158086.fb2 Die Ratten von New York - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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»Ach was, gefährlich«, wiegelte der Spitzbart ab. »Gefährlich ist es, noch mehr Zeit zu vertrödeln! Ihr habt doch alle gehört, was Johann gesagt hat.«

Die Auswanderer nahmen gegenüber Jacob und Hansen eine feindselige Haltung ein, als wollten sie es auf eine handgreifliche Auseinandersetzung ankommen lassen.

»Wiegmann, wie sollen wir vorgehen?« fragte Hansen.

Unter den gegebenen Umständen war es das Klügste, die Entscheidung dem Eingeklemmten zu überlassen. Eine Auseinandersetzung zwischen Auswanderern und Seeleuten kostete nur noch mehr kostbare Zeit.

»Zieht die verdammten Kisten weg, aber schnell! Ich höre die Minna kaum noch!«

»Da haben Sie es!« triumphierte der Spitzbart gegenüber Hansen.

»Also gut«, knurrte der alte Seebär unwillig. »Alles runter von der Treppe und hier unten mit anfassen!«

So geschah es, und jetzt nahm der Frachtberg rasch ab.

Bald streckten sich den Rettern erneut Hände entgegen, die von Johann Wiegmann. Ächzend kroch er zwischen dem Frachtgut hervor, die Kleidung zerrissen, die Haut an vielen Stellen abgeschürft.

»Helft Minna«, flüsterte er atemlos. »Helft ihr doch!«

Seine letzten Worte gingen in einem lauten Getöse unter, als der Frachtberg einstürzte. Die Männer und Frauen suchten das Weite, um herunterfallenden Kisten und umherrollenden Fässern zu entgehen.

»Das hatte ich befürchtet!« schrie Jacob gegen den Lärm, als er Hansen aus der Bahn eines heranrollenden Fasses riß.

Viele der Frachtstücke zersplitterten und verstreuten ihren Inhalt über den Boden. Ein aufgeplatztes Faß umspülte die Füße der Menschen mit einem Strom aus Rum.

Als der Spuk zu Ende war, glich dieser Teil des Unterdecks einem Schlachtfeld. Langsam fanden die Menschen sich wieder zusammen.

»Minna!« heulte Wiegmann auf. »Minna, wie geht es dir?«

Er erhielt keine Antwort.

Die Lähmung wich von den Menschen, und sie nahmen ihre Arbeit erneut auf. Sehr zügig, denn es bestand kein Grund mehr zur Vorsicht.

Zuerst legten sie die Beine von Minna Wiegmann frei, dann den Rest. Eine schwere Kiste hatte auf ihrem Kopf gelegen und ihn zertrümmert.

»Tot?« fragte ihr Mann ungläubig und warf sich dann schluchzend über den Leichnam. Er weinte hemmungslos, und sein Körper zuckte unter den Attacken des inneren Schmerzes.

»Sie haben vier Kinder, die jetzt ohne Mutter in die neue Heimat kommen«, sagte Raabe.

Der kleine Mann mit dem Spitzbart wollte sich leise davonstehlen, aber Jacob setzte ihm nach, packte ihn am Jackenaufschlag und schüttelte ihn so heftig durch, daß seine Augen vor Angst hervorzuquellen drohten.

»Bleiben Sie hier, Mann!« fauchte der Zimmermann zornig. »Sehen Sie sich an, was Sie angerichtet haben!«

Er stieß den Spitzbart so heftig in die Richtung der Toten, daß der Mann über herumliegende Trümmer stolperte und lang hinschlug.

Jacob sprang zu ihm und riß ihn hoch. »Sie sollen da hinsehen, habe ich gesagt!«

Hansen legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Laß es gut sein, Junge. Der Mann war im Unrecht, aber er hat auch nur helfen wollen. In solchen Situationen ist der Mensch nun mal häufig kopflos.«

Jacob sah ein, daß der Seemann recht hatte. Er konnte nichts mehr ändern, ließ nur seinen Zorn über den ungerechten Tod an dem kleinen Mann mit dem Spitzbart aus. Er ließ ihn los, aber der Mann blieb am Boden hocken und starrte wie gebannt auf den weinenden Auswanderer und seine tote Frau.

»Es gibt nur einen Mann, den wirklich eine Schuld am Tod dieser Frau trifft«, fuhr Hansen fort und erhob drohend die Faust. »Gnade dir Gott, Oliver Desmond. Wenn ich dich zwischen die Finger kriege, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein!«

*

Als die Menschen aus dem Bauch der ALBANY wieder an Deck stiegen, war von der STAR OF INDIA nichts mehr zu sehen, nicht einmal eine Rauchfahne am Horizont.

Die Nachricht über das tödliche Unglück breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Die ausgelassene Stimmung, die noch vor weniger als einer Stunde an Bord geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Jetzt schauten die Auswanderer betreten drein und schwiegen, oder sie wünschten den Menschen auf dem englischen Dampfer Pest und Cholera an den Hals.

