beinahe der Mund offen stehen. «Orm hat ‹Pfad› gesagt.»

«Benutzt eure Eisäxte», sagte Glum. «An den steilen Stellen schlage ich Stufen für euch heraus. Es kommen auch noch ein paar schwierige Abschnitte, für die wir uns anseilen müssen.»

«Schwierige Abschnitte», wiederholte Raul.

Glum bewegte sich leichtfüßig voraus und schlug mit seiner Axt Vertiefungen für die Fußspitzen aus dem Eis. Wayland wurde bewusst, wie unsicher er auf dem Eis war. Schon nach ein paar Schritten glitt er aus. Er wäre abgestürzt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, die Axt ins Eis zu hauen.

Raul schob sich hinter ihm in die Höhe. «Das ist das Dümmste, was ich in meinem Leben je angefangen habe.»

Wayland sah zu Glums Umriss hinauf. «Kehr um, wenn du willst.»

Dann ging er weiter, jeden einzelnen Schritt vorsichtig abwägend. Glum war schon am oberen Ende des tückischen Stufenverlaufs. Als Wayland zwischen seinen Füßen nach unten sah, hatte er Rauls Kopf und Schultern und die glatte Eisrinne im Blick, die in Richtung Klippenfuß abfiel. Wenn er jetzt ausrutschte, würde er Raul mit sich in die Tiefe reißen. Eissplitter rutschten an ihm vorbei. Glum zog sich über die letzte Stufe außer Sicht.

Benutzt die Stufen, die ich ins Eis schlage.

Wayland wartete, bis Raul bei ihm war, und streckte ihm die Hand hin. Der Deutsche war von Panik erfüllt und biss die Zähne fest zusammen.

«Du lässt uns besser das Seil herunter», rief Wayland.

Und das Seil kam.

«Du vertraust ihm?», keuchte Raul.

«Mehr als mir selbst.»

Damit stieg er an dem Seil hinauf. Seine Füße rutschten über das unebene Eis. Oben angekommen, entdeckte er Glum, der sich mit dem Seil am Ende der Rinne hinter ein paar Felsen verkeilt hatte, um sicheren Halt zu haben. Wayland sah an ihm vorbei. Er hatte gehofft, dass der Aufstieg von nun an einfacher werden würde, doch stattdessen sah er die nächste Eiskaskade vor sich, die sogar noch steiler war als die erste.

«Du hättest uns sagen sollen, wie gefährlich es ist.»

Glum sah ihn ruhig an. «Wärt ihr dann mitgekommen?»

Wayland kletterte den größten Teil der nächsten Steigung an den nackten Felsen am Rand der Eisrinne hinauf. Eine der vielen heiklen Erfordernisse dabei war, dass er sich um eine Felsnase herumschieben musste, die aus der Steilwand herausragte und sich aufgespalten hatte. Er hatte die Felsnase mit beiden Händen umfasst, ihr sein gesamtes Gewicht anvertraut, als er spürte, dass sie sich ganz langsam von der Steilwand zu lösen begann. Irgendwie kam er um die Felsnase herum, ohne dass sie abstürzte, doch dann hörte er ein knirschendes Geräusch und sah wie in Zeitlupe das oberste Stück abbrechen. Der Steinblock war doppelt so groß wie ein Männerkopf und schoss auf Raul zu die Eisrinne hinunter. Wayland biss sich auf die Faust, und das rettete den Deutschen. Hätte er eine Warnung ausgestoßen, dann hätte Raul aufgesehen und wäre mitten ins Gesicht getroffen worden. So aber duckte er sich konzentriert in die Rinne, um seine nächste Bewegung abzusichern. Er hörte den Steinblock nicht kommen, bis er unmittelbar vor ihm aufprallte und dann über ihn hinwegsprang. Er flog über die Eistreppe, und Wayland hörte, wie er an den Felswänden zersplitterte und als Geröllhagel in die Tiefe schoss. Starr vor Schreck, wartete er, bis Raul zu ihm aufgeschlossen hatte.

