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II
Ihre Wege hatten sich im Herbst zuvor auf dem San-Bernardino-Pass in den Alpen gekreuzt. Der Franke, der unter dem Namen Vallon reiste, war zu Fuß unterwegs, nachdem er sein Pferd und seine Rüstung in Lyon verkauft hatte. Bald nachdem er seinen Weg nach Italien hinunter angetreten hatte, war er an einer Gruppe Pilger und Wanderhändler vorbeigekommen, die sich angsterfüllt nach den Unwetterwolken umsahen, die sich am südlichen Himmel über ihnen zusammenballten. Durch eine Wolkenlücke fiel ein gebündelter Sonnenstrahl auf die Sommerweide eines Hirten weiter unten vor einer Talschlucht. Bis dorthin würde er an diesem Abend noch gehen, nahm er sich vor.
Er hatte weniger als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als sich die Wolken endgültig vor die Sonne schoben. Schlagartig wurde es kälter. Ein Wind, der als fernes Seufzen angehoben hatte, peitschte ihm nun Hagel ins Gesicht. Das Kinn auf die Brust gedrückt kämpfte er gegen den Sturm. Der Hagel wurde zu Schnee, der Tag wurde zur Nacht. Er kam vom Weg ab, stolperte über Felsgestein und quälte sich durch Schneeverwehungen.
Schließlich erreichte er flacheres Gelände, und ein Hauch Feuerrauch zog an ihm vorbei. Also musste er auf der windabwärts gelegenen Seite der Sommerweide sein und die Talschlucht zu seiner Linken haben. Er bewegte sich vorsichtig weiter, ertastete mit dem Schwert, was vor ihm lag, bis eine dunkle, massige Erhebung seinen Weg blockierte. Es war eine halb eingeschneite Hütte. Er schob sich an ihren Außenwänden entlang, bis er auf der windabgewandten Seite die Tür fand. Mit einem Fußtritt öffnete er sie und stolperte in einen vollkommen verräucherten Raum.
Auf der anderen Seite des Feuers sprang eine Gestalt auf. «Bitte, tut uns nichts!»
Vallon machte einen schlaksigen Jüngling mit wildem Blick aus. Im Feuerschein hinter ihm regte sich eine weitere Gestalt in unruhigem Schlaf. «Beruhige dich», knurrte Vallon und schob sein Schwert in die Scheide. Er drückte die Tür zu, klopfte sich den Schnee von den Gewändern und kauerte sich vor das Feuer.
«Ich bitte Euch inständig um Verzeihung», stammelte der Jüngling. «Meine Sorge lässt mich nicht klar denken. Dieses Unwetter …»
Die Gestalt in der Ecke murmelte etwas in einer Sprache, die Vallon nicht verstand. Der Jüngling hastete zu dem Lager.
Vallon legte Dungstücke aufs Feuer und massierte sich die vor Kälte starren Hände. Dann zog er sich an die Wand zurück und nagte an einem Brotkanten. Rauchfäden umrankten die Lampe drüben in der Nische. Der Mann auf dem Lager schlief nicht. Seine Brust pfiff wie ein undichter Blasebalg.
Vallon trank einen Schluck Wein, der Geschmack ließ ihn leicht zusammenzucken. «Dein Gefährte ist krank.»
In den Augen des jungen Mannes schimmerte es feucht. «Der Meister stirbt.»
Vallon hörte auf zu kauen. «Es ist doch nicht die Pest, oder?»
«Nein, Herr. Ich glaube, ein Geschwür sitzt in seiner Brust. Der Meister kränkelt schon, seit wir Rom verlassen haben. Heute Morgen war er zu schwach, um auf sein Maultier zu steigen. Unsere Reisegefährten mussten uns zurücklassen. Mein Meister beharrte trotzdem darauf, dass wir weiterziehen, aber dann hat uns der Sturm eingeholt, und unser Knecht ist uns davongelaufen.»
