158074.fb2 Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 30

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XXV

Wayland lag vor der Höhle und beobachtete die Schleier des Wasserfalls, die langsam von der Felswand wegzogen.

«Einen Versuch mache ich noch.»

Syth sprang auf. «Nein. Der Bär wird wiederkommen.»

Wayland breitete die Arme aus. «Der Falke war so nah.»

Sie packte ihn an den Handgelenken. «Und der Bär auch. Was ist, wenn er dich tötet?»

«Das wird er nicht. Ich nehme eine Axt und einen Speer mit.»

Sie ließ ihn los und ging weg, die Hände mit gekreuzten Armen auf die Schultern gelegt. «Wenn du mich liebst, kannst du dein Leben nicht für einen Falken aufs Spiel setzen.» Sie stampfte mit dem Fuß auf und wirbelte herum. «Du musst ihn nicht fangen. Du hast schon mehr Falken gefunden, als du brauchst.»

«Dieser hier ist aber eine große Besonderheit.»

«Eine größere Besonderheit als ich?»

Wayland wusste, dass er diesen Streit mit Logik nicht gewinnen würde. Er stand auf und schloss Syth in die Arme. «Die Falken sind nicht das Wichtigste. Sie gehören ja nicht einmal mir. Wenn sie weg sind, habe ich dich immer noch. Und du hast mich immer noch.»

Syth sah zu ihm auf. «Für wie lange?»

Wayland bekam wieder das hohle Gefühl im Bauch, das ihn überfallen hatte, als er von dem ersten Falkenhorst heruntergeklettert war.

«Für immer.»

Sie schaute in die Richtung des Unterschlupfs, und ein Schauder lief über ihren Körper. «Wayland, wenn du den Falken heute nicht fängst, versprichst du mir dann, es aufzugeben?»

«Ich verspreche es.»

Sie dichteten den Spalt an dem verrutschten Deckstein mit Flechten ab. Wayland hatte den Falken nicht mehr gesehen, seit der Bär ihn in die Flucht geschlagen hatte. Er warf einen letzten Blick auf den Felsen mit dem Ansitz und wand sich dann rückwärts in den Unterschlupf hinein.

«Was ist, wenn der Bär wiederkommt?», fragte Syth noch einmal.

«Das wird er nicht.»

«Und was ist mit mir? Was ist, wenn der Bär in die Höhle tappt, während ich dort bin?»

«Der Hund wird dich früh genug warnen.» Wayland war besorgter, als er sich anmerken ließ. «Bleib draußen und behalte die Umgebung im Auge. Wenn ich den Falken fange, brauche ich deine Hilfe.»

Sie sah auf ihn hinunter, die Hände übereinander an die Kehle gelegt, und dann ließ sie ihn allein, damit er sich ein weiteres Mal in der eisigen Kälte auf die Lauer legen konnte. Axt und Speer lagen griffbereit, und er tastete manchmal nach ihnen, um sich selbst zu beruhigen. Ein Rabenpaar ließ sich auf dem Gletscher nieder, spazierte ohne erkennbaren Grund ein wenig herum, und flog wieder weg. Eine schwarzweiße Ammer sang bei einer Felsspalte ein paar Fuß von dem Unterschlupf entfernt. Wayland sah zu dem verlassenen Ansitz hinüber. Der Falke hatte vermutlich mehrere günstige Jagdaussichtspunkte, und es konnte Tage oder Wochen dauern, bis er zu diesem hier zurückkehrte. Wayland rieb sich die Augenwinkel, um sich am Einschlafen zu hindern.

Er blinzelte. Von einem Moment zum anderen war der Falke auf seinem Ansitz gelandet. Dann bewegte er sich etwas, und Waylands Begeisterung verflog. Er konnte an dem hervortretenden Kropf des Vogels sehen, dass er schon getötet hatte.

