158074.fb2 Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 39

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XXXIV

Hero verfolgte mit, wie die Küste immer näher kam und sich der flache, schwarze Umriss in einen dichten Wald verwandelte, der vom Einschnitt einer schlammigen Flussmündung unterbrochen wurde. Die Bäume ragten in den Schein der untergehenden Sonne, und die niedrigen Wellen, die an den Strand liefen, wurden von ihr rot gefärbt. Thorfinn befahl, das Segel herunterzulassen, das Langschiff glitt in die Flussmündung, und sein Bug küsste das Ufer. Die Wikinger sprangen an Land und verharrten dann halb in der Hocke, als befürchteten sie, irgendetwas aufzustören. Hero folgte ihnen und erschauerte. Es war so still. Als ob das Leben hier erst noch erweckt werden müsste. Die Stille verstärkte jedes einzelne Geräusch. Ein Blatt, das zwischen dem Geäst herabsegelte, klapperte wie zerbrochene Tonware. Das Sirren der Stechfliegen klang so laut, dass sich Hero die Ohren zuhielt.

Er ging über den Strand auf den Wald zu. Viele der Bäume am Waldrand waren tot. Tiefer im Gehölz standen sie dicht auf Inselchen in stehenden Tümpeln und gallegrünen Sümpfen. Vorhänge aus Moos und Flechten hingen von den Zweigen wie verrottete Leichentücher. Schwärme von Stechfliegen tanzten wie Spiralnebel durch die Luft. Das undurchdringliche Dickicht verschluckte das Tageslicht.

Am Strand war eine Art Statue aufgestellt worden, die jeder sehen musste, der in den Fluss einfuhr. Thorfinn musterte sie mit geblähten Nasenlöchern und ging dann darauf zu.

Es war so etwas wie eine Vogelscheuche. Angetan mit Lumpen, die über ein Holzgestell gezogen worden waren, und gekrönt mit dem Kopf eines Toten. Der Schädel musste in Gerbsäure eingelegt worden sein, denn er war noch mit ledriger Haut überzogen, und ingwerfarbene Haarsträhnen hingen von ihm herab. Thorfinn gab ein kehliges Geräusch von sich.

«Das ist Olaf Sigurdarsson», sagte einer der Wikinger. «Den würde ich überall wiedererkennen.»

«Und das sind die Hosen von Leif Blondhaar», sagte ein anderer.

Arne beugte sich zu Hero herüber. «Das sind zwei der Männer, die Thorfinn bei seiner letzten Ausfahrt verloren hat.»

Heros Aufmerksamkeit richtete sich auf ein Paar enormer gebogener Stoßzähne, die rechts und links von dem Totem in die Erde gerammt worden waren. «So hoch im Norden gibt es keine Elefanten.»

«Das sind die Zähne von einer Riesenratte, die sich damit durch die Erde gräbt», sagte Arne. «Die Ratte stirbt, wenn sie an die Luft oder ins Sonnenlicht kommt.»

«Vielleicht haben die Skraelinger sie als Tribut hiergelassen», sagte einer der Wikinger. «Vielleicht hoffen sie, dass wir sie in Ruhe lassen, wenn sie uns diese Gabe anbieten. Dieses Elfenbein wird uns in Nidaros einen hübschen Preis einbringen.»

«Du rührst es nicht an», sagte Thorfinn. Er knurrte böse und ließ seinen Blick von rechts nach links wandern. Ein Rabe flog über sie hinweg und schwenkte nach rechts ab. Kraak, tönte es von ihm herunter.

Sie drehten sich um und sahen zu, wie die Shearwater vor dem Strand Anker warf. Vallon und seine Leute ruderten mit den Wikingergeiseln an Land. Thorfinns Männer fingerten an ihren Waffen herum und sahen zu ihm hinüber, weil sie Befehle erwarteten. Doch ihr Anführer hatte seine Axt in den Boden gerammt, und Vallons Schwert blieb in der Scheide. Ein paar Schritte vor Thorfinn blieb Vallon stehen. Die Geiseln gingen an ihm vorbei und stellten sich mit schwachem Grinsen zu ihren Gefährten. «Wir haben sie verwöhnt», sagte Vallon. «Mir war nicht klar, dass du deine Männer kaum etwas essen lässt.»

