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XXXVIII
Vallon beendete in seiner Kammer gerade das Frühstück, als Hero den Kopf zu ihm hereinsteckte. «Hier stehen die Leute schon Schlange, um mit Euch zu sprechen.»
«Wer?»
«Eigentlich alle. Caitlin, Drogo, Garrick. Die meisten von den Wikingern.»
«Zuerst spreche ich mit Garrick. Hat Richard die Entlohnungen ausgerechnet?»
Hero legte zwei Börsen auf den Tisch. «Die hier gehört Raul. Und die hier ist für den alten Garrick.»
Vallon stand auf und wog die Beutel in der Hand, von denen einer ein Menschenleben aufwiegen sollte. «Armer Raul.» Er ließ die Börsen wieder auf den Tisch fallen und legte die Hand darauf. «Was würdest du sagen, wenn ich beschlossen hätte, unsere Reise zu beenden. Hier. In Nowgorod.»
«Jetzt aufgeben? Und was ist mit dem verlorenen Evangelium?»
«Es ist jetzt über ein Jahr her, dass Walter gefangen genommen wurde. Er könnte schon längst tot sein. Oder es könnte ihm gelungen sein, seine Freilassung auszuhandeln. Die Seldschuken sind Nomaden. Der Emir hat Walter möglicherweise nach Persien bringen lassen.»
«Dieselben Argumente hättet Ihr schon vor sechs Monaten anführen können.»
«Der Emir besteht darauf, dass die Falken bis zum Herbst geliefert werden. Jetzt haben wir Oktober, und der längste Teil der Reise liegt noch vor uns. Wahrscheinlich kommen wir erst nächstes Jahr am Hof des Emirs an, nachdem wir in den schlimmsten Wintermonaten unterwegs waren.»
«Herr …»
«Innerhalb einer Woche wäre ich beinahe gestorben, und wir haben Raul und den Hund verloren. Wären wir nicht zufällig auf die Jäger getroffen, hätte es für uns alle das Ende bedeutet.» Vallon sah auf. «Wir sind ans Rad des Schicksals gekettet, und ich spüre, wie es sich dreht.»
Hero sagte mit bebenden Lippen: «Ein ganzes Jahr Mühe und Anstrengung, und nun soll das alles umsonst gewesen sein? All die Entbehrungen – für nichts?»
«Für mich ist unser Überleben sehr viel mehr als nichts.»
Hero holte tief Luft. «Und was ist mit dem Eid, den Ihr in der Kapelle geschworen habt?» Dann senkte er den Blick und fügte hinzu: «Ich habe gehört, wie Ihr geschworen habt, die Reise zu vollenden, ganz gleich, wie lang oder wie gefährlich sie würde.»
Vallon winkte müde ab. «Ich werde meine Seele nicht retten, indem ich das Leben meiner Reisegefährten aufs Spiel setze.»
Hero schwieg einen Moment. Dann sagte er: «Was werdet Ihr jetzt tun?»
«Bis zum Frühling hierbleiben und dann meine Reise nach Konstantinopel fortsetzen.»
«Und was heißt das für die Übrigen?»
«Mit dem Geld für unsere Waren bekommt jeder genügend, um einen Neuanfang zu machen.»
«Und wo? Wayland und Richard können nicht nach England zurück. Ich bin der Einzige, der ein Zuhause hat.»
Vallon setzte sich. «Du bist also zur Weiterreise entschlossen.»
«Ja, und Richard und Wayland teilen meine Entscheidung. Aber nur, wenn Ihr uns anführt.»
Vallon lächelte traurig. «Du bist auf unserem gemeinsamen Weg zum Mann geworden Hero. Ich dagegen bin einfach nur alt geworden.»
«Unsinn. Ihr seid noch geschwächt von der Verwundung. Eine Woche Erholung wird Eure körperlichen Kräfte wiederherstellen und Eure Lebensgeister wecken.»
«Wir haben aber keine Woche. Wenn wir weiterfahren, müssen wir es so bald wie möglich tun.»
«Wann immer Ihr es befehlt.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher.»
Vallon musterte ihn noch einen Moment, dann sprang er auf. «Also gut. Wir sollten Garrick nicht warten lassen.»
Als der Engländer eingetreten war, griff Vallon nach seinen beiden Händen. «Nun werden sich unsere Wege also trennen. Ich werde dich vermissen, Garrick. Du warst ein treuer Gefährte.»
«Ihr werdet mir auch fehlen, Herr, und auch alle meine anderen Freunde. Wenn ich es Raul nicht versprochen hätte, könnte ich es wohl nicht ertragen, mich von euch allen zu trennen.»
«Wenn du die Entscheidung nicht getroffen hättest, dann hätte ich es für dich getan.» Vallon nahm eine der Börsen. «Das ist für Rauls Familie.» Dann hielt er Garrick den zweiten Beutel hin. «Und das ist für dich.»
Garrick starrte das Geld an. «Das kann ich nicht annehmen. Die Hälfte wäre noch zu viel.»
«Ich bin derjenige, der deine Arbeit zu beurteilen hat. Nimm es, um das kleine Gehöft zu kaufen, vom dem du mir erzählt hast. Es wird mir Freude machen, mir vorzustellen, wie du deinen eigenen Grund und Boden bebaust. So, kein Wort mehr. Hast du dich um deine Rückfahrt gekümmert?»
«Ich fahre mit den Isländern. In einer Woche legt ein Schiff Richtung Schweden ab.»
«Dann werden wir schon fort sein. Pass auf das Geld auf und erzähle niemandem davon.» Vallon ging mit Garrick zur Tür. «Wir sagen uns erst Lebewohl, wenn es so weit ist. Könntest du nun Lady Caitlin zu mir hereinbitten?»
Vallon wusste nicht recht, wie er ihr gegenüber treten sollte. Auch Caitlin schien merkwürdig unsicher, als sie mit niedergeschlagenen Augen in die Kammer trat. «Kann ich allein mit dir sprechen?»
