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XXIV
Am nächsten Tag war er wieder auf den Beinen, und am darauffolgenden Morgen nahm er die Suche nach besetzten Falkenhorsten wieder auf. In den Tagen darauf erkundete er die Fjorde zu beiden Seiten des Roten Kaps und fand vier weitere Nester. Keines von ihnen stellte ihn vor die gleichen Herausforderungen wie das erste. Er stieg zu zwei Nestern von unten hinauf und zu den beiden anderen ließ er sich von oben an einem Seil herunter, das Glum sicherte. Alle Nestlinge waren zu jung, um mitgenommen zu werden. Wayland erklärte, dass Falken, die aus dem Nest geholt wurden, bevor sie ausgewachsen waren, sich niemals über ihre frühe Entwicklungsstufe hinausentwickelten. Die beste Zeit, sie zu holen, war, wenn ihr Gefieder ganz aus den Blutkielen herausgewachsen war und sie zum ersten Flugversuch bereit waren. Und selbst dann wurden einige nervös und aggressiv, schrien den ganzen Tag nach Futter, und mantelten plump auf der Faust. Deshalb bevorzugte Wayland Falken, die in ihrem ersten Herbst gefangen wurden, wenn der freie Flug sie hatte reifen lassen. Allerdings übertraf nichts einen Jagdvogel, der ausgewachsen gefangen wurde.
Einem dieser idealen Vögel begegnete er, als er von dem letzten Horst zurückkehrte. Sie waren im Beiboot und ruderten durch den Fjord nördlich des Roten Kaps. Vor ihnen im Westen hing die Sonne als abgeflachte Kugel am Himmel und warf lange Schatten über den Gletscher auf der Steuerbordseite. Das von Eisschollen übersäte Wasser bewegte sich kaum. Dann wurde der Friede von einem Schwarm Schneehühner auf der Flucht gestört, die zum gegenüberliegenden Ufer flatterten. Als Wayland den Gerfalken erblickte, war er etwa hundert Schritt hinter den Hühnern, glitt mit beinahe geruhsam wirkenden Flügelschlägen durch die Luft. Als weißer Blitz schoss er am Boot vorbei und hatte den Schneehühnern den Weg schon halb abgeschnitten. Er überholte den Schwarm, bevor er die Mitte des Fjords erreicht hatte, und pflückte sich eines der Hühner aus der Luft. Dann breitete er die Flügel aus und segelte mit seiner Beute unter dem Schwanz zurück.
Wayland sah, wie er auf einem schroffen Felsen auf der seewärts gelegenen Seite des Gletschers Stellung bezog.
«Setz mich an Land.»
Raul stöhnte. «Lass es bleiben. Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns, und ich habe Hunger.»
«Es dauert nicht lang.»
Wayland ging an Land und schlich weiter, bis er den Falken im Blick hatte. Das Tier rupfte und fraß seine Beute, und dann entspannte es seine Federn und döste. Wayland kam näher. Der Falke hatte einen Fuß hochgezogen und zeigte keine Angst. Der Vogel hatte vermutlich noch nie einen Menschen gesehen. Wayland blieb stehen, als er die scharfen Umrisse der Schwungfedern erkennen konnte. Kopf und Brust des Vogels waren makellos, und die wenigen schwarzen Markierungen auf den Flügelfedern betonten nur noch, wie weiß sie waren. Er schob sich noch dichter heran, und der Falke stellte seinen Fuß ab und machte sich zum Abflug bereit, indem er die Flügel wie Schilde hob. Als Wayland noch einen Schritt tat, stieß sich das Tier vom Felsen ab und schwebte mit trägen Flügelschlägen über die Gletscherspitze davon.
Wayland kletterte auf den Aussichtsposten des Vogels. Knochen vieler Beutezüge lagen zusammen mit Gewölle auf dem Felsen. Er hob eine Mauserfeder des Falkenweibchens auf. Die deutlichen schwarzen Markierungen auf der Feder verrieten ihm, dass es ein Jahr alt war, und damit noch nicht zu wild, um unzähmbar zu sein. Er ließ seinen Blick über den Fjord schweifen. Meerschwalben schwebten über dem milchig grünen Schmelzwasserfluss des Gletschers. Keilförmige Entenformationen zogen über den Fjord. Der Fels war sowohl Ansitz als auch Fressstation.
