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Bolitho lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte lustlos auf das offene Logbuch. Er war nackt bis zur Taille, fand aber in der überhitzten Kajüte keine Abkühlung. Er berührte seinen Mund mit der Feder und überlegte, was er schreiben sollte, wenn es nichts zu berichten gab. Über ihm dümpelte das Schiff in einer leichten südöstlichen Brise, und er bedauerte die Wache an Deck, die einen weiteren Tag im unerbittlichen, grellen Sonnenlicht schwitzen mußte. Sogar die Sparrow selbst schien Protest zu äußern. Die Hölzer ächzten und zitterten in der Bewegung, von Salz und Hitze ausgedörrt, und durch die offenen Fenster sah er, daß die geschnitzten Verzierungen am Süll aufbrachen, die Farbe blätterte ab und enthüllte das bloße Holz.
Seit er nördlich der Little Bahama Bank Stellung bezogen hatte, wartete er ungeduldig darauf, wieder zu einem aktiveren Dienst gerufen zu werden. Aber wie die meisten seiner Männer hatte er längst die Hoffnung aufgegeben. Woche auf Woche verging, und die Sparrow und ihr Schwesterschiff Heran fuhren ihre ermüdenden Patrouillen während des ganzen Juli, jede Dämmerung brachte einen leeren Horizont, und mit jeder Stunde wurde die Spannung in ihrer kleinen, isolierten Existenz größer.
Und jetzt war es August. Vielleicht hatte Christie auf Vorräten für drei Monate bestanden, weil er gar nicht die Absicht gehabt hatte, die Sparrow vor Ablauf dieser Zeit zurückzurufen. Vielleicht waren sie alle vergessen worden, oder der Krieg war vorbei. Es war, als ob sich im Gesamtgebiet der Patrouille gar nichts bewege. Im Gegensatz zu ihrer letzten Fahrt zu den Bahama Banks, als sie Prisen genommen und legalen Handelsfahrern begegnet waren, ließ sich jetzt absolut nichts sehen. Ihre Routine änderte sich kaum. Im allgemeinen behielten sie die Royalsegel der Heran gerade noch am Horizont in Sicht und fuhren auf einem Parallelkurs vor und zurück, immer die Untiefen und Riffe vermeidend.
So war es möglich, ungefähr sechzig Meilen zu überwachen, ohne daß sich die Ausgucks in den Großmasten der beiden Korvetten aus den Augen verloren, jedenfalls solange sich das Wetter nicht gegen sie wandte. Aber sogar ein richtiger Sturm wäre ihnen willkommen gewesen. Das peinigende Unbehagen machte allen zu schaffen, nicht zuletzt ihm selbst.
Es klopfte, und Dalkeith trat ein, das runde Gesicht schweißnaß. Die Vormittagswache war halb abgelaufen, und Bolitho erachtete es für notwendig, den Arzt jeden Tag um diese Zeit zu sprechen, wenn er seine Besuche bei den Kranken beendet hatte.
Er zeigte auf einen Stuhl.»Nun?»
Dalkeith stöhnte und setzte sich vorsichtig so, daß ihn die grelle Sonne aus dem offenen Skylight nicht erreichen konnte.»Heute sind zwei mehr krank, Sir. Ich habe sie unten. Ein paar Tage Ruhe könnten sie wieder kurieren.»
Bolitho nickte. Es wurde ernst. Zuviel Hitze und nicht genug frische Kost oder Obst. Lock hatte schon die letzte Kiste Zitronen geöffnet. Danach…
Dalkeith hatte ein Glas Wasser mitgebracht, das er jetzt auf den Tisch stellte. Es war braun wie Tabaksaft. Ohne Kommentar nahm er eine flache Flasche aus der Tasche und bat Bolitho mit einem Blick um die Erlaubnis, sich ein steifes Glas Rum einschenken zu dürfen.
Dies war auch Teil ihrer Routine, obwohl Bolitho nicht begriff, wie der Arzt bei dieser Hitze Rum vertragen konnte.
Dalkeith leckte sich die Lippen.»Besser als dieses Wasser. «Er runzelte die Stirn.»Wenn wir nicht bald frisches Trinkwasser bekommen, kann ich für nichts garantieren, Sir.»
«Ich tue, was ich kann. Vielleicht können wir eine kleine Insel anlaufen und nach einem Bach suchen. Ich habe aber in dieser Gegend wenig Hoffnung. War das alles?»
Dalkeith zögerte.»Ich sollte ja eigentlich still sein, aber Freundschaft und Pflicht gehen selten Hand in Hand. Es ist der Erste Leutnant.»
«Mr. Tyrell?«Bolitho setzte sich auf.»Was ist mit ihm?»
«Sein Bein. Er versucht vorzutäuschen, daß es in Ordnung ist, aber es gefällt mir nicht. «Er schlug die Augen nieder.»Noch schlimmer, ich mache mir Sorgen.»
«Verstehe. «Bolitho hatte wohl bemerkt, daß Tyrells Hinken stärker wurde, doch wenn er darauf zu sprechen kam, hatte dieser geantwortet:»Das geht vorüber. Kein Grund zur Sorge.»
«Was schlagen Sie vor?»
Dalkeith seufzte.»Ich könnte nach mehr Splittern suchen, wenn das aber fehlschlägt…«Er nahm noch einen Schluck Rum.»Dann müßte ich das Bein amputieren.»
«O Gott.»
Bolitho ging zu den Fenstern hinüber und lehnte sich hinaus. Unter ihm sah die See sehr klar aus, und er konnte im schäumenden Kielwasser des Schiffes kleine Fische hochspringen sehen.
Hinter sich hörte er Dalkeith bestimmt hinzufügen:»Ich könnte es natürlich tun. Es müßte aber geschehen, solange er noch kräftig ist. Bevor der Schmerz und diese verdammte Hitze ihn ebenso unterkriegen wie einige andere.»
Bolitho drehte sich um und fühlte die Sonne auf seinen nackten Rücken brennen.
«Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten, Sie haben sie oft genug bewiesen.»
Dalkeith sagte grimmig:»Ich war an einem guten Londoner Krankenhaus, ehe ich England verließ. «Er schnitt eine Grimasse.»Wir übten an den Armen und arbeiteten für die Reichen. Es war ein hartes Training, aber sehr nützlich.»
«Werden Sie dorthin zurückkehren, wenn der Krieg vorüber ist?«Er versuchte, sich nicht Tyrell vorzustellen, wie er auf einem Tisch festgehalten wurde, die Säge über seinem Bein gezückt.