Auf Vallons Nicken ging Hero hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Vallon räusperte sich. «Wie ich gehört habe, hast du eine Passage Richtung Westen gebucht.»
«Ich gehe nicht nach Norwegen.»
Vallon runzelte die Stirn. «Aber deine Hochzeit …»
«Wird nicht stattfinden. Ich habe Island als Dame von hohem Stand verlassen.» Caitlin strich sich übers Haar, als wollte sie ihren Statusverlust an der Länge ihrer Zöpfe abmessen. «Ich werde nicht als bedürftiges Frauenzimmer nach Norwegen gehen. Davon abgesehen war ich von dieser Verbindung ohnehin nie überzeugt.»
«Also wirst du nach Island zurückkehren.»
«Nicht dieses Jahr, wo der Winter so kurz bevorsteht. Und vielleicht auch niemals. Ich könnte die Demütigung nicht ertragen. Ich weiß, wie mich die Leute hinter meinem Rücken verspotten würden – ist von zu Hause weg, um einen Grafen zu heiraten, weil ihr in Island keiner gut genug war. Und jetzt, wo sie zurück ist, muss sie einen von ihren verschmähten Bewerbern nehmen, wenn sie nicht als alte Jungfer sterben will.»
«Was wirst du also machen?»
«Ich habe beschlossen, eine Pilgerreise nach Konstantinopel zu unternehmen. Dort werde ich für Helgis Seele eine Messe lesen lassen.»
«Und wie wirst du reisen?»
Caitlin antwortete nicht.
«Möchtest du mit uns kommen?»
«Mit dir, ja.» Sie sah auf. «Mit dir.»
In Vallon stieg leise Panik auf. «Weiß Drogo davon?»
«Von meiner Reise nach Konstantinopel oder von meinen Gefühlen für dich?»
Vallon rieb sich mit den Fingerknöcheln über die Augenbraue. «Was du mir da gerade anvertraust, überfordert mein Fassungsvermögen, weißt du. Wann genau haben denn diese Gefühle dein Bedürfnis verdrängt, mich umzubringen?»
«Mir ist klargeworden, dass sich die Prophezeiung erfüllt hat. In der Nacht, in der ich mich um dich gekümmert habe, als du verletzt warst. Als ich dich in den Armen hielt, hast du meinen Namen gesagt.»
«Ich habe deinen Namen gesagt?» Vallon wurde bewusst, dass er die Stimme erhoben hatte. Er warf einen Blick auf die geschlossene Tür.
«Voller Zärtlichkeit. Du hast mich deine Prinzessin genannt.» Sie errötete. «Und du hattest auch noch andere Namen für mich.»
«Ich war im Fieberwahn. Gott weiß, was für einen Unsinn ich von mir gegeben habe. Es tut mir leid, wenn ich etwas Peinliches gesagt habe.» Dann breitete sich Verständnislosigkeit auf seinem Gesicht aus. «Welche Prophezeiung?»
«Als ich ein kleines Mädchen war, hat mir eine Frau mit dem zweiten Gesicht erklärt, dass ein dunkelhaariger Fremder aus einem fernen Land mein Herz stehlen und mich übers Meer bringen würde. Diese Prophezeiung ist einer der Gründe, aus denen ich keinen Isländer geheiratet habe. Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass du es bist.»
«An dem Tag, als wir uns kennengelernt haben, hast du mich angesehen wie etwas, in das du versehentlich hineingetreten bist.»
«Ich musste meine Gefühle vor Helgi verbergen. Er kannte die Prophezeiung und fragte mich immer wieder, was ich von dir hielte. Ich musste so tun, als würde ich dich hassen.»
«Du hast also Theater gespielt, als du Helgi am See befohlen hast, gegen mich zu kämpfen?»
«Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du hast mich beim Baden beobachtet. Er hätte dich auf jeden Fall herausgefordert, ganz gleich, was ich gesagt hätte. Wenn ich ihn nicht angestachelt hätte, wäre er meinen wahren Gefühlen auf die Spur gekommen.»
Da gab es noch eine Menge zu klären, einschließlich der Frage, welches Verhältnis genau Caitlin zu ihrem Bruder gehabt hatte. Doch dafür war jetzt nicht der rechte Augenblick. Vallon schüttelte sich leicht. «Drogo ist vernarrt in dich. Drogo hasst mich. Wenn er herausfindet, dass du … dass deine Zuneigung …»
«Du musst ihn wegschicken. Er will immer noch dein Blut fließen sehen. Eine Eiterbeule, die er aufstechen muss, wie er es ausdrückt.»
«Nur um es klarzustellen. Also erwiderst du seine Gefühle nicht?»
Caitlin reckte stolz das Kinn. «Er langweilt mich. Einen Mann, der wie ein Hund hinter mir herläuft, kann ich nicht ernst nehmen.»
Vallon ging auf und ab. «Und was ist mit Torstig und Olaf?»
«Sie kommen mit mir nach Konstantinopel. Nachdem Helgi nun tot ist, wollen sie in die Dienste des Kaisers eintreten.»
«Sonst noch jemand?»
«Nur meine Mägde.»
«Nur deine Mägde», echote Vallon. Er atmete tief ein. «Du kannst eine von ihnen mitnehmen – die junge. Wie heißt sie?»
«Asa.»
«Wir nehmen keine Passagiere mit. Du musst deinen Beitrag leisten.»
«Ich fürchte mich nicht vor schwerer Arbeit. Warte nur ab. Du wirst sehen, dass ich genauso stark bin wie du.»
Vallons Mundwinkel zuckten. «Das könnte jedes Katzenjunge behaupten.»
Caitlins Blick wurde weicher. «Wie geht es deiner Verletzung?»
«Ist verheilt.»
«Lass mich mal sehen.»
«Das ist nicht notwendig. Glaub mir einfach.»
Mit hypnotisierender Langsamkeit kam Caitlin auf ihn zu. «Ich habe sie gesehen, als sie frisch war. Ich habe den Verband gewechselt. Und ich habe den Tod auf deiner Schulter sitzen sehen und ihn mit meinen Gebeten vertrieben.»
