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XLIV
Hero hielt Richard halb aufrecht. Vallon schob die Sklaven zur Seite und ging neben ihnen in die Hocke. Richard atmete flach und angestrengt. Er hielt die Hand auf die linke Seite der Brust gedrückt. Hero zog in sanft nach vorn, um Vallon den Pfeil in seinem Rücken zu zeigen. Er war dicht neben der Wirbelsäule bis wenige Zoll vor der Befiederung eingedrungen. Vallon nahm Richards Hand von seiner Brust. Die Pfeilspitze war nicht vorn ausgetreten. Dann hob er Richards Kinn an, um sein Gesicht anzuschauen. Die Pupillen waren erweitert, und blutiger Speichel rann aus seinem Mund.
Vallon fuhr sich mit den Fingerknöcheln über die Augen. Dann sah er Hero an. Beide wussten, dass diese Verwundung tödlich war.
«Wir müssen an Land», sagte Hero. «Je früher ich ihn operiere, desto besser stehen seine Chancen.»
Vallon sah zu den Nomaden hinüber, die im heller werdenden Morgenlicht am Ufer entlanggaloppierten. «Wir können nicht halten, solange die Kumanen in der Nähe sind.»
«Ich kann Richard an Bord nicht behandeln. Auf der Sankt-Gregors-Insel sind wir sicher. Dorthin kommen die Nomaden ohne Boote nicht.»
Die felsige Spitze der Insel lag vor ihnen, die Galeere fuhr gerade in den linken Wasserkanal ein. Einer der Sklaven schrie auf und deutete auf den Fluss. Zwei ihrer Gefährten trieben wie Sterne auf dem Wasser, Arme und Beine ausgestreckt, das weiße Haar um den Kopf driftend.
«Welche Galeere ist untergegangen?», fragte Vallon.
«Die von Igor. Wir haben seine Leiche nicht gefunden. Diese vier Sklaven hier konnten wir retten, und das andere Boot hat noch zwei und einen von den Russen aufgefischt. Alle anderen sind ertrunken.»
«Und wer ist an der Furt noch umgekommen?», fragte Vallon und presste die Lippen aufeinander.
«Caitlins Dienerin und einer von den Wikingern aus dem anderen Boot. Wie viele auf der Galeere gestorben sind, weiß ich nicht.» Hero bemerkte Vallons blutende Schulter. «Das will ich mir ansehen.»
«Später. Kümmere dich zuerst um Richard.»
Wayland legte Vallon eine Decke über die Schultern. «Ihr zieht besser die nassen Sachen aus.»
Die Sonne ging auf, und die Kumanen wirkten wie Schattenrisse vor einem zinnoberroten Hintergrund. Sie verfolgten den Schiffsverband immer noch, als das Ende der Insel in Sicht kam. Dahinter verbreiterte sich der Dnjepr stark und floss zwischen einer endlosen Steppe dahin. Richard atmete sehr schnell, jeder flache Atemzug war von einem leisen Stöhnen begleitet.
Vallon kam in trockener Kleidung wieder zu ihnen.
«Das ist unsere letzte Gelegenheit, an Land zu gehen», sagte Hero.
«Wenn wir anhalten, fährt die Galeere ohne uns weiter», gab Drogo zu bedenken.
«Richard ist dein Bruder!»
«Und Fulk war mein bester Freund. Ich konnte ihn nicht retten, und du kannst Richard nicht retten.»
Hero sah Vallon flehend an. «Bitte. Ich bitte Euch.»
Vallon zitterte, er hielt sich an dem leeren Pferdeunterstand fest. Wulfstan und die Wikinger in dem anderen Boot hatten mit dem Rudern aufgehört und beobachteten ihn.
«Wir rudern zu der Insel», sagte er. «Erklärt Kolzak, dass er warten soll, während wir einen Verwundeten behandeln.»