Wayland ging zu seinen Begleitern zurück und zeigte ihnen die Feder. «Ich werde dieses Weibchen fangen.»
«Das ist keine gute Stelle», sagte Glum. «Wir können hier nirgends ein sicheres Lager aufschlagen. Jetzt ist es ruhig, aber manchmal fegt der Sturm mit solcher Wucht vom Gletscher herunter, wie du es dir nicht vorstellen kannst.»
Wayland sah sich um. Auf der Inland-Seite des Gletschers stürzte ein von Regenbogen umschwebter Wasserfall auf eine sonnenbeschienene Felsbank.
«Da drüben haben wir mehr Schutz. Sehen wir es uns mal an.»
Raul brummte. Wayland und er hatten zu viel Zeit miteinander verbracht und begannen einander auf die Nerven zu gehen.
Syth und Glum folgten Wayland auf den felsigen Strand. Wärme wurde vom Gestein der Steilklippe zurückgeworfen. Weidenröschen, Engelswurz und gelber Mohn wuchsen im dem Geröll, und in den Mulden zwischen den Felsblöcken wucherten dichte Heidelbeersträucher und Zwergweiden. In wehenden Schleiern stürzte der Wasserfall in ein Felsbecken, aus dem sich ein schäumender Fluss ergoss. Unter der Felsklippe auf der einen Seite des Wasserfalls war ein Aushöhlung.
«Dort schlage ich mein Lager auf.»
Glum brachte einen anderen Einwand vor. «Wenn du einen Vogel als Köder ins Netz hängst, werden ihn sich die Füchse holen.»
Ein Fuchs in seinem struppigen Sommerfell schlich nicht weit entfernt vorbei. Wayland hatte einen Korb mit sechs Tauben mitgebracht, die er als Falkenfutter vorgesehen hatte. Sein Blick wanderte über das Küstenland und blieb an einer Gletschermoräne hängen. «Ich benutze kein Netz.»
Nach kurzer Suche entdeckte er einen von der Natur geformten Unterschlupf aus einem tafelförmigen Findling, der schräg über einigen Felsblöcken lag, sodass sich eine Höhle gebildet hatte, die zwei Fuß hoch und lang genug war, um Wayland aufzunehmen. Er schob sich mit den Füßen voran hinein, um festzustellen, ob er von dort aus einen guten Blick auf den Ansitz des Falken hatte.
«Da drin wirst du erfrieren», sagte Syth.
«Das ist Zeitverschwendung», beschwerte sich Raul. «Du hast schon genügend Falkennester gefunden. Mehr brauchen wir nicht.»
Wayland zog sich aus dem Unterschlupf. «Keiner von diesen Nestlingen kann vor der nächsten Woche aus dem Horst geholt werden. Wir geben der Sache drei Tage.»
Sie luden Ausrüstung und Verpflegung aus, dann zogen sie das Boot aufs Ufer und banden es mit Tauen an Felsblöcken fest. Anschließend stellten sie in der Aushöhlung bei dem Wasserfall zwei Zelte auf und aßen im Freien, während die Sonne südlich des Roten Kaps weiterwanderte und die Klippen in kastanienrotes Licht tauchte.
Wayland war zu angespannt zum Schlafen. Noch bevor sich die Schatten vom Ansitz des Falken gehoben hatten, rüttelte er Glum wach. Raul und Syth schliefen noch. Der junge Grönländer rieb sich die Augen und trat aus dem Zelt. Eisengraue Wolken verhüllten die Spitze der Steilklippe. Ein rauer Wind blies vom Gletscher herab und sorgte im Fjord für kabbeliges Wasser.
«Das ist kein Tag, um einen Falken zu fangen.»
«Schlechtes Wetter macht Falken waghalsig», sagte Wayland. «Er kommt möglicherweise sofort, nachdem ich den Köder ausgelegt habe.»
Der böige Wind trieb sie auf dem Weg zu dem Unterschlupf vor sich her. Wayland glitt in seinen Schlafsack gehüllt hinein. In der Hand hielt er eine lebende Taube. Dann zog er einen Schirm aus Weidengeflecht vor die Öffnung. «Bleib außer Sicht», sagte er zu Glum. «Komm zurück, wenn die Sonne im Westen steht.»