Der Deutsche lehnte sich stöhnend an die Felswand, legte den Kopf zurück und schloss die Augen.

«Ich würde es dir nicht übelnehmen, wenn du umkehrst», sagte Wayland.

«Zu spät. Das wäre jetzt genauso gefährlich, wie weiterzumachen.»

Er hatte recht. Ein grimmiger Fatalismus überkam Wayland, als er sich den nächsten vereisten Absatz emporarbeitete. Wenn er abstürzte, wäre alles aus – aufloderndes Entsetzen, ein schmetternder Aufprall, und dann nichts mehr.

Nach dem dritten Absatz wurde die Eisrinne etwas breiter und der Aufstieg einfacher. Wayland musste sich nicht mehr bei jedem Schritt mit den Händen festhalten. Dann schien sich eine Dachluke zum blauen Himmel aufzutun, und er taumelte aufs Gipfelplateau. Raul arbeitete sich hinter ihm hoch, drehte sich um und deutete auf die Eisrinne, als führte dieser Schacht in die Hölle. «Da gehe ich nicht wieder hinunter. Hast du gehört?»

Glum rollte das Seil über seine Schulter auf. «Doch, das musst du. Es ist der einzige Weg.»

Der Aufstieg hatte beinahe den gesamten Vormittag in Anspruch genommen, und der Himmel bezog sich. Von dem Plateau aus konnten sie die gewaltige Polarwüste im Inland sehen. Ein kalter Gletscherwind ließ ihre Gesichter prickeln, als sie über das Plateau stapften. Es ging weiter leicht bergauf, und sie sahen nichts außer Schnee und Himmel und ihren eigenen Fußspuren, die sich hinter ihnen verloren. Dann begann der Hang abzufallen, und die Schneedecke war nicht mehr geschlossen, sodass weite Flächen frostgesprengter Felsen frei lagen. Wayland sah die eisumgürteten Felskuppen auf der anderen Seite des Fjords, und dann kam der Rand des Gipfelplateaus in Sicht – zerbrochene Felssäulen und Pfeiler, die durch messerscharfe Grate mit der Felswand verbunden waren. Glum ging auf einen der weiten Vorsprünge hinaus. Er wirkte sehr verletzlich auf diesem luftigen Felssporn.

Dann hob er den Arm über den Kopf und deutete nach links. Sie gingen weiter gegen den Wind.

«Da!», rief Wayland und deutete auf einen klobigen Umriss, der auf einem Gesims in der Steilwand saß.

«Ja, das ist der Falke», sagte Glum. «Ich glaube, sein Nest ist ganz in der Nähe.»

Wayland vergaß die Gefahren des Aufstiegs und hastete voran. Er hatte den halben Weg zu dem Gesims hinter sich, als sich der Falke abstieß und in einer Kurve um den Wachfelsen herum außer Sichtweite glitt. Das Tier war nicht so groß, wie Wayland erwartet hatte. «Das muss das Männchen sein», sagte er. «Der Terzel.» «Wartet hier», sagte Glum und balancierte leichtfüßig auf einen anderen Klippenvorsprung hinaus. Am Rand hakte er sich mit seiner Axt in einer Felsspalte ein und beugte sich weit vor. Dann zischte er und winkte sie zu sich.

Waylands Herzschlag beschleunigte sich, als er sich vorsichtig auf den Felsvorsprung schob. Ganz vorn angekommen, drückte ihn ein heftiger Aufwind auf die Fersen zurück. Mit tränenden Augen spähte er über den Rand. Die Welt begann sich zu drehen. Benommen und furchtsam zog er sich zurück.

«Nimm meine Hand», sagte Glum. «Siehst du, meine Axt hält mich ganz fest.»