«Dafür danke ich dir. Wie du siehst, sind deine Gebete erhört worden.»
«Dann lass mich sehen.»
Vallon warf einen verzweifelten Blick zur Tür. Dann zog er seinen Kittel hoch und starrte geradeaus wie bei einer Armeeparade. «Hier.»
Sie sank auf die Knie. «Du bist so mager.»
Er sah hinunter auf den violetten Streifen, um den herum der Bluterguss inzwischen nur noch blassgelb und grünlich war. Zu seinem Erstaunen bewegte sich Caitlins Kopf auf den hässlichen Narbenstreifen zu. Wollte sie ihn etwa küssen?
Er zog sie hoch. «Caitlin!»
Sie hing in seinen Armen, fraulich und weich, die Lippen leicht geöffnet. Ihr in die Augen zu sehen war, wie in den Ozean einzutauchen.
Sie lächelte. «Hat dich wirklich nur der Zufall an den Kratersee geführt?»
Als er antwortete, klang seine Stimme rau. «Reiner Zufall.»
«Siehst du. Das Schicksal hat seine Hand im Spiel.» Ihr Blick umflorte sich. «Du bist der erste Mann, der mich je nackt gesehen hat. War der Anblick ein Vergnügen für dich?»
«Er war keine unzumutbare Härte.» Träumerisch schloss sie die Augen, und ihr Mund näherte sich seinem. Er rührte sich nicht. Er konnte sich nicht bewegen. Ihre Lippen begegneten sich. Er küsste sie. Und nicht nur das. Er liebkoste sie, schlang die Arme um sie. Sie stöhnte, als sie ihn spürte. Er riss sich los und starrte blindlings zu der Ikone über seinem Bett.
«Ein Moment der Schwäche. Es wird nicht wieder vorkommen.»
«Wird es doch. Du kannst dich nicht dagegen wehren.»
«Ich werde es nicht zulassen!» Er ballte die Fäuste und funkelte die Ikone wütend an. «Hast du verstanden?»
Keine Antwort. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie der Türriegel wieder herunterfiel. Nach einer Weile erfolgte ein entschlossenes Klopfen. Vallon drehte sich wieder zu der Ikone um. Ihm war beinahe schwindlig. «Herein.» Er hörte Schritte, die kurz hinter ihm haltmachten. «Drogo.»
«Vallon. Caitlin ist ganz erhitzt und aufgeregt. Was hast du getan, um sie so außer sich zu bringen?»
Vallon bohrte die Fingernägel in seine Handflächen, um sich zu beherrschen. «Du bist nicht gekommen, um über Caitlin zu reden. Was willst du? Nein, sag’s nicht. Du bist mir inzwischen so ergeben, dass du eine Trennung nicht ertragen kannst. Stimmt’s?»
«Caitlin braucht immer noch meinen Schutz.»
«Sie hat Olaf und Tostig, die auf sie aufpassen können.»
«Du vergisst den Eid, den ich ihrem Bruder geschworen habe.»
Vallon drehte sich mit einem unschönen Grinsen zu ihm um. «Nun, die Wahrheit ist, dass ich dich nicht dabeihaben will.»
«Als ich dich mit Fulk bei dem Kampf gegen die Wikinger unterstützt habe, warst du noch froh, dass ich dabei war.»
«Dein Schwert ist zweischneidig. Es wird Zeit für deine Rückkehr nach England.»
«Ich habe kein Geld.»
«Ich bezahle für deine Überfahrt.»
«Das kann ich nicht annehmen.»
«Dann schwimm eben.»
«Hör zu, Vallon, ich bitte nur darum, dass du mich Caitlin bis Konstantinopel begleiten lässt. Ich habe nicht vor, euch nach Anatolien zu folgen. Was zwischen dir und Walter geschieht, interessiert mich nicht mehr.»
«Du bist ein Lügner. Bitte abgelehnt.»
«Dann lässt mir meine Ehre keine andere Wahl, als dich herauszufordern.»
«Herausforderung abgelehnt. Schick die Wikinger herein, wenn du draußen bist.»
«Vallon, ich kann Caitlin nicht allein lassen. Und das liegt nicht nur an dem Eid, den ich Helgi geschworen habe. Ich will, dass sie meine Frau wird.»
Dieser Vormittag wurde immer grauenhafter. «Ich bin kein Heiratsvermittler.»
Drogo trat dicht vor ihn. «Du brauchst mich und Fulk. Nach dem Tod Rauls ist Wayland der einzige richtige Kämpfer, den du hast. Was passiert, wenn du in eine schwierige Situation kommst?»
«Ich nehme es lieber mit Schwierigkeiten auf, als dich mitzunehmen.»
«Aber die Wikinger nimmst du mit. Sie sind gegen dich drei zu eins in der Überzahl. Was machst du, wenn sie sich gegen dich wenden?»
Vallon fühlte sich, als würde er von den Fäden einer Spinne eingewoben. «Damit wir uns recht verstehen. Du wirst meinen Leuten gegenüber keinerlei Feindseligkeiten an den Tag legen, wenn wir dich den Dnjepr hinunter mitnehmen?»
«Genau.»
«Und wenn wir am Schwarzen Meer sind, trennen sich unsere Wege. Du gehst nach Konstantinopel, ich nach Anatolien.»
«Ja.»
Vallon wog die Risiken ab. «Sehr gut. Zu diesen Bedingungen toleriere ich deine Anwesenheit.»
Drogos Schritt schien wie beflügelt, als er zur Tür ging. Vallon hielt ihn noch einmal auf. «Ich will in vier Tagen los. Such uns drei kräftige Pferde.»
