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VIERTES KAPITEL In der Gewalt des Erpressers

Der große Turenne sagte einstmals zum französischen Minister Louvois: „Ein unfriedfertiger Nachbar ist der schlimmste aller Feinde. Man ist gezwungen, ihm gegenüber stets auf dem ‚Qui vive‘ zu stehen, und dieses Mißtrauen ist ein ewiges Hindernis aller friedlichen Bestrebungen. Sieger kann nur derjenige bleiben, welcher von beiden der Verschlagenere und rücksichtslosere ist.“

Mag die augenblickliche Ursache dieses Ausspruchs gewesen sein, welche sie wolle, der berühmte französische Feldherr hat mit diesen Worten das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland, wie es stets war und immer sein wird, ganz vortrefflich gezeichnet.

Nach den napoleonischen Kriegen hatte eine verhältnismäßig lange Ruhe die Deutschen besonders die Preußen innerlich kraftvoll erstarken lassen, ohne daß der oberflächlich urteilende Franzose es bemerken oder zugeben wollte. Der verbesserte Volksunterricht und treffliche Kriegsschulen hatten die Aufgabe gehabt, ausgezeichnete Offiziere und ein intelligentes Heer heranzubilden. Zöglinge dieser Kriegsschulen waren in entfernte Länder gesandt worden, um sich in den dortigen Kriegen an Erfahrungen und Anschauungen zu bereichern. Sie kehrten als tüchtige Strategen und Taktiker zurück, ohne daß dies von anderen beobachtet wurde.

Während Napoleon über Marschälle und Generäle verfügte, welche sich in Afrika, Rußland, China, Italien und Mexiko einen berühmten, vielleicht aber auch berüchtigten Namen gemacht hatten, besaß Preußen nur Wrangel, welcher zu alt war, um eventuell eine Heeresleitung zu übernehmen. Andere waren während des Schleswig-Holsteinischen Krieges zwar auch genannt worden, aber so oberflächlich, daß auswärts gar keine Notiz von ihnen genommen wurde.

Daß sogar preußische Prinzen, wie zum Beispiel Friedrich Karl, strategische Werke verfaßt hatten, hielt man für Spielerei, und war je einmal von einer Verbesserung oder Neuorganisation kriegerischer Institutionen die Rede, so verhallte die Kunde davon in dem Stimmengewirr; von Ereignissen, welche von größerer Wichtigkeit zu sein schienen. Der deutsche Michel besitzt eben einen guten Teil Mutterwitz und hat es verstanden, im europäischen Spiel nicht ahnen zu lassen, welche Karten er habe und welche Trümpfe zuletzt aufzulegen er imstande sei. Ihm das edle Schach anzubieten, hielt man für zu ungebildet und befangen; man hatte ihm nur erlaubt, an einer ungeschickten Partie Schafkopf teilzunehmen. Warf man ihm ja einen Stecher hin, so gab er klein zu. Man ahnte nicht, daß er schlauerweise die Matadore in der Hand behielt, um am Schluß die Gegner desto sicherer zu schlagen.

War in Paris von Bismarck, von Moltke die Rede, so zuckte man die Achseln. Der erstere war ein mittelmäßiger Staatsmann mit ungewandten Manieren, und der letztere ein Offizier, weiter nichts. Mit solchen Männern brauchte man nur so zu rechnen, wie der Spieler mit gewöhnlichen Blättern: sie gehören zur Karte, sind aber nichts weniger als entscheidend.

Nachdem Napoleon die mexikanische Schlappe erhalten hatte, ließ er sich im Gefühl der Blamage allerdings herbei, mit diesem Bismarck in einen Notenwechsel zu treten. Er bot Preußen eine Gebietsvergrößerung um acht Millionen Einwohner an und verlangte dafür den preußischen, bayrischen und hessischen Landesteil, welcher zwischen dem Rhein und der Mosel liegt. Dieser Streich sollte das Ansehen, welches er bei seinem Volk verloren hatte, wieder herstellen. Wie ungeschickt, wie tölpelhaft, daß dieser Bismarck nicht auf denselben einging! Mit diesem sogenannten Lenker des preußischen Staatswesens war eben ganz und gar nicht anständig zu verkehren!

Nun knüpfte Napoleon mit Wien ganz ähnliche Unterhandlungen an. Österreich ging darauf ein, Venetien abzutreten und dafür preußisch Schlesien zu erhalten. Zu gleicher Zeit erklärte der Kaiser den Franzosen, daß den deutschen Mittel- und Kleinstaaten mehr Selbständigkeit zu gewähren sei. Damit hatte er dem ‚ungeschickten‘ Bismarck den Rache- und Fehdehandschuh hingeworfen. Der ungelenke Deutsche bückte sich gleichmütig und hob ihn auf.

Napoleon hatte einen österreichischen Erzherzog in das Verderben und den Tod getrieben; jetzt trieb er das Vaterland des armen Max von Mexiko in das Unglück.

Preußen marschierte. Die Namen seiner Feldherren waren fast unbekannt; Österreich konnte ihm berühmte Männer entgegenstellen. In Paris spekulierte man auf eine rasche Niederwerfung Preußens oder, was man noch lieber sah, auf ein langwieriges, wechselvolles Ringen der beiden Gegner. Ein solches hätte Frankreich Gelegenheit zu hundert günstigen Schachzügen gegeben. Es kam anders. Preußen siegte; es warf seinen Gegner, der leider sein Bruder war, mit ungeahnter Schnelligkeit darnieder; dasselbe geschah mit den anderen deutschen Staaten.

Auch jetzt noch unterschätzte Napoleon die Kräfte des Siegers. Er verlangte durch den Gesandten Benedetti die Grenze vom Jahre 1814. Dadurch wären Rheinbayern und Rheinhessen nebst Mainz an Frankreich gekommen. Außerdem sollte Preußen auf das Besatzungsrecht in Luxemburg verzichten. Im Weigerungsfall drohte der Kaiser mit Krieg gegen Preußen.

Bismarck schloß, ohne Frankreich zu fragen, Frieden mit Österreich und antwortete dem Kaiser kurz entschlossen:

„Gut, so machen Sie Krieg! Bekommen werden Sie nichts!“

Nur auf Zuraten anderer nahm Napoleon seine Kriegsandrohung zurück, wendete sich aber, um auch diese Schlappe zu verbergen, wegen Ankaufs von Luxemburg an den König von Holland. Er wollte den Franzosen auf alle Fälle eine Gebietserweiterung bringen. Der König von Holland war nicht abgeneigt; aber Bismarck erfuhr davon und erklärte öffentlich, daß er seine Einwilligung versage. Zugleich machte er die Bündnisverträge bekannt, welche er mit den süddeutschen Staaten abgeschlossen hatte, und so sah Napoleon sich abermals durch den Deutschen zurückgewiesen und besiegt.