Thorfinn hob das Kinn, und seine Leute schoben die vier Isländer nach vorn.

«Sie sind ja halb verhungert», sagte Vallon. «Was ist mit den Rationen passiert, die ich dir gegeben habe?»

«Fleisch ist zu wertvoll, um es an Gefangene zu verschwenden. Wenn ich die anderen Isländer nicht zum Rudern und beim Transport über Land brauchen würde, könntest du sie auch mitnehmen.»

«Wo sind die Frauen?»

Thorfinn antwortete nicht.

«Sie haben sich gestern Abend umgebracht», sagte Hero.

Vallon schüttelte den Kopf. Er legte Hero und Garrick die Arme auf die Schultern und führte sie weg. «Ich danke Gott, dass ihr wieder bei uns seid. Habt ihr etwas Nützliches erfahren? Irgendetwas, aus dem wir einen Vorteil ziehen können?»

Hero wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. «Womit soll ich anfangen? Mit den isländischen Frauen? Mit dem Mann, den sie aufgehängt haben, oder mit Thorfinn, der die Leber dieses Mannes so frisch in sich hineingefressen hat, dass noch Dampf von ihr aufstieg? Sind das nützliche Informationen?»

Vallon starrte ihn an. «Wir reden später. Geh zu deinen Freunden.»

Nachdem die beiden Parteien sich getrennt hatten, blieb Vallon allein am Strand stehen. Er musterte die Umgebung. Die Sonne versank hinter den Bäumen, und er zog die Schultern hoch, um sich vor der schneidenden Kälte zu schützen.

Sie machten sich bei Fackelschein früh daran, die Ladung auf die Beiboote zu bringen. Die Boote waren zu klein, um alle Mitfahrer und Pferde aufzunehmen. Die Isländer lehnten Vallons Vorschlag ab, Lose zu ziehen und die Verlierer im Langschiff mitfahren zu lassen. Nachdem sie gehört hatten, wie Thorfinn seine Gefangenen behandelte, meinten sie, da würden sie noch lieber zu Fuß nach Nowgorod gehen.

«Gut», sagte Vallon. «Das ist nämlich die einzige Alternative.»

Wayland kam niedergeschlagen zu ihm herüber. Vallon runzelte die Stirn. «Stimmt irgendetwas nicht?»

«Ich werde in diesen Wäldern nicht genügend Futter für alle Falken finden. Ich muss zwei von ihnen freilassen.»

Vallon erschrak. «Wir haben all unsere Hoffnung darauf gesetzt, vier weiße Falken nach Anatolien zu bringen. Wir können es uns nicht leisten, so weit vom Ziel entfernt zwei Tiere aufzugeben.»

«Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Besser sechs gesunde Falken als acht kranke.»

Vallon beugte sich Waylands Urteil. Als er ihm zusah, wie er die Freilassung der Vögel vorbereitete, dachte er über all die Anstrengungen nach, die es gekostet hatte, sie einzufangen.

Wayland ließ den ersten Nestling von seiner Faust wegfliegen. Unbeholfen flatterte der Vogel empor, versuchte, auf einem Baum zu landen, fand mit den Klauen keinen Halt und fiel zwischen den Ästen zu Boden. Syth schrie auf und rannte zu dem Baum. Der zweite Falke flog übers Meer hinaus, kehrte wieder um und setzte sich auf den Strand.

«Werden sie überleben?», fragte Vallon.

«Ich habe sie so lange gefüttert, bis sie den Kropf voll hatten. Also werden sie mehrere Tage lang nicht hungern müssen, und bis dahin werden sie den Gebrauch ihrer Flügel erlernt haben. Falken lernen schnell und …» Wayland holte tief Luft und schüttelte den Kopf. «Nein. Das habe ich Syth erzählt, damit sie nicht traurig wird. Es ist beinahe sicher, dass sie sterben. Sie waren die beiden schwächsten Nestlinge und kennen noch kein Jagdverhalten.»

Vallon sah, wie sehr Wayland der Verlust schmerzte. «Mach dir keinen Vorwurf. Nur durch dein Geschick und deine Erfahrung konntest du die Falken überhaupt bis hierher bringen. Zugegeben, ich vergesse manchmal, dass sie das A und O unserer Reise sind. Ich fürchte mich vor dem Gedanken, wie stark unser Schicksal von ihnen abhängt. Wenn es irgendetwas gibt, das du für ihr Wohlergehen brauchst, dann sag es.»