Nachdenklich starrte Vallon auf die Stelle, an der Drogo eben noch gestanden hatte. Der arme, verblendete Drogo, immer auf der Schattenseite des Schicksals. Als Kind die Mutter verloren und umsonst nach der Liebe seiner Stiefmutter gehungert, die allein den Sohn liebte, den sie selbst geboren hatte. Denselben Sohn, zu dessen Rettung Vallon, ein vollkommen Fremder, um die halbe Welt gereist war und Drogo noch weiter beschämt hatte. Kein Wunder, dass ihn der Normanne töten wollte. Und wie würde sich Drogos Mordlust erst steigern, wenn er herausfand, dass sich die Frau, die er sinnlos begehrte, wenige Augenblicke vor seinem Eintreten lüstern an seinen Gegner gepresst hatte.
Die Situation war so bizarr, dass in Vallon ein irrwitziger Lachreiz aufstieg. Er musste die Lippen zusammenpressen, um nicht in lautstarkes Gejohle auszubrechen. So stand er noch da, als Hero die Nordmänner ankündigte. Sieben von ihnen stolzierten oder schlurften herein, manche die Schultern selbstbewusst zurückgenommen, andere bescheiden mit der Mütze in der Hand.
«Sagt, was ihr zu sagen habt.»
Ihr Sprecher war Wulfstan, ein Kraftprotz mit breitem Schnurrbart. «Es gibt nicht viel zu sagen. Unser Schiff ist nicht seetüchtig, und wir haben kein Silber, um die Rückfahrt nach Hause zu bezahlen. Das Einzige, was uns übrigbleibt, ist, den Waräger-Weg zu nehmen.»
Vallon nickte. «Ich komme für eure Versorgung auf, aber ich bezahle euch nicht. Wenn es anders gelaufen wäre, hättet ihr meine Leute auf dem Sklavenmarkt gegen Silber verschachert.»
Hero murmelte in Vallons Ohr: «Es wäre mir lieber, wenn Ihr Arne nicht mitnehmen würdet. Er hat Frau und Kinder. Nur seine Armut hindert ihn daran, nach Hause zurückzukehren.»
«Du hast mir erzählt, dass er sich um dich und Garrick gekümmert hat.»
«Wir schulden ihm unser Leben.»
Vallon wandte sich wieder an die Wikinger. «Ich fahre nicht mit einer Bande Heiden den Dnjepr hinunter.» Entweder kommt ihr als Christen mit oder gar nicht.»
Hero zuckte zusammen. «Herr, sie werden den wahren Glauben nicht über Nacht annehmen.»
«Schaff sie zur Taufe zu Vater Hilbert. Geben wir dem Heuchler sieben Konvertiten, mit denen er sich bei seiner Heimkehr brüsten kann.»
Die Wikinger waren schon auf dem Weg hinaus, als Vallon sagte: «Arne, dich nehme ich nicht mit. Das wäre Zeitverschwendung. Du bist zu alt, um einen Platz in der kaiserlichen Garde zu bekommen.»
Arne blieb wie angewurzelt stehen, während seine Gefährten an ihm vorbei aus dem Raum gingen. Dann machte er Anstalten, ihnen zu folgen. In seiner Miene stand Entsetzen. Hero aber drückte die Tür zu, bevor Arne sie erreicht hatte. Arne drehte den Rand seiner Mütze zwischen den Fingern. Mit wütend funkelndem Blick sah er auf. «Es spielt keine Rolle, ob ich mich bei der kaiserlichen Garde einschreiben kann. In Konstantinopel finde ich bestimmt irgendeine andere Arbeit.»
«Ich habe eine näherliegende Aufgabe für dich. Garrick bringt Rauls Familie seinen Lohn. Er reist allein. Ich hätte ein besseres Gefühl, wenn er jemanden dabeihätte. Pass auf ihn auf, und ich bezahle dich so, dass du dich bei deiner Heimkehr sehen lassen kannst.»
Arne öffnete und schloss den Mund.
«Du musst mir nicht danken. Sieh es als Belohnung für die freundliche Behandlung an, die du Hero und Garrick erwiesen hast.»
Als Hero Arne hinausführte, sah Vallon, dass niemand mehr in der Halle stand. «Waren das alle?»
«Ja, Herr. Andrei erwartet uns am Fluss.»
Vallon musterte die Ikone. «Was meinst du, Hero, ist Caitlin verrückt?»
«Das kann ich nicht sagen, Herr. Obwohl ich fünf Schwestern habe, konnte ich mir noch nie vorstellen, was im Kopf einer Frau vor sich geht.»
«Ich will, dass du ein Treffen organisierst. Nur wir drei dürfen davon wissen. Verstanden?»
Hero zögerte. «Nicht ganz, Herr.»
Als sie zum Fluss kamen, wurden sie von Andrei und seinem Führer erwartet. Oleg Ievlevich war ein kleiner, ernster Mann mit haselnussbraunen Schlitzaugen über hohen Wangenknochen. Nichts an seinem Verhalten bestätigte Waylands Misstrauen. Mit Andrei als Mittelsmann kauften sie drei Flussbote und ein Kanu. Jedes Flussboot war vierundzwanzig Fuß lang und mit Lärchenplanken von über einem halben Zoll Dicke geklinkert. Obwohl sie leicht genug waren, um getreidelt oder geschleppt werden zu können, waren sechs Männer nötig, um sie anzuheben, und ein Dutzend, um sie eine Strecke weit zu tragen. Sie hatten je acht Ruderdollen und einen Mast für eine kleines Segel. Hinter dem Mast befand sich ein einfacher Stellplatz aus zwei Pfosten und einer Schlinge, an der ein Pferd festgemacht werden konnte. Das Kanu war für Wayland bestimmt, damit er auf die Jagd gehen konnte.
All die Ausrüstung und die Verpflegung, die Entgeltauszahlungen und weitere Ausgaben schmälerten ihre Kasse erheblich. Der Verkauf der Beiboote und einiger Handelswaren glich die Kosten zum Teil wieder aus, doch als sie zum Aufbruch bereit waren, blieben ihnen nur noch dreißig Pfund Silber.