Und nun? Wenn er den Unterschlupf verließ, würde der Falke ihn sehen und diese Stelle immer misstrauisch beäugen. Wayland musste warten, bis der Falke wegflog oder bis Syth kam, sodass er unauffällig aus der Deckung kriechen konnte. Ein langer und ereignisloser Tag schien vor ihm zu liegen, doch dann machte er sich klar, dass es keine Rolle spielte, wenn er gleich aus der Deckung kroch und das Versteck aufgab. Er hatte Syth sein Wort gegeben, dass dies sein letzter Versuch wäre. Das wurmte Wayland. Wenn sie sich vor dem Bären fürchtete, konnte sie doch mit Glum zum Roten Kap zurückfahren. Er würde bleiben und den Falken fangen, ganz gleich, wie lange es dauerte.

Ein Fuchs stellte sich mit den Vorderpfoten auf einen Stein vor der Öffnung des Unterschlupfs und starrte die Taube an. Dann begann er, sich behutsam anzupirschen. Wayland zischte. Der Fuchs stellte die Ohren auf und schob sich noch näher an die Taube heran. Wayland zog die Taube in den Unterschlupf. Der Fuchs war verwirrt. Er kam in Richtung der Öffnung. Wayland griff nach dem Speer. Der Fuchs verfiel in einen steifbeinigen Trab. Wayland schleuderte den Speer aus der Höhlung, der Fuchs wich ihm mit einer Rolle rückwärts aus und flitzte davon. Dabei warf er einige Male so gekränkte Blicke über die Schulter, dass Wayland lachen musste.

Dann hörte er mit einem Mal auf zu lachen und schob die Taube wieder nach draußen. Der Gerfalke glitt auf ihn zu. Wieder landete er ein paar Schritte von der Beute entfernt im Schnee und sah sich um, bevor er auf seine plumpe Art darauf zuzulaufen begann. Einen Schritt vor der Beute blieb er erneut stehen und sah sich wachsam um. Den Blick auf die Taube geheftet, machte er dann einen weiteren Satz und stellte einen Fuß auf seine Beute. Die Situation erschien dem Falken merkwürdig, und sein hilfloses Opfer reizte seinen Tötungsinstinkt nicht. Wayland rollte seine Faust herum. Wie nebenbei beugte der Falke den Kopf vor und brach der Taube das Genick. Er fühlte sich immer noch unwohl. Wayland sah, wie er seinen Blick hob und in die Ferne richtete, und er verstärkte seinen Griff um die Füße der Taube noch gerade rechtzeitig, dass der Falke sie nicht packen und mit ihr wegfliegen konnte. Erstaunt senkte der Falke den Blick, sah auf, senkte den Kopf erneut, sah wieder auf. Wayland hielt den Atem an.

Der Falke flatterte kurz auf, krallte sich fester um die Taube, und begann sie zu rupfen. Bei seinem Versuch, die Beute wegzutragen, zog er Waylands linke Hand aus dem Unterschlupf. Wenn er ihn mit der rechten Hand packen wollte, würde der Falke das kommen sehen. Wayland wartete, bis er die Brust der Taube gerupft und angefangen hatte, ins Fleisch zu picken, dann begann er, die Taube langsam zu sich zu ziehen. Der Falke schien nicht zu bemerken, dass hier rätselhafte Kräfte am Werk waren, und fraß einfach weiter. Wayland war wegen der Füchse beunruhigt. Auch jetzt noch konnte jederzeit einer auftauchen und den Falken verscheuchen. Seine rechte Hand schwebte weniger als einen Fuß von dem Falken entfernt hinter der Öffnung des Unterschlupfs. Er rollte seine linke Hand herum, sodass der Falke seine Haltung korrigieren musste und nun direkt auf der Taube stand.

Jetzt!