«Frisches Fleisch. Täglich ein Sechstel ihres Körpergewichts.»

«So viel?»

Wayland nickte.

Vallon starrte zu dem düsteren Wald hinüber. «Wenn nötig, fasten wir lieber selbst, als die Falken hungern zu lassen.»

Die beiden Falken waren nicht das einzig Wertvolle, von dem sie sich trennten. Nach sechs Monaten war die Fahrt der Shearwater zu Ende. Sie war ihr Fluchtmittel gewesen, ihr Zuhause auf dem Meer, ihr Handelsschiff. Wochenlang war sie ihre ganze Welt gewesen, die enge Bühne für ihre Dramen und Leidenschaften. Für ihre Besatzung war sie beinahe zu einem eigenständigen Wesen geworden – ein schwerblütiges, bereitwilliges Arbeitspferd mit seinen Stimmungen und Launen. Sie kannten die Shearwater bis zu ihrem leisesten Knarren und Ächzen, und nun mussten sie ihr Lebewohl sagen.

Beim Frühstück sprachen sie über den passendsten Abschied. Versenken kam nicht in Frage. Das wäre, als würde man seine Mutter ertränken, sagte Raul. «Verbrennen wir sie», schlug er vor, «oder lassen wir sie einfach hier vor Anker liegen, bis der nächste Sturm Treibholz aus ihr macht.» Schließlich einigten sie sich darauf, den Wind über ihr Schicksal entscheiden zu lassen. Es herrschte eine ablandige Brise, und ein paar von ihnen gingen an Bord, holten den Anker ein und zogen ein letztes Mal das Segel auf. Als sich das Tuch mit Wind füllte und das Wasser unter dem Schiffsheck zu gurgeln begann, kletterten sie wieder ins Beiboot, ruderten ans Ufer und sahen ihr nach, wie sie leicht geneigt nach Norden glitt, bis sie nur noch eine winzige Silhouette auf einem Meer war, das so hell schimmerte wie der Rücken eines Lachses, der gerade zu seinem Laichplatz geschwommen war.

Das Langschiff hatte seine Fahrt flussaufwärts schon begonnen. In mörderischer Hast stiegen Vallons Leute in die Boote und begannen, gegen die träge Strömung zu rudern. Die Übrigen trotteten am rechten Ufer entlang. Als sich Hero umdrehte, war das Meer schon außer Sicht. Es war, als wäre eine Tür hinter ihnen zugefallen.

Eine kurze Strecke flussauf holten sie das Langschiff ein, das sich durch Stromschnellen kämpfte. Bis sie wieder in ruhigeres Wasser kamen, wurde es Nachmittag. Beim Dunkelwerden schlugen die beiden Parteien eigene Lager auf und teilten Wachen ein. Als sie am nächsten Morgen weiterfuhren, regnete es, und die Tropfen schlugen unzählige kurzlebige Dellen in die Wasseroberfläche. Wolkenfetzen jagten über die Baumwipfel. Moskitos und Kriebelmücken plagten sie, sirrten in ihren Ohren, krochen unter ihre Kleidung, flogen ihnen in die Nasenlöcher. Sie wickelten sich Tücher um die Köpfe und beschmierten sich mit Dung und Öl. Doch nichts konnte die Quälgeister abschrecken. Am schlimmsten waren die Männer an den Riemen dran. Weil sie die Blutsauger nicht mit den Händen vertreiben konnten, ruderten sie mit steifen Bewegungen und rieben sich die zerstochenen Wangen und Stirnen an den hochgezogenen Schultern. Als es Abend wurde, hatten einige von ihnen offene Wunden an den Handgelenken, und ihre Gesichter waren so geschwollen, dass sie kaum noch aus den Augen schauen konnten.

