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XXVIII
Am nächsten Abend fuhren sie um die Reykjanes-Halbinsel und nahmen Kurs auf Südwest. Nachts peilte Hero den Polarstern an, um ihren Breitengrad festzustellen. Die Morgendämmerung kam mit Nebel, und die Sonne schimmerte durch Dunstschichten wie ein roter Zwergmond. Mittags war es wolkig. Weitere zwei Tage später ließen sie die Westmann-Inseln hinter sich. Ein schwacher Wind kam aus Südwest. Wenn dieser Wind anhielt, würde er sie nördlich an den Färöern vorbeibringen.
In der nächsten ruhigen Morgendämmerung wurde Vallon von einem Ruf geweckt.
«Isländische Schiffe voraus!»
Vallon ging in den Bug und musterte die Flottille, die sich deutlich gegen die aufgehende Sonne abhob.
«Was haltet Ihr davon, Hauptmann?», fragte Raul.
«Ich glaube nicht, dass sie uns auflauern. Vermutlich haben sie Zeit verloren, als sie Drogos Männer aufgenommen haben.»
«Soll ich den Kurs ändern?»
«Nicht nötig. Wir hängen sie auch so früher oder später ab. Und bis dahin können wir ihnen hinterherfahren. Ihre Lotsen kennen die Seewege besser als wir.»
Raul streifte Vallon mit einem Blick. «Mit Verlaub, Hauptmann, aber was habt Ihr getan, um Helgi so gegen Euch aufzubringen?»
«Tja, jetzt kann es ja nichts mehr schaden, wenn ich es erzähle. Ich bin zufällig auf seine Schwester gestoßen, als sie gerade in einer heißen Quelle gebadet hat.»
«Nackt?»
«Sie hatte keinen Faden am Leib.»
Raul pfiff vor sich hin. «Ich habe sie ja noch nicht gesehen. Ist sie wirklich so schön, wie alle sagen?»
Vallon lächelte. «Sie ist schön wie die Venus, aber zu hitzköpfig für meinen Geschmack.»
Sie hielten sich zwei Tage lang hinter dem Schiffsverband und lebten einen unangestrengten Bordalltag. Vallon übte Englisch, ging mit Richard die Rechnungslisten durch und spielte Rukh. Hero überprüfte regelmäßig ihre Position und führte gestelzte Gespräche mit den Mönchen. Wayland und Syth fütterten die Falken und tauschten jeden Morgen das verschmutzte Moos unter ihren Sitzstangen aus. Garrick versorgte die Pferde im Laderaum. In der langen Phasen der Untätigkeit hörten sich die Übrigen Rauls und Waylands Berichte von Grönland an.
«Oh, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen», sagte Richard immer wieder.
Sie sahen nichts von den Färöern und hörten am fünften Tag auf, nach den Inseln Ausschau zu halten. Feine Zirruswolken kündigten eine Wetterfront an, die von Süden heraufzog. Um die Mittagszeit des sechsten Tages verschwand der Horizont hinter einem schwarzen Wolkenvorhang mit ausgefranstem, trübgrauem Saum. Raul und Garrick drehten das Beiboot um und sicherten es mit Tauen auf der nach achtern gelegenen Ruderbank. Wayland und Syth trugen die Falken hinunter auf das Achter-Halbdeck. Auch die Mönche zogen sich in den Laderaum zurück. Vallon und Raul blieben an Deck.
Der Himmel verdüsterte sich. Erste Regentropfen fielen klatschend aufs Deck, und das Schiff neigte sich in den Böen. Dann zogen schiefergraue Regenschwaden zischend übers Meer heran und hüllten sie ein. Vallon rannte zum Beiboot und kauerte sich darunter. Es goss in Strömen. Der Regen hämmerte auf den Schiffsrumpf und verwandelte das Deck in eine blubbernde Fläche. Vallon behielt Raul im Blick, der am Ruder stand wie ein zotteliger Neptun. Bald begann er zu frieren, und seine Gelenke wurden steif. Schließlich ging er zum Ruder hinüber.
«Ich übernehme.»
