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Piet Hansen hatte die Passagiere nicht davon abgehalten, ihre Strohsäcke zu opfern. Er war ganz damit beschäftigt, die Kommandos für ein Ausweichmanöver zu geben. Wahrscheinlich hätten die Menschen in ihrem Überschwang auch gar nicht auf ihn gehört.
Als die STAR OF INDIA so nahe an der ALBANY war, daß kaum noch eine Schiffslänge dazwischenlag, schienen die ersten Passagiere den Ernst der Lage zu begreifen. Das laute Juchzen wurde leiser, und auf vielen der eben noch heiteren Gesichter zeichnete sich plötzlich Zweifel ab, ob die Situation tatsächlich so spaßig war, wie man allgemein dachte.
»Irene, geh mit dem Jungen lieber unter Deck«, sagte Jacob ernst, als der Dampfer zu einem riesigen Ungetüm heranwuchs.
Die blaugrünen Augen der jungen Frau sahen ihn ängstlich an. »Meinst du, es kommt zu einer Kollision?«
»Ich hoffe es nicht, aber es sieht ziemlich bedenklich aus.«
»Dann kommt lieber mit mir!«
»Als Schiffszimmermann werde ich vielleicht gebraucht«, erwiderte Jacob und steigerte damit noch die Angst auf Irenes schönem Gesicht.
»Ich begleite dich«, sagte Martin und schob die Frau mit sanfter Gewalt dem Eingang zum Zwischendeck entgegen.
Kaum war sein rotblonder Haarschopf unter Deck verschwunden, als sich die ALBANY stark nach backbord neigte und ihren bisherigen Kurs verließ. Ein paar der darauf nicht vorbereiteten Auswanderer purzelten wild durcheinander. Viele stürzten nur deshalb nicht, weil es an Deck zu voll zum Umfallen war.
Piet Hansen hatte die Bark wirklich im letzten Augenblick ausscheren lassen; Schon rauschte die STAR OF INDIA an ihr vorbei, so dicht, daß sich die Rümpfe fast berührten.
Der Dampfer schlug große Wellen, die den Segler kräftig durchschüttelten und seine Passagiere mit ihm. Viele der Menschen, die sich bisher an Bord hatten halten können, gingen jetzt doch zu Boden. Wo eben noch lauter Jubel und ausgelassene Heiterkeit geherrscht hatten, wurden jetzt Flüche und Verwünschungen ausgestoßen.
Lediglich die Besatzung der Bark hielt sich, an rauhen Seegang gewöhnt, gänzlich auf den Beinen. Auch Jacob stürzte nicht, denn er hatte sich an das Luftzugrohr geklammert, das hinter dem Großmast aus dem Deck kam und das Zwischendeck mit Frischluft versorgte.
An Bord des englischen Dampfers jubelten die Menschen, als ihr Schiff an dem Dreimaster vorbeizog und ihn immer weiter hinter sich zurückließ. Eine Menge Wünsche seitens der ALBANY-Passagiere begleiteten die STAR OF INDIA, aber es war kein einziger guter darunter.
»Teufel auch!« stieß der an der Gangspill stehende Piet Hansen hervor, als sich sein Schiff allmählich wieder beruhigte. »Das ist gerade noch mal gutgegangen!«
Er hatte kaum ausgesprochen, als er und Jacob einen lauten Hilferuf hörten. Er kam vom Eingang zum Zwischendeck, wo Martins Kopf aus der Luke schaute.
»Holt schnell ein paar Männer mit Werkzeugen!« rief der stämmige Bauernsohn keuchend. »Im Unterdeck sind ein paar Leute zwischen der Fracht eingeklemmt!«
*
Schnell hatten Hansen und Jacob einen Hilfstrupp, bestehend aus Seeleuten und ein paar standfesten Auswanderern, zusammengetrommelt und folgten Martin unter Deck.
Die STAR OF INDIA fuhr weiter davon und wurde immer kleiner, gänzlich unbeeindruckt von dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Niemand an Bord des Dampfschiffes mochte etwas davon ahnen, aber das schmälerte nicht die Verantwortung des englischen Kapitäns.
»Was ist geschehen?« fragte Hansen, als er Martin erreichte.
»Einige Passagiere waren im Unterdeck, um Sachen aus ihrem Gepäck zu holen. Viele wollten ihren Sonntagsstaat anlegen. Als die AL-BANY ins Schlingern geriet, hat sich ein großer Stapel Fässer aus der Vertäuung gelöst und zusätzlich Kisten mitgerissen. Ein paar der Leute sind darunter begraben worden.«
Zwei Männer mit Laternen gingen voran, als die Hilfsgruppe in die Tiefe des Frachtraums hinabstieg. Noch auf der Stiege hörten sie von achtern die Hilferufe. Ein paar Auswanderer, Männer und Frauen, viele mit zerrissener Kleidung und mit Blessuren versehen, kamen ihnen entgegen und flehten Hansen um Hilfe für ihre eingeklemmten Freunde und Angehörigen an.