Dalkeith schüttelte den Kopf.»Nein. Ich werde mich irgendwo hier in der Gegend ansiedeln. Vielleicht in Amerika, wer weiß?«Er lächelte schief.»Leider mußte ich England etwas eilig verlassen. Ehrenhändel wegen einer Dame.»
«Ich habe mich die ganzen drei Jahre gefragt, woher Sie diese Geschicklichkeit mit Pistolen haben.»
Dalkeith nickte.»Leider habe ich den falschen Mann erschossen. Sein Tod wurde als ein schlimmerer Verlust betrachtet als meiner, also musterte ich in Dover an und erreichte schließlich zwei Jahre später die Westindischen Inseln.»
«Vielen Dank, daß Sie es mir erzählt haben. «Bolitho massierte seinen Magen mit der Hand.»Ich werde versuchen, ob ich auf einem anderen Schiff eine Offiziersstelle für Sie finden kann, wenn wir nach Hause kommandiert werden.»
Der Arzt erhob sich.»Das würde mich sehr freuen. «Er sah Bolitho zweifelnd an.»Und Tyrell?»
«Ich werde mit ihm reden. «Bolitho wandte sich ab.»Aber in Gottes Namen, was soll ich ihm sagen? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich an seiner Stelle wäre!»
Dalkeith ließ die Hand auf dem Schott ruhen, bis die Sparrow aus einem Wellental langsam wieder auftauchte.
«Darauf weiß auch ich keine Antwort. Ich bin nur der Arzt.»
«Aye. «Bolitho sah ihn ernst an.»Und ich bin der Kapitän.»
Fähnrich Bethune trampelte durch die Offiziersmesse und blieb vor der Kajüte stehen.
«Empfehlung von Mr. Graves, Sir. Die Heran hat signalisiert, daß sie im Osten ein unidentifizierbares Segel gesichtet hat.»
«Sehr gut. Ich komme hinauf.»
Dalkeith wartete, bis Bolitho ging.»Abruf nach New York, Sir? Wenn es so wäre, könnte ich Tyrell in ein Krankenhaus bringen. Dort gäbe es die nötigen Einrichtungen, die notwendige Pflege.»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Ich fürchte nicht. Ein Segel mit einer solchen Nachricht müßte von Süden kommen. Ob Freund oder Feind, das werden wir erst herausfinden müssen.»
Er hörte Dalkeith seufzen, als er ihn verließ und die Leiter zum Achterdeck hinaufeilte.
Er blickte schnell zum Rudergänger hin, der heiser:»Kurs Nord-Nordwest, Sir!«rief. Seine Lippen waren von der Hitze gesprungen.
Graves berichtete:»Unser Ausguck hat das Segel noch nicht gesichtet, Sir. «Sein Mundwinkel zuckte, und er fügte schnell hinzu:»Es kann alles mögliche sein.»
Es war eine leere Bemerkung, aber Bolitho wußte, daß sie lediglich seine Besorgnis verbergen sollte. Er hatte beobachtet, wie die wachsende Spannung Graves vielleicht am allerschlimmsten traf. Jetzt zeigte das Zucken im Mundwinkel seine inneren Qualen.
«Also gut. Rufen Sie die Leute, und bereiten Sie die Fahrt zur Heran vor. Lassen Sie Royalsegel setzen und legen Sie sie auf Steuerbordbug. «Er sah, wie Buckle müde durch den Niedergang kletterte, und rief:»Ein Segel, Mr. Buckle! Vielleicht bringt es uns Glück!»
Der Steuermann schnaufte.»Es wäre auch Zeit, Sir.»
Bolitho hörte das vertraute Hinken und drehte sich um, ob Tyrell von der Backbordreling herankam.
Tyrell grinste.»Ein Segel, wie ich höre, Sir?«Er beschattete seine Augen, als er die Männer musterte, die auf ihren Stationen antraten.»Das ist wirklich mal 'ne Abwechslung.»
Bolitho biß sich in die Lippen. Es war noch schmerzhafter, Tyrell so zufrieden zu sehen und zu wissen, was getan werden mußte.
Das hieß, wenn Dalkeith sein Handwerk verstand — aber das tat er.
Am Horizont sah er die hellglänzenden Segel der Heran und wußte, daß Farr ihn schon erwartete. Und wenn es auch nur zur Unterbrechung der Monotonie und sonst nichts diente.
Innerhalb der nächsten Stunde hatte sich das fremde Schiff zu erkennen gegeben. Es war die Lucifer. Die großen Schonersegel wie Flügel ausgebreitet, lief sie vor dem Wind, Gischt sprühte wie flüssiges Silber über ihren Klüverbaum.
Fowler hing mit einem Fernrohr in den Leewanten, sein kleines, schweinchenhaftes Gesicht glänzte vor Hitze.
«Von Lucifer: Habe Depeschen an Bord.«Er schaute auf das Achterdeck hinunter, als sei er stolz auf seine Enthüllung.
«Beidrehen, Mr. Tyrell.»
Bolitho beobachtete die Geschäftigkeit an Bord der Lucifer, als sie die Segel reffte, ehe sie in Lee der Sparrow beidrehte. Ein feines kleines Schiff. Er überlegte, ob sich sein Leben im selben Ausmaß geändert hätte, wenn er sie statt der Sparrow befehligte.
Er sah die Hast, mit der das Beiboot des Schoners über Bord gefiert wurde. Etwas in seinem Unterbewußtsein warnte ihn, und er sagte:»Signalisieren Sie an Heran: Bitten Kapitän an Bord.»
«Aye, Aye, Sir!«Fowler schnippte mit den Fingern und hörte nicht damit auf, bis die Flaggen an der Rahe der Sparrow geheißt waren.
Farrs Gig machte bereits Minuten nach dem Beiboot der Lucifer am Fallreep fest.
Odell war persönlich an Bord gekommen, und als er seinen Hut gegen das Achterdeck lüftete und einen scharfen Blick auf Bolithos bloßen Oberkörper warf, kletterte Farr neben ihm herauf und fragte heiter:»Bei Gott, was führt Sie hierher? Haben Sie sich in Antigua nach uns gesehnt?»
Odell trat einige Schritte vor und blickte sie dann an.»Die Franzosen sind ausgelaufen, Sir.»
Einen Augenblick lang sprach niemand. Bolitho nahm die Worte in sich auf, war sich aber auch der Umstehenden bewußt: Stockdale am Niedergang, der sich leicht vorbeugte, als ob er dann besser hören könnte. Buckle und Tyrell, deren Gesichter Erstaunen und mehr zeigten. Vielleicht Erleichterung, daß das Rätselraten zu Ende war.
