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XXX
Die Schatten an der Küste wurden schon länger, als die Shearwater in die breite Flussmündung fuhr. Der Abstand zu dem Langschiff betrug mittlerweile eine Meile. Die Flut trug sie den Fluss hinauf, und die unbekannten Ufer rückten näher. Auf den ersten Meilen erinnerte viel an Island, eine hügelige Tundra in Herbstfarben, aus der kahle Granitfelsen aufragten. Was die Isländer erstaunte, waren die vielen umgestürzten Bäume, die in den Nebengewässern dümpelten und anscheinend von keiner Menschenseele verwertet wurden. Bald kamen sie an Birkenhainen und einsamen Fichten vorbei, die wie Obelisken am Ufer standen. Der Fluss war kaum noch eine Meile breit, als sie um eine Biegung fuhren und das Langschiff außer Sicht geriet. In diesem Bereich scharte sich der Baumbestand zu einem schütteren Wald zusammen, der sich bis zu fernen Hügelkämmen erstreckte. Nichts deutete auf eine Besiedlung hin. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass jemals ein Mensch seinen Fuß in diese Ödnis gesetzt hatte.
Als sie in das Waldgebiet fuhren, senkte sich langsam die Abenddämmerung herab. Sie ließen eine weitere Flussbiegung hinter sich und passierten zu ihrer Rechten die Einmündung eines Nebenflusses. Dann kamen sie an einer mit Gebüsch überwucherten Insel vorbei, und ein großes buckliges Tier brach aus dem Halbdunkel, durchquerte spritzend das seichte Gewässer am Ufer und verschwand. Einige Isländer bekreuzigten sich.
Raul stand neben Vallon. «Wir sollten einen Ankerplatz finden, solange es noch hell genug ist.»
«Suche nach einer versteckten Ausbuchtung des Flusses. Falls die Wikinger an uns vorbeifahren, können wir uns dann mit der Ebbe wieder aufs Meer hinausziehen lassen.»
«Dort?», fragte Wayland und deutete auf ein Nebengewässer zwischen bewaldeten Ufervorsprüngen.
«Wir sehen es uns an.»
Die Shearwater glitt, immer noch unter Segel, mit dem Schub der Flut ans linke Ufer. Vallon hielt flussabwärts Ausschau. Keine Spur von dem Langschiff. Dann hörte er das Plätschern von seichtem Wasser.
«Untiefe!»
Doch bevor Raul steuern konnte, lief der Kiel mit lautem Kreischen und einem heftigen Ruck auf Grund. Durch die Erschütterung stürzten beinahe alle Passagiere zu Boden. Vallon rappelte sich auf und stellte fest, dass die Shearwater fünfzig Schritt vom Ufer entfernt festsaß.
Wütend starrte er zum Himmel hinauf, als wüsste er, wo der Verursacher dieser Katastrophe zu suchen sei. Nein. Es war sein eigener Fehler. Er hätte das Segel einholen und vom Bug aus die Wassertiefe ausloten lassen sollen. «Raul, stell fest, wie groß der Schaden ist.»
Unruhig ging er auf und ab, während Raul im Laderaum war. Es dauerte nicht lange.
«Wir sind leckgeschlagen, und der Kiel hat sich im Grund festgefressen. Was es noch schlimmer macht, die Flut hat beinahe ihren Höchststand erreicht. Wir werden sie heute Nacht nicht mehr flottkriegen.»
Jeden Augenblick würden die Wikinger in Sicht kommen. Denk nach, sagte sich Vallon, denk nach.
«Setzt unser Beiboot aus. Bringt das andere längsseits. Rudert die Frauen und alle anderen, die nicht kämpfen können, ans Ufer. Dann ladet die Waren aus. Wayland, das übernimmst du. Nimm dir so viele Isländer zu Hilfe wie nötig. Raul und Garrick, ihr bringt die Pferde aus dem Laderaum.»
Die Leute rafften ihre Habseligkeiten zusammen und starrten ängstlich flussabwärts. Vallon wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
«Wir müssen das Schiff sichern, koste es, was es wolle», sagte eine Stimme neben ihm. «Wenn wir es verlieren, sind wir am Ende.»
Vallon sah Drogo an, der wie eine Schattengestalt neben ihm aufgetaucht war. «Schiff oder nicht Schiff, keiner von uns wird hier wegkommen, wenn wir uns die ganze Zeit nur gegenseitig belauern.»
«Das stimmt. Uns trennt ein blutiger Fluss, aber ich werde ihn erst überschreiten, wenn wir mit den Wikingern fertig sind.»
«Also unterstellst du dich meinem Befehl?»
Drogo zögerte. «Wenn ich deine Entscheidungen mittrage, unterstütze ich sie auch.»
«Aber nicht Helgi. Er wird bei jeder Gelegenheit versuchen, mich zu behindern.»
«Dann übermittle deine Befehle durch mich.»
Vallon sah Drogo nachdenklich an, bevor er wieder auf den Fluss schaute.
«Welchen Plan hast du?»
«Das Schiff bewachen und die Wikinger an Land in einen Kampf verwickeln. Wir haben fünf Pferde, sie dagegen gar keins. Das wiegt ein Dutzend Männer auf.»
Es war schon sehr lange her, dass Vallon mit einem erfahrenen Krieger eine Kampftaktik besprochen hatte. «Wir lassen die Schwertkämpfer an Bord und postieren Bogenschützen am Ufer. Ich glaube nicht, dass die Wikinger heute Nacht noch angreifen werden. Sie sind mit ihren Kräften am Ende und fühlen sich bestimmt vom Pech verfolgt, nachdem sie Männer verloren haben und vor ihren Augen zwei Beuteschiffe versunken sind.»
