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XLIII
Sie entdeckten das Wrack des Ersatzbootes nicht weit flussabwärts. Das Pferd war immer noch angebunden, aber bei der wilden Fahrt ertrunken. Noch ein Stück weiter fanden sie das Kanu. Es hatte sich aus der Vertäuung gerissen, und sein Auftrieb hatte es unbeschädigt über die Wellen gleiten lassen wie ein Blatt. Sie banden es ans Heck ihres Bootes und fuhren weiter. Hinter den Klippen des Westufers verschwand der Mond. Nach dem tosenden Dröhnen der Stromschnellen nagte die stille Fahrt flussab an Vallons Nerven. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie beobachtet wurden.
«Wie spät ist es?»
«Ungefähr Mitternacht», sagte Wayland.
«So früh noch?»
Der Mond sank hinter die Steilklippen, und ihnen blieb nur das Sternenlicht. Die Boote folgten dicht hintereinander den Galeeren, um keinesfalls den Anschluss zu verlieren. Weitere Inseln tauchten auf und verschwanden, und der Mond kam wieder in Sicht, stand in der Schlucht wie ein Katzenauge.
«Der Fluss hat eine Kurve nach Westen gemacht», sagte Hero. «Das hier ist der lange, ruhige Abschnitt.»
«Wie viele Stromschnellen kommen noch?»
«Vier.»
«Richard, haben wir noch Honigwein?»
«Ein halbes Fass.»
«Mach es auf. Einen Krug für jeden.»
Leicht betrunken bewältigten sie die nächsten drei Stromschnellen. Der Mond verschwand wieder, sodass sie die dritte Stromschnelle beinahe blind hinunterfuhren. Nun lag nur noch Die Schlange vor ihnen. In pechschwarzer Finsternis fädelten sie sich durch eine Fahrrinne zwischen mehreren Inseln. Da hörten sie von vorne ein Krachen und erschrockene Rufe.
«Was habt ihr getroffen?», schrie Hero.
«Eine Felsbank», kam Kolzacs Antwort.
Langsam schoben sie sich neben die Galeere. «Habt ihr ein Leck?»
«Nein, Gott sei’s gedankt. Aber wir sitzen fest. Ihr müsst uns herausziehen.»
Die Sklaven wurden auf die andere Galeere gebracht, und sie zogen das festsitzende Schiff mit dem Heck zuerst herum. Dann fuhren die Lotsen unendlich vorsichtig weiter und tasteten mit Stäben nach gefährlichen Felsen unter der Wasseroberfläche. Das Dröhnen der Schlange drang währenddessen an ihre Ohren, und als sie das Ende der Insel erreicht hatten, sahen sie die weiß schäumend geschürzten Lippen der Stromschnelle vor sich in der Dunkelheit.
Kolzac drehte sich um und rief etwas.
«Er wird es bei Nacht nicht riskieren», sagte Hero.
«Wir müssen aber im Dunkeln durch», beharrte Vallon. «Wenn es hell genug ist, um die Stromschnelle zu sehen, ist es auch hell genug für die Kumanen, uns zu sehen.»
«Es dauert noch lange bis zur Morgendämmerung», entgegnete Hero. «Zeit genug, ein Boot vorauszuschicken und eine Möglichkeit auszukundschaften, durchzukommen.»
«Wir wissen doch nicht einmal, ob es dort überhaupt einen Hinterhalt gibt», fügte Richard hinzu.
Vallon wurde etwas ruhiger und überdachte die Situation erneut. «Frag die Lotsen, wie weit es noch bis zur Furt ist.»
«Sechs Werst», berichtete Hero. «Ein paar Meilen.»
Vallon sah an den Felswänden hinauf. «Sag den Lotsen, sie sollen an einer Stelle festmachen, die man von den Klippen dort oben nicht einsehen kann. Außerdem soll es von dieser Stelle aus eine Möglichkeit geben, auf die Klippen hinaufzukommen.»
Die Lotsen ruderten zum rechten Ufer und legten in einer tief eingeschnittenen Bucht an, die auf beiden Seiten von Felsüberhängen geschützt war. Dazwischen stieg eine gestufte Felskehle zum Hochplateau an.