Sie lehnten Richard mit dem Rücken an eine riesenhafte Eiche, die schon den ersten Wikingern Schatten gespendet hatte, die auf der Straße zu den Griechen gereist waren. Handelsgeschäfte waren unter ihr abgeschlossen worden, Verträge unterzeichnet und gebrochen, Opfergaben dargebracht. Von hier aus hatte einer der ersten Herrscher von Rus tausend Schiffe gegen Konstantinopel geschickt. Hier hatte Großfürst Swjatoslaw einen Winter verbracht, bevor ihn die Petschenegen töteten und seinen Schädel mit Gold einfassten, um daraus fermentierte Stutenmilch zu trinken.
Die Wikinger standen mit grimmigen Mienen kopfschüttelnd dabei, als Hero Richards Kittel aufschnitt. Der Pfeil war in flachem Winkel zwischen der dritten und vierten Rippe eingedrungen und hatte sich durch den linken Lungenflügel gebohrt. Er wäre glatt auf der anderen Seite wieder ausgetreten, wenn ihn nicht eine Rippe an der Vorderseite des Körpers etwas unterhalb der linken Achselhöhle aufgehalten hätte. Ein blauer Fleck zeigte an, wo der Pfeilkopf stecken geblieben war. Hero führte Vallon aus Richards Hörweite.
«Die Spitze sitzt unterhalb der Rippen. Ich glaube, ich kann sie herausholen.»
«Wie? Der Pfeil hat Widerhaken.»
«Ich habe ein Instrument, das zur Entfernung von Widerhaken entwickelt wurde, aber in diesem Fall ist der Pfeil zu tief eingedrungen. Wenn man ihn nach hinten herauszieht, verursacht man erst recht eine tödliche Verletzung.»
«Es gibt nur eine Art, mit so einer Wunde umzugehen. Man muss das Ende des Pfeils gerade absägen und mit dem Hammer darauf schlagen, bis er vorne austritt. Brutal, aber ich habe schon erlebt, dass es funktioniert hat.»
«Der Schaft würde brechen. Entweder das, oder die Pfeilspitze verletzt ein wichtiges Blutgefäß. Nein, ich muss ihn herausschneiden.»
«Hero, ganz gleich, was du tust, es ist beinahe sicher, dass Richard stirbt. Wir sollten uns lieber darum kümmern, dass er in seinen letzten Stunden so wenig Schmerzen wie möglich leiden muss.»
Da rief Kolzak nach ihnen und zeigte auf die Kumanen. Sie teilten sich. Eine Gruppe ritt zur Furt zurück, die andere, eine rote Staubwolke hinter sich herziehend, Richtung Süden. «Es ist zu gefährlich hierzubleiben.»
«Wartet, bis ich Richard behandelt habe!», rief Hero ihm zu.
«Ihr seid nicht die Einzigen mit Verwundeten. Wir müssen weg, bevor die Nomaden einen neuen Hinterhalt vorbereiten können.»
Taub für Heros Bitten, steuerte Kolzak die Galeere in die Fahrrinne und deutete rufend flussabwärts.
«Was sagt er?», wollte Vallon wissen.
«Wenn wir sie nicht einholen, warten sie an der Mündung auf uns.»
«Nein, das werden sie nicht», sagte Drogo. «Kolzak hat bereits seinen Bruder und die Hälfte der Sklaven verloren.
Vallon drehte sich zu den Wikingern um. «Wulfstan, halt sie auf. Mit Gewalt, wenn nötig.»
Ihre Blicke versenkten sich ineinander, und da wusste Vallon, was als Nächstes geschehen würde und dass er nichts tun konnte, um es zu verhindern. Wulfstan rannte zu seinem Boot. «Kommt mit, Leute. Dort schwimmt uns die Beute weg.»
Die Wikinger hasteten zum Ufer und stießen mit dem Boot ab. Alles löste sich auf. Drogo packte Caitlin am Arm und zog sie hinter den Wikingern her. «Wartet auf mich!»
Die Wikinger zögerten. Drogo erreichte den Fluss und sprang ins Wasser, immer noch Caitlin hinter sich herziehend. Sie riss sich los, doch Drogo bekam sie wieder am Arm zu fassen. Mit dem freien Arm holte sie aus und schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er rückwärts ins Wasser fiel. Sie watete zum Ufer zurück, wo sie von Vallon aufgefangen wurde, der mit dem Schwert auf Drogo zeigte.