Vallon spie den sauren Wein aus und ging zu den beiden hinüber. Kein Zweifel, der alte Mann würde noch vor dem Morgengrauen von allen irdischen Sorgen befreit sein. Doch welches Leben war in seine Züge eingeschrieben – die Haut spannte sich straff über breite Wangenknochen, er hatte die Adlernase eines anspruchsvollen Edelmanns, ein dunkles Auge blickte verschleiert, das andere war nur noch eine Narbenhöhle. Seine Gewänder erzählten von Abenteuern in der Fremde – der seidene Mantel besaß Verschlüsse aus Elfenbeinknebeln, die Pluderhosen steckten in Stiefeln aus Ziegenleder, ein Zobelumhang lag um seine Schultern, der noch kostspieliger gewesen sein musste als der Ring, der an seiner knochigen Hand glitzerte.
Der Blick aus dem dunklen Auge wanderte zu ihm. Die schmalen Lippen öffneten sich. «Du bist gekommen.»
Vallons Nackenhaare stellten sich auf. Der Alte musste glauben, der Geist des Todes sei erschienen, um ihn durch die letzte Pforte zu geleiten. «Ihr täuscht Euch. Ich bin nur ein Reisender, der vor dem Sturm Schutz gesucht hat.»
Der sterbende Mann nahm es zur Kenntnis. «Ein Pilger auf dem Weg nach Jerusalem.»
«Ich reise nach Konstantinopel, um in die kaiserliche Leibwache einzutreten. Wenn ich durch Rom komme, zünde ich vielleicht in Sankt Peter eine Kerze an.»
«Ein Glücksritter», sagte der alte Mann. «Gut, gut.» Dann murmelte er etwas auf Griechisch, was den Jüngling veranlasste, Vallon scharf anzusehen. Um Atem ringend tastete der alte Mann unter seinem Mantel herum, zog eine Mappe aus weichem Leder hervor und drückte sie seinem Begleiter in die Hand. Der junge Mann schien die Mappe nicht nehmen zu wollen. Da packte ihn der Alte am Arm und richtete eindringliche Worte an ihn. Bevor er eine Antwort gab, sah der Jüngling Vallon erneut an. Welche Antwort er dann auch immer gegeben haben mochte – sie schien dem Sterbenden zu genügen. Er ließ seine Hand vom Arm des jungen Mannes gleiten. Sein Auge schloss sich.
«Er verlässt uns», murmelte der Jüngling.
Da öffnete der Alte unvermittelt noch einmal sein Auge und fixierte Vallon. Er flüsterte etwas – es klang wie das Rascheln, mit dem zerknittertes Pergament glattgezogen wird. Dann wanderte sein Blick in ein Gefilde jenseits des Wahrnehmbaren. Als Vallon sich hinunterbeugte, war das Auge schon getrübt.
Wie Nebel zog die Stille durch den Raum.
«Was hat er gesagt?»
«Ich weiß es nicht genau», sagte der junge Mann schluchzend. «Es war etwas über das Geheimnis der Flüsse.» Vallon bekreuzigte sich. «Wer war er?»
Der Jüngling schniefte. «Cosmas von Byzanz, auch Monophalmos genannt, der Einäugige.»
«Ein Priester?»
«Philosoph, Geograph und Diplomat. Der größte Entdecker unseres Zeitalters. Er ist den Nil hinauf zu den Pyramiden von Gizeh gesegelt, hat die Tempel von Petra erkundet und die Manuskripte aus Pergamon gelesen, die Marc Anton Kleopatra übergeben hat. Er hat die Lapislazuli-Minen in Persien gesehen, die Einhornjagd in Arabien und die Nelken- und Pfefferplantagen Indiens.»
«Du bist auch Grieche.»
«Ja, Herr. Aus Syrakus in Sizilien.»
Die Erschöpfung brachte Vallons Neugierde zum Erliegen. Das Feuer war beinahe ausgegangen. Er legte sich auf den schmutzigen Boden und deckte sich mit seinem Umhang zu. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Der Sizilianer intonierte einen Messgesang, die Totenklage vermischte sich mit dem dröhnenden Wind.
Vallon stemmte sich auf einen Ellenbogen. «Das genügt. Dein Meister hat seinen Frieden gefunden. Nun lass mir auch meinen.»
«Ich habe geschworen, ihn sicher zu beschützen. Und nun ist er vor Monatsfrist tot.»
Vallon zog sich den Umhang übers Gesicht. «Er ist nun in Sicherheit. Schlaf jetzt.»