Wayland ruderte mit dem Beiboot wieder zum Schiff. «Alle Frauen und alten Leute sind an Land.»
«Als Nächstes die Ladung. Wenn du damit fertig bist, sieh dir die isländischen Bogenschützen an und bezieh mit ihnen am Waldrand Stellung.»
Raul und Garrick hatten einen behelfsmäßigen Ladebaum aufgestellt, um die Pferde aus dem Laderaum zu hieven. Helgi und seine Männer trieben ihre eigenen Pferde über die Reling.
Vallon wandte sich wieder an Drogo. «Sind deine Rippenbrüche geheilt?»
«Ich kämpfe, wenn ich zum Kampf gerufen werde.»
«Auf der richtigen Seite, hoffe ich.»
Alle Männer an Bord beobachteten die Flussbiegung stromab. Auf dem Fluss bildeten sich geheimnisvolle Strudel und verschmolzen wieder mit dem schwarzen Wasser. Die Ebbe hatte eingesetzt, und die Shearwater ragte hoch aus dem Fluss. Tief im Wald war der klagende Ruf einer Eule zu hören. Waffen klirrten. Stechmücken sirrten. Der Fluss schwappte.
«Wo bleiben sie denn?», murmelte Fulk.
«Sie kämpfen gegen die Strömung», sagte Drogo. «Vielleicht haben sie es auch für heute Nacht aufgegeben.»
«Sie werden bestimmt nicht ankern, bevor sie uns gefunden haben», sagte Vallon. «Sie durchsuchen wahrscheinlich jedes mögliche Schlupfloch, weil sie denken, dass sie uns in eine Sackgasse gedrängt haben. Und in diesem Fall wollen sie dafür sorgen, dass wir nicht mehr entkommen.»
Eine Mücke stach ihn in die Wange. Er hob die Hand, um das lästige Insekt zu erschlagen, doch dann hielt er inne, gebannt von einem gespenstischen Licht, das sich am nördlichen Himmel ausbreitete. Vom Himmel herab entrollte sich ein zarter, blassgrüner Vorhang, dessen wogende Falten purpurfarbene Fransen trugen. Die Falten bewegten sich wie in einer lockenden Wellenbewegung, verblassten und blähten sich wieder in ihre Richtung.
«Was in Gottes Namen ist das?»
«Das Nordlicht», sagte Hero. «Die Isländer sagen, es sind die Flammen von Vulkankratern, die sich am Himmel spiegeln.»
Und in diesem überirdischen Schimmer tauchte das Langschiff auf. Es stahl sich um die Flussbiegung, sein Segel leuchtete in dem geisterhaften Licht, winzige Lichtpunkte blitzen an seinen Ruderblättern. Es kam näher, und jemand stieß einen Ruf aus, als er die Shearwater entdeckte. Die Wikinger ruderten noch ein Stück näher heran, dann hielten sie sich auf der Stelle. Gelächter und Triumphgeschrei hallte übers Wasser, als den Wikingern klar wurde, dass die Knarr auf Grund gelaufen war. Der Anführer stand im Drachenbug und brüllte eine langatmige Herausforderung oder ein Ultimatum herüber, bei dem die Isländer vor Angst wie Espenlaub zitterten.
«Sie haben schon von ihm gehört», sagte Raul. «Sein Name ist Thorfinn Wolfsatem, ein Heide, der wegen seiner Grausamkeit an der gesamten norwegischen Küste gefürchtet wird. Er verspeist die Lebern seiner Gegner. Stopft sie auf dem Schlachtfeld roh in sich hinein, um seinen Heldenmut zu nähren.»
Der Kriegsherr rief erneut etwas.
«Was sagt er?»
«Wir sollen unser Schiff, unsere Waren und unsere Frauen herausgeben, und er überlässt uns Gottes Gnade. Wenn wir Widerstand leisten, schneidet er den Blutadler in jeden Mann, der ihm lebendig in die Hände fällt.»
«Blutadler?»
«Eine grauenhafte Folter. Ich habe einmal gesehen, wie sie an einem Dieb in Gotland vollzogen wurde. Sie haben ihn mit dem Gesicht nach unten an Pflöcke gebunden, ihm neben dem Rückgrat die Rippen durchgehackt und ihm von hinten die Lungenflügel aus dem Körper gezogen. Die Isländer sagen, Thorfinn ist ein Berserker, ein Krieger, den nicht einmal tödliche Hiebe besiegen können. Schwerter können ihm nichts anhaben, und er geht durch Feuer, ohne sich zu verbrennen. Er kann mit bloßen Blicken eine Waffe stumpf werden lassen.»
Vallon schnaubte bloß.
«Wir beide wissen, dass das Unsinn ist», sagte Raul. «Aber die Isländer glauben es. Wenn uns Thorfinn jetzt angreift, springt die Hälfte von ihnen über Bord.»
«Dann zeig ihnen noch einmal, was du mit deinem Armbrustbolzen anrichten kannst.» Vallon drehte sich um. «Wayland, sorg für einen Pfeilhagel.»
Der Armbrustbolzen schlug mit einem dumpfen Geräusch ein. Pfeile schwirrten durch die Luft. Thorfinn aber lachte bloß. Noch mehr Pfeile zischten auf das Langboot zu, und ein Schmerzensschrei zeigte an, dass einer von ihnen getroffen hatte. Thorfinn rief etwas. Das Langschiff ließ sich mit der Ebbe zurückfallen.
«Wayland, du folgst ihnen und stellst fest, wo sie anlegen. Dort hältst du Wache. Nimm jemanden mit, der zurückkommt, um uns Bericht zu erstatten.»