«Es wird aber heute keinen Sonnenschein geben. Und außerdem bist du bald zum Eisklotz gefroren.»
Glum hatte recht. Wayland hatte sich kaum in den Unterschlupf gelegt, als die in der Erde gespeicherte Kälte in seinen Körper zu kriechen begann. Er verlor das Gefühl in der Hand, mit der er die Taube hielt. Er zog sie in die Höhlung zurück und wartete darauf, dass der Falke auftauchte. Doch der Ansitz blieb leer, der Himmel wurde düster, und der Wind frischte auf. Um die Mittagszeit wurde Wayland klar, dass diese Jagd keine Aussicht auf Erfolg hatte. Gerade als er sich aus dem Unterschlupf winden wollte, ließ ihm ein donnerndes Tosen die Haare zu Berge stehen. Ein Strom eiskalter Luft raste mit solcher Gewalt vom Gletscher herunter und an seinem Unterschlupf vorbei, dass es ihm die Luft aus den Lungen sog. Als er sich ein Stück vorwärtsschob, sah er, dass die Wasseroberfläche des Fjords nur noch aus stiebender Gischt bestand. Er wurde unruhig. Wenn der Sturm die Wellen flachdrücken konnte, war kein Mann imstande, darin irgendwohin zu gehen. Dann begann es zu schneien, und Wayland bekam Angst. Der Blizzard tobte wie ein weißer Strudel um ihn. Er saß in der Falle, er fror bis auf die Knochen, er wartete. Bestimmt konnte ein so wilder Sturm nicht lange dauern.
Er dauerte den gesamten Tag. Eine Wahnvorstellung von Wärme und Behaglichkeit hielt Wayland gefangen, als plötzlich der Hund seine Schnauze in den Unterschlupf steckte. Dann tauchte Glums eingemummtes Gesicht auf, die Augenbrauen weiß vor Schnee. «Komm jetzt raus!»
Die Taube war verendet. Wayland war so steif, dass Glum ihn aus dem Unterschlupf ziehen musste. Der Junge hatte sich an den Hund geseilt, und Wayland tat es ihm nach. So krochen sie blind durch das dröhnende Whiteout. Allein der Instinkt des Hundes brachte sie sicher zu der Höhle. Syth stürzte auf Wayland zu.
«Der Hund wusste, dass du in Gefahr bist, und hat angefangen zu jaulen.»
«Sie hat mich dazu gebracht, dem Hund zu folgen», keuchte Glum. «Wenn ich es nicht getan hätte, wäre sie selbst losgegangen.» Ein Feuer brannte vor dem Zelt. Glum streckte seine Hände danach aus. «Verrückt», sagte er. «Einfach verrückt!»
Waylands Kinn bebte. Er versuchte, sich zum Feuer umzudrehen. Syth ergriff seine Hände und riss erschrocken die Augen auf.
«Das sind die reinsten Eiszapfen.»
Sie zog ihn ins Zelt, drückte ihn auf ihr Lager, legte sich vor ihn, führte seine Hände unter ihre Wollsachen auf ihren Bauch und schmiegte sich mit dem Rücken eng an seinen Körper. Wayland drückte sich dicht an sie, doch vor seinem inneren Auge tobte noch immer der Schneesturm. Dann legten sich Glum und Raul an seine andere Seite, und sie drängten sich zusammen wie ein Wurf Tiere, während der Wind mit dem Zorn eines Monsters, das um seine Beute betrogen wurde, um sie heulte.
Schließlich ebbte der Sturm ab. Als Wayland aufwachte, herrschte eine unheimliche Stille. Unter seiner rechten Hand fühlte er etwas weiches und irgendwie Behagliches, und da wurde ihm klar, dass er eine von Syths Brüsten umfasste. Er schob Glums Arm von seinem Rücken, setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Warmes Licht drang durch den grobgewebten Zeltstoff herein. Wayland stand auf und trat in eine goldüberglänzte Mitternacht hinaus. Am Strand lag der Schnee mehr als einen Fuß hoch. Und drüben, auf der anderen Seite des Gletschers, saß wie ein Schnitzbild der Falke auf seinem Ansitz.
