158078.fb2 Die Entscheidung: Kapit?n Bolitho in der Falle - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Die Entscheidung: Kapit?n Bolitho in der Falle - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Herzdame

Drei Tage nach dem Empfang beim Gouverneur war die Sparrow wieder seeklar. Bolitho hatte sie genau inspiziert und unter Locks argwöhnischen Blicken eine endgültige Liste der Vorräte und Lagerbestände unterzeichnet. Die letzten drei Tage waren ohne besondere Ereignisse vorübergegangen, und Bolitho fand es leichter, die offensichtliche Lethargie New Yorks zu verstehen, wenn nicht sogar zu teilen. Es war eine unwirkliche Existenz, den Krieg nur am Ende einer Marschkolonne von Soldaten zu sehen oder in einer Verlustenliste in der Zeitung.

Die andere übriggebliebene Korvette der Flotte, Heran, hatte kürzlich auch in Sandy Hook Anker geworfen und erwartete nun eine ähnliche Überholung.

An diesem Vormittag saß Bolitho in seiner Kajüte und genoß ein Glas guten Bordeaux mit dem Kommandanten der Heran, Thomas Farr. Bei ihrem letzten Zusammentreffen war er noch Leutnant gewesen, aber Maulbys Tod hatte ihm die wohlverdiente Beförderung gebracht. Er war für seinen Rang recht alt, ungefähr zehn Jahre älter als Bolitho. Ein großer, breitschultriger Mann, ungeschlacht und mit einer etwas drastischen Ausdrucksweise, die an Tilby erinnerte. Er war zu seiner jetzigen Ernennung auf vielen Umwegen gekommen. Als achtjähriger Junge zur See geschickt, war er die meiste Zeit seines Lebens auf Handelsschiffen gefahren — Küstensegler und Postschiffe, Indienfahrer und kleinere Schiffe —, schließlich hatte er das Kommando über eine Kohlenbrigg aus Cardiff bekommen. Da England in den Krieg verwickelt war, hatte er seine Dienste der Marine angeboten und war gerne angenommen worden. Wenn ihn auch seine Manieren und seine Bildung von den anderen Offizieren unterschieden, so waren seine Erfahrung und seine Geschicklichkeit beim Segeln ihnen weit überlegen. Eigenartigerweise war die Heran kleiner als die Sparrow und hatte wie ihr Kommandant in der Handelsschiffahrt begonnen. Daher war auch ihre Bewaffnung von vierzehn Geschützen schwächer. Sie hatte aber trotzdem schon einige gute Prisen genommen.

Farr räkelte sich auf der Heckbank und hob sein Glas zum Sonnenlicht.

«Verdammt guter Tropfen! Wenn ich aber einen Krug voll englischem Bier hätte, könnten Sie das gegen die Wand spucken!«Er lachte und gestattete Bolitho, ihm noch ein Glas einzuschenken.

Bolitho lächelte. Wie sich die Dinge für sie alle geändert hatten!

Wenn er sich zurückerinnerte an den Augenblick in Antiguo, als er zum Treffen mit Colquhoun ging, war es schwierig, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie die Jahre und Wochen sie alle beeinflußt hatten. Damals, als er aus Colquhouns Fenster gesehen hatte, lag vor ihm die ganze Flotte, und er hatte sich gefragt, wie wohl sein neues Kommando sein würde. Viele andere Zweifel und Befürchtungen hatten ihn an diesem Morgen geplagt.

Jetzt gab es die Fawn nicht mehr, und die Bacchante war erst gestern ausgelaufen, um zu der Flotte unter Rodney zu stoßen. Ihr neuer Kapitän stammte vom Flaggschiff, und Bolitho fragte sich, ob Colquhoun wohl die Möglichkeit gehabt hatte, von seiner Arrestzelle aus zu sehen, wie sie die Anker lichtete.

Jetzt waren nur noch Sparrow und Heran übrig. Natürlich abgesehen von dem kleinen Schoner Lucifer, der eine Klasse für sich war. Er würde weiterhin kleine Küstenpatrouillen machen oder auch in Buchten und Flußläufe vorstoßen, um Blockadebrecher aufzustöbern.

Farr betrachtete ihn behaglich und bemerkte:»Nun, Sie kommen mächtig voran, wie ich höre. Empfang beim Gouverneur, Wein mit dem Admiral! Lieber Himmel, kein Mensch kann sagen, wo Sie einmal enden. Wahrscheinlich beim diplomatischen Corps, mit einem Dutzend kleiner Mädchen, die nach Ihrer Pfeife tanzen. «Er lachte laut.

Bolitho zuckte die Schultern.»Nichts für mich. Ich habe genug gesehen.»

Er dachte schnell an Susannah. Sie hatte ihm nicht geschrieben. Auch hatte er sie nicht gesehen, obwohl er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, an ihrem Haus vorbeizugehen, wenn er an Land war.

Es war ein schönes Haus, nicht viel kleiner als das, in dem der Empfang stattgefunden hatte. Soldaten hielten an den Toren Wache, und er vermutete, daß der Besitzer ein Regierungsamt innehatte. Er hatte versucht, kein solcher Narr zu sein, so naiv, daß er erwartete, jemand von Susannahs Herkunft könnte sich seiner mehr als flüchtig erinnern. In Falmouth war die Familie Bolitho sehr angesehen, ihr Land und Besitz gaben vielen Brot und Existenz. Die kürzlich erzielten Prisengelder hatten Bolitho zum erstenmal in seinem Leben ein Gefühl der Unabhängigkeit gegeben, so daß er den Sinn für Realität verloren hatte, wenn es um Leute wie Susannah Hardwicke ging. Ihre Familie gab wahrscheinlich in einer Woche mehr aus, als er verdient hatte, seit er Kommandant der Sparrow war. Sie war es gewöhnt zu reisen, auch wenn die anderen durch den Krieg oder fehlende Mittel daran gehindert wurden. Sicherlich kannte sie die wichtigsten Leute, und ihr Name wurde in den großen Häusern von London bis Schottland akzeptiert. Er seufzte. Er konnte sie sich nicht als Hausherrin von Falmouth vorstellen, beim Empfang von rotgesichtigen Farmern und ihren Frauen, bei der Teilnahme an den örtlichen Festen und dem rauhen Leben einer Gemeinschaft, die so naturverbunden lebte.