Am Morgen ihrer Abreise verließen Vallon und seine Leute noch vor dem ersten Tageslicht ihre Unterkünfte. Am Tag zuvor hatte es heftig geregnet, und in der Nacht war Frost gekommen. Vallons Gesicht prickelte in der Kälte, und auf dem Weg zum Ufer des Flusses trat er Sterne in überfrorene Eispfützen. Caitlins Gruppe und die Wikinger waren schon da, ihr Atem bildete weiße Wolken in der windstillen Luft. Als sie die Boote beluden, kamen Garrick und Arne hinzu, um sich zu verabschieden. Und als eine fliederfarbene Morgenröte über der Stadt heraufzog, stießen Andrei und Oleg zu ihnen.
Fünfzehn Männer und drei Frauen würden mit auf die Reise gehen, je sechs Personen in einem Boot. Oleg fuhr bei Vallons Gruppe mit. Die sechs Wikinger nahmen das zweite Boot, während im dritten Drogo und Fulk, Caitlin und ihre Magd Asa sowie Tostig und Olaf fuhren. Vallons Boot würde das Kanu ins Schlepptau nehmen, in das Wayland die Falkenkäfige zusammen mit zwanzig lebenden Tauben aus Andreis eigenem Taubenschlag gestellt hatte.
Die Sonne hob sich über die Stadt, als die Reisenden mit Umarmungen und guten Wünschen verabschiedet wurden und ablegten. Als sie an der ersten Flussschleife zurückblickten, sahen sie Garrick und Arne immer noch winkend am Kai stehen.
Hero legte sich in den Riemen. «Ich wette, sie wären jetzt gerne bei uns.»
Vallons Lächeln wirkte nicht sehr überzeugt. Der Winter kam, und sie hatten bis zum Schwarzen Meer noch mehr als tausend Flussmeilen und die Portage vor sich.
Drei oder vier Meilen flussaufwärts ruderten sie in den Illmensee und legten mühelos zwanzig Meilen zurück, bevor sie in die Lowat einfuhren, den Fluss, der Richtung Süden zur Großen Portage führte. Wie Vasili sie vorgewarnt hatte, führte die Lowat Niedrigwasser, und es gab viele Untiefen, bei denen sie aussteigen und die Boote ziehen mussten.
Das Wetter war unvergleichlich schön. Bitterkalte Frostnächte überzogen das Flussufer mit Eis, das unter dem strahlenden Sonnenschein der Tage wieder schmolz. Zwei Tage flussauf ließ Oleg den Bootskonvoi bei einem Bauernhof in einem Wald aus Birken und Kiefern halten. Zuvor waren sie schon an vielen ähnlichen Gehöften vorbeigekommen: Eine Blockhütte in blauen Rauch gehüllt. Ein Boot, das auf das grasbewachsene Ufer hinaufgezogen worden war, daneben ein Gestell für Trockenfisch. Zwei kleine, um Stangen aufgeschichtete Heuhaufen. Eine Kuh, die aus einer Futterkrippe fraß.
Oleg sprang ans Ufer und begann laut zu rufen. «Dorogoy, Ivanko!»
Aus der Hütte trat ein Mann mit rotbraunem Haar und Bart. Er hob die Hand zum Gruß. «Dorogoy, Oleg!»
Ivanko stapfte zum Flussufer herunter. Seine Hosenbeine waren viel zu weit. Er war ein merkwürdig gebauter Bursche. Oberhalb der Körpermitte war er ein großer Mann, unterhalb ein kleiner, mit Krüppelbeinen, die in enorm großen Stiefeln steckten. Hinter ihm liefen seine beiden wackeren Söhne mit demselben eigentümlichen Körperbau aus dem Haus. Es war, als wäre ihre Taille dorthin gerutscht, wo eigentlich die Knie hätten sein sollen.
«Dorogoy, Oleg», riefen sie. Die beiden hatten Handbeile unter den Gürtel gesteckt und trugen grobe Schuhe aus Birkenbast. Vielleicht waren Ivankos Siebenmeilenstiefel eine Art Amtszeichen, oder er hatte sie geerbt.
Vallon verfolgte die fröhliche Begrüßung des Führers und der Träger. Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas zu verbergen hatten. Er sah Wayland an und zuckte mit den Schultern.
Ivanko lud sie in sein Blockhaus ein. Ein Herd verräucherte den Innenraum. Hero rieb sich hustend die Augen. «Sie machen es falsch herum. Die Kälte zieht durch den Kamin herein, und die Wärme entweicht durch die Tür.»
Nach einem Essen aus Brei und Kwas luden Ivanko und seine Söhne ihre Ausrüstung in einen grob behauenen Einbaum, den sie in einen Schlitten oder einen Karren verwandeln konnten, indem sie Kufen oder Räder daran montierten. Sie schirrten zwei Pferde an, und dann, nach einem kurzen Gebet, ging es los. Unterwegs nahmen sie weitere Träger aus anderen Bauernhäusern mit, und als sie schließlich abends den Halt ausriefen, waren noch zwölf Träger, vier Pferde und zwei Kanus dazugekommen. Alle Träger schienen begeistert von dem Gedanken, ihre alltäglichen Arbeiten für das Vorrecht ruhen zu lassen, drei schwerbeladene Boote durch neunzig Meilen Wald zu ziehen.
Am nächsten Tag verließen sie die Lowat und begannen die Portage. Es war nicht so mühsam, wie Vallon gedacht hatte. Oleg nutzte jeden kleinen Fluss oder See, und davon gab es in dieser Gegend viele. Zwischen den Wasserläufen schoben Ivanko und seine Leute die Karren unter die Boote und zogen sie mit Pferden, doch auch die Männer legten sich in die Seile und sangen dabei. Der Weg wurde offenkundig viel benutzt, über einigen Sumpfstellen waren Dammwege aus Balken angelegt worden. Am Abend schlug die Karawane ihr Lager neben geschwärzten Steinkreisen der Lagerfeuer früherer Reisender auf. Zweimal kamen sie bei der Portage an verwitterten hölzernen Kultbildern vorbei. Die phallischen Säulen trugen schnurrbärtige Gesichter, die in alle vier Richtungen schauten. Schließlich bekamen sie aus Oleg heraus, dass es sich um Perun handelte, den Donnergott. Er gab vor, die Götterstatuen nicht zu bemerken, und es war ihm offenkundig unangenehm, als sich die Träger vor ihnen verbeugten und bekreuzigten. Vallon war ihre Abgötterei vollkommen gleichgültig. Sei waren fröhliche und willige Arbeiter und in ihrem Handwerk äußerst geschickt. Je nachdem, was der Moment erforderte, konnten sie ihre Äxte als Messer, Hobel, Säge oder Hammer einsetzen.