Die Shearwater schob sich mit schwerfälliger Grazie über die Wellenkämme. Gischt spritzte über den Bug. Der Regen hielt unvermindert an, und Vallon wurde bis auf die Haut durchnässt. Die vier Schichten dicker Wollsachen wärmten ihn nicht, aber sie sorgten für genügend Dämmung, um seine Körpertemperatur gerade eben auf erträglichem Niveau zu halten. Als es Abend wurde, löste ihn Wayland ab, und er kroch erneut unter das Beiboot, um sich auszuruhen. Er schlief ein, und als er wieder aufwachte, herrschte pechschwarze Finsternis. Das schlechte Wetter hatte sich schon beinahe zu einem Sturm gesteigert. Knallend peitschte der Regen auf das Segel. Vallon kroch unter dem Boot hervor und hielt sich bei jedem Schritt irgendwo fest, während er zum Steuerruder ging, an dem noch immer Wayland stand.
«Ist mit dem Schiff alles in Ordnung?»
«Wir haben bei unserer Rückfahrt Schlimmeres überstanden.»
Da trommelte der nächste, heftige Regenguss aufs Segel. Bittere Galle stieg aus Vallons Magen auf. Er kauerte sich auf eine Ruderbank, blinzelte in die klatschnasse Dunkelheit und schniefte, während ihm der Regen übers Gesicht lief. Schließlich konnte er seinen Magen nicht mehr beherrschen. Er stand schwankend auf und erbrach sich über die Reling. Dann sank er bis zum nächsten Übelkeitsanfall wieder auf die Ruderbank, und so ging es die ganze Nacht.
Im Morgengrauen übergab er sich ein letztes Mal und starrte apathisch in den trüben Himmel. Der Regen hatte sich zu einem schnell dahinziehenden Nieseln abgeschwächt. Der Schiffsverband war nirgends zu sehen. Raul stand wieder am Ruder. Vallon rief ihm übers Deck zu: «Sind wir auf dem richtigen Kurs?»
«Nein. Sind nordöstlich abgetrieben worden.»
Vallon blickte über die Wogen. Eine Kursänderung würde dazu führen, dass die Brecher breitseits auf den Rumpf trafen. Und auch wenn sie dabei nicht vollliefen, würde das Schiff schwer mitgenommen werden. «Das Wetter wird nicht ewig so bleiben. Fahren wir erst einmal einfach weiter.»
Zwei Tage später hielt der Wind immer noch an, und Vallon begann zu fürchten, dass sie bald auf Küstenfelsen stoßen würden. «Norwegen kann nicht mehr weit sein», sagte er zu Raul. «Sorg für eine Bugwache.»
Gegen Abend flaute der Wind ab, und im Westen tauchte kurz die Sonne auf. Später waren durch eine Wolkenlücke hindurch die blinkenden Sterne im All zu sehen. Irgendwo hing ein Geistermond. Es war spürbar kälter geworden.
Als Vallon die nächste Wache antrat, nahm der Wellengang etwas ab, und der Himmel im Norden war klar. Er suchte den Polarstern und fand ihn beinahe über dem Schiff. «Hero.»
Hero spähte unter dem Beiboot heraus.
«Stell unsere Position fest, wenn du es schaffst.»
Hero versuchte ein Dutzend Mal, eine Peilung zu machen. «Das klappt nicht. Das Schiff stampft zu sehr.»
«Und was schätzt du?»
Hero musterte den Polarstern. Dann betrachtete er den Horizont. «Wir sind viel weiter nördlich, als wir sein sollten.»
«Wie weit?»
«Ich weiß nicht. Fünfhundert Meilen. Vielleicht auch mehr.»
«Das ist unmöglich.»
«Ja, Herr. Ich versuche es noch einmal, wenn sich das Meer beruhigt hat.»
Hero legte sich wieder schlafen. Vallon schaute zum Polaris hinauf. Der Stern stand viel höher als in der Nacht, in der sie von Island aufgebrochen waren. Wie eine endlose Tierherde mit weißen Mähnen rollten die Brecher nordwärts. Die Shearwater war länger als drei Tage vor dem Wind gefahren. Sie konnten tatsächlich leicht fünfhundert Meilen zurückgelegt haben. Vallon starrte über die Wellenkämme. Wo also war Norwegen?