Diese wiederholten Niederlagen Napoleons gegen Bismarck wirkten sehr verhängnisvoll auf die inneren Verhältnisse Frankreichs zurück. Der Kaiserthron verlor immer mehr und mehr von seinem Glanz. Die Parteien begannen, an demselben zu rütteln. Man verlangte Rache an Deutschland, und die Kaiserin Eugénie tat alles, um den Kaiser zu einem Krieg zu bestimmen. Napoleon hörte nicht auf, Preußen durch Anerbietungen auf Kosten Deutschlands und Belgiens in Versuchung zu führen, mußte aber einsehen, daß alle diese Anträge an der eisernen Stirn Bismarcks abprallten. So wurde denn der Krieg beschlossen und die Vorbereitungen dazu heimlich begonnen. Napoleon sah ein, daß sein bereits wankender Thron stürzen werde, wenn es ihm nicht gelinge, Deutschland in den Staub zu treten. Er erklärte, um seine Absicht zu verbergen, daß die Aufrechterhaltung des Friedens zu keiner Zeit gesicherter gewesen sei als eben jetzt; aber Bismarck war nicht der Mann, sich durch eine so grobe List täuschen zu lassen.

Dieser große Staatsmann war überzeugt, daß Frankreich nach einer Ursache suche, um den Krieg erklären zu können, und daß es schließlich den ersten besten Vorwand dazu vom Zaun brechen werde.

Napoleon überschätzte die Vorteile der französischen Heeresverfassung. Er hatte bei General Leboeuf, dem Kriegsminister, angefragt und von diesem die Antwort erhalten: „Nous sommes archiprêts“. Das heißt zu deutsch: „Wir sind erzbereit“, also im höchsten Grad bereit. Auch das hatte Bismarck erfahren, und es läßt sich denken, daß er seine Maßregeln danach ergriff.

In jener Zeit lag in einer der engen Nebengassen, welche die Rue des Poissonniers mit der Chaussee de Clignancourt verbinden, eine jener unheimlichen Tavernen, deren Existenz nur darum von der Polizei geduldet wird, weil sie als Mausefallen benutzt werden. Solche Kneipen bleiben lange Zeit scheinbar unbeobachtet und unbeaufsichtigt; aber dann stellen sich plötzlich eines schönen Abends die Sicherheitsbeamten ganz unvermutet ein, um meist einen reichen Fang zu machen.

Der Wirt dieser Taverne, ein verschlagener und zugleich verwegener Mensch, machte den Dieb und Hehler zu gleicher Zeit; aber noch niemals war es der Polizei gelungen, ihn so zu fassen, daß man ihn hätte bestrafen können. Die bei ihm verkehrenden Gäste waren Leute, welche mit den Gesetzen mehr oder weniger in Konflikt geraten waren, und wurden von Kellnerinnen bedient, deren Charakter kaum mehr ein zweideutiger zu nennen war.

Das Haus hatte eine sehr schmale Front, und nie zeigte dieselbe des Abends ein erleuchtetes Fenster. Es schien ganz unbewohnt zu sein, außer dem Keller, in welchem sich die betreffende Restauration befand und zu welchem man auf einer Reihe von gebrechlichen Stufen hinabsteigen mußte.

Dieser Keller war lang und schmal. Man hatte ihn in verschiedene Abteilungen geteilt, deren vorderste die Gäste innehatten. Nur diejenigen, denen der Wirt ein besonderes Vertrauen schenkte, durften die hinteren Räume betreten, worüber sie aber gegen andere kein Wort verloren.

Heute saß vielleicht ein Dutzend Männer an einer Tafel. Ein jeder hatte ein großes Glas mit scharfem Schnaps neben sich stehen. Die Unterhaltung war eine höchst einsilbige. Den Wirt hatte bis jetzt noch niemand gesehen. Das Äußere der beiden Kellnerinnen, welche zugegen waren, das heißt ihr Aussehen und ihre beinahe freche Bekleidung, ließ auf ein vollständig destruiertes Ehrgefühl schließen. Die eine saß mitten unter den Männern, hatte den einen derselben beim Kopf genommen und tat von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Zug aus seinem Glas. Die andere saß allein in einer Ecke, hatte den Kopf in die Hand gestützt, so daß ihr Gesicht im Schatten lag, und schien nicht bei sehr guter Laune zu sein.

Der ihr am nächsten Sitzende wendete sich ihr zu und sagte:

„Was ist denn mit der Sally? Sie sieht ja aus, als ob sie von Vater Main den Abschied bekommen hätte!“

„Den Abschied?“ lachte das andere Mädchen. „Oh, der ist ihr sicher genug! Vater Main ist nur ungehalten, weil sie seit letzter Zeit so ungeheuer zimperlich und spröde geworden ist.“

„Spröde? Das war sie doch früher nicht. Man hat sich mit ihr stets ein Vergnügen machen können.“

Das Mädchen zuckte die Achseln, warf den Mund auf und meinte:

„Hm! Sie hat einen Anbeter.“

„Einen Anbeter? Einen Geliebten? Donnerwetter! Wer ist der Kerl? Kenne ich ihn?“

„Nein. Du bist ja längere Zeit nicht hier gewesen. Er ist ein Fremder, der erst seit einiger Zeit hier verkehrt.“

„Dann ist Vater Main sehr unvorsichtig geworden!“

„Wieso?“

„Nun, einen Fremden läßt man doch nicht so schnell einheimisch werden, daß er den Stammgästen das Mädel wegschnappt.“

„Oh, er schnappt noch anderes weg.“

„Was?“

„Das Geld.“

„Ah! Er spielt?“

„Ja, und zwar sehr gut.“

„Bei euch? Da oben?“

Dabei machte der Frager eine geheimnisvolle Fingerbewegung nach der Decke zu.