Glum kroch hinter ihm aus dem Zelt und trat neben Wayland. «Wird Zeit, dass wir hier wegkommen.»
«Du gehst mit Raul», sagte Wayland. «In drei Tagen kommt ihr zurück. Dann habe ich den Falken gefangen.»
Glum hatte Bedenken, Wayland zurückzulassen, doch Raul war froh, wieder in die raue Gesellschaft der Grönländer zu kommen. Wayland und Syth sahen den beiden nach, als sie zwischen den Eisschollen davonruderten. Sie legte ihm den Arm um die Hüfte und lächelte zu ihm empor. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, waren sie allein. Als sich Wayland umdrehte, saß das Falkenweibchen immer noch auf seinem Sitz, und Wayland ging auf, dass es nach der Fastenzeit, die ihm der Sturm aufgezwungen hatte, sehr hungrig sein musste.
«Komm mit mir zu dem Versteck», sagte er zu Syth. «Wenn der Falke mich allein dort hineinkriechen sieht, weiß er, dass es eine Falle ist.»
Auf dem Weg zum Unterschlupf sah Wayland vier oder fünf Füchse. Sie waren die reinste Plage.
Er schob sich in die Felsenhöhle und sah zu Syth auf. «Geh nicht zu weit weg», sagte er und kraulte den Hund unter dem Kinn. «Pass gut auf sie auf.»
Syth wanderte davon. Der Falke saß mit eingezogenem Kopf da. Wayland bewegte die linke Hand, um die Taube zum Flattern zu bringen. Der Falke reagierte nicht. Ein Fuchs mit einem erbeuteten Lemming zwischen den Kiefern trottete vorbei und blieb dann stehen, um die Taube anzustarren. Wayland zischte, und der Fuchs floh. Trotz der zusätzlichen Decken, die er mitgebracht hatte, ließ die Kälte Wayland lethargisch werden. Und das Sonnenlicht, das vom Gletscher reflektiert wurde, versachte ihm bohrende Kopfschmerzen.
Seine Aufmerksamkeit ließ nach. Er träumte von Syths Brüsten und von ihrer zarten Taille, als ein Fleck durch sein Gesichtsfeld zog. Er blinzelte, um den Fleck loszuwerden. Doch stattdessen wurde der Fleck größer, und da wurde Wayland klar, dass der Falke mit halb angezogenen Flügeln auf ihn zusegelte. Seine Geschwindigkeit war irreführend. Als er noch fünfzig Schritt entfernt war, hörte Wayland die Luft durch die Schwungfedern des Vogels sirren. Fünfzehn Schritt von dem Unterschlupf entfernt breitete er die Flügel aus, ruderte damit zurück, und landete im Schnee. Das Tier war unruhig. Immer wieder nahm es die Taube in den Blick und sah dann weg. Der Falke hatte noch nie zuvor eine Taube gesehen und verstand nicht, warum sie nicht aufflatterte. Schließlich entschied er, dass es sich um ein Beutetier handelte, und lief krummbeinig darauf zu. Dann blieb er erneut stehen, doch inzwischen war er so nahe, dass Wayland die Schuppen seiner krokusgelben Krallenfüße erkennen konnte. Wayland zog sich mit den Zähnen den rechten Handschuh von der Hand, als der Falke seinen Blick mit einem Kopfrucken auf etwas richtete, das sich hinter dem Unterschlupf befand. Dann zuckte er noch einmal mit dem Kopf und schwang sich mit einem rauen Schrei in die Luft. Seine Flügelspitzen wischten über den Schnee, und er war verschwunden. Wayland ließ stöhnend den Kopf auf die Arme sinken. Er war sicher, dass das Falkenweibchen ihn nicht gesehen hatte. Ein Fuchs musste es erschreckt haben.
Dann hörte Wayland Felsgestein poltern. Sein Nacken begann zu prickeln. Füchse waren zu leichtfüßig, um so laute Geräusche zu verursachen. Wahrscheinlich hatte sich Syth Sorgen gemacht und kam, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Er kämpfte seinen Ärger nieder und wartete darauf, dass sie in Sicht kam.