Für die Isländer, die am Ufer entlanggingen, war es nicht leichter. Sie sanken bis zu den Knöcheln in den weichen Grund ein, sodass jeder einzelne Schritt zur Anstrengung wurde. Sie mussten graue Schlammtümpel umgehen und das Dickicht umgestürzter Bäume. Manchmal mussten sie im Fluss waten, um weiterzukommen. Wenn die Strömung zu stark wurde und der Wald undurchdringlich, mussten die Boote ihre Passagiere absetzen und zurückfahren, um die am Ufer Gehenden an dem Hindernis vorbeizubringen.

Wayland hatte recht gehabt, was den Mangel an Wild anging. Es gelang ihm, genügend Birkhühner zu jagen, um den Falken halbe Rationen zu geben, doch die meisten der Tiere, die er entdeckte, waren Räuber in einem Wald ohne Beute. Er sah ein Zobelpärchen wie Aale durch die Baumkronen gleiten, und er überraschte eine Gruppe Vielfraße dabei, wie sie die Innereien aus einem toten Bären zogen, der so grau und ausgemergelt aussah, dass er vermutlich an Altersschwäche gestorben war. Vielfraße kannte Wayland nicht, und er fand ihre Wildheit unglaublich. Als der Hund um sie herumtänzelte, wichen sie keinen Zoll zurück, stattdessen spuckten und knurrten sie ihn aus so bösen Gesichtern an, dass sie Wayland noch Nächte später in seine Träume verfolgten. Der Hund sah ihn an, wollte Hilfe. Doch er rief ihn zurück. Danach knurrte der Hund den ganzen Tag vor sich hin, als wären ihnen die Vielfraße auf den Fersen.

Vier Tage flussauf kam das Boot mit Vallons Leuten an einer alten Frau vorbei, die am Ufer neben der Leiche eines alten Mannes saß. Es war die Frau, die Helgi von dem aufgegebenen isländischen Schiff geholt hatte. Der Tote war ihr Ehemann.

Einer der Isländer sprach sie an. Sie hob die traurigen Augen und sagte, sie wolle keine Hilfe.

«Was ist denn da los?», sagte Vallon. «Warum haben die Isländer sie zurückgelassen?»

«Das hat sie selbst entschieden», sagte Raul. «Sie will nicht mehr weiter. Außer ihrem Mann hat sie keine Familie.»

«Lasst mich mit ihr reden», sagte Hero.

Vallon warf einen Blick flussauf. «Aber nicht zu lange. Da vorne ist wieder eine Stromschnelle.»

Hero und Richard gingen ans Ufer. Raul warf ihnen noch einen Spaten zu. «Wir werden die Toten noch bald genug einfach liegenlassen, wo sie zusammengebrochen sind, bevor diese Reise zu Ende ist.»

Hero trat auf die alte Frau zu und räusperte sich. Sie sah ihn an.

«Meine Güte. Du bist einer von den Ausländern.»

Hero ging neben ihr in die Hocke. «Woran ist dein Mann gestorben?»

«An Erschöpfung. An Verzweiflung. Sein Herz ist stehengeblieben, und Helgis Männer haben ihn einfach ans Ufer geworfen. Man möchte glauben, dass sie keine Väter haben.»

Hero legte ihr den Arm um die mageren Schultern. «Wir beerdigen ihn, und wenn das Gebet gesprochen ist, nehmen wir dich mit in unser Boot.»

Sie sah auf, und Hero entdeckte in ihren Zügen den schwachen Widerschein jugendlicher Schönheit. «O nein», sagte sie. «Erik und ich waren sechzig Jahre zusammen. Und jetzt lasse ich ihn nicht allein.» Sie tätschelte Heros Hand. «Du fährst weiter. Ich bin durchaus zufrieden.»

Richard beugte sich zu ihr. «Hast du denn sonst gar keine Familie? Wolltest du nicht deshalb nach Norwegen?»

Ein Schatten zog über ihr Gesicht. «Alle unser Kinder und Enkel sind tot. Es ist ein bitteres Schicksal, wenn man seine Nachkommen überlebt. Unser Jüngster ist letztes Frühjahr gestorben. Als er tot war, konnten wir einfach nicht mehr auf dem Gehöft bleiben. Erik hat entschieden, es zu verkaufen und nach Norwegen zurückzukehren. Von dort stammt er. Wir sind uns begegnet, als er auf einem Händlerschiff nach Reykjavík gesegelt ist. Er war so ein schöner Mann. Eriks Familie lebt in der Nähe von Nidaros, und er sagte, wir würden unseren Lebensabend nicht weit vom Bauernhof seiner Schwester verbringen. Er ist mit den Isländern nie warm geworden. Hocken in ihren Sippen zu dicht aufeinander, hat er gesagt. Sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie für andere nichts übrighaben. Wir wären bei seinesgleichen glücklicher, hat er gesagt. Ich war da nicht so sicher. Lieber bleiben wir bei dem, was wir kennen, hab ich zu ihm gesagt.»

