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Seine an der Anlegestelle von Hassans Schiff postierten Leute hatten noch immer keine Meldung vom Eintreffen des arabischen Händlers gebracht.
Um diese Zeit hätte normalerweise alles schon vorüber sein müssen. Der Zeitpunkt, an dem Mulung-Tulung wieder das unbekannte, von keines Fremden Fuß betretene Königreich sein sollte, war überschritten.
Wo mochte Hassan bleiben?
Daß die anderen, die Feinde, gesiegt haben könnten, stand außerhalb seiner Erwägung, er konnte es sich nicht vorstellen. Er glaubte wie ein kleines Kind an die Einmaligkeit eines Spielzeugs, an die Wunderwirkung der sechzehn Feuerrohre, die nun verlassen zwischen den Hügeln aufs Abgeholtwerden warteten.
Plötzlich schreckte er aus seinem Brüten auf. Schnelle Schritte erklangen auf dem Hauptsteg. Sie verhielten vor seinem »Palast«. Dann hörte er Stimmen aus dem großen Mittelraum, in dem Taitscha und der kranke Weiße wieder ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Die Unterhaltung nahm an Heftigkeit zu und wurde bald so laut geführt, daß Tunatatschi fast jedes Wort verstehen konnte.
»Sie sind da! Sie kommen, um ihre Toten zu rächen! Ehe die Sonne einen Schritt weitergerückt ist, werden sie in der Stadt sein! Wo ist der König?« hörte Tunatatschi den Ankömmling sprechen.
Schnell erhob er sich und ging hinaus.
»Was ist?« fragte er.
»Unsere Feinde kommen! Ich jagte zufällig jenseits des Flusses und sah sie am diesseitigen Ufer marschieren.« »Wer?«
»Die Weißen, von denen du sagtest, daß sie längst ein Fraß der Fische geworden seien.«
»Wie viele?«
»Dreimal die Finger meiner beiden Hände.« Tunatatschis Augen blitzten.
»Lauf sofort zu unseren Kriegern, die ich zum Empfang Hassans bereitgestellt hatte, und befiehl ihnen, daß sie in die Stadt kommen sollen!« Der Bote nickte und eilte davon. Aber Tunatatschi sollte keine Ruhe haben. Kaum war der Mann gegangen, erschien ein neuer Besucher. Es war der Alte mit der kreischenden Stimme, der, auf zwei jüngere Krieger gestützt, das Haus betrat.
»Was tust du nun, Tunatatschi? Werden uns die Fremden nicht vernichten? Sie sind im Anmarsch, und wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen«, meinte der Alte mit lauter, zitternder Fistelstimme.
Der König der Insel betrachtete ihn verächtlich.
»Du winselst wie ein geschlagener Hund, obwohl du doch noch gar keine Prügel bekommen hast. — Sie werden nicht uns, sondern wir werden sie vernichten. Sind sie über Hassan Sieger geblieben, so werden wir Sieger über sie sein.«
»Du redest irre! Du bist größenwahnsinnig! Es sind dreißig bis an die Zähne bewaffnete Männer!«
»Was sind schon dreißig! Meine Krieger zählen dreihundert.«
»Und wenn sie nichts Böses wollen? Vielleicht nur diesen da?« Er deutete auf Fernando, der mit verängstigten Augen in einer Ecke kauerte.
»Sie werden ihn nicht bekommen. Sie werden überhaupt nicht Gelegenheit haben, seine Herausgabe zu fordern. Wir werden über sie kommen wie ein Wespenschwarm !«
»Du willst uns ins Unglück stürzen! Aber ich werde das verhindern.«
Eine steile Unmutsfalte bildete sich auf Tunatatschis Stirn.
»Ich bin hier der König. Ihr habt mir zu gehorchen, auch du.«
»Einem Verrückten gehorche ich nicht. Ich habe fast hundert Sonnen gesehen. Weißt du nicht, wie unsere Väter von den Weißen ausgerottet wurden?«
»Wir werden sie rächen.«
Der Alte schüttelte sein greisenhaftes Haupt. Er gab den beiden Kriegern einen Wink. Sie nahmen ihn auf und trugen ihn hinaus. Dabei hörten sie ihn murmeln:
»Er ist verrückt. — Er ist wirklich verrückt.«
Der Alte wohnte gleich auf einem der Nebenstege. Sein Haus war fast ebenso groß wie das Tunatatschis. Er war der reichste Mann der Insel neben dem König. Sein Name war Tantschu.