„Natürlich da oben!“

„Wagt man denn nicht zu viel, ihn da einzuweihen? Ist er einer der Unserigen?“

„Er gehört zu uns. Er ist ein Changeur.“

„Ein Changeur? Ja, diese Leute machen viel Geld; sie können spielen, und zwar hoch spielen. Zu diesem gefährlichen Geschäft gehören feine und gescheite Köpfe. Wie heißt er?“

„Er sagt es nicht. Wir nennen ihn nur den Changeur. Er ist außerordentlich vorsichtig. Sally aber nennt ihn ihren Arthur.“

„Wo ist er her?“

„Er sagt, daß er aus den Pyrenäen stamme.“

„Ob es wahr ist?“

„Jedenfalls. Er spricht ganz den Dialekt, welcher in Foix oder Roussillon gebräuchlich ist. Übrigens ist er ein ganz charmanter Kerl, der keinen Spaß verdirbt und gewöhnlich das, was er im Spiel gewinnt, wieder zum Besten gibt.“

„Da ist er ein Mann! Das liebe ich. Ein gescheiter Mensch, welcher aus den Taschen der Reichen lebt, darf gegen seine armen Kameraden nicht knausern. Wird er heute kommen?“

„Das ist unbestimmt. Er ist seit einigen Tagen nicht hier gewesen. Darum macht die Sally ein solches Gesicht. Das alberne Mädchen denkt, er ist ihr untreu geworden.“

„Pah! Was wäre das weiter! Ist es der nicht, so ist es jener! Komm, Sally, trink mit mir!“

Die Angeredete machte eine abwehrende Bewegung. Darum wendete der Sprecher sich zu der anderen:

„Bei Gott, du hast recht! Sie ist spröde geworden. Der Teufel hole die Frauenzimmer!“

„Mich auch mit?“ fragte sie lachend.

„Nein. Um dich zu bekommen, soll er noch längere Zeit warten. Du bist immer ein gutwilliges Kind gewesen. Komm, trink, und gib mir einen Kuß!“

Sie erhob sich, trat zu ihm hin, trank sein Glas halb leer und küßte ihn dann in das hagere, abgelebte und abgeschminkte Gesicht. Es war ein häßlicher Anblick, die Zärtlichkeit zu sehen, welche dieses verworfene Mädchen dem alten Mann erwies. Die anderen lachten.

„Wohl bekomme es, Lermille!“ rief einer der Gäste. „Du machst ja ein Gesicht, als habest du eine Delikatesse genossen, welche dir seit langer Zeit nicht zugute gekommen ist.“

„Es ist auch so!“ antwortete er, mit der Zunge schnalzend.

„Das mache uns nur nicht weis! Wir kennen dich! Wir wissen alle, daß deine Stieftochter deine Geliebte ist. Wo hast du sie?“

Der Alte erbleichte, und seine Augen erhielten einen eigentümlichen ängstlichen Flimmer. Er antwortete:

„Ich habe sie nicht mehr.“

„Nicht mehr? Wo steckt sie denn?“

„Sie ist tot.“

„Tot? Unmöglich! Dieses kräftige, strotzende Mädchen, um die ich und andere dich oft beneidet haben, ist tot? An welcher Krankheit ist sie denn gestorben?“

„Hm! An der Seilerkrankheit.“

„Der Kuckuck soll mich holen, wenn ich von dieser Krankheit jemals etwas gehört habe!“

„Ich meine, sie ist vom hohen Seil gestürzt.“

„Donnerwetter! Ist das wahr?“

„Natürlich! Ich bin ja dabei gewesen!“

„Das ist ein ungeheures Pech für dich. Die verdiente ein schönes Geld, und du wärst gut mit ihr verkommen, wenn sie nicht die dumme Angewohnheit gehabt hätte, mit anderen mehr zu liebäugeln als mit dir.“

„Das ist ja auch ihr Tod gewesen.“

„Wieso?“

„Nun, sie hatte sich einen angeschafft, einen armseligen Kräutersammler. Auf ihm hat sie die Augen gehabt und nicht auf dem Seil. Darum hat sie die Balance verloren und ist heruntergefallen.“

„War sie gleich tot?“

„Sofort. Das war noch ein Glück. Sie hatte alle Rippen und Glieder gebrochen.“

„Wo ist das geschehen?“

„In Thionville. Aber sprechen wir nicht weiter davon. Ich mag von dieser Angelegenheit nichts mehr hören.“

„Warst du da noch bei der Truppe des Abu Hassan?“

„Ja.“

„Warum hast du sie verlassen? Er zahlte ja so gut.“

„Ich mochte nichts mehr vom Geschäft wissen, nachdem ich so elenderweise um das Mädchen gekommen war.“

„Und was treibst du nun? Wovon lebst du jetzt?“

„Was geht das dich an! Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, aber nicht um die meinigen! Jetzt privatisiere ich.“

„Alter, das glaube ich nicht.“

„Nicht? So! Warum nicht?“ fragte der einstige Bajazzo, der Mörder seiner Stieftochter, in höhnischem Ton.

„Weil zum Privatisieren Geld gehört.“

„Nun, wer sagt dir denn, daß ich keins habe?“

Der andere machte ein erstauntes Gesicht und antwortete:

„Ah! Du hast welches? Das ist etwas anderes! Aber wissen möchte ich doch, wie du so plötzlich reich geworden bist. So lange ich dich kenne, ist alles, was du verdientest, dir durch die Gurgel gerollt. Erspart hast du dir keinen Centime. Ich denke mir, du hast irgendeinen klugen Streich verübt.“

„Wenn es so wäre, was geht es dich an?“

„Richtig! Mich geht es ganz und gar nichts an. Aber komm einmal her, Alter! Ich muß dir doch einmal in dein versoffenes Spitzbubengesicht sehen.“

Der Bajazzo sträubte sich vergebens. Der andere drehte seinen Kopf nach sich herum, betrachtete erst das Gesicht und dann auch den Anzug des Akrobaten und sagte dann:

„Dieses Gesicht kenne ich, und den Anzug auch. Als Ihr in Remilly arbeitet, trug ihn dein Kollege, welcher den Herkules machte. Dir sind Rock, Hose und Weste viel zu weit. Und von so einem Direktor, wie Abu Hassan, der Zauberer, war, geht man als armer Bajazzo nicht einer bloßen Gefühlsregung wegen fort. Du hast das alles im Branntwein ersäuft. Ich glaube ganz richtig zu ahnen, wenn ich vermute, daß du deiner Gesellschaft mit der Kasse und in diesem fremden Anzug durchgegangen bist.“

„Unsinn!“

„Pah! Gestehe es nur ein, Alter!“

Da riß sich der Bajazzo los und meinte zornig:

„Ich wiederhole dir, daß du dich ganz und gar nicht um meine Angelegenheiten zu bekümmern hast. Du nicht und auch kein anderer.“

„Und ich wiederhole dir, daß du damit ganz recht gesprochen hast. Aber ich wollte dir nur zeigen, daß ich dich durchschaue. Übrigens sind wir, die wir hier sitzen, überhaupt alle, welche hier verkehren, gute Kameraden, von denen keiner den anderen verrät. Was ich gesagt habe, kann dir also nicht den geringsten Schaden machen. Und darum denke ich, daß du deinen Freunden einige Flaschen anbieten wirst, da du jetzt so gut bei Mitteln bist.“

„Das fällt mir gar nicht ein. Ich habe nicht so viel Geld, wie du vielleicht denkst, und muß damit auslangen, bis ich wieder eine neue Stellung habe.“

„Geizhals! Eigentlich hast du, da du so lange Zeit nicht hier gewesen bist, wieder Einstand zu zahlen, und so denke ich – na, er soll dir erlassen bleiben; denn da kommt einer, der nicht so knauserig ist wie du.“

Bei diesen Worten drehte er sich nach der Tür, durch welche ein neuer Ankömmling eingetreten war.