Wayland vertraute dem Griff des Jungen sein Leben an und beugte sich über die Felskante. Der Wind blies ihm das Haar aus dem Gesicht. Das Schiff unter ihnen schien kaum größer als ein Reiskorn. Dann hörte er einen klagenden Schrei, und der Gerfalke glitt von einem Felsüberhang zu seiner Linken. Wayland sah auf ihn hinab, nahm seine Größe und sein weißes Gefieder wahr, seine muskulösen Schultern, die breiten Flügelansätze. Ein Weibchen. Es ließ sich vom Aufwind tragen, schwebte mit leicht abwärts geneigten Flügeln an der Steilwand entlang und flog so nahe an ihm vorbei, dass Wayland den Lichtreflex in seinen Augen sehen konnte.

Er drehte sich zu Raul um. «Schneeweiß! So groß wie ein Adler!»

«Das Nest liegt unter dem Überhang», sagte Glum. «Es ist unmöglich, direkt hinzukommen. Ich finde heraus, ob es von der anderen Seite aus einfacher ist.»

Der Falke entfernte sich, gewann an Höhe. Bei dem Gedanken, die Jungen dieses Vogels zu besitzen, noch bevor es Abend war, kribbelte Wayland das Blut in den Adern.

Glum kam zurück und wiegte den Kopf. «Auf dieser Seite ist es nicht so schwierig, glaube ich. Jetzt müssen wir eine Stelle finden, an der wir die Seile befestigen können.»

Sie musterten die Umgebung oberhalb des Horsts. Ungefähr fünfzehn Fuß hinter der Felskante entdeckte Glum eine Spalte, in die sie die Eisenstange einen Fuß tief versenken konnten.

Raul wischte sich mit dem Ärmel unter der Nase entlang. «Wer steigt hinunter?»

Glum sah Wayland an. «Ich glaube, das muss ich machen. Für euch ist es nicht so einfach.»

Beinahe hätte ihm Wayland zugestimmt. Die Aussicht darauf, an diesem Felshang hinunterzuklettern, brachte sein Herz zum Flattern und ließ ihm die Beine weich werden. Doch als er in die Weite blickte und das Falkenweibchen ihr Territorium überwachen sah, wusste er, dass sein Triumph nicht vollkommen wäre, wenn er die Nestlinge nicht selbst holte.

«Ich gehe», sagte er. «Zeig mir den Weg.»

Glum führte ihn auf den Felsvorsprung und deutete den Steilhang hinunter. «Zuerst musst du bis zu diesem Sims dort absteigen. Dann folgst du ihm bis zu einem Fels, der aussieht wie die Nase eines Riesen.»

Wayland sah eine Felsnase aus dem Hang ragen. «Und wie komme ich um diese Nase herum?»

«Es gibt einen Tritt für den Fuß. Siehst du ihn? Du musst mit dem linken Fuß auf diese Stelle treten, damit du mit der rechten Hand um den Felsen herumgreifen kannst. Wenn du auf der anderen Seite bist, ist es ganz leicht. Dann siehst du das Nest gleich oberhalb von deinem Kopf.»

Wayland nickte, er war zu beklommen, um sich das alles zu merken.

«Ich bleibe hier und gebe dir Anweisungen. Zuerst müssen wir das Seil befestigen.»

Sie krochen zurück, und Raul nahm Wayland beiseite. «Mach das nicht. Lass lieber den Jungen seinen Hals riskieren.»

Die Anspannung machte Wayland reizbar. «Kümmere du dich um deine Sachen, und lass mich meine machen.»

Er stand da wie ein Kind, das sich von seiner Mutter anziehen lässt, als Glum zwei Seile um seine Brust schlang und ihm den Korb über die Schulter hängte. «Ich kann dich nicht sehen, wenn du bei dem Nest bist, also musst du mir ein Zeichen geben, indem du an dem Seil ruckelst. Zweimal, wenn du mehr Seil willst. Dreimal, um mir zu sagen, dass du zurückwillst.»

«Und was bedeutet einmal ruckeln?», fragte Raul.