Wayland machte sich zügig auf den Weg. Das Nordlicht begann zu verblassen. Einige Male schimmerte es noch schwach pulsierend auf und zeigte ihnen das flussab treibende Langschiff, bis es hinter der Biegung verschwand.
«Sie werden heute Nacht nicht wiederkommen», sagte Drogo. «Wir sollten ein Lager aufbauen.»
«Wir teilen den Rest der Nacht in zwei Wachen ein und lassen dafür jeweils sechs Männer an Bord. Die Übrigen sollen zusehen, dass sie etwas Warmes zu essen in den Bauch bekommen.»
Vallon stellte rund um das Lager Wachposten auf. Er bezweifelte, dass Thorfinn auf unbekanntem Terrain einen Nachtangriff wagen würde. Andererseits, so erklärte er Drogo, würde er selbst an der Stelle des Wikingers genau das tun, was am wenigsten von ihm erwartet wurde.
Drogo schüttelte den Kopf. «Sie werden sich ausruhen, bevor sie angreifen.»
Sie saßen bei einem knisternden Lagerfeuer und schlangen geröstetes Fleisch von dem Pferd hinunter, das Garrick getötet hatte.
Vallon wischte sich die fettigen Finger ab, stützte die Hände auf die Knie, und stand auf. «Ich muss mich mit Hero unterhalten.»
Hero half gerade dabei, einige Unterstände zu bauen. «Hast du unsere Position berechnet?»
«Ich habe ein Dutzend Messungen durchgeführt. Auch die günstigste sagt aus, dass wir uns sechshundert Meilen nördlich von unserem Ausgangspunkt befinden. Daraus folgt, dass wir tausend Meilen zurücklegen müssen, bevor wir das Baltikum erreichen. Wir haben nicht genügend Proviant. Unsere eigenen Vorräte reichen kaum noch eine Woche, und die Isländer haben nichts, was sie abgegeben könnten. Einer der Schiffsmeister hat zu mir gesagt, dass wir zwei Wochen Segelstrecke vom nächsten Hafen entfernt sind, in dem wir neue Vorräte kaufen oder eintauschen können.»
«Wir können jagen oder fischen. Und der Wald ist bestimmt voller Beeren.»
Richard saß neben Hero und hatte die Knie zum Kinn hochgezogen.
Vallon ging in die Hocke. «Mach dir wegen Drogo keine Sorgen.»
Richard umklammerte seine Beine fester.
Vallon legte ihm die Hand auf den Arm. «Hättest du gewollt, dass ich die Isländer zum Tod verdamme? Ich konnte sie nicht mitnehmen und Drogo gleichzeitig zurücklassen.»
«Wieso nicht? Er hätte mit mir dasselbe gemacht.»
«Warum hasst er dich so?»
Da brach es aus Richard heraus. «Er gibt mir die Schuld am Tod unserer Mutter. Und am meisten erbittert ihn, dass Lady Margaret keinerlei Zuneigung für ihn hat. Sie liebt einzig und allein ihren kostbaren Walter. Als Kind habe ich gesehen, wie sie Drogo zurückgewiesen hat, wenn er versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich habe es erst gar nicht versucht. Ich wusste von Anfang an, dass ich von dieser Seite nur Klapse und Kränkungen zu erwarten hatte. Ich dachte, nun wäre ich all dem entkommen, hätte Freunde gefunden, denen ich etwas bedeute. Aber obwohl ich bis ans Ende der Welt gefahren bin, sieht es danach aus, als würde ich Drogo niemals loswerden.»
«Du bedeutest uns viel. Wir sind jetzt deine Familie. Hero und Wayland und all die anderen Getreuen, die uns auf unserer Reise begleiten. Ich werde nicht zulassen, dass Drogo dir etwas antut. Ich verspreche es.»
Vallon erhob sich und ging, über Schlafende hinwegsteigend, zum Lagerfeuer. Dort streckte er sich aus, den Kopf voller Sorgen. Kaum hatte er sich hingelegt, so schien es ihm, wurde er von Raul auch schon wieder wachgerüttelt.
«Syth ist zurück.»
Verschlafen stand Vallon auf. Das Feuer war beinahe vollständig heruntergebrannt, und Wolken verhüllten den Mond. Er hatte länger geschlafen, als er gewollt hatte. Außer Atem, ließ sich Syth am Feuer nieder. Er ging neben ihr in die Hocke.
Raul gab ihr ein Stück Pferdefleisch, und sie schlug ihre Zähne hinein. «Sie liegen in einer Bucht hinter der Flussschleife. Auf dieser Uferseite, keine zwei Meilen von hier.»
Vallon warf einen Blick zum Fluss. Nebel hing über dem Ufer. Er überprüfte, wo der Mond stand, dann wandte er sich an Drogo. «Wir sehen uns das besser an, bevor es hell wird.»
Syth gab dem Hund etwas von dem Fleisch. Er riss das Maul auf und nahm den Happen so sanft zwischen die Zähne, dass er damit nicht einmal eine Luftblase zum Platzen gebracht hätte. Dann knurrte er die Männer an und machte sich davon. «Ihr braucht den Hund, um Wayland zu finden und den Wikingern nicht in die Arme zu laufen. Vier von ihnen sind an Land gegangen und kommen in unsere Richtung, um uns zu beobachten.»
Helgi bestand darauf, den Spähtrupp zu begleiten. Vallon nahm Garrick mit, der Wayland ablösen sollte. Der Hund führte sie im Halbkreis durch den Wald und fletschte einmal mit nach links gewandtem Kopf die Zähne, um anzuzeigen, wo die Wikinger ihre eigenen Späher postiert hatten. Obwohl der Mond durch die Wolken leuchtete, war es mühselig, über umgestürzte Bäume, zwischen dichter Heide und Moorlöchern voranzustolpern.