»Bleibt«, rief er seinen beiden Helfern zu, als diese sich entfernen wollten. »Geht sofort in alle Hütten und bestellt die Ratsversammlung zu mir.«
Ächzend ließ sich der alte Mann auf sein weiches Lager aus Bastmatten nieder. Aber er legte sich nicht, sondern blieb sitzen. Seine gelbe Haut war gerötet. Er fieberte vor Erregung.
Es dauerte nicht lange, und die Ältesten des Stammes waren um ihn versammelt.
Mit hastiger Stimme erklärte ihnen Tantschu den Sachverhalt und sagte klar und offen, was er von dem Vorhaben des Königs hielt.
Die Weisen sahen erwartungsvoll auf den Zauberer; denn diesem stand als erstem das Recht der Äußerung zu. Er war bekannt als Anhänger der Ideen Tunatatschis. Jeder erwartete, daß er den alten Tantschu schelten würde.
Aber es kam anders.
»Tantschu hat recht«, meinte er mit ernster, getragener Stimme. »Ich habe die Götter befragt und im Wasserspiegel des Sees den Untergang unseres Volkes gesehen. Jede Herausforderung der Fremden erschiene mir als eine Freveltat. Ich bin dafür, daß wir den König für die Dauer der Verhandlung mit den Weißen absetzen.«
»Ja, ja«, sagte Tantschu, »geht nur hin und sagt es ihm, bevor es zu spät ist. Er ist verrückt, er ist verrückt!«Sie erhoben sich und gingen unter Führung des Zauberers über den breiten Steg zum Residenzpalast.
Tunatatschi nahm ihre Entscheidung schweigend mit zusammengepreßten Lippen auf. Als sie das Haus verließen, hatte er noch immer kein Wort gesprochen. Taitscha starrte ihn mit großen, angstvollen Augen an.
»Diese Feiglinge«, knirschte Tunatatschi. »Sie sind zu primitiv für einen großen Gedanken. Sie haben keine Besessenheit. Sie kennen nur ihre Bastmatten, ihre Schwiegermütter und ihre Weiber. Sie sind faul und unfähig, eine mitreißende Idee zu verarbeiten. Sie sind alt. Aber meine Krieger sind jung, voller Feuer, voller Durst nach großen Taten. Tunatatschi geht zu seinen Kriegern.«
Er verließ die Hütte, nahm aber nicht den Weg über den Hauptsteg, sondern sprang in ein leichtes Rindenkanu, das er selbst mit kräftigen Stößen über das Wasser trieb.
21
Michel fiel das Laufen schwer. Dennoch schritt er ohne jede Hilfe über den unebenen Grund.
Die schwere Muskete trug er entsichert in der Rechten. Als sie zwischen die Hügel kamen, blieb ihr Blick entsetzt auf den herumliegenden Araberleichen hängen.
»Santa Maria«, entfuhr es Ernesto. »Es sind Muselmanen. Die Kanonen sehen aus wie die von der »Mapeika«. So haben wir den Angriff irgendeinem Fremden zu verdanken. Demnach scheint die Insel doch nicht mehr so unbekannt zu sein, wie Mutatulli annahm.«
Michel ging von Kanone zu Kanone. An jeder Leiche beugte er sich nieder. Nach einer Weile blieb er kopfschüttelnd stehen.
»Weiß Gott«, sagte er. »Ojo hat gut geschossen, aber viele von den Männern der Geschützbedienungen sind nicht durch unsere Kanonenkugeln gestorben. Man kann keine Wunde finden. Es ist, als sei die Hälfte von ihnen einem Schlaganfall erlegen.«
»Was kümmert es uns«, rief einer vorlaut, »ihr Glück daß sie tot sind, so brauchen wir sie nicht mehr zu erschlagen!«
»Schweig, Dummkopf«, fuhr Michel den jungen Schwätzer an. »Man spricht nicht so über Tote, auch nicht, wenn es sich um Feinde handelt!«
»Was meint Ihr, woran sie gestorben sind?« fragte Marina Michel.