Ein Lächeln glitt über Glums Gesicht. «Ein Ruck bedeutet, dass das Seil gerissen ist.» Er nahm eines der Seilenden in die Hand und spannte es. «Häng dein Gewicht nicht an das hier. Es ist nicht mehr ganz neu.»

Raul musterte Glum aus zusammengekniffenen Augen. «Wie alt bist du, mein Sohn?»

«Ich bin vierzehn.»

Raul spuckte aus. «Ich wette, du wirst nicht mal zwanzig werden.»

«Vielleicht hast du recht. Es gibt nicht viele alte Knochen in unserer Familie. Aber jeder Tag meines Lebens ist ein Abenteuer.» Glum rollte die Seile aus, schlang sie einmal um die Eisenstange und gab Raul die freien Enden in die Hand. Dann ging er mit Wayland zur Felskante und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Denk nicht daran, wie hoch es ist. Wäre die Klippe nur fünfzig Fuß hoch, dann wärst du nicht so aufgeregt, aber du würdest trotzdem sterben, wenn du abstürzt.»

Wayland versuchte zu lächeln. «Der Unterschied ist, dass ich nicht so viel Zeit hätte, darüber nachzudenken.»

Glum klopfte Wayland auf den Arm. «Geh jetzt. Das Wetter wird bald schlechter.»

Wayland richtete sich auf Raul aus und ging, die Seile zwischen den Händen durchgleiten lassend, rückwärts zur Felskante. Er hatte ein hohles Gefühl im Magen. Dann trat er mit seinem rechten Fuß ins Leere.

«Zurücklehnen», befahl Glum. «Weiter. Sieh zum Himmel hinauf.»

Wayland atmete tief ein, ließ sich nach hinten kippen und ging rückwärts den Steilhang hinab. Abrieb und Flechten, von seinen Schritten gelöst, flogen im Aufwind an ihm vorbei und juckten in seinen Augen. Raul ließ das Seil nicht gleichmäßig ablaufen, und so fühlte sich der Abstieg an wie ruckartiges Fallen und Gefangenwerden.

«Bleib zurückgelehnt!», rief Glum. «Du hast es beinahe geschafft.»

Das letzte Stück bis zu dem Felssims legte Wayland mit der Eleganz eines Kartoffelsacks zurück. Dann suchte er das Gleichgewicht und reckte den Hals. Nur noch Glums Kopf und Schultern waren zu sehen. Der Junge hob den Daumen. Als er nach der anderen Seite sah, hatte Wayland in etwa dreißig Fuß Entfernung die Felsnase vor sich, um die er herumklettern musste.

Ein wütendes krack, krack, krack übertönte Glums Anweisungen. Wayland hörte die Luft rauschen, als der Falke an ihm vorbeijagte. Er wandte sich um und sah er den Vogel zu sich zurückschauen, während er seine Flugbewegung abschloss. Dann schwang er wieder herum, strich höher in die Luft und zog seinen Körper zu einem Keil zusammen. Seine zusammengeballten gelben Fänge schossen nur zwei Fuß entfernt an Waylands Kopf vorbei. Der Falke drehte bei und kam erneut auf Wayland zu, aufwärts, wie ein Schiff, das eine Welle hinauffährt, und er sah, wie das Tier ihn anpeilte und seine Flügel anzog, bevor es, alle acht Krallen ausgefahren, an ihm vorbeijagte. Wieder und wieder griff es an, und obwohl sich Wayland sagte, dass der Vogel nicht zuschlagen würde, zuckte er jedes Mal zusammen. So bannte ihn das Tier auf dem Sims fest, bis seine Beine unter der Anspannung zu zittern begannen.