«Geh mit den Wikingern.»
Drogo drehte sich um, doch es war zu spät. Die Wikinger ruderten wie besessen hinter der Galeere her, auf der die Russen ihre Anstrengungen verdoppelt hatten, weil ihnen nur allzu bewusst war, welches Schicksal ihnen bevorstand, wenn die Wikinger sie einholten. Vallon beobachtete, wie die Wikinger die Galeere erreichten, an Bord kletterten und die schwache Gegenwehr niedermachten. Einer der russischen Soldaten stürzte in den Fluss, und das Kriegshorn der Wikinger wurde geblasen.
Wulfstan rannte zum Heck und legte die Hände um den Mund.
Vallon mühte sich, ihn zu verstehen. «Was war das?»
Wayland stand neben ihm, den Bogen auf Drogo gerichtet. «Er sagt, es ist nichts Persönliches.»
Vallon sah die Galeere flussabwärts weiterfahren. Auch Drogo sah ihr nach, dann watete er kopfschüttelnd an Land.
Wayland warf Vallon einen Blick zu, wartete auf den Befehl zum Schießen. Doch inzwischen war Drogo die Geringste ihrer Sorgen. Ohne ein seetüchtiges Schiff waren sie am Ende, selbst wenn sie die Mündung des Flusses erreichten.
Drogo blieb stehen und grinste schief. «Sieh mich nicht so an, Vallon. Du hättest dasselbe getan.»
«Töte ihn», flüsterte Caitlin.
Vallon hob die Hand und schob den Bogen weg, mit dem Wayland immer noch auf Drogo zielte. «Ich habe für einen Tag mehr als genug Tod gesehen. Es wird Zeit, dass wir uns um die Lebenden kümmern.»
Richard atmete schwer wie nach einem Dauerlauf. Er lehnte immer noch halb aufgerichtet an der Eiche. In jeder anderen Haltung konnte er überhaupt nicht atmen, und sein Herzschlag beschleunigte sich gefährlich.
Hero strich ihm über die Wange. «Kannst du mich hören?»
Richard öffnete die Augen und sah ihn mit verschleiertem Blick an. «Es kommt mir vor, als würde ich ertrinken. Und es tut weh. Gott, es tut so weh.»
«Das ist der Pfeilkopf direkt hinter den Rippen. Erlaubst du mir, dass ich ihn raushole?»
«Macht das einen Unterschied?»
«Ja.»
«Und du gibst mir was von deinem Schlaftrunk.»
«Nur genug, um die Schmerzen zu betäuben. Dein Herz ist angestrengt, und du hast Blut in der Lunge. Wenn ich dich ganz einschlafen lasse, wachst du vielleicht nie mehr auf.»
Richard wimmerte.
«Um an die Pfeilspitze zu kommen, muss ich einen Schnitt von ungefähr einem Zoll Tiefe machen.»
Richard verzog das Gesicht. «Mach, was du machen musst. Schlimmer können die Schmerzen sowieso nicht mehr werden.»
Hero legte seine Instrumente zurecht. Caitlin erhitzte Wasser über dem Feuer. Als alles bereit war, gab Hero Richard einen Löffel von dem Schlafmittel. Er hustete es zusammen mit einem Mundvoll Blut wieder heraus. Drogo stand daneben und sah der Prozedur mit unheilvoller Miene zu. «Hilf uns.»
Hero wählte ein Skalpell aus und kniete sich neben Richard. Vallon umfasste Richards Schultern. Syth hob seinen linken Arm, als wäre er ein gebrochener Flügel. Drogo hielt die Beine seines Bruders fest.
Hero wusste nicht genau, auf welcher Höhe die Pfeilspitze steckte. Seine Hand zitterte, als er die Klinge auf die Haut aufsetzte. Doch er musste entschlossen arbeiten. Seine Hand wurde ruhig. Dann zog er einen kräftigen, schrägen Schnitt mitten durch den Bluterguss. Er spürte, wie die Klinge auf Knochen traf. Blut spritzte empor. Richards Körper wollte sich aufbäumen.