Mit ihren sämtlich gesetzten Segeln kam die Bark der Küste rasch näher. Die dünne Linie des Landes am Horizont wurde beständig dicker, und bald sah man von Bord aus die große Stadt namens New York, deren Hafen das Ziel der ALBANY war.

Mit dem überraschenden Auftauchen der STAR OF INDIA hatte die wochenlange Einsamkeit des Seglers ein jähes Ende gefunden. Je näher man dem Hafen kam, desto mehr konnte man den Eindruck bekommen, das Meer sei mindestens ebenso stark bevölkert wie die Straßen von Hamburg. Schiffe aller Größen und Bauarten kreuzten vor New Yorks Küste. Die ALBANY hatte die meisten Segel gerefft und fuhr jetzt sehr langsam, um nicht mit einem der vielen Schiffe und Boote zu kollidieren.

Um dem Gedränge am Bug zu entgehen, hatten sich Jacob und Martin zu Piet Hansen auf das Achterdeck gesellt. Irene wachte im Zwischendeck bei ihrem schlafenden Kind; den beiden war zu Jacobs großer Erleichterung nichts zugestoßen.

Hansen zog wieder sein Fernrohr aus, um die Küste zu betrachten. Plötzlich stieß er ein wütendes Knurren aus.

»Da liegt der verdammte Dampfer schon an der Quarantänestation!«

»Quarantänestation?« wiederholte Jacob. »Wieso das?«

»Bloße Routine«, erklärte der Seebär. »Die müssen wir auch noch hinter uns bringen. Hoffentlich kriegen wir keine Schwierigkeiten wegen unserer Choleratoten, sonst liegen wir Tage oder Wochen dort fest. Dabei würde ich es diesem verfluchten Engländer fast wünschen, einen Monat lang unter Quarantäne zu stehen!«

Jacob lieh sich von Hansen das Fernrohr und fand bald die schwimmende Plattform vor der Küste, vor der die STAR OF INDIA lag. Das Dampfschiff schaukelte so friedlich auf den Wellen, daß Jacob für Sekunden geneigt war, das Wettrennen für einen bloßen Alptraum zu halten. Aber die tote Frau, die jetzt im Zwischendeck lag, bewies das Gegenteil.

Jacob wollte das Fernrohr gerade an Hansen zurückgeben, als ihm ein kleiner Dampfkutter auffiel, der in voller Fahrt auf die ALBANY zuhielt. Er machte den Kommandanten der Bark darauf aufmerksam, und Hansen spähte erneut durch das Fernrohr.

»Es ist das Lotsenboot«, stellte er fest. »Bald werden wir erfahren, ob ihr heute noch an Land gehen könnt.«

Der Kutter verringerte seine Geschwindigkeit und setzte ein Ruderboot aus, als er in der Nähe der Bark war. Zwei Matrosen ruderten einen dritten Mann zu dem Segler herüber, den er über die Jakobsleiter enterte. Der Mann war jung, klein, drahtig und trug eine Schirmmütze auf dem schmalen Kopf. Hansen begrüßte ihn, während das Ruderboot zum Kutter zurückfuhr, und der Lotse stellte sich mit dem Namen Carter vor. »Können wir gleich in den Hafen einlaufen, Mr. Carter?« erkundigte sich Hansen.

»Einlaufen schon, aber Ihre Passagiere können das Schiff erst morgen verlassen, Captain. Die Quarantänestation und das Einwandererdepot haben uns mitgeteilt, daß sie heute keine zweite Schiffsladung Auswanderer mehr durchschleusen können. Ihre ALBANY ist der achte Auswanderertransport, der in den Hafen einläuft.«

»Das haben wir nur dieser vermaledeiten STAR OF INDIA zu verdanken!« verschaffte Hansen seinem Ärger Luft.

»Der Engländer war halt schneller als Sie, Captain. Das ist Pech.«

»Das ist nicht nur Pech, sondern eine verdammte Rücksichtslosigkeit, bei der eine Frau ihr Leben verloren hat.«

Als der Lotse ihn verwirrt ansah, erzählte ihm Hansen, was sich ereignet hatte.

»Eine ziemlich üble Geschichte, die Sie da erlebt haben«, befand Carter. »Da hat nicht nur Ihr Schiff, sondern auch diese Auswandererfrau Pech gehabt.«

»Pech? Das nennen Sie Pech? Für mich war das kaltblütiger Mord, für den ich Captain Desmond zur Verantwortung ziehen werde!«

»Damit werden Sie kaum durchkommen. Wie wollen Sie dem Captain der STAR OF INDIA eine Tötungsabsicht nachweisen? Jedes Gericht wird sagen, es war einer jener tragischen Unfälle, wie sie sich auf See immer wieder ereignen.«

Eine Weile schwieg Hansen und sah zum Festland hinüber, wo der englische Dampfer vor Anker lag. Zu weit entfernt noch, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen.