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Plötzlich wurden Miene und Stimme des Hauptmannes wieder ernst. »Bleut den Burschen Respekt vor dem Uniformrock ein!«
Der Kreis der blauen Uniformen schloß sich enger um Jacob und Martin. Letzterer drängte Irene beiseite, um sie und das Kind aus der Gefahrenzone zu bringen.
»Was ist da los?« rief plötzlich eine Stimme hinter den Soldaten.
Ein älterer, gemütlich wirkender Mann in der Kleidung der Depotbeamten bahnte sich einen Weg zwischen den Soldaten hindurch und blieb vor dem Offizier stehen.
»Was ist das für eine Veranstalltung, Hauptmann Gerber?« verlangte er zu wissen.
»Wir wollen aus den beiden Milchgesichtern richtige Rekruten machen.«
Der Beamte wandte sich an Jacob und Martin. »Ihr habt auf der Rekrutierungsliste unterschrieben?«
»Das haben wir nicht«, sagte Jacob. »Und wir haben es auch nicht vor.«
Der Beamte wandte sich wieder an den Offizier. »Dann verstehe ich nicht, was Sie von den Einwanderern wollen, Herr Hauptmann.«
»Sie davon überzeugen, daß die Armee richtige Männer aus ihnen macht. Außerdem braucht der Norden Soldaten. Sie sollten sich da nicht einmischen, Herr Newman!«
»Hier ist das Einwanderungsdepot von New York, nicht das Rekrutierungsbüro der Armee. Sie haben die Erlaubnis, hier Soldaten für Ihr Regiment anzuwerben, nur unter der Voraussetzung erhalten, daß es keinen Ärger gibt und daß niemand zum Unterschreiben gezwungen wird. Wenn Sie sich nicht daran halten, muß ich dafür sorgen, daß die Erlaubnis widerrufen wird.«
Für eine halbe Minute sagte der Offizier gar nichts, war nur damit beschäftigt, seine Wut unter Kontrolle zu bringen.
»Also gut«, brachte er schließlich mit gepreßter Stimme hervor. »Die beiden Figuren hätten unserem Regiment gewiß nur Schande gebracht. Kümmert euch lieber um die anderen Rekruten, Männer!«
Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, drehte sich auch Gerber um und suchte in der Menge der Einwanderer neue Opfer.
»Vielen Dank für die Hilfe, Herr Newman«, sagte Jacob und meinte dann: »Sie sprechen ein einwandfreies Deutsch, aber Ihr Name hört sich nicht so an.«
Der Alte lachte. »Vor fünfzehn Jahren hieß ich noch Neumann und war Lehrer im schönen Minden an der Weser. Aber hier paßt man sich halt an. Das denkt Gerber wohl auch. Bevor der Krieg ausbrach, führte er ein Schuhgeschäft in Klein-Deutschland. Aber jetzt fühlt er sich zu Höherem berufen und hat die Leitung des Geschäftes seiner Frau überlassen. Er will als Offizier Karriere machen und am liebsten General werden.«
»Was ist das, Klein-Deutschland?« fragte Irene.
»Das Viertel im Osten der Stadt, rund um den Tomkins Square, in dem hauptsächlich Deutsche leben, Fräulein. Deshalb wird es Klein-Deutschland genannt, von den Nichtdeutschstämmigen weniger liebevoll auch Dutchtown.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Newman führte sie ins Büro des Registraturarchivs, wo er einen Kollegen bat, die Einwandererlisten seit Mitte Februar nach dem Namen Adler durchzusehen. Die Arbeit nahm über eine Stunde in Anspruch, aber auf keiner der Listen war der gesuchte Name vertreten.
Enttäuscht verließ Jacob mit seinen Freunden das Büro.
»Vielleicht ist deine Familie woanders an Land gegangen«, versuchte Irene ihm Mut zu machen.
»Ja, vielleicht«, sagte Jacob leise und dachte an das, was ihm ein Schiffahrtsagent in Hamburg erzählt hatte. Wer nach Texas wollte, sollte günstigerweise in New Orleans an Land gehen, besser noch in Galveston.
Aber nur wenige Schiffe steuerten diese Ziele von Hamburg aus an. Hatte sein Vater das Glück gehabt, eines dieser Schiffe zu erwischen?
Oder war seine Familie gar nicht nach Amerika gefahren? War Jacob die ganze Zeit über einem Phantom nachgejagt?
Hatte er die weite, lange Reise umsonst unternommen?
*
Vor dem Ausgang des Depots versammelten sich die Menschen von der ALBANY auf einem großen Platz, wo ein Beamter zu ihnen sprechen wollte. Jacob und seine Freunde staunten, als sie den alten Newman auf das Podest steigen sahen.
Er begann seine Ansprache mit einigen geschichtlichen Ausführungen über New York. Sie erfuhren, daß der Holländer Peter Miniut Manhattan den einheimischen Indianern für ganze sechzig Gulden abgekauft hatte. Daß die erst Neuholland und dann Neuamsterdam getaufte Siedlung in New York umbenannt wurde, nachdem sie 1664 von englischen Truppen besetzt worden war; der Name sollte den Herzog von York ehren, einen Bruder des englischen Königs.
Newman sprach über die Freiheiten, die jedermann in den Vereinigten Staaten genoß, und vom Unabhängigkeitskrieg, den Amerika erfolgreich gegen England geführt hatte. 1789 hatte George Washington auf dem Balkon der Federal Hall den Eid als erster Präsident der Vereinigten Staaten geleistet, und bis 1790 war New York die Hauptstadt der jungen Nation gewesen. Jetzt war sie die größte Stadt des Landes und ihr wirtschaftliches Zentrum.
Der Beamte berichtete über den Konflikt zwischen Nord-und Südstaaten, über Präsident Abraham Lincoln und seinen Kampf für die Freiheit der Menschen, der die Unterstützung jedes aufrechten Amerikaners und auch jedes Einwanderers verdiene. Fast meinte Jacob, Hauptmann Gerber reden zu hören.
Schließlich kam Newman auf das zu sprechen, was die Menschen wirklich interessierte. Er gab ihnen praktische Anleitungen, wie sie sich in dem fremden Land und in der großen Stadt verhalten sollten. Und er warnte sie noch einmal vor den ebenso geschäftstüchtigen wie gewissenlosen Runnern.
Nach der Ansprache nahmen die Einwanderer ihr Gepäck in Empfang. Das der drei Freunde war so spärlich, daß sie es bequem tragen konnten. Besonders Jacob, der nicht mehr bei sich trug als in den Jahren seiner HandwerksburschenWanderschaft. Alles war in einer großen Ledertasche untergebracht, die er an einem Schulterriemen trug. Er hatte sich zusätzlich Irenes Gepäck aufgeladen, damit sich die junge Frau um ihr Kind kümmern konnte.
»Und wohin jetzt?« fragte Martin.
»Wir brauchen Unterkunft und vor allem Arbeit«, stellte Jacob fest. »Mir scheint, in Klein-Deutschland finden wir das am ehesten.«
Sie verließen den abgesperrten Bezirk des Einwanderungsdepots und gerieten in einen wahren Menschenauflauf. Die Runner, vor denen sie gewarnt worden waren, versuchten ihre Geschäfte mit den unerfahrenen Neuankömmlingen zu machen. Sie boten Rat und Tat an, Unterkunft und Arbeit, Fahrkarten, Pferde und komplette Fuhrwerke.
»Wir sehen uns lieber in Klein-Deutschland direkt nach Unterkunft und Arbeit um«, sagte Jacob noch einmal eingedenk der Warnungen, die Piet Hansen und die Einwanderungsbeamten ausgesprochen hatten.
Sie wehrten aufdringliche Hände ab und kämpften sich durch die Menschenmenge hindurch, bis sie endlich freien Blick auf die fremde Stadt hatten.
Es war ein überwältigendes Bild, das sich ihnen bot. Links der Hudson und rechts der East River. Dazwischen die sich keilförmig verbreiternde Insel Manhattan mit schnurgeraden Straßen, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schienen. Die Straßen waren breiter und die Häuser höher als alles, was sie in Deutschland jemals gesehen hatten. Trotz der Breite der Straßen herrschte auf ihnen eine drangvolle Enge. Manche Geschäfte hatten ihre Auslagen draußen auf Ständen, die bis an die Fahrbahn reichten, auf der sich Pferde und Fuhrwerke so rigoros einen Weg suchten, daß sich Fußgänger äußerst vorsichtig bewegen mußten, wollten sie nicht unter die Hufe oder die Räder kommen.
Martin brachte es mit einem Satz auf den Punkt: »Hier ist alles größer und breiter als in Deutschland, und von allem gibt es viel mehr.«
Staunend wanderten sie durch die Straßen und vergaßen fast die Zeit darüber. Schließlich fragten sie einen Polizisten nach dem Weg zum Tomkins Square. Er riet ihnen, einen Omnibus zu nehmen, da der Weg noch recht weit war.
Der von zwei kräftigen Kaltblütern gezogene Bus brachte sie bis zur Avenue A, die an der Westseite des Tomkins Square mitten durch Klein-Deutschland lief und auf der sich Lokale, Restaurants und Kolonialwarengeschäfte aneinanderreihten. Manchmal waren die Namen in Deutsch geschrieben, manchmal in Englisch, manchmal in einem seltsamen Mischmasch und häufig auch in beiden Sprachen. Ähnliches galt für die Namen der Inhaber, die - wie in Newmans Fall -oft dem Englischen angeglichen waren.
Sie spürten ihren Hunger, hatten sie doch seit dem Frühstück auf der ALBANY nichts mehr zu sich genommen. Deshalb kehrten sie in einem Restaurant ein, über dem ein großes Schild mit der deutschenglischen Kauderwelsch-Aufschrift »Albert's Bier-Garden« hing. Außerdem hofften sie hier zu erfahren, wo sie vielleicht Arbeit und Unterkunft finden konnten.
Der Biergarten war nur mäßig besucht, was daran liegen mochte, daß die Zeit zum Abendessen und fröhlichen Beisammensein noch nicht gekommen war. Sie ließen sich im Schatten einer großen Linde an einem der zahlreichen Tische vor dem Gebäudeeingang nieder und bestellten bei einem jungen Ober Erbseneintopf. Die Männer tranken Bier und Irene einen Apfelsaft.
Während sie hungrig den Eintopf in sich hineinlöffelten, erweckte ein lärmender Trupp von vier Männern, durchweg kräftige Kerle, ihre Aufmerksamkeit. Unter lautem Getöse ließen sie sich an einem Tisch im Biergarten nieder und riefen aus vollem Hals nach dem Ober.
Sie sprachen ein Englisch, das Jacob nur mit Mühe verstand und das ihn an Paddy O'Rourke, den irischen Segelmacher der ALBANY, erinnerte. Auch die rote Färbung der Haare bei den meisten der neuen Gäste deutete darauf hin, daß sie oder ihre Vorfahren in Irland geboren waren.
Als der junge Ober kam, um die Bestellungen aufzunehmen, stand in seinem Gesicht deutlich das Unbehagen geschrieben, das er gegenüber den vier Neuankömmlingen empfand. Nur zögernd näherte er sich dem Tisch, und seine Hand, die den Bleistift führte, zitterte, als er ihre Bestellungen notierte.
»Und beeil dich, Dutch«, rief einer der Iren ihm nach. »Wir haben Hunger und legen keinen Wert auf die Gemütlichkeit der Germans!«
»Sieh mal, wie er läuft, Joe«, sagte ein anderer Mann zu dem, der eben dem Ober nachgerufen hatte. »Der Dutch stolpert noch über seine eigenen Beine, wenn er so dämlich ist wie alle seine Landsleute.«
Tatsächlich hatte der Ober, vom polternden Auftreten der Iren beeindruckt, seine Schritte beschleunigt.