Bis auf die Sklaven gingen alle von Bord.
«Nimm einen von den Lotsen mit und seht euch die Stromschnelle an», sagte Vallon zu Wulfstan. «Haltet euch dicht am Ufer, falls sie Späher aufgestellt haben.» Dann wandte er sich an Wayland. «Du weißt, was ich von dir will.»
«Ich soll die Gegend bis zu der Furt erkunden.»
«Es ist noch keinen Tag her, seit uns die Kumanen entdeckt haben. Diese Zeit hat ihnen vielleicht nicht gereicht, um genügend Krieger für einen Hinterhalt zusammenzutrommeln. Es ergibt keinen Sinn, mit der Stromschnelle ein unnötiges Risiko einzugehen.»
Wayland war aufgebrochen, bevor Syth Einwände erheben konnte.
Als Wulfstan und Igor zurückkehrten, berichteten sie, dass Die Schlange in einem gewundenen, brodelnden Bett über sechs Felsstufen abwärts schäumte und es nur eine einzige sichere Fahrrinne gab. Die Durchfahrt wäre nicht unmöglich, aber niemand bei klarem Verstand würde sie bei Dunkelheit wagen, es sei denn, ihm säßen noch viel größere Gefahren im Nacken.
Vallon hatte im Schlaf den Arm um Syth gelegt, als Wayland stolpernd aus der Felskehle rannte. Er rang um Atem. Syth flog in seine Arme. Er drückte sie an seine Brust und sprach über ihren Kopf hinweg. «Sie haben einen starken Kampfverband zusammengezogen. Es sind mindestens hundert, und es kommen noch mehr zu Pferd. Sie haben beide Ufer besetzt.»
«Großer Gott! Heißt das, dass sie Boote haben?»
«Keine richtigen Boote. Sie lassen sich auf aufgeblasenen Schweinsblasen hinübertreiben.»
«Wie stehen unsere Chancen, an ihnen vorbeizukommen?»
«Nicht gut.»
«Auch nicht, wenn sie nicht mit uns rechnen?»
Wayland schüttelte den Kopf. «Wir können sie nicht überraschen. Sie haben drei Spähposten auf den Klippen diesseits des Wolfsrachens, weniger als eine Meile von hier. Von ihrem Standort aus können sie auch Die Schlange sehen.»
«Sind Bogenschützen beim Wolfsrachen?»
«Noch nicht. Es ist zu dunkel, um gut zu zielen.»
Vallon sah zu den Sternen empor. «Wie lange noch bis zur Dämmerung?»
«Wenn wir im Dunkeln an der Furt vorbeiwollen, müssen wir bald los.»
Vallon musterte die Felskehle. «Kommen wir dort mit Pferden rauf?»
«Ja, wenn wir uns anstrengen.»
Vallon legte die gefalteten Hände an die Lippen. Die anderen warteten.
«Wenn wir die Späher töten, verbessern wir unsere Chancen», sagte Drogo.
Vallon schüttelte den Kopf. «Bis wir die Pferde dort hinaufgeschafft, uns um die Späher gekümmert haben und wieder zurück sind, ist es hell.» Er sah Wayland an. «Beschreib uns, wie die Stelle aussieht, an der sie auf der Lauer liegen.»
«Wo die Schlucht endet, senkt sich das Klippenplateau zum Fluss hin. Die Furt liegt am Fuß des Abhangs in einer Flussbiegung. Man sieht sie vom Fluss aus nicht, bis man unmittelbar davor ist.»
«Haben sich die Kumanen an der Furt gesammelt?»
«Ja.»
«Keine weiteren Kampfkräfte im Umkreis?»
«Nur die Spähposten.»
«Gibt es eine Stelle unterhalb der Furt, an der ein Boot landen kann?»
Wayland zögerte. «Das Ufer ist so flach, dass man beinahe überall ein Boot an Land ziehen könnte.»