Helgi rutschte mit dem Fuß in eine Senke. «Das Mädchen hat zwei Meilen gesagt. Wir müssen inzwischen doppelt so weit gegangen sein.»
«Nicht so laut», flüsterte Vallon. «Die Wikinger haben Posten aufgestellt. Der Hund führt uns um sie herum.»
Er seufzte beim Anblick des verblassenden Mondes. Eine Erhellung am Himmel zeigte, dass dort, wo er den Westen vermutet hatte, Osten war. Der Hund hatte sich ein Stück vor ihnen hingesetzt und wartete. Nun drehte er den Kopf, sah Vallon an, und trottete weiter.
Dann erhaschte Vallon den ersten Blick auf den Fluss, seit sie das Lager verlassen hatten. Dort hatte der Fluss zu seiner Linken gelegen. Nun befand er sich unterhalb von ihm zur Rechten. Der Hund führte sie also flussauf zurück. Sie hasteten weiter und kamen auf einen Hügel. Unten war wieder der Fluss zu sehen und eine in Nebel schwimmende Bucht. Der Hund war verschwunden und der Mond ebenso. Vallon roch Holzrauch. Er drehte sich um sich selbst.
«Hier drüben.»
Wayland lag unter einer Fichte, vollkommen verborgen unter ihren Zweigen, die wie ein Rock bis zur Erde herunterhingen. Vallon und die anderen schoben sich neben ihn. Garrick gab ihm etwas zu essen und einen ledernen Wasserschlauch. Gierig trank Wayland.
«Sind sie in der Bucht?»
Wayland nickte, ohne den Wasserschlauch abzusetzen. Dann senkte er ihn keuchend. «Auf dem nächsten Hügel haben sie einen Wachposten. Ich fand es klüger, mich flussabwärts zu verstecken, wo sie vermutlich nicht nach uns suchen.» Er trank wieder ein paar Schlucke.
«Wie viele sind es?», fragte Drogo.
Vallon bemerkte Waylands Blick. «Du kannst ihm antworten», sagte er. «Für den Moment sind wir Verbündete.»
«Es war zu dunkel, um sie zu zählen», sagte Wayland. Er berührte Vallon am Ärmel. «Hauptmann, ich mache mir Sorgen um die Falken. Ich habe sie gestern nicht gefüttert, und sie werden hungern, wenn ich ihnen heute nichts zu fressen beschaffen kann. Ich weiß, dass unsere Lage gefährlich ist, aber wir dürfen nicht vergessen, was uns überhaupt hierhergeführt hat. Wenn wir den Piraten entkommen, die Falken aber verhungern, würde ich das nicht gerade einen Erfolg nennen.»
«Wir haben reichlich frisches Pferdefleisch.»
«Ich weiß nicht, ob ein Falkenmagen so zähe Kost verträgt.»
Die Morgendämmerung kroch über den Wald. Vallon rutschte näher an Wayland heran. «Ich kann nicht auf dich und den Hund verzichten, damit ihr auf die Jagd geht. Du bist unsere Augen und unsere Ohren. Wir müssen die Shearwater flottmachen und abdichten, bevor es Abend wird. Wenn sich die Wikinger in Bewegung setzen und Garrick uns benachrichtigen muss, ist es lebenswichtig, dass er nicht in einen ihrer Wachposten hineinläuft. Lass den Hund bei ihm, und komm mit uns zurück. Den Tag über kümmerst du dich um deine Falken und versuchst dich zu erholen. Ich will, dass du heute Abend wieder hier Stellung beziehst.»
Sie warteten. Es wurde heller. Wayland schlief ein. Die Vorderläufe seines Hundes zuckten im Traum.
Ein dünner Rauchfaden stieg aus der nebligen Bucht empor. Von Zeit zu Zeit hörte Vallon Stimmen und Arbeitsgeräusche. Eine schwache, gelbliche Sonne stieg über den Wald, und der Flussnebel löste sich auf und enthüllte das Langschiff, das an der Spitze der Bucht festgemacht hatte. Auf dem Schiff, aneinandergefesselt im Heck, saßen die überlebenden Isländer von der besiegten Knarr – sechs Männer und zwei Frauen. Die Wikinger hatten das zerrissene Segel heruntergeholt, und elf von ihnen saßen wie fleißige Schneiderlein um es herum und flickten es. Zwei andere hackten Feuerholz, und noch einer rührte in einem Kochtopf, der an einem Dreifuß hing. Ein einzelner Mann mit einer blutigen Armbinde saß allein für sich an der Reling. Der Anführer ging mit einem merkwürdig schlingernden Gang zwischen ihnen umher. Er trug einen Wolfsfellumhang über einer ärmellosen Lederweste, die seine kräftigen Arme frei ließ, die vom Handgelenk bis zum Ellbogen tätowiert waren. Er war noch größer, als Vallon ihn in Erinnerung hatte, überragte jeden Mann aus seiner Besatzung zumindest um eine Haupteslänge.
Sechzehn Wikinger im Lager, vier flussauf und vermutlich noch einmal so viele, die das Lager bewachten. Vallon zählte sie an den Fingern ab und kam auf insgesamt vierundzwanzig – fünf mehr, als seine eigene zusammengewürfelten Kampftruppe umfasste.
Dann rief der Mann am Kochtopf etwas, die Piraten legten ihre Arbeit zur Seite und gingen zum Lagerfeuer.
«Anscheinend haben sie es nicht eilig», sagte Drogo.
«Sie müssen das Segel reparieren, bevor sie die Verfolgung wiederaufnehmen», sagte Vallon.
«Das brauchen sie doch nicht, wenn sie uns heute noch angreifen. Thorfinn muss wissen, dass wir die Shearwater erst flottbekommen, wenn die nächste Flut kommt.»