Waylands rechte Hand schoss vor und umfasste beide Beine des Falken. Das Tier schrie und schlug mit den Flügeln. Wayland ließ nicht los und schlängelte sich auf dem Bauch aus dem Versteck. Seine Hauptsorge war, den Falken rechtzeitig zu fixieren, bevor er sich selbst verletzte. Wayland zog ihm die Beine weg, sodass der Falke mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Rücken lag. Ein schwacher Ruf drang aus der Richtung der Höhle zu ihm herüber.

Der Falke hörte auf zu schreien, lag still und sah Wayland mit wilden, schwarzen Augen an. Die Brust des Vogels hob und senkte ich mit beunruhigender Geschwindigkeit. Wayland riskierte einen Blick über die Schulter und sah den Hund mit Syth hinter sich von Felsen zu Felsen springen. Der Falke spannte sich an und beugte sich weit genug nach oben, um Wayland ein Stück Fleisch aus dem Finger zu beißen.

Der Hund schlidderte durch den Schnee und legte sich hinter dem Falken auf den Bauch. Bevor Syth nachgekommen war, hatte der Falke schon den nächsten Bissen aus Waylands Hand gerissen.

«Der Strumpf. In meinem Gürtel.»

Syth warf sich neben ihn und zog einen an beiden Enden offenen Wollschlauch unter seinem Gürtel heraus. «Was soll ich machen?»

«Zieh ihn über seinen Kopf.»

Syth schob die Öffnung des Strumpfes über den Kopf des Falken.

Mit der linken Hand faltete Wayland den rechten Flügel des Falken an seinen Körper. «Mach dasselbe mit dem anderen Flügel. Aber sanft.»

Den Vogel zwischen sich, zogen sie den Strumpf über die Flügelansätze, und von da an war es einfach. Syth hielt den Rücken des Falken umfasst, sodass Wayland ihm den Schlauch über den gesamten Körper ziehen konnte. Schließlich sah an der oberen Öffnung nur der Kopf heraus. Wayland machte das Durchzugsband am oberen Ende des Strumpfes fest und verknotete es.

Anschließend sank er auf die Fersen und saugte an seinen blutenden Fingerknöcheln. Syth streckte die Arme aus und drehte sich im Kreis. «Du hast ihn gefangen», rief sie. «Du hast ihn gefangen!»

Er trug den Falken wie ein Wickelkind zurück zur Höhle und legte ihn in das leere Zelt. Dann suchte er aus dem Beutel mit der Falknerausrüstung Geschühriemchen, Drahle und Langfessel. Anschließend schliff er sein Messer mit einem Wetzstein. Als er alle Utensilien beisammenhatte, trug er den Falken aus dem Zelt und legte ihn mit dem Kopf nach unten auf ein Schaffell.

«Du musst ihn festhalten», erklärte er Syth. «Pass auf den Schnabel auf.»

Syth umfasste den Falken an den Schultern. «Wirst du ihm nicht die Augenlider zunähen, damit er nichts sehen kann?»

«Nicht, wenn ich es vermeiden kann.» Es würde Monate dauern, bis die Falken ihren Bestimmungsort erreicht hatten, und er befürchtete, dass ihnen zu lange Blindheit schaden könnte. Stattdessen hatte er entschieden, die Vögel in Käfigen aus Weidengeflecht zu transportieren, die mit Tüchern abgedunkelt werden konnten. Er rollte den Strumpf von unten her auf, um die Beine des Falken freizulegen. Sofort schoss ein Fuß des Tiers vor, und zwei Krallen senkten sich in seinen Handballen. Er zog sie heraus, leckte das Blut ab und begutachtete die Schwanzfedern des Falken. Die feinen Federästchen waren zerzaust und einige Kiele verbogen, doch das konnte er wieder richten, wenn er sie in warmes Wasser tauchte. Dann maß er den Umfang der Beine und schnitt Schlitze in die Geschühriemen, damit sie eng anlagen. Als er sie angepasst hatte, sicherte er die freien Enden an einer Doppelöse der Messingdrahle. Die Doppelösen waren durch ein bewegliches Gelenk verbunden, und durch die zweite Öse zog er die Rohleder-Langfessel. Dann zog er sich den Handschuh über die Linke und wickelte die Langfessel darum.