«Ich bin sicher, dass Eriks Schwester dich gern aufnehmen wird.»

Die Alte schnaubte. «Stell dir doch nur mal den Anfall vor, den sie bekommen muss, wenn ich vor ihrer Tür auftauche. Siebenundachtzig Jahre, beinahe blind und auch noch mittellos.»

«Du hast gesagt, ihr hättet Geld vom Verkauf eures Gehöfts.»

«Das haben Helgis Männer Erik abgenommen, als wir von unserem Schiff mussten. Diese Caitlin sagte, sie würde für mich darauf aufpassen.» Die alte Frau zog Heros Kopf zu sich heran. «Sie ist ein durchtriebenes Stück», flüsterte sie und nickte entschieden. «Wenn du sie in einem neuen Kleid mit einer neuen Brosche siehst, dann denk dran, wer dafür bezahlt hat.»

Hero warf einen finstern Blick flussauf, bevor er sich wieder der Frau zuwandte. Sie achtete nicht auf die Moskitos, die ihr im dünnen weißen Haar herumkrochen. «Vallon wird dafür sorgen, dass du dein Geld zurückbekommst. Und du brauchst kein Silber, um mit uns zu fahren.»

«Das ist sehr freundlich, aber was wird dann? Ich werde in diesem schrecklichen Wald bestimmt nicht lange überleben. Und selbst wenn, will ich mein Leben nicht als Almosenempfängerin in einem fremden Land beschließen. Nein, ich bleibe hier.»

«Dann stirbst du an der Kälte oder dem Hunger. Wölfe und Bären werden dich fressen.»

Sie lächelte und tätschelte ihm erneut die Hand. «Du bist ein lieber Junge. Aber jetzt gehst du besser. Es wird bald dunkel. Deine Freunde machen sich bestimmt schon Sorgen um dich.»

Raul rannte zwischen den Bäumen hindurch auf sie zu. «Vallon will jeden Mann zum Ziehen dabeihaben.» Sein Blick hing an der Frau.

«Sie sagt, sie will ihren Mann nicht zurücklassen. Versuch du, sie zu überreden. Ich weiß nicht, warum, aber manchmal funktioniert deine derbe Logik, wo ausgefeiltere Argumente versagen.»

Raul setzte wie jemand, der einem Beschränkten gut zureden will, eine betont harmlose Miene auf. «Nana, Mütterchen, du kommst mit uns.»

Sie sagte entschlossen: «Geh weg.»

Raul lachte, nahm sie unter den Armen und begann sie hochzuziehen. Doch sie stieß einen so schrillen Schrei aus, dass er sie wieder absetzte. «Also gut, Mutter, wenn du es nicht anders willst.» Er winkte Hero und Richard außer Hörweite der Alten. «Ihr verschwendet eure Zeit. Ihr Entschluss steht fest. Und jetzt kommt mit. Wir müssen die Stromschnellen vorm Dunkelwerden hinter uns haben.»

«Wir können sie doch nicht einfach hier ihrem Tod überlassen.»

Raul zog seine Kappe ab und schlug sich damit auf den Oberschenkel. Dann starrte er zum Himmel hinauf. «Ihr habt recht. Redet weiter mit ihr. Beruhigt sie.»

Hero hielt die Hand der alten Frau. Er wusste später nicht mehr, was er zu ihr gesagt hatte, und er kam auch nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn Raul trat hinter die Frau, hob seine Armbrust, und schoss ihr einen Bolzen in den Nacken.