Die Nacht verging, und im Osten breitete sich eine schwache Helligkeit aus. Die Dünung wurde schwächer, und nur noch ab und zu trugen die Wellen eine weiße Schaumkrone. Vallon musterte seine geschwollenen Finger. Er betastete seine aufgerissenen Mundwinkel und massierte sich die tränenden Augen. Die anderen tauchten mit fleckigen, abgezehrten Gesichtern auf, die Kleidung voller Schimmelflecken, nach Nassfäule stinkend. Raul sah aus wie der Bewohner eines Pesthauses – der Mund schwärzlich verschorft, die Augen blutgeädert, eine abscheuliche Eiterbeule auf der Stirn. Sogar Syth erinnerte an eine Vogelscheuche. Zuletzt kamen die Mönche an Deck, Kinn und Habit mit Erbrochenem verschmiert.
Alle gingen leicht schwankend an Deck herum. Raul stand im Bug und kaute an einem Trockenfisch, auf den er etwas Butter gestrichen hatte. Mit einem Mal bekam er einen Hustenanfall. Vallon klopfte ihm auf den Rücken, und Raul spuckte ein Stück zerkauten Kabeljau aus.
«Schiff», keuchte er und deutete südwärts.
Die anderen kamen hastig herüber. «Das ist Helgis Segler», sagte Wayland.
Vallon bohrte sich den Zeigefinger ins Ohr, als habe er nicht richtig verstanden. «Bist du sicher?»
Gleichmütig sagte Wayland: «Ich erkenne den Flicken auf dem Segel wieder.»
«Meinst du, sie haben uns gesehen?», fragte Hero.
«Bestimmt.»
«Er fährt weiter», sagte Raul.
«Dann folge ihm.»
Der Tag klarte auf, grelle Sonnenstrahlen blitzten zwischen Wolkenlücken hindurch. Kreischende Möwen begleiteten das Schiff, und Vallon entdeckte Treibholz im Wasser. Im Süden lag unveränderlich eine blasse Wolkenbank.
«Das muss Norwegen sein.»
Raul spähte mit entzündeten Augen zur Sonne hinauf. «Das ist die falsche Richtung. Norwegen müsste östlich von uns liegen.»
Vallon musterte noch einmal genau den Sonnenstand und schaute wieder zu dem Land hinüber. «Hero, bring deinen Zauberfisch.»
Hero stellte den Kompass auf die Ruderbank, und alle beobachteten, wie sich die Nadel drehte und schließlich beruhigte. Es war unbestreitbar: Die Küstenlinie lag genau südlich von ihnen. Niemand sagte ein Wort. Davon abgesehen, dass sie erschöpft und hungrig waren, hatte keiner die leiseste Ahnung, wo sie sich befanden.
Mittags servierte Syth alte Brotstücke mit einem Pelz aus grünschwarzem Schimmel. Vallon kratzte den Schimmel ab und versuchte hineinzubeißen. Seine Zähne verursachten nicht einmal einen Abdruck. Er warf das Brot den Möwen zu und ließ sich auf eine Ruderbank sinken. Wackelige Kometenschweife und Asteroide schienen durch sein Gesichtsfeld zu ziehen.
«Hauptmann?»
Garricks Gesicht schob sich vor Vallons Blick. «Tut mir leid, Euch zu stören. Wir haben noch zwei weitere Schiffe aus dem Verband entdeckt.»
Vallon massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken und kam auf die Beine. Garrick nahm ihn am Ellbogen, doch Vallon machte sich unwillig los. «Ich bin kein Krüppel.»
Angestrengt sah er zu den Schiffen hinüber. Sie waren etwa eine Leuge entfernt und trieben mit heruntergelassenen Segeln nebeneinanderher. Helgi hatte Kurs auf sie gesetzt.
«Was haltet Ihr davon?», sagte Raul.
«Fahren wir noch ein bisschen näher heran.»
Schließlich waren sie nur noch eine halbe Meile von den Schiffen entfernt. Helgis Schiff fuhr weiterhin auf sie zu.
«Sieht so aus, als hätte das eine Schiff sein Ruder verloren», sagte Raul.
«Bring uns bis in Rufnähe.»