Dieser war ein junger, vielleicht achtundzwanzigjähriger Mann mit angenehmen, sogar männlich schönen Gesichtszügen. Das ziemlich kurz geschnittene Haar war ebenso wie der volle Schnurrbart, welcher seine Oberlippe zierte, von tiefschwarzer Farbe, gegen welche der helle Teint frappierend abstach. Seine Gestalt war nicht zu hoch, aber breit und kräftig gebaut. Er machte trotz des einfachen Anzuges, dessen Hauptteil in einer blauen Leinwandbluse bestand, einen sehr angenehmen, fast möchte man sagen, an diesem Ort distinguierten Eindruck.

„Das ist der Changeur!“ rief der vorherige Sprecher. „Willkommen! Warum bist du an den letzten Tagen nicht da gewesen?“

Alle schüttelten dem Ankömmling die Hand. Sally, die Kellnerin, war mit einem lauten Freudenschrei aufgesprungen und ließ ihm gar keinen Augenblick Zeit, auf Gruß und Frage zu antworten.

„Endlich, endlich kommst du!“ rief sie, indem sie beide Arme um ihn schlang. „Wo bist du während dieser langen Zeit gewesen?“

„Lange Zeit?“ fragte er unter einem seltsamen Lächeln, welches wohl freundlich sein sollte, aber einen mühsam unterdrückten Widerwillen doch nicht ganz zu verbergen vermochte. „Es sind ja nur drei Tage!“

„Aber dennoch eine Ewigkeit für meine Sehnsucht! Warum bist du nicht gekommen?“

„Geschäfte!“ antwortete er unter einem leichten Achselzucken.

„Sind sie dir gelungen?“

„Wie stets!“

„Ja, du bist ein kluger Kopf!“ meinte sie stolz. „Du wirst dich nie erwischen lassen. Komm! Du mußt mir erzählen!“

Sie wollte ihn nach ihrem vorigen Sitz ziehen; er aber wehrte ab und antwortete:

„Später, Sally! Ich darf die Kameraden nicht vernachlässigen; auch habe ich vor allen Dingen Durst. Gib mir Wein, aber vom guten. Verstanden? Und diesen Messieurs bringst du drei Flaschen Absinth. Sie trinken dieses starke Zeug lieber als den Wein. Wenn man gute Geschäfte gemacht hat, muß man auch die Kameraden leben lassen.“

„Siehst du, Bajazzo, daß der Changeur nobel ist?“ fragte der frühere Wortführer. „Er beginnt zu regalieren, nachdem er kaum hereingetreten ist!“

Der Changeur nahm bei den übrigen Platz, während Sally, schmollend über seine Weigerung, sich zu ihr zu setzen, sich entfernte, um das Verlangte herbeizuholen.

„Bajazzo?“ fragte er, den Alten betrachtend. „Ein neuer Kamerad?“

„Ja. Ein alter Sünder, dem man Vertrauen schenken kann“, wurde ihm dieser vorgestellt.

„In was arbeitet er?“

„In allem. Er nimmt mit, was er bekommen kann. Der Mann war nämlich bei der Truppe eines maurischen Gauklers, den man Abu Hassan, den Zauberer, nennt. Dort ist seine Stieftochter, die Turmseilkünstlerin, vom Seil gestürzt und hat den Hals gebrochen, und vor Schmerz darüber ist er der Gesellschaft mit der Kasse und diesem prachtvollen Anzug durchgebrannt.“

„Schuft!“ rief der Bajazzo.

„Schweig!“ rief der andere. „Deine Art und Weise kenne ich! Ah, da kommt der Wein und der Absinth. Laßt uns einschenken und anstoßen! Wer weiß, wie oft wir noch in dieser Weise beisammen sein können.“

„Hast du Sorge, daß man dich erwischt und einsteckt?“ fragte die Kellnerin, welche vorhin dem Bajazzo einen Kuß gegeben hatte.

„Halt das Maul, Betty! Es handelt sich hier um ganz andere Dinge!“

„Wichtige natürlich!“ meinte sie schnippisch.

„Ja, sehr wichtige!“

Er schenkte sich und den anderen ein und erhob sich dann.

„Stoßt an!“ forderte er sie auf. „Der alte Kapitän soll leben!“

Sie stießen zwar mit an, waren aber über diesen unerwarteten Toast so erstaunt, daß sie zu trinken zögerten.

„Der alte Kapitän? Wer ist das, Levier?“ fragte einer von ihnen.

Das französische Wort Levier bedeutet Brechwerkzeug, Brecheisen. Diesen Namen trug der Mann, eine deutliche Erklärung des Handwerkes, welches er betrieb.

„Wer der alte Kapitän ist?“ meinte er. „Ich dachte, daß es doch wenigstens einen unter euch geben werde, der ihn kennt oder doch von ihm gehört hat. Ich habe ihn auch noch nicht gesehen; aber es steht zu erwarten, daß bald die Zeit kommt, in welcher wir ihn kennenlernen werden. Dann blüht unser Weizen; dann wird es viel, viel besser für uns, als es jetzt ist. Darauf könnt ihr euch verlassen.“

„Wieso? Rede! Sprich!“ erscholl es von allen Seiten.

Auch Sally kam herbei, um die Sache mit anzuhören. Sie setzte sich neben den Changeur und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter. Er zuckte bei dieser Berührung leicht zusammen, ließ es ihr aber weiter sonst nicht merken, ob diese Annäherung ihm angenehm sei oder nicht.

„Nun“, begann Brecheisen seine Erklärung mit wichtiger Miene. „Ihr wißt doch, daß der Marschall Niel schon längst unserer Armee eine neue Organisation gegeben hat?“

„Natürlich weiß ich das!“ antwortete sein Nachbar.