Farr schien seine Stimmung zu erraten und fragte:»Wie steht es mit dem Krieg, Bolitho? Wohin führt er uns?«Er schwenkte sein Glas.»Manchmal denke ich, wir werden immer weiter Patrouille fahren und hinter diesen verfluchten Schmugglern herjagen, bis wir vor Altersschwäche sterben.»

Bolitho stand auf und ging ruhelos zu den Fenstern. Es gab viele Beweise der Macht in der Nähe: Linienschiffe, Fregatten und alle anderen. Und doch schienen sie nur zu warten. Aber worauf?

Er sagte:»Cornwallis scheint entschlossen, Virginia wieder zurückzuerobern. Seine Soldaten machen ihre Sache gut, wie ich höre.»

«Das klingt nicht allzu zuversichtlich.»

Bolitho sah ihn an.»Die Armee ist auf Versorgung angewiesen. Sie kann sich nicht länger auf Unterstützung oder Verpflegung auf dem Landweg verlassen. Alles muß über das Wasser kommen. Das ist für eine Armee keine Basis zum Kampf.»

Farr grunzte.»Das geht uns nichts an. Sie machen sich zu viele Sorgen. Wir sollten nach Hause fahren und den Froschfressern tüchtig das Fell versohlen. Die verdammten Spanier würden bald nach Frieden schreien, und die Holländer mögen ihre sogenannten Verbündeten sowieso nicht. Dann könnten wir nach Amerika zurückkommen und es noch einmal versuchen.»

Bolitho lächelte:»Ich fürchte, wir würden an Altersschwäche sterben, wenn wir diesem Kurs folgten.»

Er hörte einen Anruf, das Kratzen eines Bootes längsseits. Er stellte fest, daß sein Verstand es registriert hatte, er aber entspannt, sogar gleichgültig geblieben war. Als er zuerst an Bord gekommen war, gab es keinen Laut und kein Vorkommnis, das nicht seine sofortige Aufmerksamkeit gefunden hätte. Vielleicht gelang es ihm endlich, seine Rolle als Kapitän zu akzeptieren?

Graves erschien mit einem vertrauten, versiegelten Umschlag in der Kajütentür.

«Wachboot, Sir. «Er warf einen Blick auf den Kommandanten der Heran. »Ich nehme an, die Befehle zum Auslaufen.»

Bolitho nickte.»Machen Sie weiter, Mr. Graves. Ich werde Sie sofort informieren.»

Der Leutnant zögerte.»Auch dieser Brief wurde abgegeben, Sir. «Er war klein, und die Handschrift wurde fast von einem Siegel verborgen: Büro der Militärregierung.

Als die Tür sich geschlossen hatte, fragte Farr heiser:»Graves! Ich hoffe, er ist kein verfluchter Verwandter unseres Admirals!»

Bolitho grinste. Da Rodney in den West Indies und noch immer durch Krankheit behindert war, hatte Konteradmiral Thomas Graves das Kommando in den amerikanischen Gewässern erhalten. Da ihm die Weisheit Rodneys fehlte, auch der harterkämpfte Respekt Hoods, wurde er von den meisten Offizieren der Flotte als ein fairer, aber vorsichtiger Kommandeur eingeschätzt. Er glaubte hundertprozentig ans strenge Reglement und es war nicht bekannt, daß er jemals auch nur ein Jota davon abgewichen wäre. Verschiedene ältere Kapitäne hatten Vorschläge zur Verbesserung des Signalsystems im Gefecht eingereicht. Graves hatte laut vieler Geschichten, die in der Flotte die Runde machten, dazu nur kalt gesagt:»Meine Kapitäne kennen ihre Aufgabe. Das sollte genügen.»

Bolitho erwiderte:»Nein. Aber wenn es so wäre, wüßten wir vielleicht mehr vom Geschehen.»

Farr stand auf und rülpste.»Guter Wein. Noch bessere Gesellschaft. Ich werde Sie jetzt Ihrer versiegelten Order überlassen. Wenn die Depeschen von allen Admiralen der Welt zusammengebunden würden, hätten wir genug, um den Äquator damit zu bedecken, das ist eine Tatsache! Zum Donnerwetter, manchmal meine ich, wir ersticken an Papier!»

Er stolperte aus der Kajüte und lehnte Bolithos Angebot ab, ihn nach oben zu begleiten.»Wenn ich nicht allein fertig werde, ist es Zeit, daß man mir eine Ladung Blei verpaßt und mich über Bord wirft!»

Bolitho setzte sich an den Tisch und öffnete den Leinenumschlag, obwohl seine Augen hauptsächlich auf dem kleineren ruhten.

Die Befehle waren kürzer als gewöhnlich. Da sie seeklar war, sollte die Korvette seiner Majestät, Sparrow, Anker lichten und am nächsten Tag in aller Frühe auslaufen. Sie würde eine unabhängige Patrouille ausführen, östlich zum Montauk Point an der Spitze von Long Island, und dann in Richtung Block Island bis zu den Ausläufern von Newport.