«Kommen Sie mit nach unten.»
Bolitho führte sie in seine Kajüte, die Hitze und die Eintönigkeit der Patrouille waren vergessen.
Odell saß auf der Stuhlkante, sein Gesicht zeigte wenig von der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, all diese Meilen von Antigua hierher zu segeln.
Bolitho sagte ruhig:»Erzählen Sie.»
«Ich habe die Depeschen wie befohlen zur Flotte gebracht. «Odell hatte eine rasche, unregelmäßige Art zu sprechen und nickte zu seinen Worten. Es war unschwer zu erkennen, warum er im Ruf stand, etwas verrückt zu sein. Ein Mann auf des Messers Schneide, vermutete Bolitho. Aber an der Richtigkeit seines Berichtes war nicht zu zweifeln.
«Admiral Rodney hat eine Flotte von vierzehn Linienschiffen abkommandiert, um unseren Streitkräften in New York zu helfen.»
Farr murmelte:»Das gefällt mir schon eher. Ich habe nichts für unseren Admiral Graves übrig.»
Odells Augen blitzten gefährlich ob dieser Unterbrechung. Er sagte scharf:»Rodney ist nach England gesegelt. Er ist ein kranker Mann. Hood kommandiert die Verstärkung.»
Farr war nicht aus der Fassung gebracht.»Auch gut, sogar noch besser. Ich habe unter Admiral Hood gedient und respektiere ihn.»
Bolitho sagte:»Erzählen Sie uns alles. Ich vermute, es gibt noch mehr Neuigkeiten.»
Odell nickte.»Compte de Grasse ist mit ungefähr zwanzig Linienschiffen ausgelaufen. Die Patrouillen berichteten, daß er den jetzt fälligen Konvoi bis auf die offene See begleitet hat.»
Bolitho sagte:»Soviel ich weiß, ist das doch üblich?»
«Ja. Aber seitdem ist de Grasse nicht mehr gesehen worden. «Die Worte platzten wie Geschosse in der Kajüte.
Farr rief aus:»Eine ganze Flotte verschwunden? Das ist doch unmöglich!»
«Aber Tatsache. «Odell funkelte ihn an.»Admiral Hoods Schiffe müssen dieses Gebiet im Osten durchquert haben. Und verschiedene Fregatten suchen an anderen Stellen. «Er spreizte die Finger.»Aber kein Zeichen von de Grasse.»
«Guter Gott!«Farr schaute Bolitho an.»Was halten Sie davon?»
Odell sagte gereizt:»Ich könnte ein Glas vertragen, ich bin trocken wie Zunder.»
Bolitho öffnete seinen Schrank und reichte ihm eine Karaffe. Er sagte:»Hood wird in Sandy Hook zu Graves stoßen. Sie werden dann zwar immer noch in der Minderheit sein, können sich aber ihrer Haut wehren, wenn de Grasse sich entschließt, dort anzugreifen.»
Farr meinte weniger überzeugt:»Und Hood wird es den verdammten Franzosen schon zeigen, eh?»
Bolitho antwortete:»Seine Flotte ist größer als die von Admiral Graves. Aber Graves ist der Ranghöhere, nachdem Rodney jetzt heimgefahren ist. «Er sah Farrs ängstliches Gesicht.»Ich fürchte, Graves wird unsere Streitkräfte führen, wenn die Zeit kommt.»
Er wandte sich Odell zu, der sein zweites Glas Wein trank.»Wissen Sie sonst noch etwas?»
Odell zuckte die Schultern.»Ich habe erfahren, daß Admiral Hood die Chesapeake Bay absuchen will auf seiner Fahrt nach New York. Einige glauben, daß die Franzosen die Armee von Cornwallis von See her angreifen könnten. Wenn nicht, dann ist New York ihr Angriffsziel.»
Bolitho zwang sich, sich zu setzen. Es war merkwürdig, daß ihn Odells Informationen so sehr erregten. Seit Monaten, schon seit Jahren, hatten sie die große Konfrontation zur See erwartet. Es hatte zwar viele Scharmützel und heftige Gefechte von Schiff zu Schiff gegeben. Aber sie alle hatten gewußt, daß früher oder später die Entscheidungsschlacht kommen mußte. Wer die Gewässer um Amerika beherrschte, der bestimmte auch das Schicksal derer, die innerhalb seiner Grenzen kämpften.
Er sagte:»Eines ist sicher: Hier sind wir zu nichts nütze.»
Farr fragte:»Meinen Sie, daß auch wir zur Flotte stoßen sollten?»
«So ähnlich.»
Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, Odells knappe Fakten in Relation zu bringen. De Grasse konnte überall sein, aber es war lächerlich anzunehmen, daß er nach Frankreich zurückgesegelt sei, ohne seinen Auftrag zu erfüllen. Ohne ihn konnten die Briten jedes Schiff und jeden Mann in den Kampf um Amerika werfen, und de Grasse war schlau genug, seinen eigenen Wert zu kennen.
Bolitho ging zum Tisch hinüber und nahm eine Seekarte aus dem Fach. Es waren fast siebenhundert Meilen bis nach Cape Henry am Eingang zur Chesapeake Bay. Wenn der Wind günstig blieb, konnten sie in fünf Tagen Land sichten. Falls die Schiffe Admiral Hoods dort lagen, konnte er weitere Befehle anfordern. Korvetten würden ihm äußerst nützlich sein, um näher an Land zu suchen oder in der Schlacht Signale zu übermitteln.
Deshalb sagte er langsam.»Ich habe vor, nach Norden zu fahren, zum Chesapeake.»
Farr rief aufspringend:»Gut! Ich komme mit.»
Odell fragte:»Nehmen Sie die volle Verantwortung auf sich. Sir?«Seine Augen waren undurchsichtig.
«Ja. Ich würde es begrüßen, wenn Sie hierbleiben, für den Fall, daß andere Schiffe vorbeikommen. Wenn ja, können Sie uns in aller Eile folgen.»
«Sehr wohl, Sir. «Odell fügte ruhig hinzu:»Das hätte ich aber gerne schriftlich.»
«Sie unverschämter Schweinehund!«Farr schlug mit der Faust auf den Tisch.»Nennt man das Vertrauen?»
