158074.fb2 Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Der Thron der Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

England, 1072

I

An diesem Morgen nahm eine normannische Reiterpatrouille einen jungen Engländer gefangen, der in den Wäldern südlich des Tyne wilderte. Nachdem die Reiter ihn befragt hatten, entschieden sie, dass er ein Aufständischer sei, und hängten ihn als Warnung für die Bewohner des Tales auf einem Hügel. Die Soldaten warteten mit hochgezogenen Schultern in der Kälte, bis die Zuckungen ihres Opfers erstarben, dann ritten sie fort. Noch während sie abzogen, stießen Aasvögel herab, die am Himmel gekreist hatten, und stürzten sich wie ein Schwarm bösartiger Fledermäuse auf die Leiche.

Gegen Abend schlichen ein paar hungernde Bauern den Hügel hinauf und verscheuchten die Vögel. Sie schnitten die Leiche ab und legten sie auf den gefrorenen Boden. Augen, Zunge, Nase und Genitalien fehlten, der lippenlose Mund war in einem stummen Schrei aufgerissen. Die Männer standen mit Haumessern in den Händen im Kreis um den Toten, ohne einen Blick oder ein Wort miteinander zu wechseln. Schließlich trat einer von ihnen vor, hob einen Arm des Toten an, schwang die Klinge und ließ sie niederfahren. Die anderen schlossen sich ihm an, sie hackten und sägten, von Krähen und Raben umflattert, die sich um Fleischfetzen zankten.

Unvermittelt flogen die Aasvögel mit rau lärmendem Geschrei davon. Die menschlichen Aasfresser hoben den Blick, erstarrten in ihrer Metzelei und richteten sich erschrocken auf, als ein Mann über dem Hügelkamm auftauchte. Er schien aus der Erde emporzuwachsen, schwarz gegen den düsteren Februarhimmel, ein Schwert in der Hand. Einer der Aasjäger rief etwas, und die Bande drehte sich um und rannte davon. Eine Frau verlor, was sie in den Händen hielt, schrie auf und wollte die paar Schritte zurück, um es aufzuheben, doch einer der Männer packte sie am Arm. Sie jammerte mit zurückgewandtem Blick, als er sie weiterzerrte.

Der Franke beobachtete ihre Flucht, sein Atem stieg wie weißer Rauch in die kalte Luft, dann steckte er sein Schwert wieder in die Scheide und zog sein knochiges Maultier auf den Galgen zu. Noch verdreckt und erschöpft von der Reise, war er ein furchteinflößender Anblick – er war groß, mit tiefliegenden Augen und einer hervorspringenden Nase. Ungekämmtes Haar umrahmte strähnig sein hageres Gesicht, und die wettergegerbte Haut über seinen Wangenknochen erinnerte an die Farbe von geräuchertem Aal.

Sein Maultier schnaubte, als sich eine Krähe, die sich im Brustkorb des Toten verfangen hatte, mit wilden Flügelschlägen befreite. Der Mann betrachtete die verstümmelte Leiche ohne große Gefühlsregung, dann runzelte er die Stirn. Vor ihm im fahlen Zwielicht lag das, was die Frau hatte fallen lassen. Es schien in ein Tuch eingewickelt zu sein. Er band sein Maultier an den Galgen, ging hinüber, drehte das Bündel mit dem Fuß um und blickte in das runzelige Gesicht eines Babys. Es war erst ein paar Tage alt, hatte Augen und Mund fest geschlossen. Es lebte.

Er sah sich um. Die Aasvögel flatterten wieder heran. Es gab keine Stelle, an der er das Baby hätte verstecken können. Die Vögel würden sich darüber hermachen, sobald er den Hügel verließ. Es wäre barmherzig gewesen, seinem Leiden auf der Stelle ein Ende zu bereiten, mit einem einzigen Schwerthieb. Denn selbst wenn seine Mutter zurückkäme, würde das Baby die Hungersnot nicht überleben.

Sein Blick fiel auf den Galgen. Nach kurzem Zögern hob er das Baby auf. Wenigstens war es gut gegen die Kälte geschützt. Er stapfte zurück zu seinem Maultier, öffnete eine Satteltasche und zog einen leeren Sack heraus. Das Baby machte ein seufzendes Geräusch, und sein Mund bewegte sich im Saugreflex. Er legte das Kind in den Sack, stieg auf das Maultier und band den Sack so weit oben an den Henkersstrick, dass die Wölfe ihn nicht erreichen konnten. Das würde die Vögel nicht lange abhalten, aber er nahm an, dass die Mutter zurückkommen würde, sobald er von dem Hügel verschwunden wäre.

Er lächelte freudlos. «Gehängt, bevor du eine Woche alt warst. Wenn du überlebst, kannst du dich damit brüsten.»