«Bist du bereit?»

Syth löste das Durchzugsband und rollte den Strumpf über den Kopf des Falken. Das Tier richtete sich flatternd auf, und Wayland schwang es auf seine Faust. Dort saß der Falke, zischend, mit gesträubten Federn, bis er sich schließlich etwas entspannte. Wayland trug ihn in das Zelt zurück. Dort setzte er ihn auf einen Felsbrocken und band die Langfessel an einen schweren, länglichen Granitstein. Der Falke sprang von dem Felsbrocken und wurde von den Riemen behindert. Als er feststellte, dass er nicht entkommen konnte, sprang er wieder auf den Fels. Nun hatte Wayland zum ersten Mal Gelegenheit, das prachtvolle Tier zu bewundern, das ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Das Falkenweibchen war doppelt so schwer wie der größte Wanderfalke, mit dem er je gearbeitet hatte, und alles an diesem Falken offenbarte seine Stärke. Von vorne war er makellos weiß, das dichte Daunenkleid über Brust und Bauch erinnerte an ein Schneefeld. Federn hingen wie Flaggen rechts und links der Federhosen an den Unterschenkeln herab. Mit einem bohrenden Blick aus seinen großen, schimmernden Augen sah er Wayland an, als wollte er seine Absichten aus ihm herauslesen, und es schien Wayland, als ob die Angst schon von Neugier abgelöst wurde. Wie ein Höfling, der sich vor dem König zurückzieht, rutschte er auf den Knien rückwärts hinaus und schloss die Zeltklappen.

Nach dem Essen legte er sich hin und war augenblicklich eingeschlafen. Als er endlich wieder aufwachte, fühlte er sich völlig zerschlagen. Sein erster Gedanke galt dem Falken. Aus seinem Zelt kamen regelmäßige Streichgeräusche. Er putzte sich. Das war ein gutes Zeichen. Wayland ging auf Zehenspitzen hinüber, sprach dabei sanft vor sich hin, damit sein Auftauchen das Tier nicht zu sehr erschreckte, und schlug vorsichtig die Zeltklappen auseinander. Der Falke lehnte sich zischend auf den Schwanz zurück, doch er machte keinen Angriffsversuch.

Wayland schloss die Zeltklappen, trat aus der Höhle in einen milden Tag und blinzelte zum Fjord hinüber. Er lag so still da wie ein Mühlteich. Syth wusch Wäsche in dem weiten, aber recht flachen Becken unter dem Wasserfall. Einige Kleidungsstücke hatte sie zum Trocknen schon auf Felsen ausgebreitet. Ein Feuer aus dem spärlichen Treibholz, das hier zu finden war, schwelte am Ufer des Beckens. Inmitten der glühenden Scheite lagen ovale Steine, und neben dem Feuer stand ein hoher, zeltförmiger Kegel aus Weidengeflecht, der mit Tüchern verhängt war. Wayland war immer noch zu verschlafen, um diese Merkwürdigkeiten richtig wahrzunehmen.

Syth lächelte ihn strahlend an. «Ich dachte schon, du wachst nie mehr auf.»

Wayland kniete sich an das Becken und wusch sich das Gesicht. «Wir sollten jetzt lieber packen, wenn wir heute Abend zu den anderen ins Lager zurückwollen.»

«Es ist Abend.»

Wayland blinzelte in die flach über dem Land liegenden Sonnenstrahlen. «Du hast recht. Glum sollte eigentlich schon hier sein.»

Syth tauchte ein Paar Beinlinge in das Becken. «Er war heute morgen mit Raul da. Ich habe sie wieder weggeschickt.» Sie drehte sich zu ihm um. «Du hast so tief geschlafen, und ich wollte noch nicht zu den anderen zurück. Macht es dir etwas aus?»