Odell zuckte die Schultern.»Ich vertraue Kapitän Bolitho, ganz ohne Zweifel, Sir. «Er lächelte kurz.»Wenn aber Sie beide getötet werden, wer soll dann aussagen, daß ich nur meinen Befehlen gehorcht habe?»
Bolitho nickte.»Das ist richtig, Ich werde es sofort erledigen. «Er sah, wie sich die beiden Männer mit offener Feindseligkeit musterten.»Ruhig Blut. Recht oder unrecht, es wird uns guttun, wieder in Bewegung zu kommen. Wir wollen nicht mit Unfrieden beginnen, eh?»
Odell zeigte grinsend die Zähne.»Ich wollte nicht beleidigend sein, Sir.»
Farr schluckte hart.»In diesem Fall.»
Auch er grinste über beide Ohren.»Aber bei Gott, Odell, Sie haben mich bis aufs Blut gereizt!»
«Trinken wir ein Glas zusammen.»
Bolitho wäre gern an Deck gegangen, um die Neuigkeiten mit Tyrell und den anderen zu besprechen. Aber er wußte, daß dieser Augenblick ebenfalls äußerst wichtig war: Ein paar Sekunden, an die jeder sich erinnern konnte, wenn das Schiff des anderen nur noch eine Silhouette war.
Er erhob sein Glas.»Worauf wollen wir trinken, Freunde?»
Farr begegnete seinem Blick und lächelte. Er wenigstens verstand ihn.»Auf uns, Dick. Mir wäre das am liebsten.»
Bolitho stellte sein leeres Glas auf den Tisch. Ein einfacher Toast. Aber König, Sache, sogar Vaterland waren zu entfernt, die Zukunft zu unsicher. Sie hatten nur einander und ihre drei kleinen Schiffe zum Überleben.
Die Beine gegen das unangenehme Schlingern der Sparrow fest aufgestemmt, hielt Bolitho ein Fernrohr über die Wanten und wartete, bis sich die Küstenlinie in der Linse zeigte. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und als sich der dumpfe, gelbrote Schimmer langsam hinter der nächsten Landzunge verzog, konzentrierte er sich auf das, was er sah, und nicht auf das, was er von der Karte her erwartet hatte. Um ihn herum waren noch andere Fernrohre ausgerichtet, er hörte Tyrells schweres Atmen an seiner Seite, hörte den Griffel auf Buckles Schiefertafel quietschen.
Ein paar Meilen vor Cape Henry, dem südlichsten Landvorsprung an der Einfahrt zur Chesapeake Bay, hatte der Wind scharf umgeschlagen und später noch weiter gedreht. Dies hatte ihre vorher so rasche Fahrt um einen vollen Tag verlängert. Als sie sich endlich von der Leeküste freigesegelt, sich freien Raum erkämpft hatten, sah Bolitho die Bucht mit einem gewissen Ärger querab verschwinden. Und nun, nach ihrer langen Kreuzfahrt zurück zur Einfahrt der Bucht, wurde er vor eine neue Entscheidung gestellt: entweder bis zur Dämmerung vor der Küste liegenzubleiben oder das Risiko auf sich zu nehmen und in sicherlich totaler Finsternis zwischen Cape Henry und der nördlichen Landzunge durchzustoßen.
Tyrell ließ sein Glas sinken.»Ich kenne die Einfahrt gut. Eine ausgedehnte Untiefe reicht weit in die Bucht hinein. Mit Vorsicht kommt man an beiden Seiten vorbei, da uns der Wind jedoch auf den Fersen ist, würde ich das südliche Fahrwasser vorschlagen. Wenn Sie leewärts der Untiefe bleiben, können Sie mit ungefähr drei Meilen Abstand an Cape Henry vorbeilaufen. «Er rieb sich das Kinn.»Wenn Sie sich aber verrechnen und zu weit südlich kreuzen, werden Sie sich sehr beeilen müssen. Es gibt gefährliche Sandbänke beim Kap.»
Bolitho richtete das Fernglas, um einige zuckende rote Blitze weit im Landesinneren zu beobachten.
Tyrell bemerkte:»Geschützfeuer. Ziemlich weit weg.»
Bolitho nickte. Wenn Tyrell es als Belastung empfand, so nahe an seinem Heimatland zu sein, dann zeigte er es jedenfalls nicht.
Tyrell fuhr fort:»Wahrscheinlich jenseits des York River. Sieht nach schwerer Artillerie aus.»
Heyward, der in der Nähe stand, sagte:»Keine Spur von Schiffen, Sir.»
«Sie werden auch keine finden. «Tyrell beobachtete Bolitho.»Gleich hinter Cape Henry liegt die Lynnhaven Bay. In ihrem Schutz ankern manchmal bei schlechtem Wetter sogar große Schiffe. Von hier aus würden Sie nicht einmal eine Flotte dort sehen. «Er hielt inne.»Dazu müßten Sie schon in den alten Chesapeake einfahren.»
Bolitho gab Fowler das Glas.»Einverstanden. Wenn wir noch länger warten, könnte sich der Wind drehen. Dann wären wir wieder auf Legerwall und würden noch mehr Zeit verlieren, um uns klarzukämpfen.»
Er drehte sich um und schaute nach der Heran aus. Ihre gerefften Royalsegel glühten im rasch abnehmenden Sonnenlicht, aber hinter ihr lag die See in tiefem Schatten.
«Zeigen Sie der Heran die Signallaterne. Kapitän Farr weiß, was zu tun ist.»
Er wandte sich an Tyrell.»Die Bucht ist auf der Karte nur sehr ungenau wiedergegeben.»
Tyrell grinste, seine Augen glühten in dem trüben Licht.»Wenn sich nicht alles geändert hat, glaube ich, daß ich uns lotsen kann.»
Fowler rief:»Signal bestätigt, Sir!»
Bolitho entschloß sich.»Kurs zwei Strich Steuerbord. «Zu Tyrell gewandt, fügte er langsam hinzu:»Ich hasse es, in Buchten wie diese einzufahren. Ich fühle mich auf offener See sicherer.»
Der Leutnant seufzte.»Aye. Der Chesapeake ist in vieler Hinsicht gefährlich. Von Norden nach Süden mißt er an die einhundertvierzig Meilen. Sie können ein ziemlich großes Schiff ohne allzuviel Mühe bis hinauf nach Baltimore segeln. Aber in der Breite sind es weniger als dreißig Meilen, und das nur an der Stelle, wo der Potomac zufließt.»
Buckle rief:»Kurs Südwest liegt an, Sir.»
«Sehr gut.»