Er unterdrückte die aufsteigende Erregung und zwang sich, sich auf die spärlichen Erfordernisse der Patrouillenfahrt zu konzentrieren. Er sollte sich nicht mit feindlichen Kräften einlassen, außer auf eigene Verantwortung. Seine Augen ruhten auf den letzten Worten. Wie ihn dies an Colquhoun erinnerte! So kurz, und doch beinhaltete es die ganze Problematik seiner Position, falls er falsch handelte.

Aber endlich konnte man etwas Direktes tun, nicht nur Blockadebrecher aufspüren oder einen schlauen Freibeuter suchen. Dies war französisches Gebiet, der Zipfel der zweitgrößten Seemacht der Welt. Er sah, daß Konteradmiral Christie seine Unterschrift unter die krakelige des Flaggkapitäns gesetzt hatte. Wie typisch für diesen Mann. Ein Zeichen seines Vertrauens und der Reichweite seines Armes.

Er stand auf und klopfte an das Skylight.»Fähnrich der Wache!»

Er sah Bethunes Gesicht über sich und rief:»Empfehlung an den Ersten Leutnant, ich möchte ihn sofort sehen. «Er machte eine Pause.»Ich dachte, Sie hätten eine frühere Wache?»

Bethune schlug die Augen nieder.»Aye, Sir. Das stimmt, aber…»

Bolitho sagte ruhig:»In Zukunft gehen Sie Ihre Wachen wie festgelegt. Ich nehme an, Mr. Fowler hätte jetzt Wache gehabt?»

«Ich habe es mit ihm abgesprochen, Sir. «Bethune sah unsicher aus.»Ich schuldete ihm einen Gefallen.»

«Nun gut. Aber erinnern Sie sich an meine Befehle. Ich dulde keine pensionierten Offiziere auf diesem Schiff!»

Er setzte sich wieder. Es hätte ihm auffallen müssen, was vorging. Der arme Bethune war den Fowlers dieser Welt nicht gewachsen. Dann lächelte er trotz seiner Besorgnis. Er hatte gut reden.

Er schlitzte den zweiten Umschlag auf und stieß sich dabei am Tisch. Er las:

Mein lieber Kapitän, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie heute abend mit uns speisen könnten. Ich bin unglücklich über diese nicht entschuldbare Verspätung und hoffe, daß Sie mir sofort vergeben werden. Während Sie diesen Brief lesen, beobachte ich Ihr Schiff durch das Fernglas meines Onkels. Damit ich nicht im Ungewissen bin, zeigen Sie sich bitte.

Der Brief war unterschrieben mit >Susannah Hardwicke<.

Bolitho erhob sich, schloß rasch seine Befehle in die Kajütenkassette ein und eilte die Niedergangsleiter hinauf.

Das Fernglas ihres Onkels? General Blundell war also auch da. Das mochte die Wachen an den Toren erklären.

Aber sogar diese Tatsache deprimierte ihn nicht. Er stieß fast mit Tyrell zusammen, als dieser nach vorn gehinkt kam, die Arme mit Schmierfett besudelt.

«Bitte entschuldigen Sie, daß ich nicht hier war, als Sie mich rufen ließen, Sir. Ich war im Kabelgatt.»

Bolitho lächelte:»Sie haben wohl die Gelegenheit benützt, um nach Faulholz zu suchen?»

Tyrell rieb sich das Bein.»Aye. Aber es ist alles in Ordnung. Das Schiff ist so gesund wie ein Fisch im Wasser.»

Bolitho ging zu den Wanten und beschattete seine Augen vor dem starken Licht. Die fernen Häuser verloren sich fast im Dunst, ihre Umrisse zitterten und verschwammen ineinander, als ob sie in der Hitze schmolzen.

Tyrell sah ihn fragend an.»Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?»

Bolitho beugte sich zu Bethune hinunter und nahm sein Fernrohr. Damit sah man auch nicht besser. Das Glas, das auf die Sparrow gerichtet wurde, war wahrscheinlich sehr stark. Langsam hob er den Arm und winkte.

Hinter ihm standen Tyrell und Bethune stocksteif, einer genauso bestürzt über das befremdliche Benehmen des Kapitäns wie der andere.

Bolitho drehte sich um und bemerkte Tyrells Gesicht.»Hm. Ich habe gerade jemandem gewunken.»

Tyrell sah an ihm vorbei auf die vor Anker liegenden Schiffe und geschäftigen Hafenarbeiter.»Verstehe, Sir.»

«Nein, Jethro, das tun Sie nicht, aber macht nichts. «Er schlug ihm auf die Schulter.»Kommen Sie mit hinunter, dann werde ich Ihnen sagen, was wir zu tun haben. Ich vertraue Ihnen heute abend das Schiff an, da ich an Land essen werde. «Ein breites Grinsen ging über das Gesicht des Leutnants.»Oh, ich verstehe, Sir!»

Sie studierten soeben die Karte und diskutierten die Segelbefehle, als sie Bethune schreien hörten:»Halt! Stillgestanden, der Mann!«Dann hörte man ein Aufklatschen und noch mehr Schreie auf dem Geschützdeck.

Bolitho und Tyrell eilten wieder auf Deck und fanden Bethune und die meisten wachfreien Leute an der Backbordreling oder in die Wanten geklammert.

Ein Mann schwamm im Wasser, seine Arme holten kräftig aus, und sein dunkles Haar glänzte in der Gischt und im Sonnenlicht. Bethune keuchte:»Es ist Lockhart, Sir! Er sprang über Bord, ehe ich ihn aufhalten konnte.»