Er hatte unruhige, wirre Träume. Als er aus diesem Dämmerschlaf voller Schreckbilder halb erwachte, sah er den Sizilianer bei dem Griechen kauern und ihm den Ring vom Finger ziehen. Den feinen Pelzumhang hatte er ihm schon weggenommen. Vallon setzte sich auf.
Ihre Blicke trafen sich. Der Sizilianer trug den Umhang herüber und hängte ihn dem Franken über die Schultern. Vallon schwieg. Dann kehrte der Sizilianer in seine Ecke zurück und streckte sich stöhnend aus. Vallon stellte sein Schwert aufrecht auf den Boden und stützte sein Kinn auf den Knauf. Er starrte vor sich hin, blinzelte wie eine Eule, jedes Blinzeln eine Erinnerung, jedes Blinzeln träger als das vorangegangene, bis seine Augen schließlich geschlossen blieben und er unter dem Wüten des Sturms einschlief.
Die Geräusche tropfenden Wassers und merkwürdiger, dumpfer Schläge weckten ihn wieder. Durch Spalten in den Wänden fiel Tageslicht herein. Eine Maus huschte von seiner Seite weg, wo der Sizilianer weißes Brot, Käse, ein paar Feigen und eine lederne Flasche hingelegt hatte. Vallon nahm das Mahl mit zur Tür und trat in den stechenden Sonnenschein hinaus. Schmelzwasserströme rauschten weiß schäumend die Felshänge herunter. Fußspuren führten als bläuliche Furchen durch den Schnee zu Tierpferchen hinüber. Ein Schneebrett stürzte von einem Überhang herab. Vallon spähte den Passweg hinauf und fragte sich, ob die anderen die sichere Zuflucht auf der Passhöhe erreicht hatten. Während seiner Rast dort oben hatte ihm ein Mönch eine Eiskammer gezeigt, in der über Winter die Leichen der Reisenden in der erfrorenen Körperhaltung abgelegt wurden, in der man sie aus dem Schnee gegraben hatte. Vallon setzte die Flasche an und schmeckte herben Rotwein. Wärme breitete sich in ihm aus. Als er gegessen hatte, reinigte er seine Zähne mit einem Zweig und spülte sich den Mund aus.
Nur einen Speerwurf von der Hütte entfernt gähnte schwarz die Schlucht. Er ging bis an den Rand, knüpfte sich die Hosen auf und pisste hinunter, wohl wissend, dass er, wenn er in der vorangegangenen Nacht nur ein paar Schritte weitergegangen wäre, nun als zerschmetterte Masse aus Blut und Knochen so tief in der Erdspalte liegen würde, dass ihn nicht einmal die Geier entdeckt hätten.
Zurück in der Hütte, entzündete er mit Flintstein und Stahl die Lampe und sammelte seine Besitztümer ein. Der Grieche lag da wie eine Grabplastik, die Hände auf der Brust gefaltet.
«Ich wünschte, wir hätten Gelegenheit gehabt, uns zu unterhalten», hörte sich Vallon sagen. «Es gibt Dinge, für die Ihr vielleicht eine Erklärung gehabt hättet.» Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, und im Innersten fühlte er sich wie erstorben.
Ein Rabe krächzte über der Hütte. Vallon verneigte sich vor dem Toten und blies die Lampe aus. «Möglicherweise begegnen wir uns ja wieder, wenn der Tod erst einmal seine tröstende Hand um mein Herz geschlossen hat.»
Er stapfte zur Tür, zog sie auf und hatte den Sizilianer vor sich, der mit einem schmucken rotbraunen Pony und einem schönen grauen Maultier auf ihn wartete. Vallon musste über den Gegensatz zwischen der trauernden Miene des Jünglings und seinem fröhlichen Aufzug beinahe lächeln. Er trug einen Wollumhang mit einem Randbesatz aus blauem Satin, spitze Schuhe von lachhafter Ungeeignetheit und einen weichen, runden Hut, der mit einer flotten Kokarde geschmückt war. Es war am Abend zuvor nicht die Angst gewesen, die ihm die Augen hatte aus dem Kopf treten lassen. Die Natur hatte ihm einen Ausdruck immerwährenden Staunens verliehen, dazu eine Nase wie ein Stachel und die Lippen eines Mädchens.
«Ich dachte, du wärst fort.»