Hero streckte die Hand aus. «Wasser.»
Caitlin reichte ihm ein Tuch, das mit kaltem Flusswasser durchtränkt war. Vorsichtig betupfte er damit die Schnittwunde, doch sie hörte nicht auf zu bluten.
«Noch ein Tuch.»
Schließlich gelang es ihm, die Blutung fast vollständig zu stoppen. Darauf zog er die Wundränder auseinander, wischte sie ab, und sah das helle Schimmern eines Rippenknochens, bevor erneut Blut darüberlief.
«In dem Knochen ist eine Fraktur. Die Pfeilspitze muss direkt dahinter sitzen.»
«Hast du sie gesehen?»
«Nein. Ich muss danach tasten.»
Er drückte die Skalpellspitze links neben der Fraktur zwischen die Rippen und zog die Klinge nach rechts. Doch er war nicht tief genug vorgedrungen, und musste einen zweiten Versuch machen. Blut lief über seine Hände. Dieses Mal spürte er einen Widerstand.
«Ich glaube, ich habe sie gefunden.»
Er sondierte noch einmal, dieses Mal von rechts nach links, bis die Klinge hängen blieb. Hoffnung keimte in ihm auf.
«Die Pfeilspitze klemmt zwischen den Rippen.»
«Wie willst du drankommen?»
«Ich muss die Rippen aufbrechen.»
Vallon zuckte zusammen. «Die Schmerzen wären mehr, als ein Mensch ertragen kann. Lass mich versuchen, sie vom anderen Ende aus durchzuschieben.»
«Aber seid vorsichtig. Der Schaft steckt in der Lunge. Er wird brechen, wenn Ihr zu stark schiebt.»
Vallon nahm den Pfeil dicht an der Eintrittswunde und drückte, zuerst sanft, dann mit mehr Kraft. Richard schrie auf wie ein gequältes Tier.
«Er bewegt sich nicht.»
Hero wischte das Blut ab. «Versucht, ihn ganz leicht zu drehen.»
Erneut kam ein mitleiderregender Schrei von Richard.
«Ich glaube, er kommt», sagte Hero. «Dreht weiter. Die Ränder der Pfeilspitze sind vermutlich umgebogen.
Vallon ließ sich zurücksinken. «Verdammt.»
«Was?»
«Der Schaft hat sich von der Spitze gelöst. Ich kann ihn ganz einfach drehen.»
«Dann lasst ihn so, wie er ist», sagte Hero. Er spülte den Schnitt aus und sah eine schmale Stahlzunge zwischen den Rippen herausragen. «Ein Teil ist durch. Genug, um ihn zu fassen zu bekommen. Aber ich muss noch einen Schnitt setzen.»
Er machte einen zweiten Einschnitt parallel zu den Rippen. Er wischte sich den Schweiß weg, der ihm in die Augen zu laufen drohte, und suchte sich eine Zange aus. Erneut säuberte er die Schnitte, packte mit der Zange die Pfeilspitze und zog. Die Zange glitt ab. Er versuchte es ein halbes Dutzend Mal, bekam die Spitze aber nicht richtig zu fassen. Bei jedem Versuch schrie Richard laut auf.
«Ich rutsche immer ab.»
Vallon streckte die Hand aus. «Lass es mich versuchen.»
Hero spreizte die Wundränder, um ihm die Stahlspitze so freizulegen wie möglich, und saugte mit einem feuchten Tuch das Blut weg.
«Ich hab sie», sagte Vallon. Sein Kinn zitterte vor Anspannung. Er zog, und Richard schrie. Er zog so fest, dass er rückwärts wegkippte, als die Zange abrutschte. «Ich habe gespürt, dass sie sich bewegt hat.»
Hero stellte fest, dass nun die Hälfte des Pfeilkopfes zwischen den Rippen herausragte.