«Wir würden einen Angriff vom Fluss aus aber frühzeitig entdecken. Ich glaube, sie kommen von der Landseite und greifen uns aus mehreren Richtungen zugleich an.»
«Bei Nacht?»
Vallon versuchte, sich in Thorfinns Kopf hineinzuversetzen. «Es wird schon Tag. Ich glaube, dass sie uns morgen früh beim Hellwerden angreifen.»
«Dann haben wir Zeit, das Lager besser zu sichern.»
In Vallons Kopf begann ein Plan Gestalt anzunehmen. «Aber wir werden nicht im Lager sitzen bleiben und auf sie warten.»
Auf ihrem Rückweg bewölkte sich der Himmel. Es begann zu nieseln. Raul begrüßte Vallon mit langem Gesicht.
«Seht es Euch selbst an.»
Der Bug der Shearwater lag leicht erhöht. Die Felsen, auf die sie gelaufen war, ragten etwas über die Wasseroberfläche. Vallon kletterte an Bord. Die Waren und ein beträchtlicher Teil des Ballasts waren ausgeladen worden. Raul hatte das Leck behelfsmäßig mit geteertem Segeltuch gestopft.
«Das habe ich mir schlimmer vorgestellt», sagte Vallon.
«Seht Euch lieber erst mal den Spant und den Querbalken hinter dem Leck an.»
Jetzt sah Vallon, dass der Aufprall die schweren Eichenträger aus ihrer Position gerückt hatte und damit die Holznägel gebrochen waren, die sie mit den Planken verbanden.
«So können wir nicht aufs Meer», sagte Raul. «Da werden wir von der ersten höheren Welle zusammengefaltet.»
«Wie lange dauert die Reparatur?»
«Zwei, drei Tage.»
Vallon ließ seinen Blick über das Lager wandern. Es wirkte bei Tageslicht sehr schutzlos, wie es so zwischen zwei bewaldeten Erhebungen lag. Die Flussufer waren grau und der Schlamm mit toten Ästen übersät. Der Regen schien nicht aufhören zu wollen, und die Isländer starrten ausdruckslos unter mehr schlecht als recht aufgespannten Segeltuchplanen hervor, unter die sie ihre Habe gestapelt hatten. Vallon fiel Heros Warnung ein, dass die Vorräte knapp wurden. Er schob den Gedanken beiseite. Zuerst musste er mit den Wikingern fertig werden.
Bei klarem Wetter und Mondenschein würden die Piraten vermutlich keinen Angriff von der Flussseite aus riskieren. Aber wenn dieses trübe Wetter bis zum Abend anhielt, könnten sie sich am Ufer anschleichen, ohne entdeckt zu werden. Sie konnten sogar gleichzeitig vom Land und vom Wasser aus angreifen. Das Lager wäre leer, aber die Shearwater würde als willkommene Beute auf sie warten.
«Ich will, dass das Schiff nach dem Dunkelwerden an einen anderen Liegeplatz geschafft wird. Könnt ihr das Leck bis dahin einigermaßen flicken?»
«Wir tun unser Bestes. Wir müssen sie auf den Strand setzen, um neue Planken einzupassen. Wenn die Wikinger kommen, während sie nicht im Wasser ist …»
«Garrick hält Wache. Er wird uns rechtzeitig warnen.»
«Hauptmann, ich weiß nicht, was Ihr vorhabt, aber ich sehe nicht, wie wir sie schlagen könnten. Es sind zu viele. Auch wenn wir die Hälfte von ihnen töten können, haben sie immer noch ihr Schiff. Alles, was sie tun müssen, ist flussabwärts darauf zu warten, dass wir einen Ausbruch versuchen.»
«Ich weiß», sagte Vallon. «Wenn wir nur das Langschiff zerstören könnten …» Er brach mitten im Satz ab. «Warum eigentlich nicht?»
Rauls Kopf fuhr herum. «Das meint Ihr nicht ernst.»
«Damit rechnen sie bestimmt nicht.»
«Weil sie wissen, dass es reiner Selbstmord wäre.»
«Nicht, wenn du das Schiff angreifst, während die meisten von ihnen auf unser Lager vorrücken.»
«Ich?»
«Ich würde es selbst machen, wenn ich nicht an anderer Stelle gebraucht würde.» Vallon blickte in den wolkenschweren Himmel hinauf. «Alles hängt vom Wetter ab. Wir halten nach Sonnenuntergang einen Kriegsrat ab.»
Er befahl den Isländern, Verteidigungsstellungen anzulegen, die er keineswegs benutzen wollte. Während sie Bäume fällten und Pfähle anspitzten, erreichte die Flut wieder ihren Höchststand. Da sie so viel Last aus dem Schiff genommen hatten, gelang es Raul und ein paar Männern ohne allzu große Mühe, die Shearwater freizubekommen. Sie spannten vom Ufer aus vier Pferde an den Vordersteven, zogen das Schiff aufs Land und begannen, das Leck zu flicken. Vallon machte sich auf die Suche nach Wayland. Der Falkner lag schlafend auf einem Bett aus Kiefernnadeln, neben sich die Falken in ihren Käfigen. Syth berichtete Vallon gähnend, dass die Falken von dem Pferdefleisch gefressen hatten und keine Anzeichen einer Unverträglichkeit zeigten.
Als Nächstes suchte er Hero. Er fand ihn im Gespräch mit Vater Hilbert. Vallon bat um eine Unterredung und führte Hero ein paar Schritte zur Seite.
«Kennst du das Geheimnis des Griechischen Feuers?»