Die Vögel flatterten erneut auf, als ein weiterer Mann mit schweren Schritten den Hügelkamm erklomm. Beim Anblick des Galgens blieb er wie erstarrt stehen.

«Beeil dich», rief der Franke. «Es wird bald dunkel.»

Kopfschüttelnd sah er den Jüngeren näher kommen. Der Sizilianer war eine wandelnde Vogelscheuche. Noch eine Nacht ohne etwas zu essen oder eine Unterkunft mochte sein Ende sein, doch Tisch und Bett würden sie nur bei den Leuten finden, die den Engländer gehängt hatten.

Der Sizilianer blieb erschöpft stehen, seine Augen wirkten in dem blassen Gesicht dunkel und ausdruckslos. Er starrte auf die zerstückelte Leiche hinab und zischte angeekelt.

«Wer hat das getan?»

«Hungerndes Bauernvolk», sagte der Franke und nahm die Zügel des Maultiers. «Sie waren noch hier, als ich kam. Ein Glück, dass nicht du vorangegangen bist.»

Der Blick des Sizilianers zuckte in alle Richtungen und blieb schließlich an dem Sack hängen.

«Was ist das?»

Der Franke reagierte nicht auf die Frage. «Sie können nicht weit sein. Bestimmt lauern sie uns irgendwo auf.» Er führte das Maultier von dem Galgen weg. «Halte dich dicht hinter mir, wenn du nicht in einem Kochtopf enden willst.»

Der Sizilianer konnte sich vor Schwäche kaum noch von der Stelle bewegen. «Ich hasse dieses Land», murmelte er. Seine Erschöpfung war so groß, dass er einen Gedanken nur noch zu fassen bekam, wenn er ihn aussprach. «Ich hasse es!»

Ein schwaches Maunzen ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Er hätte schwören können, dass das Geräusch aus dem Sack kam. Er sah dem Franken nach und stellte beunruhigt fest, dass seine Gestalt beim Abstieg vom Hügelkamm schon außer Sicht geriet. Der Sack maunzte wieder. Vögel sanken aus dem steingrauen Himmel nieder wie zerfledderte schwarze Lumpenbündel. Einer von ihnen hüpfte auf den Schädel der Leiche, schielte ihn an, und versenkte seinen Kopf in dem weit aufgerissenen Mund. «Wartet!», schrie der Sizilianer, und stolperte über den grausigen Hügelkamm seinem Herrn hinterher.

Der Franke hastete durch die Abenddämmerung. Der Weg wurde ebener, und die Umrisse ferner Berge kamen in Sicht. Ein Stück weiter sank er in die Hocke, um ein breites Tal in Augenschein zu nehmen, das sich vor ihm öffnete. Eine Flussniederung lag in tiefen Schatten, und er hätte die Burg vielleicht nicht entdeckt, wenn sie nicht so neu gewesen wäre. Die Axtspuren an dem weiß gekalkten Balkenwerk waren noch deutlich zu erkennen. Die Burg stand auf der Landzunge zwischen dem Zusammenfluss zweier Ströme, von denen einer aus Norden und der andere in einem weiten Bogen von Westen kam. Mit den Augen folgte er dem Flusslauf, bis dieser von der aufsteigenden Dunkelheit im Osten verschlungen wurde. Er rieb sich die Augen und warf einen erneuten Blick auf die Burg. Normannisch, zweifellos, gebaut in Form einer Acht, der Bergfried auf einer Motte mit eigener Palisade errichtet, der saalartige Palas und einige weitere, kleinere Gebäude etwas niedriger hinter einer zweiten Einfriedung gelegen. Keine schlechte Stelle, dachte er. Auf zwei Seiten von Flüssen geschützt, die von leicht zu verteidigenden Brücken überspannt wurden.

Er hob den Blick zu einer Verteidigungslinie auf dem Hügelkamm ein paar Meilen hinter der Burg. In seinem ganzen Leben auf den Schlachtfeldern hatte er nichts dergleichen zu Gesicht bekommen – ein Wall, unterbrochen von Wachtürmen, zog sich ohne Rücksicht auf die Hindernisse der Natur quer durch die Landschaft. Das musste die Befestigung sein, die von den Römern zum Schutz ihrer nördlichsten Grenze vor den Barbaren gebaut worden war. Und es stimmte, im Dämmerlicht der aufziehenden Nacht sahen die winterlichen Hügel dahinter aus wie das Ende der Welt.