Vallon ging zum Ufer des Flusses. Als er sich umdrehte, blickte er in ein Dutzend angespannter Mienen. «Wir haben nicht viel Zeit, also nehmt ihr entweder meinen Plan an, oder wir steigen in die Boote und fangen an zu rudern.» Er hielt inne und durchdachte sein Vorhaben im Einzelnen. «Also. Ich nehme fünf Reiter. Drogo, Fulk, Tostig, Olaf und Wulfstan. Wir führen die Pferde in der Felskehle hinauf. Wenn wir oben auf dem Klippenplateau sind, fährt unten der Konvoi auf dem Fluss los. Wir töten die Späher und sichern die Schiffe bis kurz vor der Furt ab. Während sie durchfahren, fallen wir den Kumanen, die dort auf der Lauer liegen, in den Rücken.»
Drogo lachte bloß.
Vallon beachtete ihn nicht. «Im Dunkeln wissen sie nicht, wer ihr Gegner ist. Wir verbreiten so lange Panik und Verwirrung, bis der Konvoi vorbeigerudert ist. Dann reiten wir flussabwärts, und Wayland nimmt uns ins Boot. Wir werden die Pferde verlieren, aber das ist nicht zu ändern.»
Drogo trat einen Schritt vor. «Das ist nicht dein Ernst. Sechs gegen hundert?»
«Es werden mehr als hundert sein, bis wir angreifen.»
Wayland hatte für die Wikinger und Isländer übersetzt. Wulfstan zog seinen Gürtel hoch und spuckte aus. «Ich würde lieber mit einem Schwert in der Hand sterben, als in einem Boot zu sitzen, während hundert Bogenschützen mit mir als Ziel Schießübungen veranstalten.» Er musterte Vallon aus leicht zusammengekniffenen Augen. «Aber denkt dran, das kostet Euch noch ein Pfund Silber und ein paar Becher Honigwein. Zahlbar im Voraus.»
Vallon lachte. «Einverstanden.»
Caitlin schob Tostig und Olaf vor. «Sie reiten mit dir.» Dann baute sie sich vor Drogo auf und beschimpfte ihn auf Nordisch.
Er sah Vallon an. «Was sagt sie?»
Vallon zuckte mit den Schultern. «Du hast geschworen, sie zu beschützen. Sie möchte wissen, wie du das anstellen willst, wenn du mit einem Paddel in der Hand mitten auf dem Fluss sitzt.»
Drogos Kiefer arbeiteten. «Ich und Fulk suchen uns unsere Pferde selbst aus. Die meisten sind ohnehin nur noch für den Schindanger gut.»
Wer genügend Kraft hatte, half, die Pferde auf die Klippen hinaufzuschieben. Vallon war schweißgebadet, als sie es endlich geschafft hatten. Bis auf Wayland schickte er alle wieder zum Fluss hinunter, die nicht zu seiner Reitergruppe gehörten. Es war eine Erleichterung, aus der Schlucht heraus zu sein, weg von dem fauligen Gestank des Flusses, der Vallon an seinen Kerker erinnerte. Tief atmete er den Geruch taubenetzter Erde ein. Eine Flotte weißer Wolken segelte über das nächtliche Himmelsmeer. Alles unterhalb des Horizonts war tiefschwarz, mit Ausnahme eines Lagerfeuers, das draußen in der Steppe brannte. Es war unmöglich zu sagen, ob es eine Meile oder einen halben Tagesritt entfernt war.
Wayland deutete auf eine Felsspitze, die über den Fluss ragte. «Dort sind die Späher, links vom höchsten Punkt.»
Vallon prägte sich die Stelle ein. «Schieß einen Pfeil ab, wenn die Boote losfahren. Und weil wir euch von hier oben aus nicht im Blick behalten können, gibst du uns mit dem Horn ein Signal, kurz bevor ihr bei der Furt seid. Auf dieses Signal hin greifen wir an, also achte auf den richtigen Moment. Falls du uns unterhalb der Furt nicht am Ufer siehst, fahrt ihr weiter.»
Wayland verzog das Gesicht. «Ihr meint doch nicht …»
«Doch, das meine ich. Entweder sind wir dort, oder wir sind tot. Hero wird entscheiden, wie es mit der Expedition weitergeht. Folge seinem Befehl genauso treu, wie du meinem gefolgt bist.»
Wayland schluckte. «Ja, Herr.»
«Und jetzt beeil dich.»