Sie kamen immer höher, doch der Weg wurde nie steil, stieg nur langsam an, bis sie schließlich aus dem Wald heraus waren und ein Torfmoor-Gebiet erreichten. Vallon fühlte sich, als stünde er am Mittelpunkt der Welt. Wohin er auch sah, überall umgaben ihn sanft dahinrollende, goldbraune Waldhügel, deren Kämme im Dunst verschwammen, bis der letzte nicht mehr vom Himmel zu unterscheiden war. Oleg deutete nach Süden. «Dnjepr», sagte er. Dann schwang er seine Hand nach Nordosten. «Wolga.» Dann nickte er mit sehr ernster Miene, als wolle er eine Wahrheit bekräftigen. Dass nämlich die Lebensadern von Rus in diesem Kernland entsprangen.
«Habt ihr das gehört?», rief Vallon. «Wir haben die Wasserscheide erreicht.»
«Was für eine Erleichterung, auf der richtigen Seite der Schwerkraft zu stehen», sagte Richard.
Hero lachte über Vallons Verwirrung. «Er meint, dass unser Weg von jetzt an abwärts führt. Die ganze Strecke bis zum Schwarzen Meer.»
Um die Mittagszeit des nächsten Tages fuhren sie flussab in einen Wald, an den seit dem Schöpfungstag kein Mensch Hand angelegt hatte. Wayland lag auf dem Rücken, Syths Kopf ruhte auf seinem Arm und ließ die Bäume über sich vorbeiziehen. Es waren altvertraute Baumarten, doch sie waren zu unglaublicher Größe herangewachsen. Viele der Eichen- und Kiefernstämme ragten achtzig Fuß auf, bevor die ersten Äste kamen, und manche der Fichten mussten hundertfünfzig Fuß hoch sein. Es war ein Ort der Vergänglichkeit und Erneuerung, hier sprossen neue Schösslinge aus totem Holz, verschiedene Baumarten umarmten sich in spiraligem Wachstum, verfaulende Giganten verschmolzen wieder mit der Erde. So weit im Süden war noch Herbst, und die Reisenden glitten in einem niemals endenden gelben, roten und braunen Blätterregen dahin, der zu einem bunten Mosaik auf der Wasseroberfläche wurde.
Wenige kürzere Portage-Strecken brachten sie zu einem breiten, ruhigen Fluss. «Dwina», sagte Oleg. «Drei Tage, und wir sind beim Dnjepr.»
Vallon redete unter vier Augen mit Wayland, während die Träger die Boote vorbereiteten. «Du täuschst dich in Vasili. Ich beobachte Oleg wie ein Luchs, und er ist so ehrlich, wie man es sich nur vorstellen kann.»
«Sogar zu ehrlich. Die meisten Führer, die Fremde durchs Land begleiten, würden sie aufs Kreuz legen.»
Vallon schüttelte entnervt den Kopf. «Wie ging dieser Satz noch mal, den Raul immer gesagt hat? ‹Dein Verstand ist so verdreht wie ein paar Schweinedärme.› Du wirst doch wohl nicht glauben, dass die Träger bei Vasilis Komplott mitmachen.»
«Nein. Deswegen denke ich auch, dass Vasili zuschlagen wird, nachdem wir die Träger am Dnjepr ausbezahlt haben. Wir müssen an einer anderen Stelle an den Fluss kommen als an der, die Oleg aussucht.»
«Ich kann unserem Führer wohl kaum vorschreiben, welchen Weg er nehmen soll.»
In diesem Moment rief Oleg, es sei Zeit, wieder in die Boote zu steigen.
Die meisten Mitglieder des Konvois dösten über den Riemen, während sie durch die Wälder den Fluss hinunterglitten. Doch sie konnten sich nur kurze Zeit erholen. Schon ein paar Meilen flussab befahl Oleg ihnen, zu einem Nebenfluss zu rudern, der auf der linken Seite einmündete.
«Wohin kommen wir auf diesem Fluss?», fragte Vallon.
«Smolensk», sagte Oleg. «Zwei Tage.»
«Herr Vasili hat uns geraten, um Smolensk einen Bogen zu machen.»
«Ja, ja. Wir treffen südlich von Smolensk auf den Dnjepr. Morgen werde ich ein Stück vorausfahren, um noch mehr Träger anzuheuern.»
Das waren die ersten verdächtigen Sätze, die Oleg von sich gegeben hatte. Vallon sprach in arglosem Tonfall weiter. «Mir wäre es lieber, wenn du bei uns bleibst.»
«Ivanko kennt den Weg ebenso gut wie ich. Keine Sorge, morgen essen wir wieder wie üblich gemeinsam zu Abend.»
«Es ist sehr bedauerlich, dass wir diesen breiten Fluss so schnell verlassen.»
Als Oleg lächelte, verschwanden seine Augen beinahe in der Lidfalte über seinen hohen Wangenknochen. «Verehrter Herr, Ihr könnt auf der Dwina bis zum Baltikum fahren, aber näher als hier kommt sie an den Dnjepr nie heran.»
Sein Auftreten war harmlos. Sein Benehmen war vorbildhaft gewesen. Waylands Instinkte waren nicht untrüglich. In zwei Tagen wären sie am Dnjepr.