Ein Rauchschleier hing über der Burg. Er glaubte zu erkennen, dass sich von den umliegenden Feldern Menschen auf die Burg zubewegten. Nicht weit flussabwärts lag ein Dorf von ansehnlicher Größe, doch die Häuser schienen eingestürzt, und von den vereinzelten Bauerngehöften außerhalb des Dorfes waren nur noch große, verkohlte Aschehaufen geblieben. Seit sie vor fünf Tagen den Humber überquert hatten, waren die Reisenden an keinem einzigen bewohnten Dorf mehr vorbeigekommen. Plünderung des Nordens wurde diese Verwüstung genannt – die normannische Rache für einen Aufstand der Engländer und Dänen in York zwei Winter zuvor. Im letzten Tageslicht stellte der Franke fest, dass der Weg zur Burg durch ein Wäldchen führte.

Der Sizilianer sackte neben ihm zu Boden. «Habt Ihr es gefunden?»

Der Franke deutete auf die Burg.

Der Sizilianer spähte in die Dämmerung. Der hoffnungsfrohe Funke in seinen Augen erlosch, und er verzog enttäuscht das Gesicht. «Das ist ja nur ein hölzerner Turm.»

«Was hast du denn erwartet? Einen Marmorpalast mit vergoldeten Turmspitzen?» Der Franke richtete sich auf. «Hoch mit dir. Bald ist es dunkel, und heute Nacht sieht man keine Sterne.»

Der Sizilianer blieb auf dem Boden liegen. «Ich glaube nicht, dass wir dort hinuntergehen sollten.»

«Was willst du damit sagen?»

«Es ist zu gefährlich. Wir können die Dokumente ebenso gut dem Bischof von Durham übergeben.»

Die Kiefermuskeln des Franken spannten sich. «Ich habe dich sicher durch ganz Europa geführt, und nun, wo wir unser Ziel vor Augen haben, nach all den Entbehrungen, die ich auf mich genommen habe, willst du, dass wir umkehren

Der Sizilianer rieb sich die Fingerknöchel. «Ich hätte niemals erwartet, dass unsere Reise so lange dauert. Die Normannen betrachten Fragen der Erbfolge ziemlich nüchtern. Unsere Nachricht ist ihnen möglicherweise gar nicht mehr willkommen.»

«Willkommen oder nicht, heute Nacht wird es schneien. Durham liegt einen Tagesmarsch hinter uns. Die Burg ist unsere einzige Zuflucht.»

Unvermittelt verstummten die Aasvögel. Der ganze Schwarm erhob sich, flog einen Kreis und schwebte dann zu dem Wäldchen hinunter. Als ihre gezackten, schwarzen Umrisse verschwunden waren, breitete sich eine lastende Stille aus.

«Hier.» Der Franke warf dem Sizilianer ein Stück Brot hin.

Der junge Mann starrte das Brot an. «Ich dachte, wir hätten nichts mehr zu essen.»

«Ein Soldat hält immer eine Reserve zurück. Mach schon. Nimm es.»

«Aber was ist mit Euch?»

«Ich habe meinen Anteil schon gegessen.»

Der Sizilianer stopfte sich das Brot in den Mund. Der Franke entfernte sich ein paar Schritte, damit er nicht mit ansehen musste, wie der andere aß. Als er zurückging, schluchzte der Junge.

«Was ist denn nun wieder?»

«Es tut mir leid, Herr. Ich war nichts als eine Last und eine Prüfung für Euch.»

«Steig auf das Maultier», befahl der Franke und erstickte gleich jeden Protest. «Ich mache mir keine Sorgen um deine Bequemlichkeit, ich will nur nicht noch eine Nacht mit einem Stein als Kopfkissen schlafen.»

Bis sie das Wäldchen erreicht hatten, waren die Bäume kaum noch zu sehen. Der Franke hielt sich am Schwanz des Maultiers fest und ließ das Tier den Weg suchen. Er stolperte über Wurzeln und trat in eisüberzogene Pfützen. Der Schnee, der sich den ganzen Tag schon angekündigt hatte, begann herabzurieseln, zunächst nur ganz fein, wie weißer Staub. Der Franke spürte, wie sein Gesicht und seine Füße in der Kälte taub wurden.

Auch er verabscheute dieses Land – das üble Wetter, die mürrische Hoffnungslosigkeit seiner Bewohner, die großtuerische Prahlerei seiner Eroberer. Er schlang sich einen Zipfel seines Umhangs um den Kopf und zog sich schlafwandlerisch in einen Traum zurück. Er ging durch Obstgärten, einen Weinberg, einen Kräutergarten, in dem Bienen summten. Er betrat ein Herrenhaus, überquerte einen gefliesten Boden und ging in ein Zimmer, in dem Rebenholz im Herdfeuer glühte. Seine Frau stand lächelnd von ihrer Nadelarbeit auf. Seine Kinder sprangen auf ihn zu und schrien vor Freude über seine wundersame Rückkehr.