158086.fb2
»Habe ich darauf Ihr Wort, Quidor?«
»Das Wort eines Gentleman.«
In Duncans abschätzigem Blick war nur zu deutlich erkennbar, daß er seinen Besucher für alles andere als einen Gentleman hielt. Aber Quidor störte sich nicht daran. Als Geschäftsmann, der zielstrebig seine Ziele verfolgte, stand er über solchen Gefühlsduseleien. Persönliche Sympathien oder Animositäten hatten bei ihm noch nie eine Rolle gespielt, wenn es um seinen Profit ging.
»Also gut«, willigte der Großindustrielle ein. »Ich begleite Sie. Aber nur, damit ich meine Ruhe habe.«
»Wundervoll«, freute sich Quidor und ging, munter über das milde Frühlingswetter plaudernd, voran.
Duncan ging nicht darauf ein. Ihm war die Anwesenheit des Mannes aus Dutchtown überaus unangenehm. Es war eine Sache, nachts unerkannt die dunklen Gassen des Vergnügungsviertels auf der Suche nach einer drallen deutschen Hure zu durchstreifen. Aber eine andere, als der ehrenwerte James Frederick Duncan munter plaudernd mit dem zwielichtigen Geschäftemacher Max Quidor gesehen zu werden, noch dazu auf seinem eigenen Anwesen.
Als sie die Kutsche erreichten, drang das Wimmern des Säuglings leise aus dem geschlossenen Verschlag.
»Was ist das?« fragte Duncan irritiert.
»Ihr Geschenk«, antwortete Quidor und zog die Tür auf.
Im Verschlag saß Tom, hielt den Säugling hoch und schaute mißmutig auf die nasse Hose seines Anzugs.
Die Falte zwischen Duncans Augen vertiefte sich noch. »Was soll das?«
»Das ist ein kleiner Junge«, erklärte Quidor.
»Das sehe ich. Aber weshalb haben Sie ihn hergebracht?«
»Um ihn Ihnen zu schenken.«
Duncan sagte nichts, sah den anderen nur an wie einen Geisteskranken.
»Ich weiß von der Fehlgeburt Ihrer Frau vor zwei Jahren«, sagte Quidor. »Es ist schon ein Jammer. Da nimmt man sich so eine junge Frau, damit sie einem einen Erben schenkt, und was passiert? Sie erleidet eine Totgeburt, und der Arzt stellt fest, daß sie keine Kinder mehr bekommen kann. Wie man sich erzählt, ist Ihre früher so lebenslustige Gattin seitdem sehr depressiv geworden. Das Verhältnis zwischen Ihnen beiden soll auch nicht mehr so gut sein wie zu Beginn Ihrer Ehe. Vielleicht liegt das...«
»Ich habe genug von Ihrem geschmacklosen Geschwätz!« fuhr Duncan dazwischen. »Meine Ehe geht Sie überhaupt nichts an!«
Er wollte sich zum Gehen umdrehen, aber Quidor hielt ihn zurück.
»Nicht so schnell, Mr. Duncan! Ich will Ihnen doch helfen. Mit diesem Kind hier könnte alles anders werden. Ihre Frau hätte eine Aufgabe und Sie einen Erben.«
Duncan betrachtete den Säugling zweifelnd und schüttelte dann leicht den Kopf. »Ich werde mich doch nicht mit dem Kind von einer Ihrer Huren abgeben, Quidor!«
Der Mann aus Dutchtown grinste. »Wenn es der Sohn einer meiner Huren wäre, könnte es sehr gut Ihr eigen Fleisch und Blut sein, Mr. Duncan.«
Der Großindustrielle erbleichte. Diese Vorstellung erzeugte in ihm sichtliches Unbehagen.