Oleg hatte sich umgedreht, um eine Umladung der Fracht zu überwachen. Die Träger witzelten gutgelaunt herum. Vallon spürte Waylands Blick auf sich.
«Lass die Waren, wo sie sind.»
Oleg sah auf. «Wie?»
«Wir nehmen einen anderen Weg.»
Oleg verzog verblüfft das Gesicht. «Aber das hier ist der Weg.»
«Er gefällt mir aber nicht.»
Oleg schlüpfte in die Rolle des Mannes, der es mit einem schwierigen Kunden zu tun hat. «Ich kenne alle Portagen, und das hier ist die einfachste, das versichere ich Euch.»
«Es mag die einfachste sein. Aber ich will eine andere nehmen.»
Oleg ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. «Es gibt einen anderen Weg, aber dafür muss man zwei Tage flussauf rudern und kommt oberhalb von Smolensk heraus. Ihr habt gesagt, dass Ihr nicht durch Smolensk fahren wollt.»
«Das werde ich auch nicht. Ich will, dass du uns weiter flussab zum Dnjepr führst.»
Oleg trat von einem Fuß auf den anderen und deutete wieder auf den Nebenfluss. «Aber das ist der Weg. Es gibt keinen anderen.»
«Finde einen.»
Oleg zog die Mütze vom Kopf und knetete sie zwischen den Händen. «Ich verstehe nicht, warum Ihr mir diese Schwierigkeiten macht.»
Die Träger und die anderen Reisenden verfolgten das Gespräch mit verständnislosen Blicken. «Hast du den Verstand verloren?», fragte Drogo.
«Halt dich raus», sagte Vallon. Er hatte sich wie ein Grobian benommen, weil er Oleg die Maske herunterreißen wollte. Doch er hatte keinen Erfolg gehabt. Der Führer hatte sich benommen, wie es jeder anständige Mann getan hätte, wenn er es mit einem Tölpel und Einfaltspinsel zu tun bekam. Nun, jetzt war es zu spät, um das Steuer herumzuwerfen.
«Wenn du uns nicht zu einem anderen Weg führst, suchen wir uns selbst einen.»
Oleg schloss die Augen. Er murmelte etwas vor sich hin und riss dann die Arme hoch. «Ja!», schrie er. «Findet Euren eigenen Weg!» Er rief etwas auf russisch, stürmte zu den Trägern hinüber und schlug ihnen auf den Rücken. Ahnungslos, was diese Kehrtwende verursacht hatte, begannen sie, ihre Sachen zu packen.
«Die Männer bleiben hier», befahl Vallon.
Oleg drehte sich zu ihm um. «Sie arbeiten nicht mehr für Euch. Es hat keinen Zweck, sie Eure Boote einen Weg entlangschleppen zu lassen, den es nicht gibt.»
«Ich bin derjenige, der sie bezahlt.»
Oleg spuckte aus. «Behaltet Euer Silber. Vasili wird sie aus seiner eigenen Börse bezahlen.»
«Doppelter Lohn für jeden, der bleibt», rief Vallon.
Nur Ivanko erwiderte seinen Blick und schüttelte den Kopf über die schlechte Wendung, die alles genommen hatte. Seine Leute konnten gar nicht schnell genug wegkommen. Sie paddelten flussaufwärts davon, und Oleg ließ seine Faust wütend auf den Rand des Einbaums niederfahren.
«Was zum Teufel war das?», wollte Drogo wissen.
«Wayland denkt, dass Oleg vorhatte, uns in einen Hinterhalt zu führen.»
«Oleg?»
«Auf Herrn Vasilis Befehl. Er will die Falken.»
«Gütiger Himmel, Vasili muss uns doch nicht ausrauben, wenn er die Falken haben will.»
«Doch, das muss er. Wir haben uns geweigert, sie zu verkaufen.»
«Sie kommen zurück», sagte Wayland.
Vallon beobachtete, wie die Einbäume zurückkehrten. Oleg stieg mit düsterer Miene ans Ufer. «Ich kann Euch nicht in diesen Wäldern zurücklassen. Herr Vasili wird mich verantwortlich machen, wenn Euch etwas zustößt.» Er schluchzte beinahe. «Behaltet die Träger und bezahlt sie für die nutzlose Arbeit.» Dann schlug er sich auf die Brust. «Aber ich werde nicht mitkommen. Was für einen Nutzen hat ein Führer, wenn sich seine Kunden nicht führen lassen wollen?» Tränen rannen über seine Wangen. «Herr Vasili empfängt Euch wie Prinzen, und Ihr spuckt ihm ins Gesicht. Ich danke Euch sehr.»
Schwankend ging er weg, und Ivanko versuchte ihn zu trösten. Seine Verzweiflung war so echt, dass Vallon ihm beinahe nachgelaufen wäre, um ihn um Verzeihung zu bitten.
«Prachtvoll», schnaubte Drogo. «Jetzt kann es wirklich nicht mehr schlechter kommen. Wenn Oleg vorhatte, uns zu betrügen, wird er, lange bevor wir den Dnjepr erreichen, in Smolensk sein.»
Drogo hatte recht. Die einzige Möglichkeit sich abzusichern, bestand darin, den Führer zu töten. Dieser Gedanke war so abstoßend, dass Vallon ihn augenblicklich verwarf. Der Falkner hatte sich geirrt, und fertig.
Kein Wort kam über die Lippen der Träger, als sie weiter die Dwina hinunterfuhren. Nach etwa zehn Meilen ruderten sie in einen anderen Nebenfluss. Vallon sah den Wasserlauf entlang, der sich durch den Wald schlängelte. Er war sicher, dass sie auf diesem Fluss an beinahe derselben Stelle herauskommen würden, die Oleg vorgesehen hatte. Nun, sie hatten ohnehin keine Wahl mehr. Er nickte Ivanko zu. Stumm wie die Tiere führten die Träger die Passage durch den Wald an.