Doch keine Schritte waren zu hören. Ein Instinkt, der sich in seinen Jahren in der Wildnis entwickelt hatte, brachte ihn dazu, keinen Laut von sich zu geben. Er wartete. Ein scharf widerhallender Knall ließ ihn zusammenfahren – nur eine Rissbildung im Gletschereis. Die Stille zog sich in die Länge. Er lauschte mit offenem Mund und nach oben verdrehten Augen. Der Gletscher stöhnte. Das Eis zog sich unentwegt zusammen und dehnte sich wieder aus und produzierte dabei höchst beunruhigende Geräusche. Das Steingepolter war vermutlich nur dadurch verursacht worden, dass sich ein Felsbrocken unter dem schmelzenden Schnee gelöst hatte. Aber warum hatte dann der Falke einen Warnschrei ausgestoßen? Wie er so in seinem eiskalten Unterschlupf lag, musste Wayland wieder an Orms Lagerfeuererzählungen von Polarriesen mit Körpern aus Stein denken und an in Fetzen abgezogene Menschenhaut auf dem Eis.
Irgendetwas schnaubte. Waylands Kopfhaut begann zu kribbeln. Er lauschte mit angehaltenem Atem, die Kehle wurde ihm eng. Die Taube lag starr vor Entsetzen mit ausgebreiteten Flügeln wie tot im Schnee. Er zog sie zu sich hinein und tastete in seinem Schlafsack nach dem Messer. Sein Gürtel hatte sich unter seinem Körper verschoben, und er konnte die Messerscheide nicht erreichen. Also schob er sich ein Stück hoch und fuhr mit der Hand um seine Taille, bis sich seine Finger um das Messer schlossen. Bevor er es ziehen konnte, hörte er den Schnee knirschen. Er unterdrückte ein Aufkeuchen, als ein Schatten über die Öffnung seines Unterschlupfs fiel.
Er zog das Messer. Sein Bogen lag neben ihm, doch in der engen Steinröhre konnte er ihn nicht einsetzen. Ein weiteres Schnauben drang herein – ein Raubtier, das seine Beute gestellt hatte. Wayland wusste, was es war, hatte es im Grunde von Anfang an gewusst, es sich jedoch nicht eingestanden.
Zwei enorme weiße Beine tauchten vor der Öffnung des Unterschlupfs auf und verstellten ihm das Licht. Der Bär kam von der oberen Felsplatte. Zwei weitere Beine wurden sichtbar, als er ganz herunterkletterte. Dann drehte er sich zu dem Unterschlupf um. Wayland konnte nur die gewaltigen, zotteligen Beine in ihrem gelblichen Fellkleid sehen, das im Gegenlicht der Sonne beinahe durchscheinend wirkte. Die Tatzen waren so breit wie Holzschaufeln und mit daumendicken, schwarzen Klauen bewaffnet.
Dann senkte der Bär den Kopf vor die Öffnung. Vor Schreck zuckte Wayland zurück und knallte mit dem Schädel gegen den Stein. Der Bär rammte seinen Kopf in die Öffnung und blies Wayland einen Schwall übelriechenden Fischatems ins Gesicht. Das Tier knurrte und entblößte dabei gelbe Fangzähne und schwarzes Zahnfleisch. Wayland rutschte noch tiefer in die Höhlung. Die Kiefer des Bären waren weniger als einen Fuß von seinem Gesicht entfernt. Der Bär schob sich vor, gewann noch ein paar Zoll. Da begann Wayland so laut und wild zu brüllen, dass es ihm in der Kehle schmerzte, und der Bär zog mit einem Grunzen den Kopf aus der Öffnung des Unterschlupfs.
Keuchend lag Wayland da. Nur wenige Augenblicke darauf versuchte das Tier erneut, an ihn heranzukommen. Es tastete mit der Tatze in die Höhlung hinein. Seine Krallen verfingen sich in dem Schlafsack, in den sich Wayland gewickelt hatte, und das Tier begann, den Schlafsack mit Wayland darin aus der Höhlung zu ziehen. Wayland versuchte, sich in das Gestein zu stemmen. Der Bär verstärkte den Zug, und der Schlafsack riss. Daunenfedern schwebten hinaus in die Sonne. Wieder streckte der Bär seine Tatze in die Höhlung.
«Hier!», rief Wayland und warf die Taube nach vorn.