„Ja, du vor allen Dingen mußt das wissen, Rossignol. Du warst ja ganze drei Monate Soldat, machtest aber lange Finger und mußtest am Schluß der Strafzeit das Unglück haben, daß man dich nicht mehr bei der Armee sehen wollte.“

Rossignol heißt Nachtigall, aber auch Dietrich. Der also Genannte war also auch ein Einbrecher. Er lachte und sagte dann:

„Ja; sie meinten, ich hätte keine Ehre mehr. Dummheit und Ehre! Ich kam auf diese Weise vom Militärdienst frei. Aber fahre doch fort, Brecheisen!“

„Nun“, ließ der andere sich weiter vernehmen, „schon als im Jahre siebenundsechzig wegen der luxemburgischen Frage der Tanz beginnen sollte, bildeten sich Schützengesellschaften, welche den Namen Sociétés des Franctireurs erhielten. Die Sache schlief aber leider damals ein, denn dieser Bismarck wagte es, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen. Jetzt aber ist alle Aussicht vorhanden, daß diese Gesellschaften Arbeit erhalten werden.“

„Wieso denn?“

„Das fragst du noch? Weißt du denn, was man unter einem Franctireur versteht?“

„Nun, einen bewaffneten Franzosen, welcher das Recht hat, jeden Feind seines Vaterlandes niederzuschießen.“

„Das ist richtig und doch auch falsch. Schon jeder Soldat der Linie und der Mobilgarden wäre dann ja ein Franctireur. Man beabsichtigt allerdings, Gesellschaften von freien Schützen zu bilden und sie den verschiedenen Armeekorps beizufügen. Das sind Privatleute, welche vom Kaiser das Recht erhalten, ihr Vaterland zu verteidigen. Kein Völkerrecht kann ihnen etwas anhaben. Selbst wenn man sie ergreift, müssen sie als einfache Kriegsgefangene behandelt werden, welche man ordentlich verpflegt und nach dem Friedensschluß wieder frei läßt. Aber ich meine, es ist sehr gut, für das Vaterland zu kämpfen, noch besser und gescheiter aber ist es, für sich selbst ein wenig den Freischützen zu spielen. Ist das nicht wahr, Dietrich?“

„Das denke ich auch!“ antwortete der Gefragte.

„Es wird noch mehrere, noch viele, viele geben, welche ebenso denken. Diese werden nicht so dumm sein, sich der Armee anzuschließen, um für geringe Löhnung und elendes Kommißbrot sich totschießen zu lassen, sondern sie werden eigene, freie Kompanien bilden und ohne ihre Gesundheit, ihre Freiheit und ihr Leben zu riskieren, ihre nächste Pflicht erfüllen, nämlich vor allen Dingen auf ihren persönlichen Vorteil sehen.“

„Das wäre gar nicht übel. Aber das geht ja nur dann, wenn man Krieg hat.“

„Nun, den werden wir wohl haben!“

„Mit wem?“

„Donnerwetter! Mit wem anders, als mit diesen Deutschen, an denen wir Rache für Sadowa zu nehmen haben!“

„Was geht uns Franzosen Sadowa an!“

„Du bist ein Dummkopf! Stehen wir nicht an der Spitze der Zivilisation oder –“

„Ja“, unterbrach ihn der andere lachend, „wir stehen an der Spitze der Zivilisation, denn du heißt Brecheisen, und mich nennt man Dietrich!“

„Mache keine albernen Witze! Selbst in unserem Handwerk sind wir den Deutschen weit überlegen. Der Deutsche ist ein Tölpel in jeder Beziehung. Er bekommt seine Weine und Moden, seine Seiden- und seine Lederwaren, seine Parfums und Odeurs, seine ganze Bildung von uns. Wir sind seine Herren. Er aber hat es gewagt, mit Österreich Krieg zu führen und Frieden zu schließen, ohne uns zu fragen. Er hat seitdem unsere Politik auf jede mögliche Art und Weise durchkreuzt. Wir wollen Rache für Sadowa, und er muß Haue haben! Ich sage euch, daß so etwas in der Luft liegt. Wohin man kommt, hört man von weiter nichts als von Depeschenwechsel und Krieg sprechen. Und macht man Augen und Ohren auf, so hört man nicht nur, sondern man sieht auch, daß überall eine gewisse Aufregung herrscht und daß allerlei heimliche Anstalten getroffen werden, welche sich nur auf den baldigen Ausbruch eines Krieges beziehen können.“

„Und steht das mit deinem alten Kapitän in Beziehung?“

„Natürlich. Er wird nämlich einer der Kommandanten der Franctireurs sein.“

„So muß man ihn kennenlernen. Wo wohnt er, und wie heißt er denn?“

„Er wohnt in Schloß Ortry bei Thionville und heißt Albin Richemonte. Er soll bereits ein steinalter Herr sein und die Kriege und Siege des ersten Kaiserreichs mitgemacht haben. Er ist ein Held der Kaisergarde und steht mit den höchsten Herrschaften des Hofes in Verbindung. Daher hat man ihm diesen Posten anvertraut. Er sendet jetzt geheime Emissäre umher, und einer dieser Leute hat mich beauftragt, Leute für ihn zu werben.“

„Alle Donner! Das klingt ja recht ernsthaft!“ rief Dietrich.

„Ernsthaft ist es auch! Dieser alte Kapitän soll irgendwo ein ungeheures Lager von Waffen und Munition bereits seit Jahren angelegt haben, und von Tag zu Tag wird es vervollständigt. Er hat in den nahen Departements bereits angeworben und nun, wie ich bereits sagte, seine Emissäre nach Paris geschickt, um weitere Teilnehmer zu engagieren. Jede Kompanie darf sich ihre Offiziere und Unteroffiziere selbst wählen, nur unter der Bedingung, daß das Oberkommando respektiert werde. Machen wir mit, so können wir Offiziere werden. Nach Stand und Vergangenheit wird nicht gefragt, auch nach dem Alter nicht; nur wird vorausgesetzt, daß sich allein tüchtige Kerls melden. Wenn ihr wollt, so werde ich den Emissär morgen mitbringen.“

„Bringe ihn mit! Bringe ihn mit!“ lautete die Entscheidung aller.

Auch der Changeur stimmte begeistert mit ein. Er hatte der Auseinandersetzung mit allergrößter Aufmerksamkeit gelauscht, und bei der Erwähnung, daß man sich seine Chargen selbst wählen könne, schien sich auf seinem lachenden Gesicht die Gewißheit auszudrücken, daß er bei seinen körperlichen und geistigen Vorzügen ganz sicher eine Offiziersstelle bekommen werde.

Es wurde noch einige Zeit lang über dieses Thema, über die Gewißheit, daß man bald Krieg haben werde, gesprochen, dann trat der Wirt, Vater Main, aus dem hinteren Raum ein. Er setzte sich zu seinen Gästen und nahm einige Minuten lang an deren Gespräch teil, dann aber gab er Sally einen heimlichen Wink.