Hero lächelte, als hätte er diese Frage schon erwartet. «Nur die byzantinischen Herrscher und einige wenige erfahrene Techniker kennen die Formel. Einige Inhaltsstoffe kann ich mir denken. Erdöl zum Beispiel. Pech. Schwefel. Aber was den Bestandteil angeht, der zur Spontanentzündung führt und dazu, dass es auf Wasser brennt … Hat diese Frage etwas mit dem Wikingerschiff zu tun?»
«Ja, hat sie. Ein Schiff ist nicht so leicht in Brand zu setzen, wie man glauben könnte. Ich brauche ein Mittel, das heftig brennt und schwer zu löschen ist.»
Hero blickte zu den Vorräten hinüber. «Wir haben reichlich Waltran und Schwefel, außerdem etwas Terpentin. Ich könnte ein bisschen damit herumprobieren.»
Vallon sah zu den Hügeln hinauf. «Aber achte darauf, dass niemand etwas mitbekommt. Der Feind beobachtet uns.»
Als er zurückging, um festzustellen, welche Fortschritte die Reparatur des Schiffes machte, begegnete Vallon Caitlin und ihren Mägden, die zwei mit Feuerholz beladene Pferde ins Lager führten. Er nickte ihr zu. Sie wandte sich ab, beeilte sich weiterzukommen, und warf nur noch einen kurzen Blick über die Schulter. Als sie sah, dass er ihr immer noch nachschaute, stampfte sie mit dem Fuß auf und hastete noch schneller weiter.
«Einen Augenblick, wenn es genehm ist.»
Sie blieb stehen.
Er schlenderte zu ihr. «Du wärst jetzt gefangen oder tot, wenn ich dich nicht gerettet hätte. Ein Wort des Dankes wäre nicht fehl am Platz.»
Langsam drehte sie sich um. «Ich verstehe deine Sprache nicht.»
«Du hast mich doch auch gut genug verstanden, um mich vor der feigen Heimtücke deines Bruders zu bewahren. Ich vermute, dafür schulde ich dir selbst noch einen Dank.»
Mit wütend funkelndem Blick gab Caitlin zurück: «Mein Bruder ist kein Feigling, und wenn ich ihm erzähle, dass du ihn so genannt hast, dann lässt er dich dein eigenes Blut trinken.»
«Erzähl ihm, was du willst, aber sei gewarnt. Wenn er ein falsches Spiel mit mir treibt, werde ich ihn wie einen tollwütigen Köter abstechen.» Er trat noch einen Schritt näher auf sie zu. «Ich habe hier den Befehl. Sein Leben, dein Leben, das Leben sämtlicher Isländer liegt in meiner Hand und hängt von meinem guten Willen ab.» Noch ein Schritt. «Hast du das verstanden?»
Caitlins Blick zuckte hilfesuchend in alle Richtungen.
«Ich will eine Antwort hören.»
«Es ist nicht leicht, Helgis Temperament im Zaum zu halten.»
«Dann sorg dafür, dass er erst gar keinen Temperamentsausbruch bekommt.»
Caitlin starrte ihn an. Ihr stieg das Blut in die Wangen. «Du bist ein schlechter Mann.»
«Ach?»
«Du hast deine Frau getötet.»
«Ja, das habe ich.»
Sie sah ihn unverwandt an, Angst und Abscheu und noch etwas anderes im Blick. Ihr Mund öffnete sich zum Sprechen, doch dann überlegte sie es sich anders. Nachdem sie sich schnell umgesehen hatte, weil sie vielleicht befürchtete, dass Helgi sie beobachtete, sagte sie kalt:
«Sprich mich nicht noch einmal an.»
Als er beobachtete, wie sie zwischen die Bäume hastete, fühlte sich Vallon von der Begegnung seltsam aufgemuntert.
Es regnete den ganzen Tag. Die Shearwater lag auf dem morastigen Ufer, und Vallon rechnete jeden Moment damit, von Garrick die Nachricht zu erhalten, dass die Wikinger auf dem Vormarsch seien oder mit etwas Überraschendem aufwarteten. Es gab so viele Unwägbarkeiten zu bedenken. Als die Dämmerung in nächtliche Dunkelheit übergegangen war, litt Vallon unter bohrenden Kopfschmerzen.
Sie entzündeten Lagerfeuer. Um eines setzten sie sich und hielten Kriegsrat.
«Garrick ist nicht zurückgekommen», begann Vallon. «Das ist gut. Es bedeutet, dass die Wikinger noch in ihrem Lager sind.»
«Oder dass sie ihn gefangen genommen haben», sagte Drogo.
«Das hätte uns der Hund wissen lassen.» Vallon wandte sich an Raul. «Ist das Schiff fertig?»
«Wir haben das Leck geflickt. Den Querbalken müssen wir noch reparieren.»
«Wenn Garrick zurückkommt, wird er mit dem Schiff die Frauen und die Alten ans andere Ufer bringen. Die Späher der Wikinger sollen sehen, was wir tun.»
«Warum lassen wir uns nicht von dem Hund zu ihnen führen? Dann können wir einen nach dem anderen töten.»
«Ich bezweifle, dass wir sie alle erwischen würden. Abgesehen davon will ich ja gerade, dass sie uns weiter beobachten. Garrick wird ein paar Ruderer brauchen. Helgi soll zwei von den schwächeren Isländern dafür aussuchen.»
Helgi erklärte sich widerwillig einverstanden.
Drogo stocherte mit einem Zweig im Feuer herum. «Die Wikinger werden mitbekommen, dass wir nicht mehr im Lager sind.»
«Wir lassen ein paar Männer da, die vor den Lagerfeuern auf und ab gehen.»
Drogo warf den Zweig ins Feuer. «Das ist nicht meine Art. Ich kämpfe in richtigen Schlachten. Ich führe keine Schattentheater auf.»