Ein jämmerliches Flattern, ein Tatzenhieb, der zu schnell für die Wahrnehmung war, und die Taube war verschwunden. Wayland hörte ihre Knochen brechen wie Eierschalen. Er wusste, dass ihm nur wenig Zeit blieb, bevor der Bär seinen Angriff fortsetzen würde, und er nutzte sie, um sich aus dem Schlafsack zu winden. Dann zog er die Knie ans Kinn und schob sich in Fötushaltung so weit wie möglich zurück. Die Tatze wurde wieder in den Unterschlupf gestreckt. An das hintere Ende der Höhlung gedrückt beobachtete Wayland, wie die scharfkrallige Pfote hierhin und dahin tastete. Er musste seine ganze Kraft aufbringen, um seine verdrehte Position beizubehalten, und er wusste, dass er seine Glieder nicht für immer so krümmen konnte. Dann würde ihn der Bär erwischen.
Er hob das Messer an, wartete, bis die Tatze wieder an ihm vorbeischwenkte, und trieb die Klinge tief ins Fleisch. Der Bär jaulte und zog die Tatze zurück, bevor Wayland das Messer herausziehen konnte. Es wurde ihm aus der Hand gerissen und er sah es vor der Öffnung des Unterschlupfs in den Schnee fallen.
Dann breitete sich Stille aus. War der Bär abgezogen? Das Messer lag gerade eben außer Reichweite. Wenn er es holen wollte, musste er sich mit Kopf und Schultern aus der Deckung wagen. Wayland dachte daran, wie blitzschnell der Bär die Taube geschlagen hatte. Warte lieber noch ein bisschen. Seine Gelenke brannten vor Schmerz. Bald würde er sich bewegen müssen. Mit Hilfe der Hände streckte er die Beine aus und zischte, als das Blut wie Feuerameisen durch seine Adern lief. Er beugte und streckte die Knie. Immer noch keine Spur von dem Bären. Er hatte ihn empfindlich verletzt. Er musste abgezogen sein. Wayland spähte zu der Klinge ihm Schnee hinaus. Wenn der Bär geflüchtet war, brauchte er die Waffe nicht, aber ohne das Messer fühlte er sich dennoch schutzlos.
Der Bär war weg. Wayland war sicher. Langsam glitt er vorwärts. Er wollte gerade seine Hand ausstrecken, als er direkt über sich ein knirschendes Geräusch hörte. Er zuckte zurück, rollte sich auf die Seite und sah auf. Der Bär war auf dem Deckstein der Höhlung und schob den Schnee weg. Seine Klauen kratzten über den Fels, und Wayland wusste, dass ihn das Tier ausgraben wollte. Unmöglich, sagte er sich. Der Deckstein bestand aus einer Felsplatte von einem Fuß Dicke und mehr als sieben Fuß Länge, die in einer Eisschicht festgefroren war.
Er dachte an das, was Orm über Bären gesagt hatte, die Robben über ihre Schultern werfen konnten, als wären es Heringe. Und noch etwas anderes hatte ihnen Orm erzählt. Manchmal drehte ein weißer Bär einen Felsblock von der Größe einer Hütte um, nur weil er an ein Mäusenest kommen wollte. Wayland stöhnte vor Angst.
Eine Tatze grub sich ins Eis und hakte sich unter den Vorsprung des Decksteins. Dann zog das Tier, und schon bei diesem ersten Anlauf knackte das Eis entlang der festgefrorenen Steinkante. Wieder zerrte der Bär, und der Deckstein hob sich ein paar Zoll und verrutschte seitwärts, bevor er mit einem Knall zurückfiel. Wayland konnte durch die Lücke die Flanke des Bären sehen. Noch ein Versuch, und er wäre dem Tier so schutzlos preisgegeben wie eine Käferlarve. Er krallte die Hand um seinen Bogen und brüllte, wie Männer gebrüllt haben mussten, bevor ihnen die Sprache gegeben wurde. Der Deckstein rutschte weiter zur Seite, und als Wayland einen Luftzug an seinen Unterschenkeln spürte, wusste er dass sie im Freien lagen. Der Bär musste ihn nicht aus der Höhlung ziehen. Er würde ihn bei lebendigem Leib von den Füßen an aufwärts fressen. In Waylands Kopf rasten die Gedanken. Immer noch schreiend schob er sich auf den Ellbogen aus dem Unterschlupf.