Wayland verschwand durch die Felskehle. Die Reiter warteten und schauten dabei zu den Sternen hinauf, die sich unendlich langsam auf den Horizont zubewegten. Die Welt lag in dem tiefen Schlaf, der vor der Dämmerung kommt.
Etwas sirrte an ihnen vorbei. Vallon erhaschte einen Blick auf einen Pfeil, an dem ein weißes Band flatterte. Er spähte in die Schlucht hinunter. Die Schlange zeichnete sich als vager heller Streifen in der schwarzen Kluft ab. Die erste Galeere schob ihren Bug aus der Bucht.
«Sie fahren los. Aufsitzen.»
Vallon drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken, und sie ritten vom Fluss weg. Es war, als würden sie sich auf einen dichten schwarzen Vorhang zubewegen. Das schwache Licht führte zu mehr Täuschungen als Klarheit. «Was ist das?», flüsterte Drogo und deutete auf einen eben erkennbaren Schatten, der von einem Hügel aufragte. Es sah aus wie ein Reiter, der auf sie wartete, aber als sie vorsichtig näher ritten, stellten sie fest, dass sie ihre Waffen auf einen Busch richteten.
Vallon gluckste in sich hinein. «Eine nützliche Lektion. Wenn uns ein Strauch zu Tode erschrecken kann, wie soll es dann erst den Kumanen gehen, wenn sie annehmen, in ihrem Lager wären bewaffnete Geister aufgetaucht.»
Er führte sie in einem Halbkreis und hielt etwa eine Viertelmeile hinter der Felsspitze an. «Wir müssen uns nicht anschleichen. Sie werden davon ausgehen, dass wir auch Kumanen sind. Antwortet nicht, wenn sie Begrüßungen rufen. Zieht eure Schwerter nicht, bevor ihr sie damit angreifen könnt. Schlachtet sie ohne Gnade ab. Keiner darf entkommen.»
Alle nickten schweigend. Vallon trieb sein Pferd an. Sie ritten auf die Felsspitze zu, deren Rand dunkelgrau vor dem Sternenhimmel zu erkennen war.
«Ich sehe ihre Pferde», flüsterte Wulfstan.
Vallon schmiegte sich dicht an den Hals seines Pferdes und spähte nach vorn. «Jetzt sehe ich sie auch.» Er tastete nach seinem Schwert.
Sie trieben ihre Pferde zum Trab an. Die Umrisse der anderen Pferde wurden deutlicher.
Drogo lehnte sich zu Vallon hinüber. «Wo sind die Reiter?»
«Ganz nahe.»
Die Pferde der Kumanen hatten sie gehört und drehten die Köpfe nach ihnen um. Eines schnaubte. Eine Pyramidenform neben den Tieren entpuppte sich als drei Lanzen, die mit den Spitzen aneinanderlehnten.
«Dort sind sie», sagte Fulk. «Auf der Felsnase rechts von den Pferden.»
Vallon machte ein paar Gestalten aus, die am Rand der Klippe saßen. «Bleibt in einer Reihe. Ich übernehme den links.»
Die Kumanen hatten sie gesehen. Einer von ihnen stand auf und winkte ihnen lebhaft zu, bevor er sich wieder setzte. Als sich Vallon aus dem Sattel schwang, waren sie immer noch vollkommen von dem Schauspiel gebannt, das sich ihnen offenbar unten auf dem Fluss bot. Derjenige, den sich Vallon als Ziel ausgesucht hatte, kicherte vor sich hin und drückte den Arm seines Nebenmanns. Vallon mähte ihm das Kichern zusammen mit dem Kopf vom Hals. Einen Herzschlag später erledigte Drogo den zweiten. Der dritte war gerade dabei, sich umzudrehen, als drei Hiebe zugleich sein Dasein beendeten.
Vallon vergeudete keine Zeit mit den getöteten Männern. Er ging in die Hocke und spähte auf das dunkel spiegelnde Wasser des Flusses hinunter. Nichts. Sein Blick zuckte stromaufwärts.
Drogo lachte und kauerte sich neben Vallon. «Tja, immerhin sind sie gutgelaunt gestorben.»
Vallon schlug ihm mit dem Handrücken gegen die Brust. «Und willst du wissen, warum?»