Das Mädchen verstand ihn sofort, der Changeur hatte ihn auch bemerkt, tat aber so, als ob er gar nicht hingesehen habe.

Sally erhob sich und brachte ihrem Herrn ein Glas; dann nahm sie an dem Eckplatz, auf welchem sie sich vorher befunden hatte, ihren Sitz wieder ein. Der Changeur war überzeugt, daß dieses scheinbar ganz unabsichtliche Arrangement nur ihm allein gelte. Man wollte ihn vom Tisch entfernen.

Daß er richtig geahnt habe, zeigte sich in kurzem. Sally gab ihm einen Wink, sich zu ihr zu setzen. Er berechnete, daß es am klügsten sei, ihr zu folgen. Darum nahm er seinen Wein, verließ den Tisch und setzte sich zu ihr. Als er dabei einen heimlich forschenden Blick auf den Wirt warf, bemerkte er ein sehr befriedigtes Lächeln auf dem Gesicht desselben.

Aber auch Brechstange hatte den ganzen Vorgang beobachtet und verstanden. Er neigte sich zu dem Wirt herunter und fragte leise:

„Warum soll der Changeur von dem Tisch fort, Vater Main?“

„Jetzt nicht“, antwortete der Gefragte. „Er merkt es sonst, daß wir von ihm sprechen.“

Aber in diesem Augenblick traten mehrere neue Gäste ein. Sie setzten sich an einen anderen Tisch, wurden da von Sally bedient und sprachen dabei so laut untereinander, daß der Wirt nicht mehr befürchtete, von dem Changeur gehört zu werden, darum sagte er, zwar leise, aber doch so, daß er von den bei ihm Sitzenden gehört werden konnte:

„Ich traue ihm nicht.“

„Warum denn nicht?“ fragte der Dietrich.

„Er ist mir zu nobel. Er hat etwas an sich, welches mir sagt, daß er nicht zu uns gehört.“

„Oh, ich halte ihn im Gegenteil für ehrlich und sicher.“

„Ich möchte darauf schwören, daß du dich täuschst.“

„Er hat doch ganz aufrichtig zu verstehen gegeben, daß er Wechselfälscher ist! Und erst vorhin sagte er, daß er wieder sehr gute Geschäfte gemacht habe.“

„Damit kann er dich und euch täuschen, mich aber nicht. Trinkt meinetwegen mit ihm, so viel und so oft ihr wollt; das kann mir ja ganz lieb sein, denn er macht tüchtige Zechen; aber laßt ihm ja niemals etwas von unseren Geschäften merken. Ich halte ihn für einen Geheimpolizisten.“

„Unsinn! Daß er selbst die Polizei zu scheuen hat, weiß ich ganz sicher.“

„Wieso?“

„Habt ihr euch seinen Bart und seine Haare einmal genau angesehen?“

„Wozu das?“

„Nun, sie scheinen schwarz zu sein, sind es aber nicht. Ich habe sie heute wieder scharf geprüft. Zwischen den schwarzen und der Haut sind sie, allerdings kaum zu bemerken, von hellerer Farbe. Ich meine, daß Bart und Haare blond sind. Er hat sie seit einigen Tagen nicht nachgefärbt. Wäre diese Verstellung nötig, wenn er mit der Polizei auf gutem Fuß stände?“

„Das beweist noch nichts. Er kann das Haar gefärbt haben, um nicht zufällig von einem der unserigen, der ihn einmal gesehen hat, erkannt zu werden.“

„Warum dann aber die Perücke?“

„Welche Perücke?“ fragte der Wirt erstaunt. „Sein Haar kann zwar gefärbt sein, ist aber jedenfalls sein eigenes.“

„Und dennoch trägt er zuweilen eine Perücke. Als er vorletztes Mal hier war, wollte er sein Taschentuch nehmen, zog aber anstelle desselben eine Perücke aus der Tasche.“

„Wie benahm er sich dabei?“

„Er lachte ganz gleichmütig.“

„Er wurde also nicht verlegen?“

„Nein. Er wußte ja, daß er bei Leuten war, welche auch zuweilen gezwungen sind, sich auf diese Weise unkenntlich zu machen.“

Der Wirt wiegte den Kopf hin und her und sagte bedenklich:

„Und auch das beweist noch nicht, daß er es ehrlich mit uns meint. Ein Geheimpolizist weiß auch falsche Haartouren zu gebrauchen. Hat der Changeur jemals aufrichtig gesagt, wo er ein Geschäft gemacht habe?“

„Allerdings nicht. Er hat das auch nicht nötig. Niemand wird ihm das abverlangen.“

„Oder habt ihr etwas gehört oder gelesen, was darauf schließen läßt, daß er wirklich Changeur ist, das heißt, daß er nur von Wechselfälschung lebt? Solche Fälschungen kommen in Paris massenhaft vor; das ist ja wahr; aber stets ist der Täter eine den Beteiligten bekannte Persönlichkeit. Daß es aber hier einen Menschen gibt, welcher sich nur auf dieses Fach legt und stets unentdeckt bleibt, darüber habe ich noch kein einziges Anzeichen bemerken können. Ihr seid noch jung und habt die Schule noch nicht durchgemacht, welche ich hinter mir habe. Mich täuscht und betrügt man nicht so leicht. Wißt ihr denn etwa, wo er wohnt? Hat er euch das gesagt?“

„Ja“, antwortete Brecheisen.

„Das sollte mich wundern. Nun, wo wohnt er denn?“

„In der Rue de Paradis.“

„Welche Nummer und wie viele Treppen?“

„Wir haben so weit nicht gefragt. Wir wissen nur, daß er von hier nie weiter einkehrt, sondern stets nach Hause geht und dann allemal diese Richtung auch wirklich einschlägt.“

„Wir müssen uns klar über ihn werden. Wir müssen ihn beobachten. Willst du das übernehmen?“

„Ja“, antwortete Brecheisen. „Ich bin aber überzeugt, daß wir nur bemerken werden, daß er uns nicht täuscht. Er hat ein nobles Aussehen und Auftreten, aber das gehört ja zu seinem Fach. Du meinst, Vater Main, daß ich ihm nachgehen soll?“

„Ja. Wenn du siehst, daß er wirklich in der Paradiesstraße wohnt, so trittst du eine Weile nach ihm ein und erkundigst dich beim Portier nach ihm.“