Die Auswanderer wiesen ihnen den Weg zum Ort des Unfalls. Dort herrschte das reine Chaos durcheinanderliegender Frachtstücke, über die sich die Menschen einen Weg bahnen mußten. Das war nicht ungefährlich, rollten doch bei jedem Schlingern des Schiffes große Fässer hin und her. Hansen befahl ein paar Männern, die Fässer mit Tauen notdürftig zu sichern, so daß sie einstweilen keine Gefahr mehr bildeten.
»Wie viele sind noch eingeklemmt?« fragte er dann die Auswanderer.
»Noch drei von uns, die wir beim besten Willen nicht befreien konnten«, sagte ein kleiner älterer Mann mit weißem Spitzbart. »Es sind Johann Wiegmann und seine Frau und dann noch Eduard Raabe. Wir müssen schnell die Fracht von ihnen nehmen, bevor sie noch zerquetscht werden.«
»Eine höchst wacklige Geschichte, dieser Haufen aus Kisten und Fässern«, stellte Jacob fest. »Wenn wir nur ein falsches Frachtstück entfernen, stürzt alles in sich zusammen.«
»Was schlägst du vor, Junge?« fragte Hansen, dankbar für jeden vernünftigen Rat.
»Wir müssen den Haufen von oben abtragen. Dazu müssen wir aus ein paar Kisten eine Art Treppe bilden, auf die wir uns bei der Arbeit stellen können.«
»In Ordnung«, meinte Hansen. »Sag uns, was wir tun sollen, Jacob.«
»Das dauert viel zu lange!« beschwerte sich der Mann mit dem weißen Spitzbart. »Das halten die drei da unten nicht aus.«
»Ich sehe leider keine andere Möglichkeit«, entgegnete Jacob.
Hansen kürzte die Diskussion ab. »Fangt an mit dieser Kistentreppe!« befahl er.
Nach Jacobs Anweisungen bauten Seeleute und Auswanderer mit flinken Händen die Treppe auf. Auch die Frauen beteiligten sich an der Arbeit.
Dann kletterten die Menschen auf die Treppe, bildeten eine Kette und trugen den Frachtberg Stück für Stück ab. Die Arbeit ging mühselig und langsam vonstatten, weil etliche der Frachtstücke so schwer waren, daß sie nur von vielen Händen zugleich bewegt werden konnten. Da aber auf der improvisierten Treppe nur ein paar Arbeiter Platz fanden, dauerte es häufig Minuten, nur ein einziges Frachtstück von dem Haufen zu hieven.
Die Eingeklemmten riefen lauter und fordernder, um die Helfer zur Eile anzuhalten. Endlich streckte sich den Männern auf den Kisten ein Paar Arme entgegen, und eine Männerstimme rief: »Holt mich hier raus!«
Jacob und Martin, die ganz oben auf der Treppe standen, griffen nach den Armen und versuchten, den Eingeklemmten nach oben zu ziehen. Aber es ging nicht; der Mann saß fest.
»Es sind meine Füße«, keuchte der Auswanderer, den seine Gefährten als Eduard Raabe erkannten. »Sie stecken unter einer großen Kiste.« »Sie müssen versuchen, die Füße freizubekommen, während wir Sie nach oben ziehen!« sagte Jacob. »Aber vorsichtig, damit der ganze Stapel nicht zusammenfällt!«
»Will tun, was ich kann.«
Jacob zählte bis drei, und dann zogen er und Martin kräftig an Raabes Armen, jeder an einem. Erst schien es, als sei alle Anstrengung vergebens. Aber plötzlich kam der Auswanderer frei, so ruckartig, daß seine Helfer fast von der Kistentreppe gefallen wären.
Raabe, ein kleiner stämmiger Mittvierziger mit ergrauendem Haarkranz um eine kahle Stirn, hockte sich völlig ermattet auf die Treppe und holte tief Luft.
»Beim lieben Herrgott«, seufzte er.
»Ich hatte mich schon damit abgefunden, daß dieser Pott mein schwimmender Sarg sein würde.«
»Was ist mit den beiden anderen?« fragte Jacob.
»Wiegmann und seine Frau? Die sind ganz tief unter dem Stapel. Ich glaube, die Minna hält's nicht mehr lange aus.«
»Das sage ich doch die ganze Zeit!« rief laut der Spitzbart von unten. »Wir vertrödeln zuviel kostbare Zeit mit dieser Treppe. Laßt uns die Kisten und Fässer einfach beiseite ziehen, bevor Wiegmann und seine Frau drauf gehen.«
»Helft uns doch endlich!« kam Johann Wiegmanns Stimme unter dem Stapel vor. »Macht bloß schnell! Minna kann nicht mehr lange!«
»Willst du, daß wir die Kisten einfach beiseite räumen, Wiegmann?« fragte der Spitzbart laut.
»Ja doch, macht zu!«
»Das ist gefährlich!« mahnte Jacob noch einmal.