Eine der Galeeren lag knapp hinter der Mitte der Stromschnelle auf der Seite in den schäumenden Wellen. Der Rest der Flotte war schon durchgekommen und suchte unterhalb des Katarakts nach Überlebenden.
Drogo griff sich an die Stirn. «O nein!»
Vallon brach das Schweigen. «Tostig, Olaf, ihr reitet flussabwärts und warnt uns, falls sich irgendwelche Reiter nähern.»
Die Suche auf dem Fluss dauerte nicht lange. Jeder, der in der Galeere mitgefahren war und nicht schwimmen konnte, musste ertrunken sein. Die erste Galeere und die übrigen Boote sammelten sich, bildeten eine Reihe und setzten ihre Fahrt flussabwärts fort. Vallon hob den Kopf. Die Sterne im Osten verblassten zu hellem Grau.
«Die Zeit wird knapp», sagte Drogo.
Vallon hob den Kopf des Mannes auf, den er getötet hatte, und musterte sein erstarrtes Antlitz. Es waren kräftige Gesichtszüge umrahmt von schwarzen Zöpfen, die hinter die Ohren geflochten waren. Auf dem Kopf saß ein kegelförmiger Hut mit einem Pelzrand. Vallon nahm den Hut und setzte ihn sich auf. Dann warf er den Kopf in die Schlucht. Der Mann hatte einen Bogen, einen Köcher und einen Weidenschild getragen. In der Nähe lag eine eisenbeschlagene Keule. Vallon zog den Bogen von der Schulter des Toten. Es war ein Kompositbogen, die Spitzen höchstens vier Fußbreit voneinander entfernt und nach vorne gebogen, um Geschwindigkeit und Reichweite der Pfeile zu erhöhen. Er hängte sich den Bogen, den Köcher und den Schild über den Rücken und rollte dann den Körper dem Kopf hinterher.
«Nehmt den anderen ebenfalls Kleidungsstücke und Waffen ab. Im Dunkeln werden uns die Kumanen nicht genau sehen. Vergesst die Lanzen nicht.»
«Mein Pferd lahmt», sagte Wulfstan. «Meint Ihr, ich kann eins von den Nomadenpferden reiten?»
«Du kannst es versuchen. Aber sie sind feuriger als die Gäule, die du gewohnt bist.»
Der Schiffskonvoi war nun auf gleicher Höhe mit der Felsnase. Eine Gestalt winkte aus einem der Boote herauf. Vallon hob den Arm. «Das ist Wayland.»
Wulfstan fluchte. Eines der Nomadenpferde galoppierte weg. Vallon rannte zu ihm hinüber. «Was zum Teufel treibst du da?»
«Das Aas hat mich gebissen», sagte Wulfstan und bewegte den Unterarm. Die anderen beiden Pferde hielt er immer noch am Zügel fest.
Sogar im Dunkeln erkannte Vallon, dass sie ihren eigenen Tieren überlegen waren. «Nimm das andere», sagte er zu Drogo. Dann reichte er ihm zwei Lanzen. «Du und Fulk, ihr wisst ja, wie man damit umgeht.»
Sie verteilten die Waffen und ritten mit einem guten Abstand zur Schlucht weiter. Es war immer noch so dunkel, dass der Letzte aus ihrer Gruppe den Ersten nicht genau sehen konnte. Die Steppe begann langsam abzufallen. Sie kamen in eine Senke, und Augenblicke später dröhnten rechts von ihnen die Hufschläge eines Reitertrupps vorbei.
«Halt dein Pferd unter Kontrolle», mahnte Vallon Wulfstan leise.
Der Wikinger drehte sich mit seinem tänzelnden Pferd im Kreis. «Hat wohl schon Frühlingsgefühle, was?», sagte er.
Die Hufschläge verhallten. Vallon hob die Hand, und sie ritten weiter. Als sie aus der Senke waren, hielten sie erneut an. Zwei Bereiche mit Lagerfeuern zeigten die Lage der Furt an. Es waren zwanzig oder mehr Männer auf ihrer Uferseite und ein halbes Dutzend auf der anderen. Vallon sah Gestalten zwischen den Flammen herumgehen, die schwarzen Umrisse in der Entfernung erinnerten ihn an Termiten.