Es war ein höllischer Kampf. Ständig war der Fluss von Biberdämmen und umgestürzten Bäumen blockiert, sodass sie die Boote auf die Ufer ziehen und um die Hindernisse herumtragen mussten. Doch auch an den Ufern lagen überall tote Bäume. An manchen Stellen hatte ein Baum bei seinem Fall andere mit umgerissen, vier oder fünf zugleich, die dann auf dem Boden lagen oder sich wie eine Gruppe betrunkener Zecher in der Schräge aneinanderstützten. Bei jeder Hürde mussten sie die Pferde ausspannen, die Boote ausladen und sie dann anheben, um sie über die Stämme zu schieben.
Bis zum Dunkelwerden plagten sie sich damit ab, und Vallon schätzte, dass sie kaum mehr als zwei Meilen geschafft hatten. An diesem Abend aßen die Träger an ihrem eigenen Lagerfeuer und lehnten den Honigwein ab, den Vallon ihnen hinüberschickte.
Im kalten Licht der Morgendämmerung rappelten sie sich auf, streckten sich stöhnend, und versuchten, die Steife aus ihren Gliedern zu schütteln. Dann machten sie weiter. Ausspannen, anheben, schieben. Anspannen, ziehen, ausspannen, anheben … Auf diese Art, so vermutete Vallon, würden sie zwei Wochen brauchen, um den Dnjepr zu erreichen.
Zur Mittagszeit wurde das Licht fahl, und ein frostiger Wind bewegte die Luft. Der gesamte Wald schien einen enormen Seufzer auszustoßen, und ganze Blätterwolken segelten von den Bäumen herab. Die Träger fürchteten sich vor dem aufziehenden Sturm. Sie zogen ihre Einbäume aufs Ufer, erflehten Gottes Erbarmen und Peruns Schutz. Der Himmel hüllte sich in Finsternis. Der Sturm brach mit einem knisternden Blitz los, der das Innere von Vallons Kopf auszuleuchten schien. Dann dröhnte der Donner, und ein gewaltiger Wind brauste durch den Wald. Dreihundert Fuß hohe Bäume krümmten sich wie Schösslinge. Von überall her drang das Brechen und Stöhnen umstürzender Stämme. Ein Blitzschlag zerschmetterte eine Kiefer in ihrer Nähe, spaltete sie von der Krone bis zur Wurzel, sodass zehn Fuß lange Splitter weiter als hundert Fuß durch die Luft rasten. Regen peitschte herab. Heiden und Christen duckten sich unterschiedslos auf den Boden und schützten den Kopf mit den Händen.
Der Sturm zog vorüber. Die Sonne brach durch. Nacheinander richteten sich die Reisenden auf und wechselten ein schwaches Grinsen. Kein Blatt hing mehr an einem Baum, an jeder Zweigspitze funkelten Wassertropfen. Niemand war verletzt worden. Vielmehr hatte der Sturm die drückende Atmosphäre gereinigt, und an diesem Abend aßen die Reisenden und die Träger im Kreis ums gemeinsame Lagerfeuer. Vallon fragte Ivanko über die Route aus und überredete ihn, von ihr abzuweichen, sodass sie den Dnjepr an einer Stelle erreichen würden, an der man nach einer üblichen Portage niemals ankam. Sie besiegelten ihre Abmachung mit einem Handschlag, bei dem etwas Silber von einer Handfläche in die andere wechselte.
Bei Sonnenaufgang überschirmten Spinnweben ihren Weg wie Seidenbaldachine, in denen der Tau silbrig glitzerte. Die Träger ließen ihre Einbäume zurück und schleppten die umgedrehten Boote auf den Schultern über Land. Ihre Beine gaben schon fast unter ihnen nach, als sie endlich aus dem Wald kamen. Vor ihnen fiel eine Wiese sanft zu einem Fluss hin ab, der sich in einem weiten, schimmernden Halbkreis davonschwang. Auf der gegenüberliegenden Seite reichte der dichte Wald vom Ufer bis hinauf zu den Graten der Kalksteinhügel.
Ivanko streckte die Hand aus wie ein Prophet. «Dnjepr!»
Hero und Richard sprangen vor Freude herum wie Zicklein, und sogar Vallon klopfte seinen Gefährten grinsend auf den Rücken. Aber es war zu früh, um sich in Sicherheit zu wiegen. Die Flusskehren in beiden Richtungen beschränkten seine Sicht auf wenige Meilen.
Er deutete flussauf. «Wie weit ist Smolensk? Wie lange würde ein Boot brauchen, um hierherzufahren?»
Ivanko dachte nach. «Einen Tag, vielleicht zwei.»
«Und bis zu der Stelle, an die ihr uns nach Olegs Plan bringen solltet?»
«Einen halben Tag.»
Das war beunruhigend nahe. Vallon musterte die Umgebung. Eine warme Brise strich vom Fluss herauf und zauste das Gras auf der Wiese. Eine Braunbärin und ihre beiden Jungen stöberten am Ufer herum. Als Wayland in die Hände klatschte, stellte sich die Bärin auf die Hinterbeine, spähte kurzsichtig in seine Richtung und ließ sich dann wieder auf alle viere fallen, um gemächlich von dannen zu trotten, die umhertollenden Bärenkinder auf den Fersen. Am jenseitigen Ufer tauchte eine Gruppe Rehe auf. Sie starrten wie gelähmt zu den Eindringlingen hinüber, und dann verschwanden sie zwischen den Bäumen.
«Hier war seit Tagen kein Mensch», sagte Wayland.
Vallon warf einen Blick über die Schulter. «Es wird dauern, bis wir die Boote vorbereitet haben. Bleib hier und sichere uns nach hinten ab, bis du das Signal hörst.»
«Niemand folgt uns», sagte Wayland.
«Und niemand lauert uns auf. Du bist derjenige, der damit angefangen hat, bleiben wir also wachsam. Du kennst die Signale. Ein langes Hornsignal bedeutet, dass wir aufbrechen. Drei kurze Signale, und wir sind in Schwierigkeiten geraten.»