«Was? Meinen Meister verlassen, wenn er noch nicht zur Ruhe gebettet ist?»
Eine Beerdigung war in diesem felsigen Grund unmöglich. Sie legten ihn in eine Steinfurche, die nach Süden ausgerichtet war, und häuften Steine auf ihn. Der Sizilianer pflanzte ein behelfsmäßiges Kreuz auf den Steinhaufen. Nach dem Gebet ließ er seinen Blick über die Gipfel und Gletscher schweifen.
«Er wollte dort beerdigt werden, wo er stirbt, aber es ist bitter, dass ein Mann, der die Pracht so vieler Kulturen bezeugt hat, in dieser Wildnis ruhen muss.»
Ein hungriger Geier schwebte über die Abhänge. Von fernen Weiden klangen Kuhglocken herauf.
Vallon erhob sich von den Knien. «Er hat sich sein Grab gut ausgesucht. Nun liegt ihm die ganze Welt zu Füßen.» Er stieg auf das Maultier und lenkte es Richtung Tal. «Meinen Dank für das Essen.»
«Wartet!»
Hohe Schneeverwehungen lagen auf Vallons Weg. Es war, als müsste er durch eisigen Haferschleim waten. Aber die Gebirgsausläufer vor ihm schimmerten unter Hitzeschlieren. Zur Mittagszeit würde er über weiche, grüne Hänge reiten. Und abends würde er dampfendes Fleisch essen und tiefroten Wein dazu trinken.
«Herr, ich bitte Euch.»
«Dein Weg führt bergauf. Du gehst besser los, wenn du vorm Dunkelwerden über den Pass sein willst.»
Keuchend lief ihm der Sizilianer nach. «Seid Ihr denn gar nicht neugierig, welches Abenteuer uns auf diesen Weg verschlagen hat?»
«Auf einsamen Pfaden ist es nicht klug, sich Fremden anzuvertrauen.»
«Ich war nur drei Wochen mit meinem Meister zusammen. Aber seine Reise hat schon zwei Monate zuvor begonnen, in Manzikert.»
Das brachte Vallon dazu anzuhalten. Zum ersten Mal hatte er in einem Gasthaus an der Rhone von Manzikert gehört. Seitdem war ihm die Geschichte bei jeder Rast wiederbegegnet, und jedes Mal waren die Erzählungen noch bunter geworden. Die meisten Berichte stimmten darin überein, dass der Kaiser von Byzanz im Spätsommer bei einem Ort namens Manzikert in Ostanatolien von einem muslimischen Heer besiegt worden war. Einige Reisende behaupteten, Kaiser Romanus sei gefangen genommen worden. Andere wiederum, er sei tot oder für abgesetzt erklärt, die Pilgerstraße nach Jerusalem sei geschlossen und die Muslime hätten ihr Heerlager vor den Toren Konstantinopels aufgeschlagen. Am beunruhigendsten war, dass diese Eindringlinge keine Araber waren, sondern ein turkmenisches Nomadenvolk, das von Osten herangeschwärmt war, wie vor einem Menschenalter die Heuschreckenplage. Seldschuken nannten sie sich – halb Mann, halb Pferd, und ihr Getränk war Blut.
«Ist dein Meister in der Armee des Kaisers mitgezogen?»
«Als Berater und Kenner der türkischen Lebensart. Er hat die Schlacht überlebt und bei den Lösegeldverhandlungen für die byzantinischen Adligen und ihre Verbündeten geholfen. Als darüber Einigung erreicht war, kehrte er nach Konstantinopel zurück, bestieg ein Schiff nach Italien und kreuzte zum Kloster Monte Cassino herüber. Einer seiner ältesten Freunde ist dort Mönch – Konstantin von Afrika.» Der Sizilianer starrte ihn mit seinen Glotzaugen erwartungsvoll an.
Vallon schüttelte den Kopf.
«Der brillanteste Medikus der Christenheit. Vor seinem Eintritt ins Kloster hat er in Salerno an der medizinischen Fakultät gelehrt. Wo», erklärte der Sizilianer mit einem stolzen Grinsen, «ich Student bin. Als Cosmas ihm den Grund seiner Reise erklärte, wählte Konstantin mich aus, um ihn als Sekretär und Reisegefährte zu begleiten.»