Er hob sein Schwert. «Seht ihr diese Landzunge unterhalb der Furt? Dort sammeln wir uns nach dem Angriff.»
Sie ritten bis auf eine Viertelmeile an die Feuer heran. Das Ende der Schlucht lag eine Achtelmeile zu ihrer Linken. Graues Licht schob sich über die Steppe und ließ in den Niederungen Teiche aus Dunkelheit stehen. Tostigs Zähne klapperten.
«Die Angst ist weg, sobald wir uns auf sie stürzen», sagte Wulfstan.
Der Isländer fuhr auf. «Ich habe keine Angst. Ich friere bloß.»
Wulfstan lachte. «Aber nicht mehr lange.»
«Wir greifen die Bogenschützen am Ufer an», sagte Vallon. «Bildet einen Keil hinter mir. Schlagt wie ein Hammer zu, nicht wie ein Hagelschauer. Und keine langwierigen Einzelgefechte. Zuschlagen und weiterreiten.»
Die nächste Gruppe Kumanen galoppierte in das Lager, die Rufe der Neuankömmlinge wurden mit Grüßen beantwortet.
«Hört ihr das?», sagte Vallon. «Wenn wir auf sie zureiten, sind wir für sie nur das nächste Wolfsrudel, das sich zum Festmahl einfindet.»
Sie warteten. Ein schwefelgelber Rand kroch über den östlichen Horizont.
Fulk lenkte sein Pferd mit den Knien neben das von Vallon. «Was tun wir, wenn sie erst nach dem Hellwerden durchkommen?»
«Dann greifen wir trotzdem an. So retten wir vielleicht wenigstens den Schiffsverband.»
Wulfstan spuckte aus. «Wir haben sowieso keine andere Wahl. Gibt hier schließlich nirgends einen Ort, an dem man sich verstecken kann. Die nächste russische Garnison liegt mindestens einen Wochenritt entfernt.»
Vallon lächelte. «Du erinnerst mich an Raul.»
Wulfstan zog die Nase hoch. «Raul war in Ordnung. Für einen Deutschen.»
Dann verfielen sie in Schweigen und warteten gebannt darauf, dass der Schiffsverband auftauchte.
Schließlich schlug sich Drogo mit der flachen Seite seines Schwertes auf den Oberschenkel. «Jetzt blast schon, verflucht.»
Wie zur Antwort erklangen die Hörner der Wikinger. Rufe stiegen aus dem Lager der Kumanen auf, und auch sie bliesen zum Angriff.
Vallon packte seine Lanze fester. «Vorrücken.»
Die Steppe lag noch immer im Halbdunkel, und für die Nomaden an ihren Lagerfeuern musste die Dunkelheit noch undurchdringlicher wirken. Vallon ritt im leichten Galopp zum Angriff. Sie erreichten die Stellung der Kumanen. Dort hasteten alle auf das Flussufer zu. Gesichter hoben sich aus der Dämmerung. Jemand rief ihnen etwas zu.
Dann waren sie mitten unter den Feinden. Ein Nomade galoppierte in den Steigbügeln stehend mit lose herabhängenden Zügeln an ihnen vorbei, in der Linken hielt er seinen Bogen mit einem locker eingelegten Pfeil, vier weitere Pfeile klemmten zwischen seinen Fingern und noch einmal zwei zwischen seinen Zähnen. Er bewegte sich mit seinem Pferd so gewandt wie ein Zentaur.
«Da kommen die Schiffe.»