Raul manövrierte die Shearwater auf Hörweite des Verbandes. Wayland und Garrick ließen die Rah mit dem Segel herunter. Die Shearwater schaukelte auf der Dünung. Vallon entdeckte Caitlin, die zerzaust und kein bisschen wie eine Prinzessin aussah. Und dort stand Drogo, entschieden grün um die Nase, und er hatte einen weiteren, vertraut wirkenden Normannen neben sich.
«Ich habe seinen Namen vergessen», sagte Vallon.
Raul sah ihn seltsam an. «Fulk, Hauptmann. Ihr habt ihm an dem Abend, an dem Ihr zur Burg gekommen seid, das Handgelenk gebrochen.»
«Ja, das habe ich. Stell fest, wo wir sind.»
Raul deutete auf die Küste in der Ferne. «Welches Land ist das?»
Jemand rief eine Antwort, die Raul einen Pfiff entlockte. «Wir sind mehr als einen Segeltag östlich des Nordkaps. Der Sturm hat uns um die gesamte Nordspitze Norwegens herumgetrieben.»
Helgi war mit ein paar von seinen Männern zu dem beschädigten Schiff hinübergerudert und sprach mit dem Schiffsführer. Raul redete weiter mit dem anderen isländischen Kapitän.
«Sie haben keinen Ersatz für das Steuerruder», berichtete er. «Sie werden das Schiff im Schlepptau in einen Hafen ziehen.»
Vallon schaute zu der Küstenlinie hinüber. «Hat das Land einen Namen?»
«Der Kapitän hat es Bjarmaland genannt. Dort gibt es nichts außer wilden Menschen und Tieren. Ich habe schon davon gehört. Es liegt nördlich von Rus.»
Vallon musterte das Meer hinter ihnen. «Das wird ein langer Weg, wenn sie das Schiff bis in die Ostsee schleppen wollen.»
Raul zupfte an seinem Bart. Eines seiner Augen war kugelig angeschwollen wie der Körper eines Kraken. «Wir müssen an Land. Das Wasser wird knapp, und Wayland hat beinahe kein Futter mehr für die Falken.»
«Was weißt du über den Verlauf der norwegischen Küste?»
«Der ist ziemlich schwierig. Wir müssen eine Fahrrinne zwischen einer Kette Schäreninseln und dem Festland passieren, dort gibt es überall Rückströmungen und Strudel. An einer Stelle stürzt das Meer in eine riesige Höllengrube und reißt die Schiffe mit sich ins Verderben. Das nennen sie den Mahlstrom.»
«Vielleicht können wir ja einen von den Isländern dazu bringen, uns durch die Fahrrinne zu lotsen.»
«Noch ein Schiff!», rief Syth.
Der Nachzügler befand sich mehr als eine Leuge südlich, gerade konnte man sein Segel über den Horizont ragen sehen. Sie beobachteten das Schiff, als es näher kam.
«Es ist ebenfalls beschädigt», sagte Raul. «Es treibt quer. Und es liegt sehr tief im Wasser.»
Wayland hielt sich an einer Want fest und stieg auf die Reling. Er zog sich so hoch wie möglich hinauf, beschirmte mit der Hand die Augen und spähte zu dem Schiff hinüber.
Vallon sah ihn die Stirn runzeln. «Stimmt etwas nicht?»
«Das ist kein isländisches Schiff.»
«Was denn sonst?»
Wayland sah zu ihnen hinunter. «Es ist eine Drakkar. Ein Drachenschiff.»
Raul schlug sich auf den Oberschenkel. «Warum habe ich das nicht selbst bemerkt?» Er begegnete Vallons ratlosem Blick. «Ein Langschiff der Wikinger, Hauptmann. Ein Kriegsschiff. Deshalb liegt es so tief im Wasser. Es ist besonders lang und schmal gebaut, damit es umso schneller sein kann. Mit seiner Steuerung ist alles in Ordnung. Sie versuchen auf unsere Leeseite zu kommen, bevor sie angreifen.»
Keines der isländischen Schiffe hatte die Gefahr erkannt. Helgi und der Kapitän des beschädigten Schiffes hatten zu streiten begonnen. Helgis Schiff besaß ein Ersatzruder, und Helgi war nicht bereit, es herzugeben.