«O Gott!», stöhnte Richard. «Lasst mich sterben!»
Hero wischte Richard die Stirn ab. «Sie ist beinahe raus. Noch einmal durchhalten.»
Vallon setzte wieder mit der Zange an, und dieses Mal zog er die Pfeilspitze ganz heraus. Muskeln und Blutgefäße rissen. Arterielles Blut schoss aus der Wunde, und es sah so aus, als würde Richard verbluten, bevor die Umschläge mit kaltem Wasser den Blutfluss stoppen konnten. Er hatte das Bewusstsein verloren, und sein Herz raste wie das eines gefangenen Vogels. Vallon zog den Pfeilschaft aus Richards Rücken, und ein weiterer Blutstrahl spritzte aus dem Körper und versiegte. Hero drehte die verformte Pfeilspitze zwischen den Fingern.
«Du bist tapferer als ich», sagte Vallon. «Und Richard genauso.»
Sie waren schon zurück auf dem Fluss, als Richard wieder zu Bewusstsein kam. Er atmete etwas leichter und konnte schluckweise Wasser trinken. An diesem Abend schlugen sie ihr Lager auf einer Insel weiter flussab auf und wechselten sich damit ab, Richard in der Haltung zu stabilisieren, in der er die geringsten Schmerzen hatte. Am nächsten Morgen waren die Kumanen verschwunden. Hero wechselte den Verband von Richards Wunde. Er hatte sie nicht vernäht, sodass das Wundsekret besser abfließen konnte. In der trüben Morgendämmerung erinnerte Richards Gesichtsfarbe an eine mehrere Tage alte Leiche, und seine Augen waren tief in die Höhlen gesunken.
Sie glitten durch die menschenleere Steppe. Am nächsten Tag konnte Richard eine Schale Brühe zu sich nehmen. Die Operationswunde bereitete ihm weniger Schmerzen als die inneren Verletzungen. Bei jedem Atemzug hatte er das Gefühl, als würde in seine Lunge eine Nadel gestochen und der Faden festgezogen. Eine gewisse Erleichterung brachte es ihm, wenn Blut aus der Wunde abgesaugt wurde, dann konnte er ein wenig schlafen. Nach drei Tagen wagte Hero zu hoffen, dass er es schaffen würde. Morgens, abends und nachts wechselte er den Verband. Die Wunde eiterte etwas, aber das war zu erwarten gewesen, und an den Wundrändern bildete sich erstes Granulationsgewebe.
Heros schwache Hoffnungen wurden am vierten Tag zunichtegemacht, als beim Wundabsaugen in erheblicher Menge eine übelriechende, eitrige Flüssigkeit austrat. Als es Abend geworden war, hatte Richard hohes Fieber und delirierte. Am nächsten Morgen hatten sich in der Wunde Gasbläschen gebildet, die das Boot in fauligen Gestank hüllten.
Am sechsten Tag erreichten sie die Mündung des Dnjepr und landeten auf der Insel St. Aitherios, die mehr als eine Meile von beiden Ufern entfernt im Fluss lag. Sie war etwa eine halbe Meile lang, flach und besaß bis auf ein paar Hügelgräber keine Besonderheiten. Das Gelände war vollkommen überschaubar, und so wussten sie, noch bevor sie an Land gegangen waren, dass niemand auf der Insel war. Sie fanden Überreste von Lagerfeuern und ein frisches Grab. Auf der Insel wuchsen keine Bäume, deshalb setzten sie Richard an einen Runenstein gelehnt hin, der zur Erinnerung an einen anderen Reisenden errichtet worden war, der auf der Straße zu den Griechen den Tod gefunden hatte. In bedrücktem Schweigen aßen sie zu Abend, während Hero bei Richard saß und darauf wartete, dass er starb.
Mitten in dieser Sterbewache kam Richard wieder zu Bewusstsein. «Hero?»
«Ich bin hier neben dir.»
«Die Schmerzen sind weg.»
«Das ist ein gutes Zeichen.»