Tyrell murmelte:»Ein guter Seemann. Machte niemals Schwierigkeiten. Ich kenne ihn gut.»

Bolitho betrachtete den Schwimmer.»Ein Einheimischer?»

«Aye. Er kam vor einigen Jahren aus Newhaven. Jetzt hat er es getan, der arme Teufel. «Es lag kein Ärger in Tyrells Stimme, höchstens Mitleid.

Bolitho hörte, wie die Männer in seiner Nähe ihre Vermutungen über die Chancen des Schwimmers äußerten. Es war weit zum Land.

Während seiner Zeit auf See hatte Bolitho viele Deserteure gekannt. Oft hatte er Sympathie für sie empfunden, auch wenn er ihre Taten für falsch hielt. Nur wenige meldeten sich freiwillig zum harten Dienst auf einem Schiff des Königs, vor allem da niemand mit Sicherheit wußte, ob er seine Heimat wiedersehen würde. Die Seehäfen waren voll von den Zurückgekehrten: Krüppel und Männer vor der Zeit gealtert. Aber bis jetzt hatte noch niemand einen besseren Weg gefunden, die Flotte zu bemannen. Sobald sie einmal gepreßt waren, akzeptierten die meisten Männer ihr Schicksal, man konnte sich sogar darauf verlassen, daß sie andere mit ähnlichen Methoden dazu bringen würden. Die alte Seemannsregel:»Wenn ich hier bin, warum nicht auch er?«hatte auf Kriegsschiffen große Bedeutung.

Dies war aber ein anderer Fall. Der Seemann Lockhart schien nichts Außergewöhnliches zu sein, ein guter Arbeiter und selten verspätet auf Wache oder Station. Aber die ganze Zeit mußte er an sein Heimatland gedacht haben, und der Aufenthalt in New York gab ihm den Rest. Auch jetzt, als er sich stetig an einem vor Anker liegenden Zweidecker vorbeiarbeitete, dachte er ohne Zweifel nur an sein Ziel: ein vages Bild von Haus und Familie, oder von Eltern, die fast vergessen hatten, wie er aussah.

Ein schwacher Knall wehte vom Bug des Zweideckers herüber, und Bolitho sah, wie ein rotberockter Seesoldat schon die zweite Kugel in seine Muskete rammte, für einen weiteren Schuß auf den einsamen Schwimmer.

Ein ärgerliches Gemurmel kam von den Seeleuten der Sparrow.

Was sie auch von der Desertation des Mannes dachten oder über den Mann selbst, es hatte nichts mit ihrer Reaktion zu tun. Er war einer der Crew und der Rotrock momentan ein Feind.

Yule, der Feuerwerker, brummte:»Dieser verdammte Ochse sollte selbst niedergeschossen werden, verfluchter Bastard!«Der Seesoldat schoß nicht mehr, sondern rannte zum Ende seiner kleinen Plattform, um den Schwimmer zu beobachten wie ein Raubvogel, der seiner Beute fürs erste genug gegeben hat. Oder so sah es wenigstens aus. Als dann ein Wachboot um das Heck eines anderen Zweideckers herumkam, wußte Bolitho, warum er sich nicht die Mühe gemacht hatte zu schießen.

Das Langboot bewegte sich vorsichtig, die Riemen trieben es durch das glitzernde Wasser wie einen blauen Fisch. Im Heck sah er verschiedene Seesoldaten, auch einen Fähnrich mit Fernglas.

Yule bemerkte ernst:»Jetzt kann er nicht mehr entkommen. «Tyrell sagte:»Wir haben es nicht mehr in der Hand.»

«Aye.»

Bolitho fühlte sich plötzlich elend, die Freude des Briefes war durch die Verzweiflung des Mannes verdorben worden. Niemand, der von einem Schiff des Königs desertierte, konnte auf Gnade hoffen. Es war zu hoffen, daß er gehängt würde, besser als durch die ganze Flotte ausgepeitscht zu werden. Es überlief ihn kalt.

Wenn er gehängt wurde… Er starrte verzweifelt zum Großmast der Sparrow hinauf. Es gab keinen Zweifel darüber, wo die Hinrichtung stattfinden würde. Sogar Christie mußte darauf bestehen. Eine Warnung, die alle an Bord und auf den nächstliegenden Schiffen verstehen würden. Bolitho versuchte, nicht auf das Wachboot zu blicken, wie es auf den kleinen, vorwärtsstrebenden Kopf zufuhr.

Lockharts eigene Freunde, die treuen Seeleute der Sparrow, würden gezwungen werden, dabei zu sein, wenn ihm die Schlinge um den Hals gelegt wurde, ehe sie, und sie allein, den Befehl erhielten, ihn zur Rah hinaufzuziehen. Nach allem, was sie zusammen ausgehalten hatten, konnte diese übelkeiterregende Handlung einen Keil zwischen Offiziere und Mannschaft treiben und zerstören, was sie erreicht hatten.

Tyrell sagte atemlos:»Sehen Sie, Sir!»

Bolitho ergriff ein Fernglas und richtete es auf das Wachboot.

Er konnte gerade noch sehen, wie Lockhart Wasser trat und sich umdrehte, entweder um das Boot oder vielleicht die Sparrow anzusehen. Dann, als die Riemen das Boot zum Stillstand brachten und ein Soldat über den Vordersteven schon nach dem Haar des Mannes griff, stieß er seine Hände weg und verschwand unter der Oberfläche.

Niemand sprach, und Bolitho bemerkte, daß er den Atem anhielt, vielleicht genauso wie der Mann, der plötzlich verschwunden war.