«Du solltest sie warnen», sagte Vallon.
Rauls Botschaft sorgte einen Moment lang für vollkommene Erstarrung, dann flitzten die Isländer herum wie aufgescheuchte Ratten. Eine Frau warf den Kopf zurück und stieß einen verzweifelten Schrei aus.
Das Langschiff war inzwischen so nah, dass Vallon den geschnitzten Drachenkopf auf seinem Vordersteven erkennen konnte. Gestalten schwärmten an Deck herum, und das Schiff starrte vor Waffen.
«Haben sich an die Riemen gesetzt», sagte Raul. «Müssen wissen, dass wir sie erkannt haben.»
«Wie viele Männer haben sie wohl an Bord?»
«Mindestens dreißig. Das sind entweder Piraten oder Sklavenhändler, und ich sage, wir warten besser nicht ab, um herauszufinden, was von beidem zutrifft.»
«Du hast gesagt, sie sind schneller als wir.»
«Schneller unter Beseglung und schneller, wenn sie rudern. Je früher wir uns davonmachen, desto besser stehen unsere Chancen.»
Vallon biss sich auf die Unterlippe. «Bring uns längsseits.»
«Hauptmann, ich kenne Langschiffe und die Männer, die darauf segeln.»
«Ich sage es kein zweites Mal.»
Raul presste die Lippen zusammen. Dann ging er los und gab Befehle aus. Helgis Schiff schaukelte dicht neben dem steuerlosen Segler. Die Mannschaft und die Passagiere verließen das beschädigte Schiff. Männer schafften das zusammengerollte Segel auf Helgis Schiff und schnitten die Takelage ab. Andere warfen Warenballen und anderes Ladegut hinüber. Helgi überwachte den Passagiertransfer. Als Raul zu ihm hinüberrief, reagierte er nur mit einer so wegwerfenden Geste, dass Vallon wütend wurde.
«Frag ihn, was er vorhat.»
Raul brüllte über die Lücke zwischen den Schiffen hinweg. Zwei Männer auf verschiedenen Schiffen riefen etwas und deuteten dabei auf das Langschiff.
«Sie sehen zu, dass sie hier wegkommen.»
Vallon beobachtete den glitzernden Rhythmus, mit dem die Ruderblätter des Langschiffs ins Wasser tauchten. «Die Wikinger werden sich nicht mit einem leeren Schiff zufriedengeben. Erklär ihnen, dass wir sie abwehren können, wenn wir zusammenhalten.»
Raul trompetete den Vorschlag hinüber und lauschte auf die Antwort. Dann trat er einen Schritt zurück, schniefte und spuckte aus. «Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, er wird das Gegenteil tun. Wir müssen hier weg.»
Vallon sah ein rostiges Kettenhemd im Licht aufschimmern. «Drogo!»
Der Normanne drehte sich um und starrte über die Wellen zu ihm herüber.
«Gemeinsam können wir genügend Kämpfer aufbringen, um sie abzuwehren. Du weißt, wie tödlich Wayland und Raul mit ihren Bögen sind. Wir töten ein halbes Dutzend Wikinger, bevor sie entern können. Erklär das Helgi.»
Der Isländer half einem älteren Paar vom Schiff. Hände wurden ihnen entgegengestreckt, um sie an Bord des anderen Schiffs zu holen. Sie waren die letzten Passagiere. Dann sprang auch Helgi auf sein eigenes Schiff, zog sein Schwert, und hieb das Tau zu dem nutzlosen Segler durch. Seine Mannschaft zog das Segel hoch, und das Schiff begann sich zu entfernen.
Vallon spuckte aus vor Verachtung. «Legt sich mit Leuten an, die er nicht kennt, aber wenn es um Piraten geht, die vor seinen Augen einer nach dem anderen seine Schwester vergewaltigen werden, bevor sie ihm das Herz aus dem Leib schneiden, dann versucht er einfach davonzulaufen.» Vallon wischte sich über den Mund. «Gut. Fahren wir los.»
Die beiden isländischen Schiffe fuhren hart am Wind nordostwärts, vor ihnen segelte Helgi.
«Warum segeln sie nicht mit dem Wind?», fragte Vallon.