»Keine Angst. Der Kleine ist weder Ihr Kind noch das einer Hure. Eine junge Deutsche, die heute mit dem Schiff in New York ankam, hat es auf See zur Welt gebracht. Es hat keinen Vater, und das arme Ding kann nicht für das Kind sorgen. Deshalb habe ich es übernommen, eine gute Familie für den Kleinen zu finden.«
»Ihre Fürsorglichkeit bricht mir noch das Herz, Quidor. Der Herr im Himmel und Satan in der Hölle wissen, daß Mitgefühl noch niemals die Triebfeder Ihres Handelns war.«
»Sie kennen mich gut«, sagte Quidor und nahm seinem Leibwächter das Kind ab, um es Duncan hinzuhalten. »Was ist jetzt, Mr. Duncan? Nehmen Sie das Geschenk an?«
»Es gibt Waisenhäuser genug in New York, in denen Kinder zur Adoption angeboten werden.«
»Adoption? Überlegen Sie sich einmal, welche Schwierigkeiten Ihr Sohn später haben wird, sein Erbe anzutreten. Jeder, der mit Ihnen auch nur um zehn Ecken herum verwandt ist, wird versuchen, die Erbschaft eines adoptierten Kindes anzufechten, um an Ihr Vermögen zu kommen.« Quidor hielt den Säugling hoch. »Aber das hier wird Ihr Kind sein, Mr. Duncan. Ihre Frau und Sie müssen sich nur einig sein, daß es Ihr leibliches Kind ist.«
»Aber der Arzt hat gesagt, meine Frau kann keine Kinder mehr bekommen.«
»Was gilt schon das Wort eines Arztes? Jeder weiß, daß Ärzte sich fast so häufig irren wie Wetterpropheten. Außerdem wird es niemand wagen, das Wort von James Frederick Duncan anzuzweifeln. Fahren Sie mit Ihrer Frau für ein paar Wochen aufs Land, und kehren Sie dann mit dem Kleinen zurück. Ein strammer Bursche, werden alle sagen, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«
In Duncans Kopf arbeitete es fieberhaft. Je länger er sich mit dieser Vorstellung beschäftigte, desto mehr gefiel sie ihm. Zögernd streckte er die Hände nach dem Kind aus, nahm sie dann aber zurück.
»Was haben Sie, Mr. Duncan? Es ist ein einmaliges Angebot. Weshalb greifen Sie nicht zu?«
Der Großindustrielle sah den Mann mit dem Kind mißtrauisch an. »Sie machen keine Geschenke, Quidor. Was verlangen Sie im Gegenzug von mir?«
»Nur das, über das wir schon mehrfach gesprochen haben. Sie müssen im Stadtrat ein wenig Ihre schützende Hand über Dutchtown und besonders über das Vergnügungsviertel halten.
Mehr will ich nicht von Ihnen. Das dürfte Sie keine großen Mühen kosten.«
»Damit sind wir quitt, und Sie behelligen mich nicht mehr?«
Quidor nickte. »So soll es sein.«
Wieder streckte Duncan die Hände nach dem noch immer weinenden Kind aus, und diesmal nahm er es in seine Arme.
»Wie heißt es denn?«
»Geben Sie ihm einen Namen«, sagte Quidor. »Wie wäre es mit James Frederick Duncan II?«
Er lachte und stieg zu Tom in den Wagen.
»Alles Gute zur Vaterschaft, Mr. Duncan«, sagte er, noch immer lachend, und zog die Tür zu.
Henry ließ die Kutsche anfahren, wendete auf dem Hamilton Square und lenkte das Gespann die Fifth Avenue hinunter, downtown.
James Duncan stand vor der Einfahrt seines Anwesens, das Kind in den Armen, und sah dem Gefährt hinterher, bis es zwischen den vielen anderen Fuhrwerken verschwunden war.
Max Quidor freute sich über den abgeschlossenen Handel, von dem er sich noch viele Vorteile versprach. Ab jetzt hatte er den mächtigen Mr. Duncan in der Hand. Und das für einen so lächerlich geringen Preis wie dieses Balg, das ihn keinen Cent gekostet hatte.
*
Irene lag auf dem kalten Fußboden des dunklen Kellerraumes und weinte. Sie wußte nicht, wie lange schon. Schlaf konnte sie nicht finden. Ein Gedanke hielt sie wach. Der Gedanke, von dem sie ganz und gar beherrscht wurde: Was war mit JacobMartin geschehen?
Sie hörte nicht einmal, daß die Tür aufgeschlossen wurde und jemand in den finsteren Raum trat. Erst der Schein der Kerze, der das Zimmer erhellte, riß sie aus ihrem Weinkrampf.
Im Licht der Kerze erschien ihr die weiße Gestalt, die vor ihr stand, erst wie ein Engel. Aber es war eine Frau in einem weißen, tiefausgeschnittenen Kleid. Sie war nicht mehr ganz jung, aber schön. Mit dunklem, lockigem Haar, das in einer kunstvollen Frisur über ihre Schultern fiel. Hohe Wangenknochen und eine leicht gebogene Nase über vollen, sinnlichen Lippen dominierten das schmale Gesicht.
Die Frau sagte kein Wort, stand einfach nur da und betrachtete Irene. Fast wirkte sie wie ein Geist.