Im allgemeinen waren Seeleute schlechte Schwimmer. Vielleicht hatte Lockhart einen Krampf bekommen. Jeden Augenblick würde er in der Nähe auftauchen, und die Mannschaft des Wachboots würde ihn an Bord hieven.

Sekunden, Minuten verstrichen, und dann nahm das Wachboot auf ein Kommando hin wieder seine langsame Patrouille zwischen den verankerten Schiffen auf.

Bolitho sagte ruhig:»Dafür danke ich Gott. Wenn er schon sterben mußte, bin ich froh, daß es ohne Gewalt abging.»

Tyrell sah ihn trübe an.»Das stimmt. «Er drehte sich mit plötzlichem Ärger zu dem Feuerwerker um.»Mr. Yule! Schaffen Sie diese Gaffer von der Reling weg, oder ich finde eine harte Arbeit für sie!»

Er war ungewöhnlich verstört, und Bolitho fragte sich, ob er sein eigenes Schicksal mit dem des ertrunkenen Seemannes verglich. Er sagte:»Machen Sie einen Eintrag ins Logbuch, Mr. Tyrell.»

«Sir?«Tyrell sah ihn grimmig an.»Als Deserteur?»

Bolitho sah an ihm vorbei auf die Seeleute, die wieder zum Geschützdeck gingen.

«Wir wissen nicht sicher, daß er desertieren wollte. Tragen Sie ihn als tot ein. «Er ging zum Niedergang.»Seine Verwandten müssen schon genug ertragen ohne die zusätzliche Schande.»

Tyrell sah ihn weggehen, sein Atem wurde langsam wieder normal. Es würde Lockhart nichts nützen. Er war außerhalb jeder Reichweite. Aber Bolithos Befehl würde gewährleisten, daß sein Name nicht befleckt war, sein Verlust würde eingetragen werden bei denen, die in der Schlacht gefallen waren, in Kämpfen, an denen er selbst auch ohne Klage teilgenommen hatte. Es war nur ein kleiner Unterschied. Aber trotzdem wußte er, daß nur Bolitho daran gedacht hätte.

Als Bolitho aus seiner Gig kletterte, war er erstaunt, eine hübsch bemalte Kutsche vorzufinden, die an der Pier auf ihn wartete. Ein livrierter Neger nahm seinen Dreispitz ab und verbeugte sich tief.

«Guten Abend, Sir. «Er öffnete die Kutschentüre mit einer einladenden Bewegung, während Stockdale und die Mannschaft der Gig in schweigender Bewunderung zusahen.

Bolitho hielt inne.»Warte nicht, Stockdale. Ich werde mit einem Mietboot zum Schiff zurückkommen.»

Er war in gehobener Stimmung und sich sehr wohl der beobachtenden Leute auf der Straße oberhalb der Pier bewußt, eines neidischen Blickes von einem vorübergehenden Major der Seesoldaten. Stockdale faßte an seinen Hut.»Wenn Sie es sagen, Sir. Ich könnte mit Ihnen kommen…»

«Nein. Ich werde euch morgen voll brauchen. «Er kam sich plötzlich rücksichtslos vor und zog eine Münze aus der Tasche.»Hier, kauf etwas Grog für die Mannschaft der Gig. Aber nicht zuviel — aus Gründen der Sicherheit!»

Er kletterte in die Kutsche und sank in die blauen Kissen zurück, als die Pferde mit einem Ruck zu ziehen begannen.

Mit dem Hut auf den Knien sah er die vorüberhuschenden Häuser und Menschen an, Stockdale und das Schiff waren für den Augenblick vergessen. Einmal, als der Kutscher in die Zügel griff, um einen schweren Wagen vorbeizulassen, hörte er das weit entfernte Geräusch von Kanonendonner. Trotzdem war es schwierig, das ferne Geschützfeuer mit den hellerleuchteten Häusern, den Liedfetzen aus den Tavernen in Verbindung zu bringen. Vielleicht probierte eine Abteilung der Armee ihre Geschütze aus. Aber viel wahrscheinlicher war ein nervöses Duell zwischen zwei Vorposten.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Haus erreichten, und als Bolitho aus der Kutsche stieg, bemerkte er, daß auch andere Gäste ankamen. Er schalt sich wieder einen Narren, weil er sich vorgestellt hatte, daß er heute abend allein empfangen würde.

Diener glitten aus dem Schatten, und wie durch Zauberei waren sein Hut und sein Bootsmantel verschwunden.

Ein Dienstmann öffnete einige Türen und kündigte an:»Kapitän Richard Bolitho vom Schiff Seiner Majestät Sparrow.»

Was für ein Unterschied zum Empfang, dachte er. Als er in den schönen hohen Raum eintrat, war er sich des mit einem Hauch von Luxus und Intimität gemischten Komforts bewußt, der vorher gefehlt hatte.

Am Ende des Raumes ließ General Sir James Blundell ihn schweigend herankommen und sagte dann rauh:»Ein unerwarteter Gast, Bolitho. «Seine schweren Züge entspannten sich etwas.»Meine Nichte sagte mir, daß Sie kommen würden. «Er streckte die Hand aus.»Sie sind hier willkommen.»

Der General hatte sich sehr wenig verändert. Vielleicht war er etwas schwerer geworden, aber sonst der Alte. In einer Hand hielt er ein Brandyglas, und Bolitho erinnerte sich an seinen Aufenthalt an Bord der Sparrow, an seine offensichtliche Verachtung für die Männer, die ihn in Sicherheit gebracht hatten.