«Morgen früh lebe ich nicht mehr. Sei nicht traurig. Denk an die schönen Zeiten, die wir zusammen erlebt haben. Denk daran, was ich verpasst hätte, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Ich habe in den letzten acht Monaten genug erlebt für ein ganzes Leben. Ich habe so viel gesehen, so viel gelernt und auch erfahren, wie viel mehr es noch zu wissen gibt. Also bin ich zwar immer noch ein Dummkopf, aber ein Dummkopf, der Fragen stellen kann, auf die zehn weise Männern keine Antwort wissen.»
Im Licht der Sterne sahen seine Augen aus wie dunkle Schattenteiche.
«Ich wünschte, ich wäre bis zum Meer gekommen.»
Hero hielt ihn fest. «Wir sind bis zum Meer gekommen. Schau zu den Wolken hinauf. Da siehst du, wie sie das Licht vom Meer reflektieren.»
«Ich will hier nicht begraben werden. Diese Insel ist voller Geister. Sie sprechen zu mir. Ich will nicht mit ihnen zusammen sein. Wirf meine Leiche in den Fluss.»
Das waren Richards letzte Worte. Seine Atmung wurde zusehends schwächer. In diesem Augenblick kam Drogo dazu und legte Hero die Hand auf die Schulter.
«Ich will mit ihm reden.»
«Er kann dich nicht hören.»
«Es kommt auch mehr darauf an, was ich zu sagen habe.»
Hero ging ans Ufer und presste die Hände an die Schläfen. Niedrige Wellen liefen seufzend an den Strand. Er hörte Drogo murmeln, sein Monolog war von vielen Pausen unterbrochen, so als müsse er die Worte, die er zu sagen hatte, tief in sich suchen. Als er schließlich fertig zu sein schien, drehte sich Hero um und sah ihm entgegen.
«Er ist tot.»
«Ich hätte bei ihm sein sollen, als er gestorben ist.»
«Ich wollte mich mit ihm versöhnen.» Drogos Mund bebte. «Er war ein besserer Mann, als ich dachte, aber wenn man in einer Familie wie meiner aufwächst …» Er wandte sich mit zuckenden Schultern ab.
«Um dich mit Vallon zu versöhnen, ist es noch nicht zu spät.»
Drogo wirbelte wieder herum. «Richard hat mir nie etwas Böses getan. Aber Vallon …» Drogos Hand zuckte vor. «Dieser Mann hat mir alles genommen, was ich hatte.»
Am nächsten Morgen wickelten sie Richard in ein Laken, legten ihn in das Kanu und überantworteten ihn dem Meer. Ein kalter Wind peitschte Schaumkronen empor, und eine Schar Pelikane stand am Ufer und sah zu einem Lichtfenster in dem grauen Wolkenhimmel hinauf. Nachdem die anderen zurückgegangen waren, blieb Hero noch allein am Ufer stehen und sah dem Kanu nach, das von der Strömung hinausgezogen wurde.
Er war tief in seine traurigen Gedanken versunken, als er Wayland seinen Namen sagen hörte. Aufgeschreckt drehte sich zu ihm um. «Ich war völlig abwesend. Hat Vallon einen Rat einberufen? Halte ich euch alle auf?»
«Es geht um Syth. Sie ist krank.»
«O nein! Warum hast du mir das nicht früher gesagt?»
«Ich wollte dich nicht stören. Sie hat es mir erst heute Morgen erzählt. Dass sie schon seit drei Tagen krank ist.»
«Und was hat sie?»
«Sie übergibt sich. Und drei von den Falken scheinen auch krank zu sein.»
«Ich gehe gleich zu ihr.»
Syth sah ihm zurückhaltend entgegen. Von ihrer strahlenden Erscheinung war kaum noch etwas übrig. Sie hatte Schatten unter den Augen, und ihr Haar war strohig und hing schlaff herunter. Hero maß ihren Puls, hörte sie ab und fühlte an ihrer Stirn, ob sie erhöhte Temperatur hatte. Er konnte nichts Auffälliges feststellen.
«Beschreibe mir die Symptome.»