Schließlich fing Wayland an, sich seitlich auf dem Sims entlangzuschieben. Seine Augen tränten, und seine Nase triefte. Der Falke hatte abgedreht, und Waylands Selbstvertrauen nahm zu. Er kam ans Ende des Felssimses und entdeckte den Tritt. Glum hatte gesagt, er sollte mit dem linken Fuß vorangehen, aber auch der biegsamste Schlangenmensch hätte den Fuß nicht so weit vorstrecken können. Wenn er seinen rechten Fuß vorschob, so gut es ging, kam er ebenfalls nur mit der Fußspitze an die Trittvertiefung. Er würde springen müssen, doch selbst wenn er mit dem Fuß den Tritt erwischte, gab es keine Möglichkeit, sich mit den Händen irgendwo festzuhalten. Ein halbes Dutzend Mal spielte er die Bewegung im Geiste durch, so stumpfsinnig wie ein Insekt. Dann drehte er sich um. Glum deutete auf sein linkes Bein, seine Rufe wurden vom Wind weggetragen.

Wayland spürte, wie sowohl seine Willenskraft als auch seine Körperkraft nachließen. Dann übermannte ihn die grauenvolle Vorstellung, der Berg wolle ihn von sich stoßen, und er presste sein kaltes Gesicht an den Stein und klammerte sich fest. Ein Blick hinunter in die Tiefe zeigte ihm, wie langsame, übelkeiterregende Wellen auf den Strand liefen. Schwach drangen Rufe an sein Ohr. Glum hatte sich gefährlich weit über die Felskante gelehnt und ahmte eine hüpfende Bewegung nach, die darin zu bestehen schien, zunächst mit dem rechten Fuß in den Tritt zu springen, sofort mit dem linken Fuß zu folgen, und gleichzeitig die rechte Hand um die Felsnase zu schlingen. Wayland sah an den Seilen entlang, die schräg über den Steilhang liefen. Wenn der Versuch scheiterte, würde er im besten Fall dreißig Fuß tief an der Felswand entlang abstürzen. Im schlechtesten Fall würden die Seile reißen, und er hätte, bis zu dem Moment, in dem er mit zerschmetterten Gliedern irgendwo in den Felsen starb, genügend Zeit, über sein Ende nachzudenken.

Oder er könnte aufgeben. Seine Waden zitterten, und in den Fingern hatte er kein Gefühl mehr. Er nahm eines der Seile in die Hand und bereitete sich darauf vor, das Zeichen zu geben. Er warf einen letzten Blick auf die Felsnase. Er hielt inne. Glum hat recht, dachte er. Wenn dieser Fels sechs Fuß hoch wäre, würde man sich keinerlei Gedanken machen – mit dem rechten Fuß abspringen, den Tritt treffen, ausbalancieren, mit dem linken Fuß folgen, und sich nach einem kurzen Moment der Schwerelosigkeit wieder abstoßen und den Arm um die Felsnase schlingen.

Glum hatte aufgehört zu rufen. Wayland wischte sich über die Nase, atmete tief ein, konzentrierte sich, beugte das linke Knie und sprang. Zwei schnelle Schritte, und er warf den Arm um die Felsnase. Als er wusste, dass er nicht abstürzen würde, schlang er auch sein rechtes Bein um den Felsen und tastete auf der anderen Seite nach einer trittsicheren Stelle. Zuerst war da nichts, dann berührte er einen kleinen Vorsprung. Er dachte nicht mehr nach, sondern legte sein ganzes Gewicht auf den Fuß und schob sich an der Felsnase vorbei.

Nur ein Schritt trennte ihn noch von sicherem Grund. Über ihm führten rissige Felsen, über die kalkweiße Kotspuren liefen, wie eine Leiter zu dem Nestsockel. Er zog sich hinauf, kam mit den Ellbogen über die Kante und hievte sich in den Horst.