Er schüttelte den Kopf und setzte sich neben sie. Wayland hatte selbst keine Sehnsucht nach dem Lager der Grönländer. In den wenigen Wochen, die sie in den Jagdgebieten verbracht hatten, war aus dem Lager das reinste Schlachthaus geworden. Die Grönländer hatten drei Walrösser getötet, ihnen nur die Haut abgezogen und die Stoßzähne abgesägt, und die Kadaver zum Verrotten am Strand liegenlassen. Mit ungezählten Robben und Füchsen waren sie auf die gleiche verschwenderische Art umgegangen, und einen fünfzehn Fuß langen Wal hatten sie mit der Ebbe entsorgt, nachdem sie den Walspeck und ein paar dicke Fleischstücke für ihren Vorrat aus seinem Körper geschnitten hatten. Das einzige Wild, das sie vollständig verwerteten, waren Alkvögel, die sie mit Netzen an ihren Brutplätzen fingen und in Fässern mit vergorener Molke konservierten. Der Gestank von verwesendem Fleisch und der süßliche Geruch aus den Kesseln, in denen das Walfett ausgekocht wurde, hing wie eine Glocke über dem Lager.

Hier aber war die Luft rein und belebend. «Ich bin am Verhungern.»

Syths Miene erhellte sich. «Ich habe einen Fisch gefangen. Du musst nur noch ein bisschen warten.»

Sein eigener Hunger ließ Wayland daran denken, dass der Falke vielleicht etwas fressen wollte. Sie hatten noch zwei Tauben übrig. Wayland tötete eine von ihnen, schlug die Klappe des Falkenzelts zurück und schob sich hinein. Der Vogel schrak zurück, riss herausfordernd den Schnabel auf. Blickkontakt vermeidend streckte Wayland ihm die Taube entgegen. Er rechnete nicht damit, dass der Falke sie nehmen würde. Als er nicht zubiss, sah er ihn verstohlen an. Noch immer saß der Falke zurückgelehnt da, allerdings wanderte sein Blick immer wieder zu der Taube. Wayland begann bis zehn zu zählen. Wenn der Vogel das Futter bis dahin nicht angenommen hatte, würde er die Taube auf den Boden legen. Bei sieben streckte der Falke den Kopf vor und schlug den Schnabel in die Taube. Wayland ließ sie nicht los. Der Falke zerrte an der Taube, und dann, ohne zu zögern, ging er auf Waylands Faust. Dort saß er und sah Wayland mit diesem bohrenden Falkenblick an. Wayland stand wie erstarrt, und nach wenigen Momenten neigte der Falke den Kopf und packte den Hals der Taube mit dem Schnabel. Wayland war so verblüfft, dass er den Falken ansah. Sofort hob das Tier den Kopf und durchbohrte Wayland erneut mit seinem Blick. Sobald Wayland wegsah, widmete sich der Falke wieder seiner Beute. Er balancierte auf Waylands Faust, als wäre sie eine vertraute Sitzstange, und begann die Taube zu rupfen.

Unglaublich. Wayland hatte einmal einen Falken abgerichtet, der am ersten Tag seiner Gefangenschaft auf der Faust gefressen und schon nach elf Tagen frei gejagt hatte, doch selbst diese Ausnahme war nicht mit der Gelassenheit dieses Vogels zu vergleichen. Seine Verblüffung verwandelte sich in Besorgnis. Vielleicht war der Falke so zahm, weil er gehungert hatte – ein schwaches Tier, das sich in der Natur nicht ausreichend selbst versorgen konnte. Allerdings sah er durchaus nicht schlecht genährt aus. Die elastischen Federn, die wachen, feucht schimmernden Augen, die safrangelben Füße, die stolze Art zu fressen – ein Bild bester Gesundheit. Langsam hob Wayland die Hand. Der Vogel schlug mit den Flügeln, die Federn unterhalb seines Kopfs wie eine Halskrause gesträubt. Wayland befühlte die Brust des Tieres. Feste Muskulatur, der Brustbeinkamm kaum zu ertasten. Da zwickte ihn der Falke in den Finger, als wollte er sagen: «Du störst mich beim Essen.»