«Ich will keine Schlacht. Ich würde den Wikingern im Schlaf die Kehle durchschneiden, wenn sich die Gelegenheit dazu bieten würde.»
Dumpfe Schritte hielten Drogo vom Antworten ab. Er griff nach seinem Schwert. «Lass das», sagte Wayland, «das ist der Hund.»
Das Tier brach aus der Dunkelheit und legte Wayland den Kopf auf die Schulter. Wayland streichelte ihm über die Ohren. «Die Wikinger sind noch in ihrem Lager.» Der Hund legte sich auf den Boden, seine Augen glühten rot im Feuerschein. «Da ist Garrick.»
Vallon stand auf. «Was gibt’s?»
Garrick schöpfte keuchend Atem. «Den ganzen Tag über haben die Wikinger nichts getan, außer das Segel zu flicken, zu essen und …»
«Und was?»
«… und abwechselnd die beiden Frauen zu missbrauchen.»
«Was sagt er?», fragte Helgi.
«Sie vergewaltigen die Frauen», sagte Vallon, ohne sich von Garrick abzuwenden. «Hast du eine Ahnung, was sie vorhaben?»
Garrick ließ sich am Feuer nieder. «Ich glaube, sie hatten vor, uns beim Dunkelwerden anzugreifen. Sie haben die Gefangenen vom Schiff geholt und sich am Fluss gesammelt. Ich war sicher, dass sie an Bord gehen würden, aber da haben sie offenbar ein Ereignis als eine Art Omen aufgefasst. Zwei Raben sind aus unterschiedlichen Richtungen über den Fluss geflogen. Als sie sich in der Luft begegnet sind, haben sie zusammen ein paar Kreise gezogen und sich mit ihren Krächzlauten etwas mitgeteilt, bevor sie wieder in verschiedene Richtungen davonflogen. Thorfinn hat darin offenbar ein schlechtes Vorzeichen gesehen, denn er hat wütend seine Männer aus dem Weg geschubst und ist zurück ins Lager gestapft. Kurz darauf wurde es zu dunkel, um noch etwas erkennen zu können, also dachte ich, es wäre am besten zurückzukommen.»
Vallon klopfte Drogo aufs Knie. «Wir müssen den Hinterhalt lange vorm Hellwerden fertig vorbereitet haben.»
«Sie könnten auf einem anderen Weg kommen.»
«Wayland sagt uns, welchen Weg sie nehmen.»
«Wenn es so dunkel bleibt wie jetzt, dann kommen sie überhaupt nicht.»
«Die Wolken können sich jederzeit verziehen. Dann müssen wir bereit sein.»
«Warum nutzen wir die Dunkelheit nicht zu unserem Vorteil? Wir können uns von Wayland und seinem Hund zu ihrem Lager führen lassen. Und dann fallen wir über sie her, während sie schlafen.»
«Das ist kein schlechter Plan, wenn man die richtigen Männer hat, um ihn umzusetzen. Von unseren Männern hat aber die Hälfte noch nie mit dem Schwert gekämpft.» Vallon sah auf, als sich zwei Schatten näherten. Er rückte ein Stück. «Kommt und setzt euch zu uns.»
Hero und Richard setzten sich neben ihn. «Wir haben mögliche Zusammensetzungen für den Brandsatz ausprobiert», sagte Hero. «Die besten Ergebnisse haben wir mit Birkenrinde und trockenen Kiefernnadeln erzielt, die wir in Terpentin, Robbenöl und Schwefel eingeweicht hatten.»
«Wovon redet er?», fragte Drogo.
Vallon hob eine Hand. «Kannst du es vorführen?»
Hero hielt einen Mörser über das Feuer.
«Vorsicht», sagte Vallon. «Wir wollen nicht gleich ein ganzes Feuerwerk.»
Hero schüttete die Mischung aus dem Mörser in die Glut. Sie entzündete sich mit einem leisen Fauchen und ließ unvermittelt drei Fuß hohe blaue und gelbe Flammen emporschießen. Alle zuckten zurück. Dann sanken die Flammen zuckend in sich zusammen. In der feuchten Luft blieb der Gestank nach Pech und Schwefel hängen.
«Wenn sich das Feuer erst einmal entzündet hat», sagte Hero, «kann viel Öl daraufgegossen werden, ohne dass die Flammen ersticken.»
Drogo wedelte den Rauch weg. «Worum geht es hier eigentlich?»
«Wir werden das Langschiff niederbrennen. Hero, wie viel von dem Zeug hast du?»
«Wir haben zwei große Robbenhäute damit gefüllt, und wir haben ein kleines Fass Öl. Und Vater Hilbert hat Feuerholz gesammelt und zu Bündeln geschnürt.»
«Das Langschiff niederbrennen?», sagte Drogo. «Warum hast du uns das nicht erzählt?»
«Weil ich nicht sicher war, ob es klappen würde. Ich bin übrigens immer noch nicht sicher, aber ich glaube, wir sollten das Risiko in Kauf nehmen. Raul hat sich freiwillig gemeldet, die Gruppe mit dem Brandsatz anzuführen.»
Der Deutsche lachte gallig. «Es ist so dunkel, dass ich nicht mal sicher bin, ob ich das Langschiff überhaupt finde. Und wo sich ihre Späher verstecken, bekomme ich auch nicht mit.»
«Wayland wird zum Wikingerlager zurückgehen, wenn wir alle den Hinterhalt erreicht haben. Verabrede eine Signalsprache mit ihm.»
«Und was, wenn der Gegner zu stark ist?»
«Ich glaube nicht, dass sie bei ihrem Schiff mehr als sechs Wachen aufstellen.»