Taumelnd kam er auf die Füße, verlor das Gleichgewicht, und schlidderte auf Händen und Füßen über den Schnee. Dann sprang er auf, wirbelte herum, und hob den Bogen wie einen Degen. Der Bär war nur wenige Schritte von ihm entfernt, starrte in die entgegengesetzte Richtung, und schüttelte langsam und erstaunt den mächtigen Kopf. Es war der Hund. Er raste über den zerklüfteten, eisigen Grund und schlug mit einem fieberhaften Zweitonbellen an. Wayland machte ein paar Schritte rückwärts, und der Bär drehte sich zu ihm um und musterte ihn. Wayland erstarrte. Einen unendlich langen Augenblick betrachtete das Tier Wayland, dann schwang es seinen Kopf wieder zu dem Hund herum. Wayland zog sich noch etwas weiter zurück und nahm mit fiebrigen Bewegungen einen Pfeil aus seinem Köcher. Der Pfeil fiel ihm aus der Hand.
Schliddernd kam der Hund direkt vor dem Bären zum Stehen. Immer noch bellend fing er mit wilden Vorstößen und Rückzügen an. Der Bär brüllte und galoppierte auf den Hund zu. Der Hund wich aus, spielte den Lockvogel. Wayland hatte den nächsten Pfeil aus dem Köcher gezogen und wollte ihn in die Sehne spannen, als er Syth auf sich zulaufen sah.
«Geh weg!»
Sie beachtete ihn nicht.
Der Hund schoss hinter den Bären und zwickte ihn in einen Hinterlauf. Der Bär wirbelte herum und verfehlte den Hund mit seiner Pranke nur um Haaresbreite. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine, und erst in diesem Moment, in dem sich das Tier über seinen Riesenhund erhob, wurde Wayland klar, wie unglaublich groß der Bär war. Der Hund wich seitlich aus, und der Bär fiel auf alle viere zurück. Und dann begann er, auf Syth zuzulaufen.
«Lauf!», schrie Wayland. Er spannte den Bogen und zielte. Ihm war klar, dass er einen Bären wohl kaum mit einem einzelnen Pfeil töten konnte.
Der Hund rannte los, um dem Bären den Weg zu Syth abzuschneiden, und legte sich mit dem Kopf zwischen den Vorderpfoten in den Schnee. Syth stand nur wenige Schritte hinter ihm. Sie bückte sich, raffte einen Schneeball zusammen und schleuderte in nach vorn. Das lächerliche Geschoss flog nicht einmal bis zu dem Hund.
Wayland zielte unter die Schulter des Bären und ließ den Pfeil abschnellen. In demselben Moment wechselte der Bär die Richtung, und der Pfeil glitt über seinen Rücken, ohne Schaden anzurichten. Das Tier lief in einer Art Buckelgalopp in Richtung des Fjords. Die ganze Strecke über hatte er den Hund auf den Fersen. Dann kam der Bär am Ufer an, glitt ins Wasser und schwamm weg. Wayland steckte den Bogen in den Schnee und ließ sich daran in die Hocke gleiten. Nach einer Weile hob er den Blick. Syth stand immer noch dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Er musste sich am Bogen hochziehen, um sich wieder aufzurichten. Unendlich langsam bewegten sich Syth und er aufeinander zu, so als könnten sie beide nicht an die Existenz des anderen glauben.
«Gott sei Dank bist du gekommen», sagte Wayland. «Einen Augenblick später und …» Er atmete tief ein und schaute blinzelnd zum Himmel hinauf.
«Das war nicht ich. Ich habe nach Feuerholz gesucht, und der Hund war bei mir. Da hat er plötzlich sein Fell gesträubt und ist losgerannt.»
Wayland beugte sich schwer atmend über sie.
Syth legte ihre Arme um ihn. «Wein doch nicht. Der Bär ist weg.»
Wayland schwenkte einen Arm und gab immer noch diese seltsamen fiependen Geräusche von sich. «Ich weine nicht.»
Syth drehte sich etwas, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. «Was ist denn so lustig?»
«Du», schluchzte er. «Wie du mit Schneebällen nach dem Bären wirfst.»