Als der Falke den größten Teil der Taube gefressen hatte, setzte Wayland ihn mit dem Rest des Kadavers zurück auf den Felsblock. Kopfschüttelnd und grinsend verließ er das Zelt. Wenn er den Vogel nicht selbst mit so viel Aufwand gefangen hätte, dann hätte er geschworen, dass der Falke schon von einem Meisterfalkner gezähmt worden war.

Er ging zum Ufer, um sich zu erleichtern. Auf seinem Rückweg blieb er mit einem Mal stehen. Syth saß wie eine Erscheinung unter einem Regenbogen, der sich in der stäubenden Gischt des Wasserfalls gebildet hatte, und schob glühende Holzscheite um die Steine in dem Feuer zusammen. Er ging zu ihr.

«Was tust du da?»

«Das wirst du schon noch sehen.»

Stirnrunzelnd betrachtete er den verhängten Kegel aus Weidenrutengeflecht. Darin steckte eine Menge Arbeit.

«Das ist eine Überraschung», erklärte ihm Syth. «Willst du vorher essen?»

«Das kannst du entscheiden.»

«Iss danach», sagte sie. Sie berührte sein Gesicht und musterte seine Narbe. «Wie fühlt es sich an?»

Er legte den Handrücken auf die Wunde. «Heiß. Und es juckt.»

«Ein Teil davon ist geschwollen. Ich glaube, der Faden sollte raus. Gib mir dein Messer.»

Sie hieß ihn sich hinsetzen und durchschnitt den Zwirn an den sichtbaren Stichseiten. Wayland versuchte nicht zusammenzuzucken, wenn sie ein Stück herauszog.

Sie sah sich den entzündeten Teil der Narbe genau an. «Das tut jetzt vielleicht ein bisschen weh. Das Fleisch ist so geschwollen, dass ich den Zwirn nicht richtig sehen kann.»

Sie schnitt ihm in die Haut, als sie weitermachte, und Eiter spritzte über ihre Hand.

Wayland zog ein Gesicht. «Tut mir leid.»

Syth aber war ganz auf ihre Aufgabe konzentriert. «Ich hatte drei Brüder. Wenn du wüsstest, was ich für die alles tun musste. Beweg dich nicht.» Sie schnitt einige weitere Stiche durch und lehnte sich dann zurück. «Das war’s. Willst du es dir ansehen?»

Wayland betrachtete mit kläglicher Miene seine Stirn in dem Spiegel. Diese Narbe würde ihm fürs ganze Leben bleiben, aber ohne Syths geschickten Umgang mit der Nadel wäre er noch viel schlimmer verunstaltet.

«Komm», sagte sie. «Komm schon.»

Sie führte ihn zum Feuer und deutete auf die eiförmigen Steine. «Du musst sie dort reintragen», sagte sie und deutete auf das Weidenzelt. «Sei vorsichtig. Sie sind sehr heiß.»

Weil er ein Mann war, musste er das selbst testen, indem er den Finger auf einen Stein legte. Blitzartig zog er die Hand zurück und blies auf den Finger. Syth verdrehte nur die Augen.

Er wickelte seine Hände in ein Schaffell und trug die glühendheißen Steine in das Weidenzelt. Syth hatte es um zwei flache Steinblöcke herumgebaut und sagte ihm, er solle die Steine dazwischen aufschichten. Neben einem der Steinblöcke stand ein Krug Wasser.

Als die Steine an Ort und Stelle waren, schob sie ihn hinaus und zog eine Decke über den Eingang. «Wir dürfen sie nicht unnötig abkühlen lassen.»

Der Hund beäugte sie neugierig und neigte den Kopf zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite. Wayland erwiderte seinen fragenden Blick und zuckte mit den Schultern.