Bolitho beobachtete, wie das am nächsten liegende Vorgebirge von Cape Charles seinen bronzenen Kamm verlor, als die Sonne endgültig hinter den Hügeln verschwand.
«Lassen Sie klar zum Gefecht machen, Mr. Tyrell. Sicherheit geht vor.»
Er überlegte kurz, was Farr wohl empfand, der jetzt dem Schatten der Sparrow auf die dunkle Landmasse zu folgen mußte: Zweifel, Bedauern, vielleicht sogar Mißtrauen. Man konnte es ihm kaum verdenken. Es war, als ob man in einem dunklen Keller nach Kohlen tastete.
Unter seinen Schuhen fühlte Bolitho die Planken beben, das Donnern der Zwischenwände, die niedergerissen wurden, und das Quietschen der Messetische, die von den Geschützen weggezogen wurden. Dies war noch ein Unterschied, den er auf der Sparrow festgestellt hatte: Selbst das Klarmachen zum Gefecht hatte eine bestimmte Intimität, die es auf einem Linienschiff nicht gab. Auf der Trojan waren die Mannschaften an ihre Plätze geeilt, getrieben vom Stakkato der Trommeln und dem Klang des Signalhorns. Manchmal kannte man die Männer nicht einmal dann, wenn sie in der eigenen Wache oder Abteilung dienten. Hier aber war es ganz anders. Die Männer nickten einander zu, als sie zu ihren Stationen rannten, tauschten hier ein Grinsen, dort einen kurzen Händedruck. In vieler Hinsicht war dadurch der Tod schwieriger zu akzeptieren, wurden die Schreie eines Mannes zu persönlich, um sie zu ignorieren.
«Klar zum Gefecht, Sir.»
«Gut. «Bolitho griff in die Wanten und musterte die winzigen, federleichten Brandungswellen querab.»Ändern Sie den Kurs um einen weiteren Strich.»
«Aye, Sir. «Buckle brummte mit seinen Rudergängern, dann:»Südwest zu Süd liegt an, Sir.»
«Kurs halten.»
Er ging ruhelos unter dem großen Besansegel hin und her, sah dabei ein schwaches Glühen am Baum, den Widerschein vom Kompaß.
Es waren schon viele Sterne am samtenen Himmel, und in einigen Stunden würde auch der Mond aufs Wasser scheinen. Aber dann mußte er schon in der Bucht sein.
Tyrell kam zu ihm ans Ruder.»Ein komisches Gefühl: Meine Schwester wird kaum mehr als fünfzig Meilen von der Stelle entfernt sein, auf der ich stehe. Ich kann mich noch ganz genau erinnern: der York River, das Plätzchen im Wald, wo wir als Kinder zusammen hinzugehen pflegten… «Er drehte sich um und sagte scharf:»Fallen Sie einen Strich ab, Mr. Buckle! Mr. Bethune, nehmen Sie einige Leute mit nach vorn, und trimmen Sie das Focksegel nochmals!«Er wartete, bis er mit der Stellung des Schiffs zur nächsten Landzunge zufrieden war, und fuhr fort:»Es ist wirklich rundherum komisch.»
Bolitho stimmte zu. Nach den ersten Wochen hatte er nicht viel an Susannah Hardwicke gedacht. Jetzt, als er sich das unbekannte Mädchen vorstellte, draußen in der Dunkelheit hinter dem gelegentlich aufzuckenden Geschützfeuer, wurde ihm klar, wie sehr sie alle einander verbunden waren. Tyrells Schwester und Graves' geheime Sehnsucht nach ihr. Dalkeiths Ehrenhändel, die ihn seine Karriere und fast sein Leben gekostet hatten. Und er selbst? Er war überrascht festzustellen, daß er sich noch immer nicht ohne Bedauern und ein Gefühl des Verlustes an Susannah erinnern konnte.
Als er wieder aufschaute, bemerkte er, daß Cape Charles schon im Schatten untergetaucht war. Ein schneller Blick zu Tyrell hin beruhigte ihn. Er schien entspannt zu sein, sogar fröhlich, wie er so auf seinem Platz stand, von dem aus er den Kompaß und die Stellung des Besansegels über sich sehen konnte. Wenn diese tückische Untiefe nicht gewesen wäre, hätten sie mit vier Meilen Raum auf jeder Seite frech zwischen den beiden Kaps hindurchsegeln können.
Tyrell sagte:»Wir werden mit Ihrer Erlaubnis den Kurs wieder ändern, Sir.»
«Das Schiff ist in Ihren Händen.»
Tyrell grinste.»Aye, aye, Sir. «Er rief zu Buckle hinüber:»Steuern Sie genau West zu Nord!»
Dann formte er mit den Händen einen Trichter und schrie:»Alle Mann an die Brassen!»
Mit gelegtem Ruder und allen Mann an den Brassen drehte die Sparrow ihren Bug auf das Land zu. Stimmen riefen im Dunkel, und über den Decks bewegten sich die blasseren Schatten von Armen und Beinen geschäftig in den Rahen.
«West zu Nord, Sir!«Buckle spähte zu den killenden Segeln hinauf, als das Schiff noch mehr krängte und hart auf Steuerbordbug segelte.
Tyrell hinkte von einer Seite zur anderen, sein Arm fuhr vor, um die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich zu ziehen, oder seine Stimme erscholl, die einen anderen wegschickte, um sofort Befehle nach vorn zu bringen, wo Graves ebenfalls beschäftigt war.
«Gut, Leute! So belegen. «Er hob den Kopf, als ob er dem Chor der Wanten und Fallen lauschte.»So gefällt's ihr!»
Bolitho ging zur Luvseite hinüber und fühlte die kalte Gischt auf seinem Gesicht. Tyrell war mit dem Schoner seines Vaters schon oft durch diese Kaps gefahren. Vielleicht war es diese Erinnerung, das Bewußtsein, daß seine Schwester in Sicherheit und doch greifbar war, was ihn den Zweck seiner Mission, die mit jeder verrinnenden Minute wachsende Gefahr vergessen ließ.
«Grundseen in Luv voraus!«Die Stimme des Ausgucks klang nervös.
Aber Tyrell rief:»Zur Hölle damit! Das ist die Untiefe in der Mitte. «Seine Zähne schimmerten in der Dunkelheit.»Schnurstracks ins Ziel, wenn ich so sagen darf!»
Der massive, undeutlich drohende Rücken von Cape Henry tauchte an Backbord aus der Dunkelheit auf, und einen Augenblick lang glaubte Bolitho, sie wären zu nahe an Land, daß der Wind sie weiter abgetrieben hätte, als Tyrell vorausberechnet hatte.