Vallon musste unbewusst die Augenbrauen hochgezogen haben.
«Herr, ich schwöre, ich bin Arzt. Außerdem beherrsche ich die alten Sprachen und kann Arabisch. Mein Französisch ist hinlänglich, da mögt Ihr mir zustimmen. Ich bin auch in Geometrie und Algebra bewandert und vermag die astronomischen Theorien von Ptolemäus, Hipparchos und Alhazen darzulegen. Kurz gesagt, Konstantin hielt mich für ausreichend befähigt, mich um die körperlichen Bedürfnisse meines Meisters zu kümmern und zugleich seinen scharfen Verstand nicht zu beleidigen.»
«Das muss», sagte Vallon, «ja eine außerordentlich wichtige Mission sein.»
Der Sizilianer beförderte ein in Leinen gewickeltes Päckchen ans Tageslicht.
Vallon löste das mit Perlen besetzte und mit einem Goldrand bestickte Seidenband. In dem Päckchen befanden sich zwei Manuskripte, eines davon in lateinischen Buchstaben, die Schrift des anderen erkannte Vallon nicht. Beide Manuskripte trugen ein Siegel, auf dem wohl ein Bogen und ein Pfeil zu sehen waren.
«Ich habe das Lesen und Schreiben lange vernachlässigt», gab er zu.
«Das persische Schriftstück ist ein Passierschein für eine sichere Reise durch das Land der Seldschuken. Der lateinische Text ist eine Lösegeldforderung an den normannischen Grafen Olbec. Dessen Sohn, Sir Walter, ist bei Manzikert in Gefangenschaft geraten. Wir sind – wir waren – auf dem Weg, die Forderung zu überbringen.»
«Das enttäuscht mich. Ich dachte, du wärst zumindest auf der Suche nach dem Heiligen Gral.»
«Was?»
«Warum sollte ein hochbetagter und kränkelnder Philosoph solche Mühen auf sich nehmen, um die Freilassung eines normannischen Söldners zu bewirken?»
«Oh, ich verstehe. Ja, Herr, Ihr habt recht.» Der Sizilianer schien sichtlich in Verlegenheit. «Cosmas war nie in den Ländern jenseits der Alpen. Er wollte Gelehrte in Paris und London aufsuchen. Sein ganzes Leben lang suchte er das Wissen an seiner Quelle zu finden, ganz gleich, wie weit sie entfernt sein mochte.»
Vallon rieb sich über die Stirn. Der Sizilianer bereitete ihm Kopfschmerzen. «Warum behelligst du mich mit all diesen Dingen, die ich nicht wissen will?»
Der Sizilianer senkte den Blick. «Ich habe über meine missliche Lage nachgedacht. Es liegt auf der Hand, dass ich nicht über die notwendige Kraft verfüge, um den Auftrag allein auszuführen.»
«Du hättest schon früher mit mir darüber sprechen sollen. Ich hätte dir eine schlaflose Nacht erspart.»
«Mir ist bewusst, dass es mir an Euren Fähigkeiten als Krieger und an Eurem Mut mangelt.»
Vallon runzelte die Stirn. «Du glaubst doch nicht etwa, dass ich diese Mission übernehme?»
«Oh, ich möchte keinesfalls umkehren. Ich diene Euch ebenso treu, wie ich Cosmas gedient hätte.»
Ärgerlich verzog Vallon das Gesicht. «Du bist ein dreister Wicht. Dein Meister ist noch nicht kalt, und schon willst du dich beim nächsten einschmeicheln.»
Die Wangen des Sizilianers brannten. «Ihr habt gesagt, Ihr wärt Söldner.» Er fummelte in der Tasche seiner Tunika. «Ich zahle für Eure Dienste. Hier.»
Vallon wog den Lederbeutel in der Hand, zog die Durchzugskordel auf und ließ Silbermünzen in seine Hand rieseln.
«Dirhams aus Afghanistan», sagte der Sizilianer. «Aber Silber ist Silber, ganz gleich, wessen Kopf es trägt. Genügt es?»
«Das Geld wird dir wie Sand durch die Finger rinnen. Du musst Bestechungsgelder zahlen, bewaffnete Eskorten anheuern.»
«Nicht, wenn ich unter Eurem Schutz reite.»
