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»Tja«, meinte Virgen. »Ich werde nach wie vor die »Trueno« steuern, und Ihr müßt dafür sorgen, daß die Kanoniere in Zukunft genauso sicher schießen wie unter Ojos Leitung.«
»Ihr wollt also weiter den Befehlen der Gräfin gehorchen?«
»Natürlich. Einer muß doch befehlen. Die Leute sind auf sie verschworen, und ich heule mit den Wölfen.«
»Ans Abheuern habt Ihr nicht gedacht, wie?«
»Nein. Soll ich mich vielleicht zu Hause hinsetzen und Bücher schreiben über das, was wir erlebt haben? Ich bleibe. Das Schiff ist mir teuer, die Jungen sind zuverlässig, na, und die Gräfin ist nur hin und wieder ein bißchen verdreht. Ich kann den Doktor verstehen. Er war niemals Korsar; aber was spielen die paar umgebrachten Eingeborenen in unserem Leben und in unserem Gewissen für eine Rolle !«
Jardín nickte nachdenklich. Er war mit dem, was Virgen gesagt hatte, keineswegs einverstanden, hatte aber andererseits nicht die geringste Neigung, das Schiff, das ihm zur zweiten Heimat geworden war, zu verlassen. Bei Ojo war das anders. Der hatte sich im Laufe der Jahre so an den Pfeifer gewöhnt, daß er sich ein Leben ohne ihn wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen konnte. Und diese Jahre der Gemeinsamkeit hatten ihn zart gemacht. Er war wirklich kein Pirat mehr, nicht einmal Korsar. Er hatte sich gänzlich gewandelt.
Jardín stieg auf die Kommandobrücke, ergriff einSprachrohr und gab den Befehl, die »Trueno« klarzumachen.
»Wir gehen auf Westkurs! Wollen diese verdammten Gewässer endlich verlassen. Vergeßt nicht, was ihr heute getan habt. Enter auf! Alle Segel setzen!«
24
Zehn Tage waren sie nun schon auf See. Der Pfeifer hatte sich nicht mehr an Deck sehen lassen.
Die Stimmung war nach wie vor gedrückt. Das einzige, was Michel getan hatte, war, daß er sich um die Verwundeten kümmerte, auch um die, die er selbst angeschossen hatte.
Am zehnten Abend — Ojo war bei ihm — klopfte es, und Tscham trat ein.
»Verzeih wenn ich störe, mein Freund. Ich habe gehört, du zürnst uns allen.«
Michel lächelte.
»Dir nicht. Du gehörst ja nicht zu den Mördern.«
Tscham ging auf diese Bemerkung nicht ein. Er wollte die Piraten nicht verteidigen, dünkte sich aber auch nicht erhaben; denn er hatte sich ernsthaft gefragt, ob er in einem solchen Fall nicht vielleicht auch vom Rausch des Augenblicks ergriffen worden wäre.
»Ich habe eine Bitte, mein Freund.«
»Sprich sie aus«, sagte Michel.
Der Radscha nestelte an seinem Hemd und förderte einen umfangreichen Brustbeutel zutage.
»Ich habe hier ein Dokument, das Vermächtnis Sadharans. Du wirst dich seiner noch erinnern.«
»O ja, sehr genau. Einen Menschen wie ihn vergißt man nicht.«
»Er gab es mir kurz vor seinem Tode, als mein Palast im Feuer zusammenstürzte und du mich gerettet hast.«
Er faltete einen großen Bogen Chinapapier auseinander und breitete ihn vor Michel aus.
»Ah«, sagte Michel. »Eine Karte.«
Tscham nickte.
»Ja. Das erkannte ich auch. Aber auf der Rückseite steht ein Text, den ich nicht lesen kann.«
Michel schlug den Bogen um und fand zu seiner Überraschung vierzig bis fünfzig Zeilen, die in klassischem Griechisch abgefaßt waren.
»Kannst du das lesen?« fragte Tscham.
Michel nickte.
Seine Augen wanderten von Zeile zu Zeile. Nach einiger Zeit sah er auf.
»Du bist ein reicher Mann, Tscham, vielleicht einer der reichsten der Welt.«
Tscham lachte.
»Ich, der vertriebene Radscha von Bihar, ich soll reich sein? Ich bin ärmer als der letzte Matrose hier; denn ich habe nicht einmal eine Heimat.«
»Sei nicht gar so traurig. Dein Reichtum wird dir gestatten, dir jedes beliebige Land in der Welt zur zweiten Heimat zu machen. Hör zu, ich werde dir den Text frei übersetzen.«
Im Gesicht Tschams lag große Spannung.
Michel begann:
Ich, der Lama der Lai-Fai-Pe aus Tibet, bin der letzte Besitzer des auf dieser Karte verzeichneten Geheimnisses. Von Generation zu Generation wurde es stets demWürdigsten weitervererbt. Der, der es einmal von mir erhalten wird, ist in meinen Augen der Würdigste von allen, die ich getroffen habe. Er möge das Geheimnis hüten und weitervererben oder preisgebenoder verschenken. Aber es darf in keines Unwürdigen Hand gelangen.
Die Karte zeigt einen Teil der Ostküste von Afrika. Die Insel, die den Ausgangspunkt der Zeichnung bildet, heißt Sansibar. Wenn man den Weg, der von hier ausgehend verzeichnet ist, entlang geht, wird man nach mühevoller Wanderung den großen weißen Berg erreichen. Er heißt weißer Berg, weil winters und sommers Schnee auf seinen Gipfeln liegt. Er ragt in diesem Teil Afrikas auf, groß und mächtig wie der heilige Himalaja in den Himmel des Dalai Lama.
Am Fuße dieses Berges liegt das Geheimnis, mit einem durchkreuzten Ring auf der Karte bezeichnet. Es besteht aus fünf Eselsladungen von Diamanten und Perlen. Von den Diamanten ist keiner kleiner als ein Taubenei.
Die Geschichte dieses Schatzes ist vage. Niemand weiß, wem er einst gehörte, wie und weshalb er an diese finstere Stelle der Erde geraten ist. Der letzte, der von dem Geheimnis Gebrauch machen wird, darf ihn behalten, da der Besitz dieser Urkunde ihn als einen Würdigen legitimiert. Höchstes Ziel sei die Erlösung der Seele von der Wiedergeburt und der Weg ins Nirwana.
Mit diesem buddhistischen Glaubensbekenntnis schloß die Schrift.
Der Pfeifer wandte das Blatt um und deutete auf die Karte.
»Hier ist der durchkreuzte Ring. Das Gebirge ist wahrscheinlich der Schneeberg.«
»Weißt du, wie man dort hinkommt?« fragte Tscham.
Michel holte eine Karte herbei, die Afrika zeigte.
»Hier liegt die Insel Sansibar. Weiter im Süden Madagaskar. Die Küste Afrikas ist hier an manchen Stellen schon besiedelt. Araber waren wohl die ersten, die hier Niederlassungen gründeten. Alles andere ist unerforscht. Aber in diesem Gebiet muß der Ort sein, an dem dein Schatz vergraben liegt.«
»Glaubst du, daß man zu diesem Schneeberg hingelangen kann?«
Michel blickte nachdenklich auf die Karte mit den vielen weißen Flecken.
»Es wird ein sehr, sehr beschwerlicher Weg sein. Er führt ziemlich weit ins Innere des Landes.