Er zwang seinen Blick auf die andere Seite und sah durch die Gischt und die hohen Wellen einen weißen Widerschein. Die Untiefe war deutlich durch Schaum und Wirbel markiert, aber wenn Tyrell die Annäherung falsch geschätzt hätte, wäre es jetzt zu spät gewesen, sie zu meiden. Tyrell schrie:»Einmal sah ich einen mächtig feinen Holländer hier auflaufen! Hat sich das Kreuz gebrochen!»
Buckle murmelte:»Wie ermutigend!»
Bolitho spähte nach achtern.»Hoffentlich hat die Heran unseren Kurs gesehen.»
«Sie wird's schaffen. «Tyrell eilte an die Reling und betrachtete die dunkle, keilförmige Landzunge.»Die Heran hat weniger Tiefgang und läßt sich hart am Wind besser manövrieren. «Er streichelte die Reling.»Aber die Sparrow ist mir lieber.»
«Holen Sie den Klüver ein, bitte. «Bolitho hörte genau auf die veränderten Geräusche der See. Der hohle Ton von Brandung auf Felsen, das etwas tiefere Klatschen von Wasser gegen eine Höhle oder eine enge Vertiefung unter der Landzunge.»Dann das Besansegel.»
Unter Topsegel und Fock kroch die Sparrow tiefer in die Bucht, ihr Bug hob und senkte sich mit den Wellen, die Rudergasten standen angespannt am Rad, die Finger spürten ihren Willen fast genauso schnell wie sie selbst.
Minuten vergingen, dann eine halbe Stunde. Augen starrten angestrengt in die Dunkelheit, Männer standen reglos an den Geschützpforten und den Brassen; so kreuzte die Korvette vorsichtig um das Kap herum.
Dann sagte Tyrell:»Keine Schiffe hier, Sir. Lynnhaven liegt jetzt querab. Jedes Geschwader vor Anker, ob unser oder von den Franzosen, würde irgendein Licht zeigen. Und wenn es nur wäre, um Feinde abzuschrecken.»
«Das klingt logisch.»
Bolitho ging beiseite, um seine Enttäuschung zu verbergen. Odell hatte recht gehabt, schriftliche Befehle zu verlangen, denn wenn Bolitho Hoods Aufenthaltsort so falsch eingeschätzt hatte, konnte er auch unrecht getan haben, als er seine eigene Position im Süden verließ.
Eine Reihe von dumpfen Explosionen hallte über das Wasser, danach kam eine helle Stichflamme, als ob versehentlich Pulver abgebrannt worden wäre.
Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Nach New York weitersegeln? Es schien die einzige Lösung zu sein.
Tyrell sagte ruhig:»Wenn wir vom Kap klarkommen wollen, dann schlage ich vor, daß wir jetzt halsen. «Er hielt inne.»Oder Anker werfen.»
Bolitho trat zu ihm an den Kompaß.»Dann ankern wir. Wir müssen Kontakt mit der Armee aufnehmen. Wenigstens die soll wissen, was vorgeht.»
Tyrell seufzte.»Man kann sich schwer vorstellen, daß dort vor unserem Bug eine verdammt große Armee liegt. Arme Teufel. Wenn sie in Yorktown sind, wie Odell gehört hat, dann sind sie am richtigen Ort. Aber das wird ihnen kein Trost sein, wenn es zur Belagerung kommt.»
«Wir wollen keine Zeit verlieren. «Bolitho nickte Fowler zu.»Zeigen Sie wieder die Laterne. Kapitän Farr wird ebenfalls ankern, wenn er das Signal sieht.»
Die Royalsegel schlugen laut, als sich die Sparrow gehorsam in den Wind drehte; ihr Anker warf eine Gischtfontäne auf.
Buckle rief:»Vorsicht mit dem Licht, Mr. Fowler! Das ist genug!»
Tyrell senkte die Stimme.»Das ist unwichtig. Wir sind in dem Moment gesichtet worden, als wir das Kap umrundeten.»
Bolitho sah ihn an. Es war nicht schwierig, sich einen rennenden Kurier oder einen Mann zu Pferde vorzustellen, der durch die Dunkelheit eilte, um vor ihrer Ankunft zu warnen. Er fühlte sich wie damals in der Delaware Bay: abgeschnitten und eingeengt, fast ohne Kenntnis dessen, was vorging.
Tyrell sagte:»Ich könnte ein Boot nehmen, Sir. Wenn die Armee in der Stadt liegt, dann werden sie am York River entlang Posten aufgestellt haben. «Plötzlich hörte sich seine Stimme ängstlich an.»Zum Donnerwetter, diese Ruhe stört mich mehr als Geschützfeuer! Mein Großvater war Soldat. Er brachte mir mit seinen Erzählungen von Nachtkämpfen das Gruseln bei.»
Bolitho beobachtete, wie sich die Toppsgasten auf Deck gleiten ließen, anscheinend teilnahmslos gegenüber der Nähe des Landes oder eines möglichen Feindes.
«Riggen Sie die Enternetze und laden Sie die Hälfte der Zwölfpfünder mit Kartätschen.»
Tyrell nickte.»Aye. Und ich werde auch ein paar gute Leute an die Drehbassen beordern. Es wäre ein Jammer, sich von einem Bootsangriff überraschen zu lassen. Soll ich losfahren?»
«Nun gut. Nehmen Sie beide Kutter. Mr. Graves kann den zweiten befehligen. Mr. Fowler fährt mit Ihnen, falls es etwas zu signalisieren gibt.»
Eine Stimme rief: «Heran hat Anker geworfen!»
Als Bolitho aber durch die Wanten blickte, konnte er gar nichts sehen. Der Ausguck mußte einen kurzen Blick auf ihre gerefften Topsegel geworfen haben, als sie das Kap umrundete, oder er hatte das Aufklatschen des Ankers gesehen.
Taljen ächzten und quietschten, als die beiden Kutter über die Reling gehievt wurden; danach wurden die Enternetze ausgebracht. Das konnte man getrost dem Bootsmann überlassen. Die Netze durften nicht zu stark gespannt sein, damit ein wagemutiger Enterer sich nicht daran festhalten konnte, sondern mußten gerade so durchhängen, daß ihn ein Bajonett oder eine Pike erwischen konnte, ehe er freikam.
Männer schlurften über Deck, hier und dort hörte Bolitho das Klirren von Stahl, den dumpfen Schlag der Riemen, die aus ihren Laschings gelöst wurden.