Syth streckte eine Hand aus dem Zelt und ließ einen Kittel fallen. Wayland warf einen Blick über die Schulter. Dem Kittel folgten eine ganze Reihe weiterer Kleidungsstücke, manche von ihnen hatte Syth seit Wochen nicht ausgezogen. Wayland fuhr sich mit dem Fingerknöchel über die Lippen.

Syth streckte ihr erhitztes Gesicht aus dem Zelt. «Jetzt du.»

«Jetzt ich was?»

Syth verschwand wieder in dem Weidenzelt. «Zieh die Kleider aus.»

Der Hund schien ihn anzugrinsen. Wayland streifte den ersten von mehreren Kitteln ab, die er übereinander trug. «Alle?»

«Allesamt.»

Er zog sich die stinkende Kleidung vom Leib, dann stand er da und bedeckte mit übereinandergelegten Händen seinen Schritt.

«Und jetzt?»

«Bist du nackt?»

Wayland sah sich um. «Ja.»

«Dann kannst du reinkommen.»

Er zog die Decke am Eingang etwas zur Seite und schob sich durch den Spalt. Die Hitze, die von den Steinen ausging, traf ihn wie ein Schlag. Syth saß nackt auf dem Felsblock auf der anderen Seite der Feuersteine.

«Du setzt dich dorthin», sagte sie.

Wayland ließ sich auf den flachen Felsblock sinken. Er hatte noch nie eine nackte Frau gesehen – jedenfalls keine, die vollständig nackt war. Ohne ihre Kleidung wirkte Syths Körper voller, als er gedacht hätte. Abwechselnd nahmen Begierde und Verwirrung von ihm Besitz. Syth konzentrierte sich mit gerunzelter Stirn. Er legte die Hände über seinen Schritt.

Sie hob den Krug hoch. «Ich habe es von einer Frau auf Island gelernt», sagte sie. «Ich hoffe, es funktioniert.»

Sie goss Wasser über die Steine. Es spritzte und zischte, und Wayland schnaubte, als eine Dampfwolke in seine Nasennebenhöhlen stieg. Heißer Wasserdampf erfüllte das enge Zelt. Ihm brach am gesamten Körper der Schweiß aus. Schmutzige Rinnsale liefen an seiner Haut herab.

Ihr Arm streckte sich ihm aus dem Nebel entgegen. Sie hielt einen Knochenspatel in der Hand. «Das ist eine Art, sich zu reinigen. Du reinigst mich, und ich reinige dich. Es geht so.»

Sie ließ den Spatel an seinem Arm heruntergleiten und zeigte ihm den Schmutz, der sich an seinem Rand gesammelt hatte. «Du bist richtig dreckig.»

Er nahm den Spatel von ihr und fuhr damit über ihre Schulter. «Du auch.»

«Wir fangen mit dir an.»

Langsam und sorgfältig entfernte sie den Schmutz, der sich während der Reise auf seiner Haut festgesetzt hatte. «Beweg dich nicht», befahl sie, als sie unterhalb seiner Hüfte angekommen war. «Du hast einen schönen Körper», sagte sie. «Er ist genau richtig.»

Er räusperte sich. «Deiner auch. Du warst so ein mageres Ding.»

Sie lachte fröhlich. «Wayland, du weißt wirklich, wie man eine Frau zum Schwärmen bringt.»

Er sah zur Seite und brachte erst einmal keinen Ton mehr heraus. «Ich habe …», fing er schließlich an, «… ich wollte sagen, du bist die erste …»

Sie hörte auf zu lachen. «Ich weiß.» Sie setzte sich zurück. «Fertig.» Sie gab ihm den Spatel und goss noch einmal Wasser über die Steine. «Jetzt ich.»

Sie verlor sich lächelnd in einem Tagtraum, als er ihren Rücken bearbeitete. «Dreh dich um», sagte er dann heiser.