Drei zischende Nestlinge warfen sich zur Seite und streckten ihre Krallen aus. Sie waren hässlich. Struppige Jungvögel, in deren schmutziggrauem Flaum sich erstes Gefieder zeigte. Das Falkenweibchen kreiste immer noch über dem Nest, konnte jedoch wegen des Felsüberhangs nicht angreifen. Eine eben getötete Möwe lag in dem Horst, winzige Stückchen ihres dunkelroten Fleisches klebten an der wächsernen Nasenhaut der Nestlinge. Wayland setzte sich mitten in den Horst, als wäre er ein Thron, und genoss den Blick Gottes über die Welt. Die Flechten auf dem Felsgestein waren goldfarben, silberne Adern zogen sich durch den Granit, eine kleine rosafarbene Blume bebte im Wind.

Als er aus seiner Träumerei erwachte, fror er erbärmlich. Er glaubte, Stimmen gehört zu haben, und ahnte, dass sie schon einige Zeit nach ihm riefen. Die Nestlinge lagen immer noch auf der Seite und wehrten ihn mit ihren Krallen ab. Er zitterte. Wolken waren aufgezogen, und das Wasser des Fjords hatte sich schiefergrau verfärbt. Zeit zu gehen. Er nahm die Seile in die Hand und zog dreimal.

Dieses Mal kletterte er ohne zu zögern um die Felsnase. Es war keinen Augenblick zu früh. Düstere Wolken kamen vom Meer herein, und Nebelfinger tasteten sich an den Klippen hinauf. Sobald er auf dem Sims war, nahm das Falkenweibchen seine Angriffe wieder auf. Wayland beachtete es nicht und bewegte sich schnell weiter, bis er die Stelle erreicht hatte, an der er seiner Erinnerung nach abgestiegen war. Er hielt einen Moment inne und legte dann den Kopf weit zurück, um den Verlauf der Seile zu überprüfen.

In demselben Augenblick traf ihn etwas mit betäubender Wucht an der Stirn. Er bekam kaum mit, dass er von dem Sims geschleudert wurde, bis er in den Seilen hing, die ihm tief in die Brust schnitten. Seine Stirn schmerzte entsetzlich, so als hätte man ihm eine stumpfe Säge in den Kopf gerammt. Durch pulsierende rote Wellen nahm er wahr, dass er mit dem Rücken zur Steilklippe hing. Etwas klebrig Warmes floss über sein Gesicht, ließ ihn halb blind werden und erfüllte seinen Mund mit einem salzigsüßen Geschmack. Er wischte sich das Blut aus den Augen und tastete mit der Hand seine Stirn ab, um festzustellen, wie schwer der Hieb gewesen war. Sein Schädel war noch intakt, aber über seinen Augenbrauen klaffte eine tiefe Wunde.

Der Schmerz ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Blut rann ihm am Hals herunter. Er versuchte, mit den Füßen den Felsen zu erreichen, um sich wieder herumzudrehen. Irgendwie hatten sich die Seile auf seinem Rücken verschlungen, sodass er schräg in der Luft hing und sich nicht abstoßen konnte. Um alles noch schlimmer zu machen, hielt ihn der Korb auf Abstand von dem Steilhang. Er tastete nach den Riemen und stellte fest, dass einer gerissen war. Er kämpfte sich aus dem anderen und ließ den Korb in die Tiefe fallen. Noch immer rann ihm Blut in die Augen. Er griff nach den Seilen. Eines davon war gerissen.

Mit seinen blutverschmierten Händen bekam er keinen festen Halt an dem übriggebliebenen Seil. Er wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab und wollte gerade wieder nach dem Seil fassen, als er sich etwa einen Fuß angehoben fühlte. Raul versuchte, ihn hinaufzuziehen. Noch ein heftiger Ruck, und Wayland hörte das Seil über den Fels scheuern.

«Nein!»

Die Bewegungen hörten auf. Erneut wischte er sich die Hände ab und versuchte wieder, sich hochzuziehen. Er musste hinter sich über den Kopf greifen. Der Winkel war völlig falsch. Er unternahm noch ein Dutzend Versuche, dann gab er auf. Bald würde er keine Kraft mehr haben. Sein Nacken schmerzte von der Anstrengung, den Kopf hochzuhalten. Eisiger Nebel strömte an ihm vorbei. Die Kälte hatte die Blutung gestillt, und sein Gesicht begann zu erstarren. Das Seil um seine Brust schnitt so tief ein, dass er nur flach und japsend atmen konnte.