Nach einem weiteren Tag, an dem sie das Schiff mit Rudern und Ziehen vorwärtsbewegt hatten, erreichten sie den ersten der Seen, die Thorfinn beschrieben hatte. Mit einem einzigen Blick auf den fernen Horizont war Vallon klar, dass alle Passagiere im Boot ans andere Ufer gebracht werden mussten. Er befahl Raul, den Bau eines Floßes zu überwachen, das groß genug war, um die Pferde und den größten Teil der Ladung aufzunehmen. Mit dem Floß im Schlepptau, die Boote bis zu den Dollborden beladen, ruderten sie am nächsten Morgen vom Ufer weg. Sie waren zweieinhalb Tage auf dem See und wären mehr als einmal beinahe gekentert. Und die gesamte Zeit war ihnen bewusst, wie schutzlos sie einem möglichen Angriff der Wikinger von dem Langschiff ausgeliefert waren.

Vom Südufer des Sees aus führte ihr Weg über Flussadern, die durch ein Sumpfgebiet mäanderten. Diejenigen, die am Ufer entlanggingen, waren gezwungen, sich wie Fliegen durch Honig zu schleppen.

Es wurde bitterkalt. Nachts fuhr der Wind durchs Geäst der Bäume, und in der Ferne heulten Wölfe. Wenn es hell wurde, lag eine schwarze Eiskruste über den Tümpeln, und mittags stand eine dunkelgraue Sonnenscheibe hinter den dichten Nebelschleiern. Die Eintönigkeit des Waldes und der niemals endende Kampf mit der Natur zehrte an ihren Nerven. Der Druck sorgte für manchen Temperamentsausbruch. Ein Riemen, der sich nicht in den Rudertakt einfügen wollte, Holzscheite, die nicht brennen wollten, die Enttäuschung über das, was es zu essen gab – das kleinste Ärgernis genügte, um die Männer aneinandergeraten zu lassen.

Dann wurde die Verpflegung knapp. Die Wikinger litten am meisten darunter, denn der Lachs, den sie gefangen hatten, begann zu faulen, weil sie kein Salz zum Einlegen hatten. Vallon und seine Leute kamen mit geräuchertem Elch und Salzfisch zusammen mit Pilzen und Beeren über die Runden, doch die Wikinger und ihre Gefangenen waren auf Stockfisch angewiesen, der so verdorben war, dass er Durchfall auslöste.

Der isländische Säugling starb und wurde mit einer dürftigen Zeremonie am Ufer begraben. Dann verschwand einer der Wikinger. Er hatte sich auf Nahrungssuche von seinen Gefährten getrennt. Sie suchten ihn bis zum Dunkelwerden, dann gaben sie auf. Der Vermisste war eine der Wikingergeiseln, und Wayland erklärte sich bereit, seine Spur zu verfolgen. Einen ersten Hinweis fand der Falkner etwa eine Meile vom Fluss entfernt, dann konnte er an den Spuren die wachsende Verzweiflung des Mannes ablesen, der seine eigenen Fußspuren zurückverfolgt hatte, im Kreis gegangen und schließlich in ein Sumpfgebiet gelaufen war. Wayland folgte den Spuren, bis er sich nicht mehr weiterwagte, dann ging er zurück, um zu melden, dass der Wikinger tot sein müsse.

Einen Tag später erwartete einen weiteren Wikinger ein tödliches Verhängnis. Von Norden her zog ein Sturm übers Land. Das Langschiff hatte eine Flussgabelung erreicht, und Thorfinn schwor, dieser Gabelung bei seiner letzten Reise nicht begegnet zu sein. Er schickte Männer flussauf, um festzustellen, welche die richtige Fahrrinne war. Wayland und Raul begleiteten einen der Kundschaftertrupps. Sie schoben sich durch windgepeitschte Erlengehölze und Weidendickichte. Die Äste schlugen mit solcher Gewalt im Wind, dass sie jedes andere Geräusch erstickten.

Als sie auf eine Lichtung traten, blieb der Hund mitten im Schritt, eine Pfote in der Luft, wie erstarrt stehen.

Weiter vorn hackte sich ein Wikinger seinen Weg durchs Gebüsch. «Zurück!», schrie Wayland.

«Was?», rief der Wikinger.