Vallon hielt dem Sizilianer seine Jugend zugute. «Nehmen wir an, ich erklärte mich einverstanden. Dann wäre ich in einem Monat oder zwei wieder an diesem Fleck, ohne dass sich für mich etwas zum Besseren verändert hätte.» Er warf dem Sizilianer den Lederbeutel zu und machte sich wieder auf den Weg.
Der Sizilianer holte ihn ein. «Ein so bedeutender Graf wie Olbec wird Euch reich belohnen, wenn Ihr ihm die Nachricht vom Überleben seines Erben bringt.»
Vallon kratzte sich an der Brust. Die Hütte hatte nur so von Geziefer gewimmelt. «Nie von ihm gehört.»
«Bei allem Respekt, das hat nicht viel zu sagen. Normannische Abenteurer steigen aus dem Nichts zu Ruhm auf. In meiner eigenen kurzen Lebenszeit haben sie schon England und halb Italien erobert. Das hier ist das Siegel des olbecschen Geschlechts.»
Vallon warf einen flüchtigen Blick auf den Siegelring, der das eingeprägte Bild eines Ritters zu Pferde zeigte. «Dein Meister hat einen anderen Ring getragen.»
Nach kurzer Überlegung zog der Sizilianer eine Schnur hervor, die er unter seiner Tunika um den Hals trug. «Ich weiß nicht, was für ein Edelstein es ist, nur, dass er so alt ist wie Babylon.»
Die Farben des Steins wechselten, je nachdem, in welchem Winkel Vallon ihn ins Licht hielt. Ohne darüber nachzudenken, streifte er den Ring über.
«Cosmas hat ihn benutzt, um das Wetter vorherzusagen», sagte der Sizilianer. «Jetzt erscheint der Edelstein blau, aber gestern, lange vor dem Sturm, wurde er so schwarz wie die Nacht.»
Vallon versuchte, den Ring wieder vom Finger zu ziehen.
«Behaltet ihn», sagte der Sizilianer. «Es wird ein Vorteil sein, im Voraus zu wissen, bei welchem Wetter Ihr den Feind angreift.»
«Ich brauche keine Zauberei, um einen Kampf zu planen.»
Doch sosehr er es auch versuchte, Vallon konnte den Ring nicht mehr vom Finger drehen. Vor ihm tauchte das Bild des Griechen mit seinem listigen Blick auf. «Bevor dein Meister starb, hat er dir etwas gegeben. Was war das?»
«Oh, das. Das war nur eine Abschrift von Konstantins Reiseführer, das Viaticum peregrinantis. Ich habe es hier», sagte der Sizilianer und klopfte auf seine Satteltasche. «In einem Kästchen zusammen mit Heilkräutern und Medizin.»
«Und was noch?»
Der Sizilianer zog eine filigrane Messingscheibe heraus, ähnlich der Scheibe, die Vallon einmal einem maurischen Hauptmann abgenommen hatte, der unter seinem Schwert in Kastilien gestorben war.
«Das ist ein Astrolabium», erklärte der Sizilianer. «Ein arabischer Sternenführer.»
Als Nächstes zeigte er Vallon eine Elfenbeintafel mit einer konischen Nadel in der Mitte und geometrischen Schnitzereien am Rand. Auf die Nadel legte er einen kleinen Eisenfisch.
«Meister Cosmas hat ihn von einem chinesischen Händler auf der Seidenstraße. Die Chinesen nennen den geheimnisvollen Fisch einen Südweiser. Seht her.»
Er hielt die Apparatur auf Armeslänge von sich und bewegte sich in einem Halbkreis, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Dann ließ er sein Pony im Kreis gehen und wiederholte die Vorführung.
«Ihr seht, ganz gleich, wohin ich mich wende, der Fisch ändert seine Position nicht, er zeigt immer nach Süden. Aber jede Richtung hat ihren Gegensatz. Und der Gegensatz von Süden ist Norden – die Richtung, in die mein Weg führt.»
«Und meiner geht nach Süden, also einigen wir uns darauf, dass der Doppelzeiger uns beide leitet.»
Der Sizilianer hängte sich wie eine Klette an ihn. «Ihr habt gesagt, Ihr würdet in den Krieg ziehen. Im Norden gibt es auch Kriege. Reitet mit mir, und Ihr reitet bequem.»