«Hör auf zu kämpfen. Ich komme herunter.»

Es war Glum. Es klang so, als sei er nicht weit über ihm.

«Wayland, ich bin auf dem Sims. Du bist ungefähr zehn Fuß unter mir. Ich lasse dir ein anderes Seil hinunter. Glaubst du, dass du es fangen kannst?»

Wayland hob schwach die Hand.

«Hier kommt es.»

Das Seil fiel zischend über seine Schulter. Er erwischte es beim zweiten Versuch. Seine Finger waren zu steif, um einen Knoten zu machen. Wayland schlang es sich zweimal ums rechte Handgelenk.

«Häng dich an das Seil. Dann kannst du dich umdrehen, und alles wird einfacher.»

Wayland packte das Seil mit beiden Händen und spannte sich an. Als sein Gewicht von dem ersten Seil auf das andere übertragen wurde, ließ der Druck auf seine Brust nach, und Luft strömte in seine Lungen.

«Dreh dich zum Fels um.»

Wayland atmete noch einige Male tief durch, bevor er mit den Füßen strampelte. Er drehte sich um und schlug mit der Brust gegen die Felsklippe. Als er durch einen Blutschleier nach oben blinzelte, sah er Glum, der von dem Sims aus zu ihm herabspähte.

«Ich glaube, du hast nicht mehr genügend Kraft, um an dem Seil heraufzuklettern. Du musst dich von Raul bis zu mir hochziehen lassen.»

Glum gab das Zeichen, indem er an seinem eigenen Seil zog. Wayland fühlte sich ein Stück in die Höhe getragen. Glum beugte sich hinab, packte ihn am Kittel und zog ihn auf den Felssims.

«Das wäre schon einmal gutgegangen. Jetzt erhole dich, bis du wieder genügend Kraft hast, um hochzuklettern.»

Wayland balancierte im nasskalten Aufwind auf dem Sims, bis sich seine Atmung beruhigt hatte, und sah dann nach oben.

«Ich bin bereit.»

Raul zog ihn hoch wie eine Rinderhälfte. Als er über die Klippenkante kroch, sah er den Deutschen hinter das Verankerungseisen gestemmt. Sobald Wayland sicheren Grund unter den Füßen hatte, stürzte Raul auf ihn zu und umschlang ihn mit den Armen. Dann ließ er ihn zu Boden gleiten, fiel auf die Knie und nahm Waylands Gesicht in beide Hände.

«Was ist passiert? Hat dich ein Stein getroffen?»

«Es war der Falke. Ich glaube nicht, dass er mich treffen wollte. Ich habe mich nur im falschen Moment zurückgebeugt und …» Ihm wurde schwindlig.

Raul begutachtete die Wunde.

«Wir müssen dich zurückbringen.»

«Ist es schlimm?»

«Sagen wir mal so: Du bist nicht mehr so hübsch wie vorher.» Dann fiel Raul auf, dass Wayland den Korb nicht mehr bei sich hatte. «Die Falken. Hast du sie verloren?»

Wayland schüttelte den Kopf.

«Sag mir nicht, dass das Nest leer war.»

Wayland hob drei steifgefrorene Finger. «Zu jung. Nicht geeignet.» Dann schienen seine Knochen zu schmelzen, und er sank in Rauls Arme.

Glum rollte die Seile auf. Er musterte das gerissene Seil und runzelte die Stirn.

«Du hattest recht damit, dass es abgenutzt war», sagte Raul.

Glum schnalzte mit der Zunge. «Nein, es war das neue, das gerissen ist.»