«Das ist schon sinnvoll», sagte Raul. «Langschiffe haben wenig Tiefgang, damit sie Flüsse hinauffahren können. Ihr Kiel liegt nicht so tief wie unserer, deshalb haben sie eine höhere Abdrift, wenn sie quer zum Wind segeln. Das ist unser einziger Vorteil.»
Vallon sah hinter sich die aufgegebene Knarr auf den Wellen schaukeln. Als das Langschiff fast bei ihr angekommen war, wurden sämtliche Ruder in die Vertikale gehoben, dann senkten sie sich und verschwanden. Das Langschiff glitt neben seine Beute.
«Wie viele Ruderer haben sie?», fragte Vallon Wayland.
«Sechzehn auf jeder Seite.»
Die Wikinger schwärmten über die Knarr. Vallon hatte keinen Gedanken an die Zeit verschwendet, und er war überrascht, als ihm klar wurde, wie weit der Tag schon fortgeschritten war. Sie ließen das Langschiff und sein Opfer weiter hinter sich. Die Dämmerung begann über den Himmel zu kriechen, als sich die beiden Umrisse wieder trennten.
«Sie verfolgen uns», sagte Raul.
«Sie werden uns nicht einholen, bevor es dunkel ist.»
Raul schaute zur Windfahne hinüber. «Der Wind dreht auf Nord. Die Wikinger wissen, dass wir zur Küste wollen. Sie werden versuchen, uns den Weg abzuschneiden und uns abzupassen.»
«Irgendwelche Vorschläge?»
«Warten, bis es dunkel ist, die Wikinger vorbeifahren lassen, und uns dann auf Luv halten. Bis morgen früh können sie leicht zwanzig Meilen in Windrichtung von uns entfernt sein. Zu weit für sie, um wieder zurückzurudern. So hätten wir genügend Bewegungsfreiheit, um uns einen sicheren Ankerplatz zu suchen.»
«Sie denken sich vielleicht, dass wir auf diese Idee kommen.»
«Vielleicht.»
«Der Himmel klart auf, und wir haben zunehmenden Mond. Und wir wollen nicht, dass uns die Wikinger entdecken. Also Kurs halten.»
«Aye, Hauptmann.»
Vallon gähnte so heftig, dass er sich beinahe den Kiefer ausgerenkt hätte. «Weck mich auf, falls …» Er beendete den Satz mit einem erschöpften Winken.
Dann trottete er zu seinem Schlaflager, legte sich hin und tastete nach seinem Schwert. Seine Lider flatterten, und dann war er eingeschlafen.
Im Aufwachen schlug er eine Hand weg. Jemand rüttelte an seiner Schulter. Er setzte sich auf und streckte die Arme über den Kopf.
«Mitternacht ist vorbei», sagte Wayland. «Raul hat gesagt, Ihr wollt geweckt werden, wenn es eine Veränderung gibt.»
Vallon blinzelte. Alles hatte sich verändert. Der Falke auf Waylands Faust schien ein weißes Licht auszustrahlen. Der Hund saß neben seinem Herrn. Die Augen des Tieres schimmerten fahl, und sein pelziger Umriss war in die tiefsten Schatten an Deck getaucht. Vallon stand auf. Ein Vollmond mit einem Lichthof warf milchige Helligkeit über den Ozean. Kleine Wolken trieben wie Rauchschwaden niedrig über den Horizont und wurden heller, wenn sie durch die Mondstrahlen zogen. Das Meer schien sich in eine riesige Fläche aus zerknittertem Silber verwandelt zu haben. Auf Backbord schimmerte ein Segel.
«Helgis Schiff», sagte Wayland.
Vallon entdeckte ein weiteres Segel weit hinter dem glitzernden Kielwasser der Shearwater.
«Das ist das andere isländische Schiff.»
Vallon musterte das Meer in allen vier Himmelsrichtungen. «Und die Wikinger?»
«Nicht zu sehen.»
Ein Meteoritenschwarm glitt über den Himmel und verschwand nach und nach in den Tiefen des Alls. Das Falkenweibchen drehte den Kopf und begann sich zu putzen. Sie richtete sich auf und fuhr mit dem Schnabel an ihren Schwungfedern hinunter. Vallon strich dem Vogel über die Brust.