Etwas von ihrem ersten Zusammentreffen mußte unter seinen Freunden bekannt geworden sein, denn erst nach Blundells Begrüßung wurde der Raum wieder lebendig, füllte sich mit Gelächter und Unterhaltung. Es schien, als ob sie alle abgewartet hätten, wie Blundell reagieren würde. Bolithos eigene Gefühle waren natürlich unwichtig. Man konnte ihm jederzeit bedeuten, wieder zu gehen.

Bolitho fühlte Susannahs Hand auf seinem Arm, und als er sich umdrehte, sah er sie zu sich aufblicken und lächeln. Mit einem Nicken zu ihrem Onkel führte sie ihn auf die andere Seite des Raumes, die Gäste wichen vor ihr zurück wie vor einer königlichen Hoheit.

Sie sagte:»Ich habe Sie heute an Bord gesehen. Danke, daß Sie gekommen sind. «Sie klopfte ihm auf die Ärmelaufschläge.»Ich finde, Sie waren eben wunderbar. Mein Onkel kann sehr schwierig sein.»

Er erwiderte ihr Lächeln.»Ich kann das verstehen. Er hat schließlich meinetwegen viel Beute verloren.»

Sie runzelte die Nase.»Ich bin sicher, daß er sich durch eine Rückversicherung wieder gesundgestoßen hat. «Sie winkte einem Diener.»Etwas Wein vor dem Essen?»

«Danke. «Er sah einige Offiziere, meist von der Armee, ihn angestrengt beobachten. Neid, Ärger, Neugier, alles lag in ihren Blicken.

Sie sagte:»Sir James ist jetzt Generaladjutant. Ich kam mit ihm hierher. «Sie blickte in sein Gesicht, als er an dem Wein nippte.»Ich bin froh, daß ich gekommen bin. Ganz England trauert wegen des Krieges.»

Bolitho riß seine Gedanken von dem los, was sie über ihren Onkel gesagt hatte. Schon Christie hatte verletzend über den Gouverneur und seinen Assistenten gesprochen. Wenn Blundell in die Stadtverwaltung eingriff, dann gab es wenig Hoffnung auf Besserung.

Als das Mädchen sich umdrehte, um einen weißhaarigen Herrn und seine Dame zu begrüßen, verschlang er es mit den Augen, als ob er es zum letztenmal sähe: Die gekrümmte Linie ihres Nackens, als sie sich vor den Gästen verbeugte, die Art, wie ihr Haar über die entblößten Schultern zu fließen schien. Es war sehr schönes Haar, goldbraun wie der Flügel einer jungen Drossel.

Er lächelte unsicher, als sie zu ihm aufblickte.

«Wirklich, Kapitän! Sie bringen ein Mädchen in Verlegenheit, so wie sie schauen!«Sie lachte.»Ich nehme an, ihr Seeleute seid so lange von der Zivilisation weg, daß ihr euch nicht beherrschen könnt. «Sie nahm seinen Arm.»Quälen Sie sich nicht. Man muß das nicht so ernst nehmen. Ich muß Sie wirklich lehren zu akzeptieren, was vorhanden ist, und sich an dem zu freuen, was Ihnen zusteht.»

«Verzeihung. Sie haben wahrscheinlich recht, was mich betrifft. «Er blickte auf den Marmorfußboden und grinste.»Auf See stehe ich sicher. Hier habe ich das Gefühl, als ob das Deck sich bewegt.»

Sie trat zurück und sah ihn forschend an.»Nun, ich werde sehen, was sich da tun läßt. «Sie fächelte ihr Gesicht mit einem schmalen Fächer.»Jedermann spricht über Sie, wie Sie diesem schrecklichen Kriegsgericht in die Augen sahen und Narren aus ihnen gemacht haben.»

«Ganz so war es nicht.»

Sie ignorierte ihn.»Natürlich wird davon nichts erwähnt. Einige haben wahrscheinlich Angst, daß Sie sich in einen blutdürstigen Seewolf verwandeln!«Sie lachte fröhlich.»Andere sehen in Ihrem Erfolg etwas von ihrem eigenen Mißerfolg.»

Ein Dienstmann flüsterte mit dem General, und sie fügte schnell hinzu:»Ich muß Sie nun zum Abendessen sich selbst überlassen. Ich bin heute Gastgeberin.»

Er sagte:»Oh, ich dachte…«Um seine Verwirrung zu verbergen, fragte er:»Ist Lady Blundell nicht auch hier?»

«Sie blieb in England. Die Gewohnheiten meines Onkels sind die eines Soldaten. Ich glaube, sie ist zufrieden, wenn sie nichts damit zu tun hat. «Wieder ergriff sie seinen Arm.»Schauen Sie nicht so traurig. Ich werde Sie später wiedersehen. Wir müssen über Ihre Zukunft sprechen. Ich kenne Leute, die Ihnen helfen können, Sie dahin bringen, wo Sie zu stehen verdienen, anstatt…«Sie sprach nicht zu Ende.

Ein Gong ertönte, und ein Diener kündigte an:»Meine Lords, verehrte Damen und Herren, es ist angerichtet.»

Sie folgten dem General und seiner Nichte in einen noch größeren Raum; Bolitho bekam als Tischdame eine dunkelhaarige kleine Frau, offensichtlich die Frau eines abwesenden Stabsoffiziers. Mit etwas wie Bedauern dachte Bolitho, daß er sie wohl für den Rest des Abends auf dem Hals haben würde.