Die Galeere kam um die Flussbiegung, und die erste Pfeilsalve sirrte mit dem Geräusch reißenden Stoffs durch die Luft. Vallon trieb sein Pferd zu vollem Galopp an. Das Ufer lag vor ihm, Dutzende Bogenschützen hatten sich am Wasser entlang aufgestellt. Weitere Krieger ritten hinzu und sprangen flink von ihren Pferden. Vallon sah einen Offizier, der die Bogenschützen befehligte, und balancierte seine Lanze aus. Da ritt ein Kumane vor ihn und zwang ihn damit, die Lanzenspitze anzuheben. Als er erneut zielte, drehte sich der Offizier um und erblickte ihn. Aber dann wandte er den Blick wieder ab, hielt Vallon einfach für einen weiteren Kumanen, der herangaloppierte, um sich am Kampf zu beteiligen. Als er das nächste Mal hinsah, war die Lanze nur noch einen Fuß von seiner Brust entfernt. Er versuchte, seinen Schild zu heben, doch das Eisenblatt bohrte sich in seinen Körper, sodass er rücklings vom Pferd stürzte. Der Lanzenschaft in Vallons Hand brach. Er ließ ihn fallen und zog sein Schwert. Damit galoppierte er an den Bogenschützen entlang wie der Schnitter Tod, der rechts und links Ernte hält. Er musste sechs Bogenschützen getötet oder verwundet haben, bevor er das Ende der Reihe erreicht hatte.
Er zog die Zügel an. Vier Reiter galoppierten zu ihm.
«Wer fehlt?»
«Tostig», keuchte Drogo. «Ich habe ihn vom Pferd fallen sehen.»
Die Hälfte des Schiffsverbandes war an der Furt vorbei. Das Getöse von Trommeln und Trompeten überlagerte die Alarmrufe. Es war immer noch zu dunkel, um Freund und Feind zu unterscheiden, und die meisten der Kumanen ahnten nicht, dass sich der Gegner mitten unter ihnen befand. Am Ufer liefen die völlig verwirrten Bogenschützen durcheinander.
Vallon hob sein Schwert. «Noch ein Durchgang.»
Er hackte sich zurück ins Getümmel und hieb auf alles ein, was sich bewegte. Ein Reiter kreuzte seinen Weg, und er schlug ihm das Kinn ab. Ein Krieger zu Fuß hob sein Schwert, und Vallon spaltete ihm den Schädel. Da erklang von den Trompeten ein schriller Ton, und die Kumanen rannten zu ihren Pferden. Sofort griff ein Reiter Vallon an. Ein, zwei, drei Abwehrschläge, und sein Gegner stürzte tot vom Pferd. Die Kumanen hatten begriffen, dass sie von hinten angegriffen worden waren, und begannen sich zu formieren. Aus dem Augenwinkel sah Vallon, wie Olaf von einem halben Dutzend Kumanen vom Pferd gezogen wurde. Ein Pfeil blieb einen Zoll von seiner Hand entfernt in der Rückseite seines Schildes stecken. Ein Bogenschütze zielte direkt auf Drogo, dann ließ er seinen Bogen fallen und griff zu dem Pfeil, der aus seiner Brust ragte. Er schwankte vor und zurück, als wäre er nicht sicher, in welche Richtung er fallen sollte.
Vallon wehrte einen weiteren Angreifer ab. Die Kumanen versuchten ihn einzukreisen. «Wir können nichts mehr tun! Rückzug!»
Während er sein Pferd herumriss, sackte Fulk mit einem Stöhnen in seinem Sattel nach vorn.
Vallon galoppierte auf freies Gelände. Die Landzunge war verlassen, und der größte Teil des Schiffsverbandes war schon daran vorbei. Das Kanu wartete etwa fünfzig Schritt vom Ufer entfernt, und dahinter hielt sich eines der Boote in der Mitte des Flusses auf der Stelle. Zwei Männer knieten in dem Kanu. Was hatten sie vor? Sie waren außer Schussweite, und das Kanu war zu klein, um alle Reiter aufzunehmen. Vallon warf einen Blick über die Schulter und sah Wulfstan auf sein Pferd einpeitschen. Hinter ihm ritt Drogo neben Fulk, den er mit einer Hand im Sattel hielt. Eine Horde kreischender Kumanen war ihnen auf den Fersen.
Vallon trieb sein Pferd in den Fluss. Unvermittelt blieb es stehen und warf ihn über seinen Hals ab. Er kam auf den Füßen auf und arbeitete sich spritzend auf das Kanu zu. Wayland schwang einen Riemen, den er an ein Seil gebunden hatte. Er warf ihn Vallon entgegen.
«Ich wage mich nicht näher heran. Das Boot zieht uns nachher ins Fahrwasser des Flusses.»