Graves kam nach achtern, seine Kniehosen leuchteten weiß in der Finsternis.
«Sie wissen, was Sie zu tun haben?«Bolitho sah sie nacheinander an.»Mr. Tyrell hat das Kommando. Umwickeln Sie die Riemen, und achten Sie auf feindliche Wachtposten.»
Graves' Stimme klang atemlos:»Woran erkennen wir unsere eigenen Soldaten?»
Bolitho konnte sich vorstellen, wie sein Mund unbeherrscht zuckte, und war versucht, ihn an Bord zu behalten. Aber Tyrell war zu wichtig, er kannte das Land wie seine Westentasche. Er würde einen erfahrenen Offizier zur Unterstützung brauchen, wenn etwas schiefging.
Er hörte Tyrell ruhig antworten:»Keine Aufregung. Die Froschfresser sprechen französisch.»
Graves fuhr herum und bekam sich dann mühsam wieder in Gewalt.
«Ich — ich habe Sie nicht um Ihren Sarkasmus gebeten!»
«Das genügt!«Bolitho kam näher.»Denken Sie daran, unsere Leute verlassen sich auf Sie. Deshalb keine derartigen Streitereien.»
Tyrell lockerte seinen Degen in der Scheide.»Tut mir leid, Sir. Es war mein Fehler. «Er legte seine Hand auf Graves' Schulter.»Vergessen Sie, daß ich das gesagt habe, ja?»
Fowlers Stimme rief von den Booten herauf:»Alles klar, Sir!»
Bolitho ging zur Reling.»Seien Sie bis Morgengrauen zurück. «Er berührte Tyrells Arm.»Was machen die Schmerzen?»
«Ich spüre kaum etwas, Sir. «Tyrell trat zurück, damit seine Leute in die Kutter steigen konnten.»Ein bißchen Bewegung wird mir guttun.»
Die Boote stießen ab und ruderten stetig in die Dunkelheit hinein. Innerhalb von Minuten waren sie verschwunden, und eine aufmerksam gespannte Stille herrschte bei denen, die an den geladenen Geschützen zu beiden Seiten standen.
Bolitho suchte Stockdale und sagte:»Lassen Sie die Gig zu Wasser. Vielleicht möchte ich der Heran eine Botschaft senden. «Er sah Bethunes plumpe Silhouette an der Reling und fügte hinzu:»Sie nehmen die Gig und umrunden das Schiff. Ich signalisiere, wenn ich eine Botschaft überbringen lassen möchte.»
Bethune zögerte.»Ich wäre gern mit dem Ersten Leutnant gegangen, Sir.»
«Das weiß ich. «Man konnte kaum glauben, daß Bethune es inmitten all dieser Verwirrung fertigbrachte, die Wahl von Fowler als persönliche Beleidigung aufzufassen.»Er ist noch jung. Ich brauche alle Männer, um das Schiff zu führen. «Es war eine lahme Erklärung, aber sie schien Bethune zu genügen.
Unter dem Sternenhimmel war es kühl, eine kleine Erleichterung nach der Hitze des Tages. Bolitho teilte die Männer in kurze Wachen ein, so daß diejenigen, die nicht im Ausguck oder an den Geschützen waren, einige Zeit ausruhen konnten.
Die Offiziere wechselten sich ebenfalls mit der Wache ab, und als er von Heyward abgelöst wurde, hockte sich Bolitho an den Großmast und stützte den Kopf in beide Hände.
Er merkte, wie jemand sein Handgelenk faßte, und wußte, daß er eingeschlafen war.
Heyward kauerte neben ihm, seine Stimme war ein aufgeregtes Flüstern.»Ein Boot nähert sich, Sir, vielleicht auch zwei.»
Bolitho richtete sich auf, Heywards Worte schwirrten ihm durch den Kopf. Die Kutter waren bestimmt noch nicht zurück. Sie konnten noch nicht einmal den ersten Teil ihrer Fahrt hinter sich gebracht haben.
Heyward sagte:»Es ist nicht die Gig, die ist drüben an Steuerbord.»
Bolitho hielt beide Hände an die Ohren. Außer dem Schwappen des Wassers längsseits hörte er Riemen und das Quietschen einer Pinne.
Ein Bootsmannsmaat fragte:»Soll ich sie anrufen, Sir?»
«Nein. «Warum hatte er das gesagt?» Noch nicht.»
Er strengte seine Augen an und versuchte, die eintauchenden Riemen zwischen den kleinen Wellenkämmen auszumachen. Es mußte doch Tyrell sein, der zurückkam, denn das Boot hielt genau auf das Schiff zu, ohne Vorsicht oder Zögern.
Ein Strahl Mondlicht zog ein Wellenmuster über das Wasser, und als er hinblickte, glitt ein Langboot hinein; die Riemen bewegten sich ohne Hast.
Ehe es wieder im Schatten verschwinden konnte, sah Bolitho das Aufblitzen gekreuzter Lederriemen und einige Soldaten mit Tschakos, die sich im Heck drängten.
Heyward stieß heiser hervor:»Großer Gott, das sind Franzosen!»
Der Bootsmannsmaat flüsterte:»Es ist noch einer hinter ihnen!»
Überlegungen und Ideen flogen Bolitho durch den Kopf, als er die langsame Annäherung der Boote beobachtete. Tyrell und seine Männer gefangen und zu Unterhandlungen zurückgebracht? Franzosen mit der Nachricht, daß sie Yorktown genommen hatten, und mit der Forderung, daß sich die Sparrow ergebe?
Er ging schnell zur Gangway hinüber, formte seine Hände zu einem Trichter und rief auf französisch:»Boote ahoi! Wer da?»
Auf den Booten redeten Stimmen durcheinander, und er hörte jemanden lachen.
Zu Heyward sagte er hastig:»Schnell, rufen Sie die Gig zurück! Wenn wir ein bißchen Glück haben, werden wir uns diese Kerle schnappen!»
Das erste Boot ging bereits längsseits, und Bolitho hielt den Atem an; halb erwartete er, daß einer seiner eigenen Leute feuern würde.
Aus dem Augenwinkel sah er einen Gischtspritzer und dankte Gott, daß die Mannschaft der Gig die Nerven behalten hatte. Sie ruderte um das Heck herum, und er konnte sich gut vorstellen, wie Stockdale seine Männer anfeuerte, mit aller Kraft zu pullen.
Heyward kam zurück, die Signallaterne immer noch in der Hand.
Bolitho schrie:»Jetzt!»