«Wie schnell du ihn gezähmt hast.»
«Das liegt nicht an mir. Er ist von Natur aus gutartig.»
«Und wie geht es den anderen Falken?»
«Bis jetzt sind sie recht gesund. Sie leiden nicht unter Seekrankheit wie die Menschen. Meine Hauptsorge ist, dass mir das Futter ausgehen könnte.»
«Wir gehen an Land, sobald wir die Wikinger abgeschüttelt haben.»
«Und was machen wir, wenn sie uns angreifen?»
«Dann machen wir es ihnen so schwer wir möglich. Wie gut bist du mit Pfeilen versorgt?»
«Mein Köcher ist voll.» Wayland hielt inne. «Es ist Syth, um die ich mir Sorgen mache – wenn ich getötet werde, meine ich. Ich weiß, was die Wikinger mit ihr machen werden.»
«Glaub nicht alles, was Raul dir erzählt.»
«Es stimmt aber. Ihr wisst es selbst. Syth und ich haben darüber gesprochen. Sie hat ein Messer, aber ich bin nicht sicher, dass sie imstande ist, es zu benutzten, falls es so weit kommt.»
«Niemand wir ihr etwas tun.»
«Aber wenn es zum Äußersten kommt …»
Was konnte Vallon sagen? Dass es schlimmere Schicksale für eine junge Frau gab, als von Piraten gefangen zu werden? Dass es Wayland, wenn er tot wäre, nicht mehr kümmern würde, was mit Syth geschah?
«Wenn es in meiner Macht steht, sorge ich dafür, dass sie nicht den Wikingern in die Hände fällt.»
«Danke.»
Vallon hielt Wache, bis der Morgen graute und die Sterne, die sie geführt hatten, niedrig im Osten standen. Einer nach dem anderen wachten die Übrigen auf, verschränkten frierend die Arme vor der Brust und bliesen sich in die Hände. Ein kalter Wind aus Nordwest hatte sie so weit vorangetrieben, dass sie das Land wieder sehen konnten. Helgis Schiff pflügte ein paar Meilen vor ihnen durchs Wasser. Der andere Segler war hinter ihnen. Die Wikinger waren immer noch nirgends zu sehen.
Garrick brachte Vallon ein Frühstück aus Brot und einer Schale rötlichem Brei. Vallon beäugte die Schale mit ausgestrecktem Arm.
«Das ist Tang, Hauptmann.»
«Tang.»
«Seegras, Hauptmann. Die Isländer essen es im Winter, um keinen Skorbut zu bekommen.»
Vallon tauchte den Löffel ein, nahm ein winziges bisschen in den Mund und prüfte mit geschlossenen Augen den Geschmack. Sein Mund zog sich zusammen. Er spuckte den Tang aus und kippte den ekligen Brei über Bord.
«Wir sind noch nicht einmal zwei Wochen auf See. Erzähl mir nicht, dass uns das richtige Essen schon ausgegangen ist.»
«Ich kann Euch ein Ei bringen, Hauptmann.»
Vallons Miene hellte sich auf. «Ein frisches Ei?»
«Ich fürchte nicht. Sie werden seit letztem Jahr in Asche aufbewahrt.»
Vallon zog ein Gesicht. Er hatte Isländer gesehen, die den grünlichen, wässrigen Inhalt solcher Eier ausgesaugt hatten. «Schon gut. Das Brot genügt mir.»
Garrick stützte sich aufs Dollbord und blickte über den Ozean. «Sieht so aus, als wären wir sie los.»
«Da bin ich mir nicht so sicher.»
Garrick nickte in Richtung des Nachzüglerschiffes. «Und wenn sie auftauchen, kriegen sie die dort zuerst.»
Die Brise trug sie näher an die Küste. Vallon schaute zu, wie sie immer deutlicher erkennbar wurde. Hügeliges Ödland in den Farben des Herbstes. Keine Berge oder Bäume. Helgi hielt auf die Mündung eines großen Flusses zu. Die Sonne stand beinahe im Zenit. Beide isländische Schiffe waren noch in Sicht, als Vallon bei einem seiner Rundblicke hinter dem Nachzügler etwas ausmachte.