«Sechs! Und wie viele Männer bekomme ich?»
Vallon sah Drogo an. «Ich brauche drei Männer, die mit Raul gehen.»
«Vergiss diesen Irrsinn. Du hast selbst gesagt, dass wir jeden Mann für den Hinterhalt brauchen.»
«Das ist kein Irrsinn. Ganz gleich, wie viele von unseren Männern wir gegen die Wikinger kämpfen lassen, wir können sie nicht alle töten. Und wir werden nicht ungeschoren aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen. Gestern Nacht hast du gesagt, die Shearwater wäre unser einziges Mittel, um uns aus dieser Falle zu befreien. Und genau deshalb ist das Drachenschiff unsere größte Bedrohung. Wenn wir es zerstören, sind die Wikinger handlungsunfähig.»
Drogo verschränkte die Arme vor der Brust. «Fulk und ich kämpfen auf dem Pferderücken.»
«Ich sage ja nicht, dass du selbst helfen sollst, den Brandsatz zu legen.» Vallon wandte sich an Raul. «Erklär Helgi meinen Plan. Sag ihm, dass wir drei Isländer brauchen, damit er aufgeht.»
Helgi antwortete, noch bevor Raul mit der Erklärung fertig war. Der Deutsche zog eine Grimasse. «Er will es nicht machen. Er sagt, unsere Kräfte aufzuteilen bedeutet eine verheerende Schwächung unserer Position.»
Vallon lehnte sich zurück. «Drogo, erklär du es ihm, und mach ihm klar, dass ich ein Nein als Antwort nicht gelten lasse.»
«Ich kann ihn nicht gegen seinen Willen zu etwas zwingen.»
Vallon beugte sich vor und ließ eine lange Pause entstehen, bevor er erneut etwas sagte. «Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich den Befehl führe.»
«In dieser Frage bin ich Helgis Meinung. Wir schicken schon zwei Männer mit dem Schiff weg. Wir sollten unsere Kräfte auf ein Ziel konzentrieren.»
Vallon schlug mit der Faust auf den Boden. «Es ist mir scheißegal, was du denkst!»
Feiner Regen zischte ins Feuer. Das Schweigen zog sich lange hin, bis es endlich gebrochen wurde.
«Ich gehe mit Raul», sagte Hero.
Alle sahen ihn an.
«Und ich gehe mit dir», sagte Richard.
«Dann wäre ja alles geklärt», sagte Drogo. «Richard greift ein Langschiff an … Das ist von Anfang bis Ende ein schwachsinniger Plan.»
Vallon sah mit unheilverkündender Langsamkeit auf. «Ich gebe zu, dass ich schon einige törichte Entscheidungen getroffen habe. Dich hätte ich dich zum Beispiel töten sollen, als du nach Island gekommen bist. Und ich hätte wegsegeln sollen, als Helgi mein Angebot ausgeschlagen hat, sich gegen die Wikinger zusammenzutun. Und ich hätte die Sicherheit meiner Leute nicht aufs Spiel setzen sollen, um euch und diese unnützen Isländer zu retten.» Seine Stimme wurde gefährlich leise. «Es ist an der Zeit, dass ihr eine Gegenleistung erbringt.»
«Helgi hat einen Fehler gemacht, als er nicht gegen die Piraten kämpfen wollte, das gestehe ich dir zu.» Drogo sah auf. «Aber du kannst ihm nicht vorwerfen, dass er nach deinem schändlichen Benehmen seiner Schwester gegenüber nichts mit dir zu tun haben will.»
«Mein schändliches Benehmen …!» Vallon sprang auf. «Das reicht jetzt. Du kannst mit diesem aufgeblasenen Rotzlöffel deinen eigenen Kampf führen. Von jetzt an kümmere ich mich nur noch um die Interessen meiner eigenen Leute. Steht auf, Männer. Wir bringen das Schiff ans andere Ufer.»
Raul berührte ihn am Arm, als er wütend davonstürmte. «Wurde auch Zeit, Hauptmann.»
«Gebt ihm die Männer.»
Caitlins Stimme. Vallon erstarrte.
Helgis Männer sprangen vom Feuer auf, und es entbrannte ein wütender Streit. Helgi brüllte, und Caitlin hielt dagegen.
Raul zupfte Vallon am Ärmel. «Sollen sie doch machen, was sie wollen.»
«Warte.»
«Hauptmann, haltet Euch an Euer Wort. Wir können diesem Haufen niemals vertrauen.»
Eine schrille Tirade von Caitlin erscholl, gefolgt von den zornigen Schritten eines davonstapfenden Mannes. Dann Stille, und schließlich zeichnete sich Drogos Umriss vor dem Feuer ab.
«Vallon, bist du noch da?»
Raul packte Vallons Ärmel fester. «Nein, seid Ihr nicht.»
«Drei gute Kämpfer, darunter lasse ich mich nicht darauf ein.»
«Du sollst sie haben.»
«Raul wird sie aussuchen. Und versucht nicht, mir Feiglinge unterzujubeln.»
«In Ordnung.»
Vallon seufzte. «Garrick?»
«Hier.»
«Ich will, dass ihr das Schiff über den Fluss rudert, ohne dass die Späher der Wikinger es mitbekommen. Denkt daran, dass ihr nur die Leute an Bord habt, die nicht kämpfen können.»
«Ja.»
Vallon spähte ins Dunkel. «Hero, es war sehr tapfer, dich anzubieten, aber es ist nicht notwendig, dass du und Richard mit Raul geht.»
«Doch, das ist es. Wir haben es besprochen, und wir wollen nicht mit den Frauen zurückbleiben. Abgesehen davon wissen wir, wie man den Brandsatz entzündet.»