Sie schnitt ein Grimasse und machte ein würgendes Geräusch.
«Du musst dich übergeben?», sagte Hero. «Nach dem Essen?»
«Schon beim Gedanken an etwas zu essen. Manchmal wird mir sogar bei einem Geruch schlecht.»
«Du hast aber kein Fieber. Vielleicht hast du etwas Falsches gegessen.»
Caitlin kam zu ihnen herüber. «Was ist denn?»
«Syth ist krank. Sie erbricht sich ständig.»
Caitlin legte Syth die Hände auf die Schultern. «Um welche Tageszeit wird es dir denn schlecht?»
«Am schlimmsten ist es morgens.»
Caitlin blickte die Männer an. «Lasst uns doch mal einen Moment allein.»
Hero sah zu, wie Wayland unruhig auf und ab ging. «Das wird schon wieder», sagte er, «sie braucht nur etwas Erholung.»
«Und wie soll Syth sich erholen? Vor uns liegt das Schwarze Meer und hinter uns zweitausend Meilen kumanenverseuchte Steppe.»
«Ihr Schafsköpfe!»
Hero drehte sich um. Caitlin hatte die Hände in die Hüften gestemmt und lächelte breit.
«Ich kann noch nachvollziehen, dass Wayland nicht begriffen hat, was mit Syth los ist, aber in deinem Fall …»
Hero lief rot an. «Ich gebe zu, dass mein medizinisches Wissen Lücken hat.»
«Man muss doch kein Arzt sein, um festzustellen, was Syth hat. Das Mädchen ist nicht krank. Syth ist schwanger.»
Beim Mittagessen hielt Vallon eine Besprechung ab. «Ich wollte unsere Lage nicht erörtern, solange Richard am Leben war. Wir stecken ernsthaft in Schwierigkeiten. Die Frage ist, wie wir aus dem Schlamassel herauskommen.»
«Wir müssen der Galeere folgen», sagte Drogo. «Wir halten uns an der Küste Richtung Westen. Die Russen segeln nicht direkt nach Konstantinopel. Sie halten unterwegs bei Handelsposten.»
«Siehst du das auch so?», fragte Vallon Hero.
«Ich weiß nicht recht. Der nächste Hafen liegt an der Donaumündung. Wir könnten eine Woche brauchen, bis wir dort sind, und wir müssten jeweils über Nacht anlegen. Die Nomaden halten die Küste besetzt, und früher oder später laufen wir ihnen in die Arme. Igor hat mir erzählt, dass es auf der Krim-Halbinsel eine griechische Kolonie gibt.»
«Wie weit ist das?»
«Ich weiß nicht.»
«Wie lange reichen unsere Essensvorräte noch?»
«Fünf Tage.»
«Wayland? Irgendwelche Vorschläge?»
Der Falkner warf einen Blick auf Syth, bevor er antwortete. «Haben wir unseren Plan aufgegeben, Anatolien zu erreichen?»
«Vergiss Anatolien. Unser Überleben ist das Einzige, worauf es ankommt.»
Noch einmal ließ Wayland seinen Blick auf Syth ruhen. «Ich weiß nicht, welche Richtung wir einschlagen sollen.»
Vallon strich sich mit den Fingerknöcheln über den Mund.
«Osten oder Westen», sagte Drogo. «Was soll es sein?»
«Weder noch.» Vallon deutete aufs Meer hinaus, das Richards Leiche im Kanu wegtrug. «Wir werden dem Kurs folgen, den dein kleiner Bruder genommen hat.»
«Was? Wir werden doch wohl nicht versuchen, das Meer mit unserem kleinen Boot zu überqueren!»
«Die Griechen haben Kolonien an der gesamten Schwarzmeerküste. Das bedeutet, dass es eine Menge Schiffsverkehr gibt. Wir segeln südwärts, bis wir eine Seestraße erreichen und warten, bis uns ein Schiff aufnimmt.» Vallon sah in die Runde. «Hat jemand einen besseren Vorschlag?» Dann klopfte er sich auf den Oberschenkel. «Also abgemacht.»