Als die ersten Männer auf dem Fallreep erschienen und sich unsicher an den Netzen festhielten, sprang eine Reihe Seemänner mit erhobenen Musketen an die Reling, während Glass, der Bootsmann, eine Drehbasse herumschwang und sie drohend ausrichtete. Viele Stimmen schrien im Chor, und eine Muskete spuckte Feuer in die Nacht. Die Kugel schlug in der Reling ein und zog eine wilde Salve von Heywards Scharfschützen nach sich.
Glass richtete die Drehbasse nach unten und zog an der Abzugsschnur, verwandelte das überfüllte Boot in eine schreiende, blutige Masse.
Das war mehr als genug für das zweite Boot. Das Krachen der Musketen, der verheerende Kartätschenhagel aus Glass' Drehbasse genügten, um die Riemen bewegungslos zu machen. Kaum ein Mann bewegte sich, als die Gig längsseits kam und festmachte. Über das aufgewühlte Wasser hinweg brüllte Stockdale:»Geschafft, Sir!«Nach einer Pause rief er nochmals:»In diesem hier sind ein Dutzend englische Gefangene!»
Bolitho wand sich ab, ihm wurde übel. Er sah, wie Dalkeith und seine Maaten zu dem ersten Boot hinunterkletterten, und stellte sich vor, was sie dort für wimmernde Wesen finden würden. Es hätte genausogut das zweite Boot gewesen sein können, und dann hätten die Kartätschen sich ihren blutigen Weg durch die eigenen Leute gegraben.
Er sagte heiser:»Holen Sie diese Leute an Bord, Mr. Heyward. Dann senden Sie die Gig zur Heran. Farr wird sich fragen, was, zum Teufel, wir hier machen.»
Er wartete an der Schanzkleidpforte, als die ersten verwirrten Männer an Bord gestoßen oder gehievt wurden, vorbei an den aufgefierten Enternetzen. Die zweite Bootsladung, sowohl die Franzosen als auch die Engländer, kamen mit offensichtlicher Erleichterung. Die Franzosen, weil ihnen das Blutbad ihrer Kameraden erspart geblieben war; die englischen Rotröcke hatten andere Gründe, aber ihr ungläubiges Staunen war mitleiderregend anzusehen.
Zerlumpt und schmutzig, sahen sie eher wie Vogelscheuchen als wie ausgebildete Soldaten aus.
Bolitho sagte:»Bringen Sie die Gefangenen hinunter, Mr. Graves. «An die Rotröcke gewandt, fügte er hinzu:»Keine Angst. Dies ist ein Schiff des Königs.»
Ein junger Fähnrich trat vor und rief:»Ich danke Ihnen, Kapitän! Wir alle danken Ihnen.»
Bolitho ergriff seine Hand.»Sie werden hier so viel Ruhe und Hilfe wie möglich finden. Zuerst aber muß ich wissen, was hier geschieht.»
Der Offizier rieb sich die Augen.»Wir wurden vor einigen Tagen gefangengenommen. Es war ein Scharmützel mit einer ihrer Patrouillen. Die meisten meiner Männer wurden getötet. «Er wiegte sich hin und her.»Ich kann es immer noch nicht glauben, daß wir gerettet sind.»
Bolitho fragte weiter:»Hält General Cornwallis Yorktown?»
«Ja. Aber ich nehme an, Sie wissen, Sir, daß Washington und der französische General Rochambeau den Hudson vor einigen Wochen überquert haben, um die Chesapeake Bay zu erreichen. Sie haben Yorktown mit einer großen Armee eingekreist. Eine Muskete hinter jedem Baum. Aber als wir hörten, daß ein englisches Geschwader in die Bucht eingefahren war, dachten wir, wir wären gerettet. Ich verstehe etwas französisch und hörte die Wachen über die Ankunft der Schiffe sprechen.»
Heyward sagte:»Hoods Flotte.»
Bolitho nickte.»Wann war das?»
Der Fähnrich zuckte die Schultern.»Vor etwa drei Tagen. Ich habe alles Zeitgefühl verloren.»
Bolitho versuchte, nicht auf die mitleiderregenden Schreie außenbords zu hören. Vor drei Tagen? Das paßte zu dem, was Odell berichtet hatte. Hood war wahrscheinlich nur kurz in die Bucht eingelaufen, hatte kein Zeichen von de Grasse gefunden und war nach New York weitergesegelt.
Der Fähnrich fügte lahm hinzu:»Die Franzosen erwarteten ihre eigene Flotte. Deshalb, als jemand sie in ihrer eigenen Sprache anrief.»
«Was?«Bolitho packte ihn am Arm, seine Stimme war rauh, trotz der elenden Verfassung des Mannes.»Erwarten ihre eigene Flotte?»
Der Fähnrich starrte ihn an.»Aber ich dachte… Ich stellte mir vor, daß unsere Schiffe weitergefahren waren, um gegen diese Flotte zu kämpfen, Sir!»
«Nein. «Er ließ seinen Arm los.»Ich fürchte, daß es zu spät sein wird, wenn sie in New York ihren Irrtum entdecken.»
«Dann ist die Armee verloren, Sir. «Der Fähnrich ging unsicher zur Reeling.»All dies. «Er schrie über das dunkle Wasser:»Alles umsonst!»
Dalkeith erschien an Deck und nahm den Arm des Offiziers.
Bolitho sagte:»Pflegen Sie sie gut.»
Er wandte sich ab. Sie würden sehr bald wieder Gefangene sein, wenn er nicht den richtigen Entschluß faßte.
Buckle beobachtete ihn besorgt.»Was ist mit Mr. Tyrell, Sir?»
«Glauben Sie denn, ich hätte nicht an ihn gedacht?«Er sah, wie Buckle zurückzuckte.»Wir werden sofort die Heran benachrichtigen. Wenn Farr heute nacht hier wegkommen kann, muß er Admiral Graves die Neuigkeiten bringen. Vielleicht ist noch Zeit. «Er sah den Zahlmeister an einer Luke lehnen.»Holen Sie Papier, ich will eine Nachricht für Farr schreiben.»
Zu Buckle gewandt fügte er hinzu:»Tut mir leid, daß ich Sie angefahren habe. Es war eine berechtigte Frage.»
Er blickte zum Land hin.»Wir werden beim ersten Tageslicht Anker lichten und näher an die Küste heranfahren. Machen Sie die Riemen fertig, falls uns der Wind verläßt. Ich werde Tyrell und seine Männer nicht kampflos aufgeben.»