„Ich vermute, daß dieser Mann sich weigern wird, mir Auskunft zu erteilen.“

„Meinst du wirklich?“ sagte der Wirt im Ton der Verlegenheit. „Da kennst du mich sehr schlecht. Was ich will, das führe ich auch aus; ich habe die Mittel dazu. Hat die Polizei ihre heimlichen Verbündeten unter uns, welche uns seinerzeit verraten, so habe ich meinen Verbündeten bei der Polizei, welcher mir zu Diensten steht. Daher kommt es, daß ich niemals zur Anzeige oder in Strafe komme. Ist etwas gegen mich oder meine Freunde im Werk, so werde ich sofort benachrichtigt.“

„Donnerwetter! Wenn das wirklich so ist, so bist du allerdings ein ungewöhnlicher Schlaukopf, Vater Main!“

„Pah! Es kostet mich einiges Geld. Ihr könnt euch natürlich denken, daß ich meinen Verbündeten gut besolden muß. Um keinen Verdacht zu erregen, lasse ich zuweilen irgendeinen müßigen Bummler, welcher nicht zu uns gehört, bei mir abfangen. Das macht mir keinen Schaden, sondern es bringt mir nur Nutzen, weil ich damit den Herren des Sicherheitsdienstes Sand in die Augen streue. Daher will ich auch über diesen Changeur klar werden, um zu wissen, wie ich ihn zu behandeln habe. Verdient er mein Vertrauen nicht, so benachrichtige ich die Polizei, daß ein Mensch, den ich für einen Schwindler halte und der sich selbst für einen Fälscher ausgibt, bei mir verkehrt. Er wird dann abgefangen.“

„Du vergißt, Vater Main, daß er sich nicht direkt und offen einen Changeur genannt hat. Er hat es uns nur ahnen lassen und duldet es nebenbei, daß wir ihn so nennen.“

„Das ist egal. Mein Freund bei der Polizei hat mich in den Besitz von einigen Marken gesetzt. Ich gebe dir eine davon. Du wirst dich bei dem Portier also als Geheimpolizist legitimieren können, und er ist infolgedessen gezwungen, dir Rede und Antwort zu stehen.“

„Wie? Du hast Marken?“ fragte der Einbrecher freudig erstaunt. „Welch ein Glück! Im Besitz einer solchen Medaille ist man ja sicher, niemals ergriffen zu werden.“

„O doch! Und dann würde man entdecken, von wem die Marken stammen. Ich wende sie daher nur zu ungefährlichen Zwecken an. Du wirst also dem Changeur nachschleichen, dann aber sofort nach hier zurückkehren, um mir die Marke wieder zu überbringen.“

„Wann soll das geschehen? Heute noch?“

„Ja. Ich mag nicht länger im unklaren über ihn sein.“

„Aber wir haben ja heute mehr zu tun.“

„Vielleicht sind wir fertig, wenn er geht. Wir haben noch anderthalb Stunden bis zum Schluß der Oper. Es ist also möglich, daß er sich bereits vorher entfernt. Er wird heute nämlich nicht spielen; denn ich habe dafür gesorgt, daß diejenigen, mit denen er oben sein Spiel zu machen pflegt, heute gar nicht kommen.“

„Wieder schlau.“

„Oh, ich mußte das nicht bloß seinetwegen tun, sondern auch unseres Unternehmens wegen. Ich erleide dadurch, da mir das Spiel viel einbringt, allerdings eine Einbuße; aber wenn heute unser Coup gelingt, so werden wir ein horrendes Geld einnehmen.“

„Ist der alte General wirklich so reich?“

„Er besitzt Millionen. Die Dame ist seine einzige Verwandte, seine Enkelin. Er hat sie außerordentlich lieb und wird ganz in Verzweiflung sein, wenn er hört, daß sie verschwunden ist. Hunderttausend Franken wird er zahlen, um sie wieder zu bekommen.“

„Eine ungeheure Summe!“ meinte Dietrich, indem seine Augen begierig leuchteten. „Aber das Unternehmen ist auch gefahrvoll.“

Der Bajazzo hatte bisher schweigend zugehört. Jetzt fragte er:

„Alle Teufel! Ihr wollt doch nicht etwa die Enkelin eines Generals entführen?“

„Warum nicht?“ antwortete der Wirt.

„Sprechen wir lieber nicht davon!“ riet Brecheisen. „Wer garantiert uns, daß dieser alte Bajazzo uns nicht verrät!“

Der Wirt machte eine eigentümliche Handbewegung und sagte in einem höchst selbstbewußtem Ton:

„Keine Sorge! Der Alte ist uns sicher. Ich garantiere für ihn, ich selbst! Ist das genug?“

„Diese Bürgschaft nehmen wir an, Vater Main. Aber bist du seiner auch wirklich sicher?“

„So sicher, wie meiner selbst. Nicht wahr, Hanswurst? Denkst du noch an den Knaben mit dem Löwenzahn damals? Das kann uns auch noch ein schönes Geld einbringen.“

Der Bajazzo antwortete schnell und mit ängstlicher Miene:

„Still, still! Ich mag jetzt davon nichts hören. Wir sprechen später darüber. Ich bin deswegen nach Paris gekommen. Redet lieber von eurer heutigen Angelegenheit. Das scheint mir wichtiger zu sein.“

„Hast recht, Alter!“ nickte der Wirt. Und sich wieder zu den anderen wendend, fuhr er fort: „Ein jeder von euch hat seinen Posten, und ich habe mich überzeugt, daß sie wirklich nach der Oper fährt. Das ist eigentlich alles, was zu sagen ist. Du, Brecheisen, machst den Fiakerkutscher. Das Geschirr wird zur rechten Zeit bereitstehen. Die Nummer ist bereits aufgeklebt und wird dann wieder abgemacht. So wird die Polizei irregeführt. Haartouren und Bärte findet ihr im hinteren Zimmer, und an der Mauer wird die Pforte zur rechten Zeit offen sein. Gelingt der Streich, so teilen wir; gelingt er nicht, so werdet ihr erwischt, ich aber habe nichts riskiert, denn mir wird niemand etwas nachweisen können. Es liegt also in eurem eigenen Interesse, euch Mühe zu geben. Jetzt genug davon.“

Er erhob sich und trat zu den Gästen, welche zuletzt angekommen waren. Dabei warf er einen Blick nach dem Changeur. Er fühlte sich beruhigt, denn der Fälscher saß mit dem Rücken gegen den Tisch, an welchem er erst gesessen hatte, und war in das Damespiel vertieft, mit welchem er sich die Zeit vertrieb. Er hatte also jedenfalls auf den Wirt und die anderen gar nicht geachtet.

Und doch täuschte sich Vater Main.