Das Dinner paßte zu dem Raum. Jeder Gang war umfangreicher, noch ausgefallener zubereitet als der vorhergehende. Sein Magen hatte sich schon lange an die schmale Schiffskost gewöhnt und die verschiedenen Anstrengungen vieler Schiffsköche. Sonst schien jedoch niemand Schwierigkeiten zu haben, und er konnte sich nur wundern, wie sich die Teller leerten, ohne daß eine Unterbrechung in der Unterhaltung eintrat. Viele Toasts wurden ausgebracht, mit Weinen, die so verschieden waren wie die Anlässe, sie zu trinken. Nach dem Toast auf König George kamen alle üblichen: Tod den Franzosen. Verwirrung unseren Feinden. Verflucht sei Washington. Je länger der Wein floß, desto bedeutungsloser und unzusammenhängender wurden sie.

Die Tischdame Bolithos ließ ihren Fächer fallen, und als er sich bückte, um ihn zu holen, faßte sie unter das Tischtuch, ergriff sein Handgelenk und hielt es einige Sekunden gegen ihren Schenkel gepreßt. Es kam ihm wie eine Stunde vor, und er dachte, daß jeder am Tisch ihn beobachte. Aber sie war die einzige, und in ihrem Gesicht stand solche Begierde, daß er fast fühlen konnte, wie sie die Beherrschung verlor.

Er gab den Fächer zurück und sagte:»Langsam, Madame, es gibt noch einige Gänge.»

Sie starrte ihn mit offenem Mund an, dann lächelte sie verschwörerisch.»Was für ein Geschenk, einen richtigen Mann zu finden!»

Bolitho zwang sich, noch einmal eine Portion Huhn zu nehmen, wenn auch nur, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er konnte spüren, wie sie das Knie an sein Bein preßte, und es war ihm bewußt, daß sie, wenn sie etwas vom Tisch benötigte, dies über seinen Arm hinweg holen mußte. Jedesmal verhielt sie in der Bewegung, so daß ihre Schulter oder ihre Brust ihn für einige Momente berührte.

Er blickte verzweifelt an der Tafel entlang und sah, daß Susannah ihn beobachtete. Es war schwierig, ihren Ausdruck zu deuten, wenn sie so weit entfernt war. Halb amüsiert, halb wachsam. Seine Tischdame sagte beiläufig:»Mein Mann ist viel älter als ich. Er kümmert sich mehr um sein verdammtes Büro als um mich. «Sie griff nach Butter und ließ ihre Brust seinen Ärmel berühren, während sie ihn anblickte.

Endlich war die Mahlzeit vorüber, und die Männer erhoben sich stühlescharrend, um ihren Damen zu gestatten, sich zurückzuziehen. Sogar im letzten Moment führte die Tischdame Bolithos ihren Feldzug fort wie eine Fregatte, die ein anderes Schiff aussticht, das von Anfang an keine Chance hatte. Sie flüsterte:»Ich habe hier ein Zimmer. Ich werde einen Diener senden, der Sie hinführt.»

Als sie vom Tisch wegging, sah er sie stolpern, aber sie fing sich gleich wieder. Er dachte nervös, daß mehr als Wein nötig sein würde, um sie unterzukriegen.

Die Türen schlossen sich wieder, und die Männer brachten ihre Stühle näher an das Kopfende des Tisches. Es gab mehr Brandy und schwarze Zigarren, von denen Blundell sagte, sie stammen von» einem verdammten Dreckskerl, der sich um seine Abgaben drücken wollte».

«Wie ich höre, sind Sie nun auf Lokalpatrouille, Bolitho?«Blundells heisere Stimme zwang die anderen Gäste zu gespanntem Schweigen.

«Ja, Sir James. «Bolitho blickte ihn gerade an. Blundell war sehr gut informiert, wenn man in Betracht zog, daß er seine Befehle erst an diesem Vormittag erhalten hatte.

«Gut. Wir brauchen ein paar Kapitäne, die den Willen haben, unsere Nachschubwege zu bewachen. «Blundells Gesicht war scharlachrot von dem ausgiebigen Essen.»Ich sage, daß diese verdammten Yankees zu sehr ihren Willen bekommen haben!»

Zustimmendes Gemurmel erhob sich, und jemand lallte beschwipst:»Das s-stimmt, Sir!«Er fuhr unter Blundells schneidendem Blick zusammen.

Bolitho fragte schnell:»Oberst Foley, Sir — ist er immer noch in Amerika?»

«Er hat ein Bataillon unter Cornwallis. «Blundell schien desinteressiert.»Ist auch der beste Platz für ihn.»

Bolitho ließ es zu, daß die Unterhaltung um ihn herumfloß wie ein beschützender Mantel: Pferdezucht und die Kosten eines Haushalts in New York. Die Affäre eines unglücklichen Artilleriehauptmanns, der mit der Frau eines Dragoners im Bett gefunden worden war. Die wachsende Schwierigkeit, guten Brandy zu bekommen, sogar zu Schmugglerpreisen.

Bolitho dachte an Christies Zusammenfassung. Zwei Armeen, hatte er gesagt. Oberst Foley, ob nun sympathisch oder nicht, war einer von denen, die für die Sache ihres Vaterlandes kämpften und dafür ihr Leben wagten. Um diesen Tisch herum saß ein gut Teil von der anderen Sorte: verdorben, verwöhnt und vollständig egoistisch.

Blundell richtete sich mühsam auf.»Wir werden zu den Damen hinübergehen, Gott helfe uns!»

Als Bolitho auf die verzierte französische Uhr blickte, sah er, daß es fast Mitternacht war. Es schien unglaublich, daß die Zeit so schnell vergehen konnte. Aber trotz der späten Stunde gab es keine Pause. Ein kleines Streichorchester spielte schwungvolle Tanzweisen, und die Gäste drängten sich lachend auf die Musik zu.

