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»Wie finden wir den Häuptling?«
Mutatullis Blicke glitten über die Hütten.
»Wir müssen das schönste und größte Haus suchen, glaube ich, Sir. Auch die Häuptlinge von Naturvölkern haben etwas Ähnliches, wie es eure Würdenträger in den Ländern der Weißen besitzen und dort Repräsentanz nennen.«
Michels Augen erfaßten einen Steg, der breiter war als die übrigen. An seinem Ende, am weitesten draußen im See, lag die größte Hütte. Das mochte der Palast des Regenten sein.
Michel, der seine Villaverdische Muskete in der Rechten hielt, wies mit ihrem Lauf dorthin und sagte:
»Versuchen wir es dort.«
Seine Begleiter nickten. Sie gingen auf den Steg zu. Michel hatte noch keine zwei Meter in Richtung auf den »Palast« zurückgelegt, als mit einem Schlage vielfältiges Leben in das Dorf kam. Es war, als hätten die Eingeborenen in ihren Hütten nur darauf gewartet.
Auf allen Stegen, vor jedem Haus, überall wimmelte es durcheinander. Kanus schössen, von flinken Ruderschlägen getrieben, auf den Hauptsteg zu. Die Insassen schwangen sich hinauf und sammelten sich dort in beängstigender Menge. Es war staunenswert, wieviel Menschen die rohgefügten Planken tragen konnten, ohne zusammenzubrechen.
Der Lärm breitete sich über den ganzen See aus wie das Tönen einer großen Orgel.
»Was soll das nun bedeuten?« fragte Michel. »Ist das eine Huldigung oder soll man es als Drohung auffassen?«
Mutatulli kannte natürlich die Bräuche dieses Volkes ebensowenig wie Michel. Um erkennen zu können, was sich hier anbahnte, betrachtete er sich die vielen Gesichter.
Stand Haß in ihnen? War das Verdrehen der Augen, und das weiße Leuchten der Augäpfel ein Zeichen der Freude oder Drohung?
Mutatulli zuckte die Schultern.
»Ich weiß es, offen gestanden, auch nicht. Wir könnten einen Versuch machen, könnten auf dem Wege zum Häuptlingshaus weitergehen und sehen, ob sie uns Platz machen werden. Wenn sie es aber falsch auffassen, so---«
»Ob sie Gift kennen und vergiftete Pfeile?« fragte Michel.
»Wer weiß.«
»Was würdet Ihr vorschlagen?«
»Gehen wir an Land, setzen uns dort auf den Boden,zünden unsere Pfeifen an und warten. Die Neugier der Leute wird siegen. Und über kurz oder lang wird der Häuptling jemanden zu uns schicken.«
»Glaubt Ihr, daß es lange dauern wird?« »Wenn wir etwas erreichen wollen, so müssen wir Geduld haben. Ich sagte bereits, die Neugier wird siegen.«
So folgten sie denn Mutatullis Ratschlag, wandten sich zum Land zurück, suchten sich in der Nähe ein schattiges Plätzchen, ließen sich dort nieder und rauchten Pfeife.
7
Unter den Muskatnußbäumen hatte es sich inzwischen herumgesprochen, daß die Insel bewohnt war. Nach dem Weggang des Pfeifers und seiner beiden Kameraden bildeten sich überall Gruppen und Grüppchen, die das Ereignis besprachen.
Spannung lag in der Luft.
Die Männer fuhren sich mit den Händen nervös zum Gürtel, wo das Messer saß, als gelte es jeden Augenblick einen plötzlichen Angriff abzuwehren. Es war keine Rede mehr vom Pflücken der Früchte.
Ernesto lief immer noch von einer Gruppe zur anderen und fragte nach dem Studenten.
Niemand konnte ihm über dessen Verbleib Auskunft erteilen.
Zu dem Zeitpunkt etwa, als der Pfeifer sich vor dem Hauptsteg der Wasserstadt im Grase niederließ — es war am frühen Mittag — stand Ernesto vor Marina und berichtete ihr von Fernandos Verschwinden.
»Wann habt Ihr ihn zum letztenmal gesehen?«
Ernesto grübelte angestrengt.
»Gesehen? — Das muß gestern abend gewesen sein. Aber ich glaube, er hat nachts mit mir gesprochen, hat irgend etwas zu mir gesagt.«
»Was hat er gesagt?«
»Maldito, das weiß ich nicht mehr. Er schimpft immer nachts mit mir; denn er behauptet, ich wäre ein Schnarcher. Das bildet er sich natürlich nur ein. Ich schlafe leise wie eine Feldmaus. Ihr könnt es mir glauben, Señorita.«
»Ich weiß«, lachte Marina. »Ihr schlaft so leise, daß die Schiffsplanken zittern. — Habt Ihr denn nicht wenigstens gehört, daß sich Fernando entfernt hat?«
»No, Señorita.«
»Und wann, glaubt Ihr, schimpfte er mit Euch wegen Eures Schnarchens?«
Ernesto kniff die Augen zusammen. Seine Stirn war gefaltet wie ein Waschbrett. Man sah förmlich, wie angestrengt er nachdachte.
»Es kann spät, es kann aber auch sehr früh gewesen sein.«
Marinas Stirn umwölkte sich.
»Mit dieser Antwort kann ich genauso wenig anfangen, wie wenn Ihr gar keine gegeben hättet.
Wo habt Ihr geschlafen?«
Der Maat deutete auf einen Punkt im Gelände.
»Dort drüben, ein Stück von der Buschgruppe.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sich Marina um und strebte der bezeichneten Stelle zu. Der Maat folgte ihr wie ein begossener Pudel.
Das Gras an der Stelle, wo die beiden genächtigt hatten, hatte sich teilweise wieder aufgerichtet.»Wo habt Ihr gelegen?«
Ernesto wackelte unschlüssig mit dem Kopf.
»Ich glaube, hier.«
»Und wo hat Fernando gelegen?«
»Das kann ich nicht genau sagen.«
»Nun«, sagte Marina, »wenn Ihr dort gelegen habt, wo sich das Gras noch nicht wieder vollständig aufgerichtet hat, so ist das ein Zeichen, daß es länger niedergedrückt war. Das heißt, daß Fernando ein paar Stunden früher seinen Platz verlassen hat.«