Sein Selbstvertrauen nahm wieder zu und damit auch seine Begierde. Er konnte sie nicht unterdrücken. Sie fühlte es und griff nach ihm. «Noch nicht. Dafür habe ich mir etwas ausgedacht.» Sie drückte ihn anerkennend und kicherte. «Ich weiß genau das Richtige.»

Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn aus dem Zelt. Dann rannte sie lachend zu dem Becken unter dem Wasserfall. Wayland bremste am Rand. Sie aber sprang kreischend hinein und schleuderte Eiswasser auf Wayland. Spritzend sprang er ihr nach. Das eisige Wasser brannte auf der Haut. Er nahm sie in die Arme, und so standen sie eng aneinandergeschmiegt und blickten durch das stäubende Wasser in die Höhe.

«Das reicht», sagte Syth mit klappernden Zähnen. «Zurück ins Dampfbad.»

Die Atmosphäre im Zelt war einschläfernd. Wayland und Syth betrachteten sich ohne Scham. «Das könnte für Ewigkeiten das letzte Mal sein, dass wir uns nackt sehen», sagte Syth. «Ich will mich genau daran erinnern.»

Wayland streckte den Arm nach ihr aus. «Syth.»

«Noch nicht. Wir müssen noch einmal ins Wasser springen.»

«Müssen wir das?»

«Ja.»

Sie sprangen hinein, und dann trockneten sie sich ab und zogen saubere Kleidung an. Als Wayland Syth beim Haarekämmen zusah, fühlte er sich wie verhext.

Sie riss die Augen auf. «Der Fisch!»

Sie hatte einen Saibling von über drei Pfund gefangen. Wayland wickelte ihn in wilden Ampfer und vergrub ihn in der heißen Asche des Feuers. Sie aßen Seite an Seite, Decken über die Schultern gehängt, und betrachteten dabei den langsamen und hoheitsvollen Zug der Eisberge. Als der Fisch gegessen war, förderte Syth ein Schale mit vielleicht zwanzig Heidelbeeren zutage. «Mehr habe ich nicht gefunden. Es ist noch zu früh im Jahr. Sie sind für dich.»

«Wir teilen sie.»

Nachdem sie die Beeren gegessen hatten, saßen sie in einträchtigem Schweigen beieinander. Wayland hatte noch niemals ein so tiefes Gefühl des Friedens empfunden. Dann begann er zu erzählen, und Syth befreite ihn von dem Gift seiner Vergangenheit. Auch sie erzählte. Davon, wie in ihrer Familie einer nach dem anderen gestorben war, bis nur noch sie allein übrig blieb und es allein mit der Welt aufnehmen musste. Sie überlegten, welche Herausforderungen auf ihrer Reise wohl noch vor ihnen lagen, und versprachen sich, sie gemeinsam zu meistern. Dann glitt ihr Gespräch zu weniger wichtigen Dingen hinüber, doch alles, was sie sagten, war tief empfunden und konnte niemals zurückgenommen werden.

Es wurde Mitternacht. Wayland zog Syth neben sich zu Boden, und während sie sich in den Armen lagen, versuchten sie schweigend, die Gedanken des anderen zu erraten. Dann wandten sie einander gleichzeitig die Gesichter zu und küssten sich. Während ihrer zärtlichen Umarmung flog eine Schar Gänse über sie hinweg, und der Windzug rauschte in ihren Flügeln. In seinem Gefängnis hob der Falke zuerst das eine und dann das andere Bein und biss an seinen Lederfesseln herum.

Syth schob Wayland mit verhangenem Blick ein Stück von sich. «Und der Hund?»

Er machte eine Kopfbewegung, und der Hund kam auf die Pfoten, schüttelte sich, und ging zum Ufer des Fjords hinüber. Dort legte er sich hechelnd hin, sah kurz zurück zur Höhle und hob dann seinen Kopf, um die wiederkehrende Sonne zu beobachten.