Bolitho ging langsam durch die angrenzenden Räume und hielt nach Susannah Hardwicke Ausschau; wachsam spähte er auch nach seiner Tischdame aus. Als er am Studierzimmer vorbeikam, sah er Blundell, der mit einer Gruppe von Männern sprach, die meisten wohlhabende Zivilisten. Einer von ihnen, ein großer, breitschultriger Mann, stand teilweise im Schatten, aber die eine Hälfte seines Gesichts, die im Kerzenlicht zu sehen war, verursachte Bolitho zuerst einen Schock, dann Mitleid. Sie war ganz ausgehöhlt, die Haut vom Haaransatz bis zum Kinn weggebrannt, so daß sie aussah wie eine groteske Maske. Er schien Bolithos Blicke auf sich zu fühlen und drehte ihm nach einem kurzen Aufschauen den Rücken, verbarg sich im Schatten.

Es war kein Wunder, daß er nicht mit den anderen am Abendessen teilgenommen hatte. Man konnte sich vorstellen, was für eine Pein ihm diese Entstellung bereitete.

«Hier sind Sie ja!«Susannah kam aus einem anderen Raum und legte ihm die Hand auf den Arm.»Bringen Sie mich in den Garten.»

Sie gingen schweigend, und er fühlte ihr Kleid an seinen Beinen entlangschwingen, die Wärme ihres Körpers.

«Sie waren wunderbar, Kapitän. «Sie hielt inne und sah ihn an, ihre Augen leuchteten.»Diese arme Frau. Einen Augenblick lang dachte ich, Sie würden auf sie hereinfallen.»

«Oh, Sie haben es gesehen?«Bolitho fühlte sich unbehaglich.

«Ja. «Sie führte ihn in den Garten.»Ich habe sie heimgeschickt. «Sie lachte, der Klang lief durch die Büsche wie ein Echo.»Ich kann ja nicht gestatten, daß sie sich bei meinem Kapitän einmischt, nicht wahr?»

«Hoffentlich waren Sie nicht zu streng mit ihr.»

«Nun, sie ist tatsächlich in Tränen ausgebrochen. Es war ziemlich jämmerlich. «Sie drehte sich in seinem Arm, ihr weites Kleid breitete sich hinter ihr wie blasses Gold aus.»Ich muß Sie jetzt verlassen, Kapitän.»

«Aber. Ich dachte, wir würden uns unterhalten?»

«Später. «Sie blickte ihn ernst an.»Ich habe Pläne für Ihre Zukunft, wie ich Ihnen schon sagte.»

«Ich muß morgen Anker lichten. «Er fühlte sich unglücklich, hilflos.

«Das weiß ich doch, Sie Dummer!«Sie berührte seine Lippen.»Runzeln Sie nicht die Stirn, ich erlaube es nicht. Wenn Sie zurückkommen, werde ich Sie mit einigen meiner Freunde bekanntmachen. Sie werden es nicht bedauern. «Ihre behandschuhten Finger strichen sanft über seine Wange.»Und ich bestimmt auch nicht.»

Ein Diener erschien im Halbschatten.»Der Wagen ist bereit, Missy.»

Sie nickte. Zu Bolitho sagte sie:»Wenn Sie gegangen sind, werde ich versuchen, diese langweiligen Leute aus dem Haus zu vertreiben. «Sie hob den Kopf und blickte ihn ruhig an.»Sie dürfen meine Schulter küssen, wenn Sie wünschen.»

Ihre Haut war überraschend kühl und so weich wie ein Pfirsich. Sie riß sich von ihm los und rief:»Seien Sie brav, Kapitän, und passen Sie gut auf sich auf. Wenn Sie zurückkommen, werde ich hier sein. «Dann rannte sie leichtfüßig und lachend über die Terrasse ins Haus.

Die Kutsche wartete auf ihn, als er benommen durch den schattigen Garten zur Auffahrt ging. Sein Hut und Mantel lagen auf dem Sitz, und am Kutschkasten war eine große Holzkiste festgemacht.

Die Zähne des Dieners leuchteten weiß im Dämmerlicht.»Missy Susannah hat für Sie in der Küche etwas zu essen zusammenpacken lassen, Sir. «Er kicherte.»Nur das Allerbeste, hat sie gesagt.»

Bolitho kletterte in die Kutsche und sank in die Kissen. Er konnte immer noch ihre Haut an seinem Mund fühlen, ihr Haar riechen, ein Mädchen, das einen Mann verrückt machen konnte, auch wenn er es nicht schon halbwegs war. Am Ende des Piers fand er einen Ruderer, der über seinen Riemen eingenickt war; er mußte einige Male rufen, bis er ihn bemerkte.

«Welches Schiff, Sir?»

«Sparrow.»

Nur den Namen auszusprechen, half ihm schon, seine rasenden Gedanken zu beruhigen. Bevor er in den Kahn stieg, blickte er sich nochmals nach der Kutsche um, aber sie war schon verschwunden. Als wäre sie Teil eines Traumes.

Der Ruderer murmelte vor sich hin, als er die schwere Kiste die Treppen hinunterhievte. Nicht laut genug, um einen Kapitän zu erzürnen, aber doch laut genug, um sein Trinkgeld deutlich zu erhöhen.

Bolitho wickelte sich in seinen Mantel und fühlte die kühle Seebrise auf seinem Gesicht. Noch immer West. Es würde gut sein, auszulaufen, wenn auch nur, um zu sich selbst zu finden und seine Hoffnungen für die Zukunft zu prüfen.