«Wayland.»
Wayland eilte zu ihm.
«Ist das ein Segel?»
Wayland schaute lange und konzentriert in die angegebene Richtung. «Ja.»
Vallon warf einen finsteren Blick auf Helgis Schiff. Auch dort hatte anscheinend jemand das Langschiff entdeckt, doch die Knarr hielt weiter auf die Flussmündung zu. «Seht euch das an. Denkt nur an sich selbst.»
«Das kann man ihm nicht vorwerfen», sagte Raul. «Er könnte die Knarr ohnehin nicht mehr vor dem Langschiff erreichen.»
«Das sind seine Landsleute. Er hätte an ihrer Seite bleiben müssen. Aber er kümmert sich nur um sich selbst und seine kostbare Schwester.» Vallon kniff die Augen zusammen, um die Entfernungen besser abschätzen zu können. «Wenn wir die Ruder nehmen, schaffen wir es vielleicht, zuerst bei den Isländern zu sein.»
«Nein, das schaffen wir nicht. Die Wikinger können dreimal so schnell rudern wie wir, und sie haben den Wind im Rücken. Hauptmann, mir gefällt es auch nicht, die Isländer sich selbst zu überlassen, aber wir haben keine Wahl.»
Vallon warf erneut einen Blick auf Helgis Schiff. «Beidrehen. Wir geben den Isländern Gelegenheit, zu uns aufzuholen.»
Raul machte einen Schritt auf Vallon zu. «Hauptmann …»
«Beidrehen.»
Die Shearwater verlor an Geschwindigkeit. Alle an Bord warteten ab.
Es war ein merkwürdiger Tag, der Wind kam in Böen, die abwechselnd warm und kalt waren. Sie mussten sich am Zusammenfluss unterschiedlicher Strömungen befinden. Das isländische Schiff schloss langsam zu ihnen auf, doch das Langschiff glitt schneller dahin.
Garrick bekreuzigte sich. «Da sind Frauen und Kinder an Bord. Gott steh ihnen bei.»
«Können wir denn gar nichts tun?», murmelte Hero.
«Nein, nicht das Geringste», zischte Raul. «Wir bringen uns völlig umsonst in Gefahr.»
Eine halbe Meile von ihrer Beute entfernt setzten die Wikinger ihre Ruder ein. Das Meer schäumte um die Ruderblätter und den Bug des Langschiffs. Die Mönche fielen auf die Knie und flehten zu Gott, er möge einschreiten. Vallon überprüfte den Sonnenwinkel. Dann streifte sein Blick den Ring. Er sah, dass der Stein dunkel geworden war, und er tat die Warnung ab. Es stand kaum eine Wolke am Himmel, und es wäre nicht das erste Mal, dass die Vorhersage des Edelsteins falsch war. Die Brise trug schwache Schreie von dem isländischen Schiff herüber.
Richard barg das Gesicht in den Händen. «Ich kann das nicht mit ansehen.»
Das Langschiff glitt neben die Knarr, und die Wikinger sprangen an Bord. Ein kurzes Gedränge, dann klang ein Kriegshorn übers Meer.
«Bitte um Erlaubnis, weiterfahren zu dürfen, Hauptmann.»
Zwei Gestalten stürzten von der Knarr. Eine weitere folgte. «Was geht da vor sich?»
«Sie wollen die Alten und Kranken loswerden – alle, die auf dem Sklavenmarkt keinen ordentlichen Preis erzielen.»
«Sind sie Heiden?»
«Sehr wahrscheinlich, wenn sie aus dem Norden kommen. Bitte, Hauptmann …»
Vallon stellte fest, dass Helgis Schiff beinahe außer Sicht war. «Fahr zu der Mündung.»
Raul klatschte in die Hände. «So schnell ich kann.»
Hastig wurde das Segel hochgezogen und das Schiff gewendet. Sie hatten etwa zwei Meilen zurückgelegt, als das Langschiff von seiner Beute abließ und sich an ihre Verfolgung machte. Eine Meile weiter kam mit einem Mal der Wind zum Erliegen. Die Shearwater lag reglos auf dem Wasser. Noch einmal schlug das Segel, dann hing es schlaff herab.