Syth brach in Tränen aus, als sie Wayland ins Lager brachten. Die Grönländer legten ihn in ein Zelt und versammelten sich am Eingang. Doch bis auf Raul scheuchte Syth alle weg. Dann machte sie Wasser warm und wusch Waylands Gesicht ab. Die Wunde hatte wieder angefangen zu bluten.

«Bring mir einen Spiegel.»

Syth kam mit einer polierten Bronzescheibe wieder. Wayland hielt sie hoch und betrachtete sich. Die Hinterkralle hatte ihm mitten auf der Stirn eine klaffende Wunde geschlagen. Er tastete nach dem Beutel, in dem er seine Falknerausrüstung aufbewahrte, und kramte eine Knochennadel und Zwirn heraus, mit dem er frisch gefangenen Greifvögeln die Augen zunähte.

«Wirst du sie nähen?», fragte Raul.

«Sonst heilt sie nicht gut.» Mit zitternden Händen versuchte Wayland den Zwirn einzufädeln. Dann gab er auf und reichte beides an Syth weiter.

Sie ließ den Zwirnsfaden durchs Nadelöhr gleiten und gab die Nadel zurück. Dann ließ sie sich auf die Fersen zurücksinken und biss sich auf den Zeigefinger. Doch Wayland streckte ihr die Nadel wieder entgegen. «Du machst es. Es ist nicht schwer. Ich habe einmal bei dem Hund eine Wunde genäht, als er noch jung war und einem Hirsch in die Quere gekommen ist.»

«Das kann ich nicht.»

«Soll ich’s mal versuchen?», fragte Raul.

Wayland schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder. «Ich mache es selbst. Du hältst den Spiegel.»

Wayland zog sich etwas hoch und ließ die Nadel über einem Ende der Wunde schweben. Das Fleisch war geschwollen und bleich, und es fiel ihm schwer, die Nadel richtig festzuhalten. Er brauchte mehrere Versuche, um die Spitze anzusetzen. Dann stieß er die Nadel durch den unteren Wundrand. Er zuckte zusammen vor Schmerz und das Ergebnis war ein falsch ausgerichteter Stich. Blut sickerte ihm in die Augen. Syth tupfte es mit einem Tuch ab.

«Das geht nicht. Ich kann nicht richtig sehen.» Er streckte Syth die Nadel entgegen. «Bitte», sagte er. Er legte sich zurück. «Raul, du hältst meinen Kopf fest.»

Syth beugte sich dicht über ihn, und er schloss die Augen. Die ersten Stiche waren nahezu unerträglich, doch dann schien er aus seinem Körper hinauszugleiten, und auch wenn er immer noch jeden Stich spürte, schien es ein anderer zu sein, der den Schmerz ertragen musste.

Als er wieder in seinen Körper zurückkehrte, blickte Syth auf ihn herunter. Er hob die Hand und strich sich über die Stirn. «Fertig?»

«Ja. Du warst sehr tapfer.»

«Zeig es mir.»

Sie hob den Spiegel hoch. Seine Stirn glich einer schwellenden Gewitterwolke, aber die Wunde war beinahe so säuberlich genäht wie ein Kleidersaum.

«Ich wusste, dass du es gut machen würdest.»

Sie versuchte nicht zu weinen. «Du solltest etwas essen.»

Er rollte den Kopf von links nach rechts. Schon beim bloßen Gedanken an Essen hätte er sich am liebsten übergeben.

«Dann schlaf.» Sie wollte sich zurückziehen, damit er ruhen konnte.

Da kamen die Worte wie von selbst aus seinem Mund. «Syth, ich liebe dich.»

Sie blieb stehen. «Wie eine Schwester?»

«Wie eine Frau.»

Sie glitt neben ihn und bedeckte seine Wangen mit sanften Küssen.

Er hielt sie fest, sein Kopf lag an ihrer Schulter. «Was werden wir jetzt tun?»

«Oh, Wayland, du kannst wirklich die dümmsten Sachen sagen. Wir tun, was alle Liebenden tun.» Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. «Sobald du dazu imstande bist.»