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Diese Minuten benutzte Michel dazu, wieder zu laden. Den sechsten Schuß hatte er sich für alle Fälle ohnehin aufgespart.
Als die Leute zurückkamen, ließen sie den Pfeifer nicht mehr aus den Augen. Abu Sef gab seine Skepsis auf. Auch wenn er nicht zu dem Baum gegangen war, glaubte er, was neun Augenpaare gesehen hatten.
Er dachte nach, weshalb der Prophet wohl gerade ihn in die Arme dieses Rachegeistes getrieben hatte. Aber er gab noch nicht auf.
»Was willst du von mir?«
»Du wirst die Sklaven freigeben.«
»Bei Allah, daß ich verrückt wäre! — Es sind doch keine Menschen. Soll ich sie freigeben, damit sie ein anderer holt und sein Geschäft macht?«
»Es wird nicht mehr lange dauern, und es wird niemand mehr Geschäfte mit Sklaven machen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Von mir aus kannst du glauben, was du willst. Du gibst sie also nicht gutwillig frei?«
Abu Sef zog es vor, diese Frage vorläufig noch unbeantwortet zu lassen.
»Ich denke«, sagte er, »du bist ein Gelehrter, der die Berge mit dem ewigen Schnee sucht ! Als wir uns am Hafen trafen, sagtest du es wenigstens !«
»Das stimmt«, sagte Michel. »Ich bin ein Gelehrter, handle aber zugleich im Auftrag Allahs, der nicht will, daß seine schwarzen Kinder behandelt werden, als seien sie keine Menschen.«
»Sie sind keine Gläubigen. Was kann Allah liegen an Ungläubigen?«
Sollte sich Michel in ein Streitgespräch mit diesem selbstherrlichen Scheich einlassen? Nein. Es würde zu nichts führen, wenn er es täte. Deshalb sagte er einfach:
»Ich weiß es nicht. Ich kann ihn auch nicht fragen. Sein Befehl genügt mir, und ich handle danach.«
»Aber ich lasse mir von dir nichts befehlen! Du bist ja selbst kein Rechtgläubiger. Weshalb schickt Allah nicht wenigstens einen Muslim als Rachegeist?«
»Ich habe ihn nicht gefragt.« Michel war noch immer ernsthaft. Er hatte die Vorstellung, daß er die armen Neger vielleicht doch gewaltlos befreien könnte. »Allahs Wege sind oft wunderbar.
Wir Menschen wissen sie nicht zu erklären.«
»Es ist kein Gott außer Allah«, murmelte der Anführer, »und Mohammed ist der Gesandte Allahs.«
»Allah akbar — Gott ist groß«, schloß sich Michel an. »Nun laß die Sklaven frei.«
Abu Sefs Gesicht war plötzlich wieder verhärtet.
»Nein«, sagte er. Dann fügte er nach einer Weile schlau hinzu: »Ich will erst den Mullah in Sansibar fragen. Dann ist noch immer Zeit, sie freizugeben.«
Er glaubte, mit diesem Schachzug Michels Wunsch umgehen zu können. Zweifellos kam er sich dabei sehr listig vor.
Doch der Pfeifer entgegnete mit eisiger Miene :
»Du wirst Sansibar nicht mehr lebend erreichen! Wir werden jetzt das unnütze Verhandeln abbrechen. Du wirstdie Sklaven ohnehin nur noch ein paar Stunden lang weitertreiben können.«
»Was soll das heißen?«
»Daß du froh sein wirst, Sansibar überhaupt noch einmal wiederzusehen, woran ich allerdings Zweifel hege.«
»Du bist ein Aufschneider. Ich lasse mich von einem Possenreißer, der ein paar Zauberstückchen vorführen kann, nicht einschüchtern!«
»La ilaha ila Allahu wa Mohammad rasul al-mahdi!« sagte Michel ernst und gab seinem Pferde die Sporen.
Wäre Abu Sef nicht im letzten Augenblick zur Seite gesprungen, so hätten ihn die drei wie im Sturmwind überritten.
Sie schossen dahin, daß die anderen gar nicht auf den Gedanken kamen, zu schießen. Erst, als sie schon fast außer Schußweite waren, kreischte Abu Sef :
»Schießt sie aus dem Sattel! So schießt doch!«
Einige der Mutigsten nahmen die Gewehre hoch und drückten ab. Aber die Kugeln rissen lauter kleine Löcher in die Luft.
Nur Tscham wandte sich erschrocken um.
»Was hast du?« fragte der Pfeifer.
»Nichts, nichts. Ich hatte für einen Augenblick das Gefühl, als habe mich eine Kugel gestreift!
Es war aber nichts.«
Sie jagten weiter. Nach zwei Meilen wies der Pfeifer mit der Hand nach Süden, verlangsamte den Ritt und drang in einen schmalen Pfad ein, der durch den Regen, der eben wieder einsetzte, in kürzester Zeit einem reißenden Bach glich.
Sie verhielten die Pferde.
»Sauwetter«, brummte Ojo.
»Uns bleibt nichts übrig, als hier auszuhalten«, sagte Michel auf spanisch und wandte sich dann Tscham zu, um auf englisch das gleiche zu wiederholen.
Aber Tscham winkte ab.
»Ich weiß schon, mein Freund, was du mir sagen wolltest. Aber ich glaube«, lächelte er, »du brauchst in Zukunft nur noch die schwierigen Dinge zu übersetzen. Auf den Schiffen und bei unserem Freund hier habe ich Spanisch ganz gut verstehen gelernt. Nur das Sprechen fällt mir schwer.«
»Großartig«, freute sich Michel. »Also paßt auf. Es ist natürlich klar, daß wir die Schwarzen befreien müssen.«
Die beiden nickten bestätigend.
»Bueno«, fuhr Michel fort. »Wir müssen dazu nacheinander alle Araber oder doch wenigstens den größten Teil von ihnen unschädlich machen. Wir werden also für ein oder zwei Tage ständig in ihrer Nähe bleiben und sie plötzlich beschießen. Aber nur in die Beine. Es darf keinen Toten geben. Ich denke überhaupt, daß wir das Gebiet hier ein wenig von den Sklavenhändlern säubern sollten. Aber das werden wir erst tun, wenn der Schatz geborgen ist.«
Sie stimmten zu.
35
Abu Sef war nach dem Wegritt der drei wütend geworden. Mit der Peitsche in der Hand ging er von Leiter zu Leiter und schlug wahllos auf die Unterdrückten ein. Sein Zorn war aber nicht ganz frei von Furcht. Und wenn er seine Leute anblickte, so sah er mehr Furcht als Zorn in ihren Gesichtern.