Vallon pflügte keuchend vor Anstrengung durchs Wasser. Es reichte ihm schon bis über die Mitte, als Wulfstan an ihm vorbeischoss und ihn an den Haaren mitziehen wollte. Vallon schlug ihm auf den Arm. «Bring dich in Sicherheit. Ich warte auf die Normannen.»
Er drehte sich um und sah Drogo vom Pferd springen und in den Fluss rennen. Fulk blieb im Sattel und begann ein Rückzugsgefecht gegen ein halbes Dutzend Kumanen. Drogo blieb stehen und schaute zurück.
«Fulk, komm schon!»
«Er ist erledigt!», schrie Vallon.
Er watete rückwärts tiefer in den Fluss. Mit einem Blick über die Schulter stellte er fest, dass Wulfstan auf das Kanu zuschwamm. Wayland rief etwas und deutete auf den Riemen. Das Holz trieb nur wenige Schritte hinter Vallon. Er bewegte sich mühsam darauf zu. Das Wasser reichte ihm schon bis zum Hals, als er den Riemen mit den Fingerspitzen berührte. Ein Pfeil flitzte neben ihm über die Wasseroberfläche.
Er warf einen Arm über den Riemen und spuckte Wasser. Drogo strampelte auf ihn zu. Fulk saß noch immer im Sattel und schwang sein Schwert, während ihn die Kumanen in Stücke hackten. Ein Krieger rammte ihm seine Lanze mit solcher Wucht in die Brust, dass die Spitze am Rücken wieder austrat. Einige der Kumanen trieben ihre Pferde in den Fluss, und Bogenschützen rannten am Ufer entlang und schossen ihre Pfeile aus Hüfthöhe. Eines der Geschosse streifte Vallons Schulter.
Wayland zog an dem Seil.
«Noch nicht!», rief Vallon.
Die Strömung zog ihn weiter hinaus. Drogo trug seine Rüstung, und wenn er ihn nicht bald erreichte, würde er ertrinken. Er verlor den Boden unter den Füßen, ging unter und kam hustend wieder hoch.
«Lasst ihn zurück!», rief Wayland.
Vallon warf ihm einen Blick zu. «Dich haben wir auch nicht zurückgelassen!»
Dann sah er Drogo an und streckte ihm die Hand so weit entgegen, wie er es vermochte. «Nimm meine Hand.»
Drogos Gesicht verzog sich vor Anstrengung, als er sich nach vorne warf. Ihre Hände berührten sich und schlossen sich fest umeinander wie bei Gefährten, die einen Eid besiegeln.
«Zieh!», schrie Vallon.
Wayland und der andere Mann begannen sie zum Kanu zu ziehen. Pfeile zischten um sie übers Wasser. Vallon erreichte das Kanu und hängte sich mit einem Arm über die Seitenplanken. Wayland ließ sich auf die Knie fallen und packte ihn am Genick. «Ihr versenkt uns, wenn Ihr an Bord kommt. Bleibt so hängen, bis uns das Boot außer Schussweite gezogen hat.»
Ruderschlag um Ruderschlag brachten sie sich in Sicherheit. Vallons Körper war taub vor Kälte, als er schließlich gepackt und in das Boot gezogen wurde. Mit dem Gesicht nach unten blieb er liegen. Jemand rieb seine Glieder. Er rollte herum und blickte in die entsetzt aufgerissenen Augen einiger Kindersklaven. Dann tauchte Waylands Gesicht über ihm auf.
«Ihr seid verwundet.»
Vallon spürte das warme Blut an seiner Schulter herunterlaufen. «Nur ein Kratzer. Hilf mir hoch.»
Unsicher kam er auf die Füße, sein Unterkiefer zitterte in einem Kältekrampf. «Ist Syth wohlauf?»
«Das ist sie, Gott sei Dank.»
Vallon stapfte unsicher herum und stolperte beinahe über die Leiche eines Sklavenmädchens, das mit zwei Pfeilen im Rücken im Boot lag. Hero saß im Heck, teilweise verdeckt von einem der Wikinger. Er schien zu grinsen, aber als Vallon schlingernd näher kam, las er von seiner Miene ab, dass etwas Schreckliches passiert war.
«Richard wurde getroffen», sagte Hero. «Es sieht böse aus.»