«Wenn ich auf Bequemlichkeit aus wäre, hätte ich dir schon lange die Kehle durchgeschnitten und mir dein Silber genommen.»
«Ich würde nicht so offen reden, wenn ich nicht sicher wäre, dass Ihr einen guten Charakter besitzt.»
«Ich habe das Maultier deines Meisters gestohlen.»
«Es war ein Geschenk. Ich kann nicht auf zwei Tieren gleichzeitig reiten. Davon abgesehen sollte ein Ritter nicht zu Fuß gehen.»
«Wer sagt denn, dass ich ein Ritter bin?»
«Eure Ausdrucksweise und Eure vornehme Haltung. Und das prächtige Schwert, das Ihr tragt.»
Es war, als hätte sich ein Mückenschwarm auf ihn gestürzt. Vallon zügelte das Maultier. «Ich erkläre dir jetzt den Unterschied zwischen Norden und Süden. Erstens ziehe ich es vor, unter der wärmenden Sonne zu kämpfen, statt mich auf einem Schlammfeld zu dreschen. Zweitens kann ich nicht nach Frankreich zurück. Ich bin geächtet. Der Mann, der mich gefangen nimmt, bekommt für mich dieselbe Belohnung wie für einen abgelieferten Wolfskopf. Es schreckt mich nicht, in der Schlacht zu sterben, aber ich ersehne mir kein Ende, bei dem ich auf einem Dorfplatz gehenkt werde und der Schweinemetzger mir die Därme aus dem Leib zieht, um sie mir zur Besichtigung entgegenzuhalten.»
Der Sizilianer biss sich auf die Unterlippe.
«In einem hast du allerdings recht», sagte Vallon. «Du bist zu empfindsam für diese Aufgabe. Ich erlaube dir, mich bis Aosta zu begleiten. Dort übergibst du die Auslöseforderung den Benediktinern. Für ein paar von deinen Münzen leiten sie das Schreiben von einer Abtei zur nächsten weiter. Es wird viel früher in der Normandie sein, als du es hinbringen könntest.»
Der Sizilianer sah zum Pass hinauf. «Mein Meister hat gesagt, eine unvollendete Reise ist wie eine nur halb erzählte Geschichte.»
«Mach dich nicht lächerlich. Eine Reise ist nichts weiter als ein anstrengender Weg zwischen einem Ort und einem anderen.»
Die Augen des Sizilianers schwammen in Tränen. «Nein. Ich muss weiterziehen.»
Vallon seufzte schwer. «Das Entgelt für meine Ratschläge», sagte er und hob den Finger mit dem Ring, den er nicht mehr abziehen konnte. «Verkauf dieses gute Pony und besorg dir stattdessen eine Schindmähre. Tausche dein buntes Gewand gegen eine Pilgerkutte. Rasier dir den Kopf, schaff dir einen Pilgerstab an und murmle Gebete vor dich hin. Schließe dich einer Gruppe Reisender mit einer bewaffneten Eskorte an und übernachte nur in Herbergen. Schwatz nicht über Lösegeldforderungen und wedele nicht mit Münzen und alchemistischen Apparaturen herum.» Er schnalzte mit den Zügeln des Maultiers. «Wir sind fertig miteinander.»
Als er gerade dachte, er wäre den Sizilianer endlich losgeworden, hörte er ihn hinter sich weiterbetteln.
«Die Ländereien des Grafen liegen nicht in der Normandie. Er hat mit Herzog William auf dem englischen Feldzug gekämpft. Sein Lehen ist in England. Weit im Norden.»
Vallon lachte nur.
«Ich weiß, dass ich es allein nicht bis dorthin schaffe.»
«Dann sind wir zumindest in diesem Punkt einer Meinung.»
«Deshalb hat es mich so ermutigt, als Meister Cosmas mir versprochen hat, dass Ihr mein Führer und Beschützer werden würdet.»
Vallon fuhr herum.
«Mit seinem letzten Atemzug hat er gesagt, das Schicksal hätte Euch dazu bestimmt, die Reise von nun an anzuführen.»