Eine Windböe trug Waylands Antwort davon. Der Wikinger drängte sich weiter vorwärts in das Gebüsch, und da erhob sich ein riesiges schwarzes Monster und schlug ihn mit einem blitzschnellen Hieb nieder, der kaum wahrnehmbar war. Dann verschwand der Bär im sturmdurchtosten Wald. Als Wayland bei dem Mann angekommen war, brauchte er einen Moment, um zu verstehen, dass der Wikinger kein Gesicht mehr hatte.

Seine Gefährten führten und trugen ihn halb zurück zum Langschiff und setzten ihn am Ufer mit dem Rücken an einen Baum. Dort schaukelte er vor und zurück, schrie vor Schmerz und betastete die blutige Maske, die sein Gesicht gewesen war. Thorfinn lief mit finsterer Miene auf und ab, dann rannte er zu dem Mann, trat ihn um, und schmetterte ihm seine Axt in die Brust.

Den gesamten nächsten Tag über fiel Eisregen, und es wurde dunkel, bevor es Vallons Leuten gelang, ein ordentliches Feuer in Gang zu setzen. Sie saßen zitternd um die zischenden Flammen, rekapitulierten die Herausforderungen des Tages und wussten, dass Ähnliches sie auch am nächsten Tag erwarten würde.

Raul spuckte ins Feuer. «Scheiße, verdammt.»

Vallon sah auf. Im Widerschein des Feuers wirkte sein Gesicht noch kantiger als sonst. «Möchtest du uns etwas mitteilen?»

«Es ist nicht nur dieser beschissene Tag. Bald wird Thorfinn etwas unternehmen. Er schaut bestimmt nicht in aller Ruhe zu, wie seine Männer verhungern, während wir mit vollen Bäuchen schlafen gehen.»

«Er greift an, bevor wir den nächsten See erreichen», sagte Wayland. «Den See Onega.»

«Was macht dich da so sicher?»

«Weil wir, wenn wir den See überquert haben, in Rus sind.»

«Die Wikinger sagen, der See ist so groß wie ein Meer», fügte Raul hinzu. «Es ist unmöglich, mit unseren Booten alle hinüberzuschaffen. Entweder müssen wir Thorfinn bitten, ein paar von den Isländern mitzunehmen, oder wir müssen das Langschiff kapern.»

Vallon legte ein Stück Holz ins Feuer. «Damit ich das recht verstehe. Im Moment haben wir, was den Wikingern fehlt – Lebensmittel, Handelswaren und Frauen. Und sie haben, was wir brauchen – ein Schiff. Und wenn wir es erbeuten, können wir allein nach Rus fahren.»

«Genau.»

Vallon klopfte mit der Schuhspitze auf den Boden und starrte ins Nichts.

Raul rückte näher zu ihm. «Wie wollt Ihr es anfangen, Hauptmann? Sollen ich und Wayland einen Hinterhalt legen?»

Vallon achtete genau auf seine Formulierung. «Die Wikingergeiseln erweckten nicht gerade den Eindruck, mit Thorfinns Anführerschaft übermäßig zufrieden zu sein. Und du hast dasselbe von der Truppe im Langschiff berichtet, Hero, oder?»

«Ja, Herr, aber wenn es zum Kampf kommt, werden sie wie ein Mann gegen uns stehen.»

Alle Augen ruhten auf Vallon, der versuchte, zu einer Entscheidung zu kommen. Er nahm eine Handvoll altes Laub vom Boden und warf es ins Feuer. «Zündet eine Fackel an. Es wird Zeit, Thorfinn einen Besuch abzustatten.»

Wayland wickelte Tau um einen Ast, tauchte ihn in Robbenöl und hielt ihn ans Feuer. Im Licht der Fackel führte er die Gruppe zum Wikingerlager. Drogo und Fulk hasteten hinterher.

«Wohin geht ihr?»

«Wir gehen Thorfinn herausfordern.»

Das Lagerfeuer der Wikinger tauchte hinter dem Ästegewirr umgestürzter Bäume auf.

«Thorfinn!»

Schattengestalten bewegten sich vor dem Feuer. «Franke!»

«Die Waffenruhe ist vorbei. Es wird Zeit, dass wir unsere Streitigkeiten klären.»

«Und wie?»

«Durch einen Kampf. Du und ich. Morgen bei Sonnenaufgang. Der Gewinner bekommt alles.»

«Wo?»

«Hier.»

«Ich werde da sein. Süße Träume, Franke.»