«Das Schicksal hätte mich dazu bestimmt? Er hatte seinen Verstand nicht mehr beisammen!» Vallon zerrte sich den Umhang von den Schultern. «Ich werde nicht den Mantel eines Toten tragen.» Erneut versuchte er ohne Erfolg, den Ring abzustreifen. «Sag kein Wort mehr. Folge mir keinen einzigen Schritt mehr. Wenn du es doch tust …» Er klopfte dem Maultier an den Hals und drückte ihm die Schenkel in die Flanken.
Das Tier rührte sich nicht. Es rollte nur mit den Augen und legte die Ohren flach.
Vallon bohrte ihm die Stiefel zwischen die Rippen.
Das Maultier stellte sich auf die Hinterbeine. In demselben Moment, in dem Vallon darum kämpfte, es wieder in seine Gewalt zu bekommen, hörte er ein dumpfes Knacken. Am nächstgelegenen Berghang im Westen brach ein überhängendes Felsgesims ab, stürzte wie ein abgeschlagener Flügel in die Tiefe und explodierte in unzählige Felsbrocken, die weiter Richtung Tal polterten. Darauf begann der Hang scheinbar zu beben, und das gesamte Schneefeld geriet in Bewegung. Die Schneemassen schossen über den Talboden hinweg und brandeten wie gefrorene Gischt an den gegenüberliegenden Hang.
Als das Dröhnen in Vallons Ohren nachließ, hörte sich das erste Geräusch, das er wieder wahrnahm, an wie klackernde Kieselsteine. Ein schwarzroter Vogel poussierte auf einem Felsen, richtete seinen Schwanz auf und flatterte mit den Flügeln. Vallon wurde bewusst, dass er, wenn ihn der Sizilianer nicht mit seinem Gebettel aufgehalten hätte, mitten in die Lawine geraten wäre.
Zweimal hatte ihn das Schicksal innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden vor dem bewahrt, was er eigentlich verdiente. Dafür musste es einen Grund geben. Er ließ die Schultern sinken.
«Zeig mir noch einmal diese heidnische Apparatur.»
Er spielte mit dem Kompass herum, konnte seinen Mechanismus jedoch nicht überlisten. Zauberei oder Schwindel, darauf kam es nicht an. Welche Richtung er auch immer einschlug, am Ende würde er finden, was er suchte, oder es würde ihn finden.
«Wenn du mein Diener bist, musst du lernen, deine Zunge im Zaum zu halten.»
Der Sizilianer warf Vallon den Umhang wieder über die Schultern. «Mit Freuden. Aber, mit Eurer Erlaubnis, wenn die Straße einsam und die Nacht lang ist, werde ich Euch mit Erzählungen aus dem Altertum unterhalten. Oder wir könnten, da Ihr ein Mann des Krieges seid, über Fragen der Strategie diskutieren. Vor kurzem habe ich Polybius’ Berichte über die Kriegszüge des Hannibal gelesen.»
Vallon warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
«Und wenn Ihr krank werdet, stelle ich mit Gottes Hilfe Eure Gesundheit wieder her. Offen gestanden habe ich Euren Zustand schon diagnostiziert.»
«Ach wirklich?»
«Der melancholische Gesichtsausdruck, der unruhige Schlaf – das sind die Symptome der Liebeskrankheit. Sagt mir, dass ich recht habe. Sagt mir, dass Ihr Eure Dame an einen anderen verloren habt und sie nun durch Heldentaten im Kampf wieder zurückgewinnen wollt.»
Vallon verzog das Gesicht. «Kannst du auch einen gehenkten und gevierteilten Mann wiederauferstehen lassen?»
Die Miene des Sizilianers wurde sehr ernst. «Nur Gott kann Wunder bewirken.»
«Dann fange am besten schon jetzt an, darum zu beten, dass wir in Frankreich nicht gefangen genommen werden.»
Vallon ließ das Maultier wenden, ohne genau zu wissen, wer von ihnen beiden der dümmere Wetterhahn war. Der Stein an Vallons Finger spiegelte den makellosen Himmel wider. Die Aussicht, nun wieder umzukehren, legte sich schwer wie Blei auf sein Gemüt.
«Du sagst mir jetzt besser deinen Namen.»
Wenn der Sizilianer ein Hund gewesen wäre, hätte er angefangen, mit dem Schwanz zu wedeln. «Herr, ich heiße Hero.»