Als der Changeur sich zu Sally gesetzt hatte, war diese herangerückt und hatte, ihn liebevoll in die Augen blickend, gesagt:

„Endlich! Endlich habe ich dich allein bei mir! Du Böser! Warum wolltest du nicht gleich zu mir kommen?“

Sie war früher jedenfalls ein sehr schönes Mädchen gewesen. Sie war jetzt noch hübsch und verführerisch, allerdings nur für einen, welcher sich über die Zeichen hinwegsetzt, welche ein unkeuscher Lebenswandel im Wesen einer jeden Gefallenen zurückläßt.

Er schüttelte leise den Kopf und antwortete:

„Was hast du für ein Recht dazu, mich bei dir zu haben?“

„Das Recht der Liebe!“

„Pah! Mir machst du nicht weis, daß du mich liebst!“

Sie zog erstaunt den Kopf zurück, sah ihn forschend an und sagte in vorwurfsvollem Ton:

„Du glaubst nicht, daß ich dich liebe? Hast du Gründe dazu?“

„Ja“, antwortete er kurz und ernst.

„So nenne sie!“

„Vor allen Dingen einen: Du spielst mit Vater Main unter einer Decke!“

„Pst! Nicht so laut! Er könnte es hören!“

Da aber traten eben jene neuen Gäste ein, und die laute, lebhafte Unterhaltung, welche diese führten, gaben dem Changeur Gelegenheit, in dem Thema fortzufahren:

„Er hört es nicht. Also antworte mir.“

„Ich stehe in seinem Dienst, also muß ich ihm gehorchen.“

„Auch gegen mich?“

„Gegen dich, Arthur? Was habe ich gegen dich getan?“

„Er wollte, daß ich dort fortgehen sollte. Er winkte dir, und du riefst mich hierher. Du hilfst ihm gegen mich. Ist das nicht so?“

„Nein.“

„Was sonst?“

„Es war das nur eine Geschäftsrücksicht. Er hat mit den anderen irgendein Geschäft zu besprechen. Du solltest nichts davon hören. Das ist alles.“

„Was für ein Geschäft ist es?“

„Ich weiß es nicht.“

„Ah, du bist zurückhaltend. Und da soll ich an Liebe glauben!“

Sie liebte den schönen Mann mit der ganzen Glut, welche Mädchen dieser Art fühlen, wenn sie einem ihnen moralisch überlegenen Menschen eine tiefere und dauerndere Teilnahme widmen. Sie sah sich in die Enge getrieben und sagte:

„Arthur, ich habe dich so lieb, daß ich für dich sterben könnte. Das würde mir nicht schwer werden, denn dieses Leben ist mir doch zur Last. Es passiert allerdings sehr viel in diesem Haus, was niemand wissen und erfahren darf; selbst ich weiß nicht alles; aber das Wenige, was ich weiß, würde ich dir nicht verschweigen, wenn ich sähe, daß ich dir nicht zuwider wäre. Du aber kannst mich nicht leiden!“

Sie hatte das im Ton so ehrlicher Aufrichtigkeit, so innigen Bedauerns gesprochen, daß er sich des Mitleides nicht erwehren konnte.

„Warum denkst du denn, daß ich dich nicht leiden kann?“ fragte er freundlicher, als er bisher mit ihr gewesen war.

„Das fragst du noch? Wie oft sind wir allein gewesen, und selbst, wenn das nicht der Fall ist, bekümmert sich kein Mensch um das, was wir tun. Hast du mich jemals vermuten lassen, daß du ein Interesse für mich hast? Du kommst herein und setzt dich zu anderen, wenn Gäste da sind. Und bin ich allein, so suchst du dir einen fernen Stuhl. Berühre ich dich mit der Hand, so zuckst du zusammen, gerade wir vorhin. Hast du mich jemals mit einem Finger berührt? Nein! Und als ich dich kürzlich um einen Kuß bat, da wurdest du so zornig, wie ich es dir bei deinem stillen Wesen gar nicht zugetraut hätte.“

„Sally, ein Mädchen darf nicht um einen Kuß bitten!“

„Aber wenn es so sehnlichst einen wünscht und doch keinen erhält!“

„So muß es Geduld haben. Du kennst die Liebe nicht. Gerade wenn man sie überlaut ruft, zieht sie sich zurück.“

Er hatte unwillkürlich ihre Hand ergriffen. Es war dies das erstemal, daß es geschah, und bei dieser Berührung trieb ihr der Herzschlag das Blut empor, daß ihr Gesicht vor Glück erglühte. Dieses arme Mädchen war vielleicht ohne eigenes Verschulden durch die Verhältnisse von Stufe zu Stufe in die Tiefe getrieben worden. In einer Weltstadt steigt und fällt man leichter als anderswo, auch moralisch.

„Sie zieht sich zurück?“ fragte sie aufatmend. „Sie wäre also dennoch da und wollte bloß sich nicht erblicken lassen?“

Sie sah ihm dabei so warm, so innig, so sehnsüchtig in die Augen, daß er, ganz ohne es zu wollen, ihre Hand drückte.

„Oh“, meinte er, „sie will sogar, daß man nicht einmal von ihr spricht, wenigstens so lange nicht, bis sie selbst das Wort ergreift.“

Sie schüttelte traurig den Kopf.

„Ich verstehe dich nicht ganz. Ich höre nur, daß ich schweigen soll, und ich werde schweigen. Aber als ich dich stets so kalt sah, während andere so viel anders sind, so dachte ich, daß mein Herr doch recht haben könnte.“

„Recht? Worin?“

„Er hält dich für einen Polizisten. Er traut dir nicht.“

„Da ist er allerdings kein sehr scharfsinniger Mann. Er traut mir nicht? Also deshalb mußte ich den Tisch verlassen?“

„Ja, deshalb.“

„Er hätte mich ruhig und unbesorgt sitzen lassen können. So lange er mir nicht schadet, hat er auch von mir nichts Schlimmes zu erwarten. Aber neugierig bin ich doch, zu wissen, was es ist, weshalb man mich forttrieb.“

„Ich weiß es auch nicht.“

„Wirklich nicht?“

„Nein“, antwortete sie im Ton der Aufrichtigkeit. „Ich kann dir allerdings anvertrauen, daß er einer der berühmtesten Hehler der Hauptstadt ist, aber beweisen könnte selbst ich ihm nichts. Er duldet niemals, daß man ihn beobachtet. Um ein solches Geschäft scheint es sich auch heute zu handeln.“

„So geht es mich allerdings nichts an. Schweigen wir also darüber.“

„Daraus sehe ich, daß du allerdings kein Detektiv bist, denn ein solcher würde mich so weit wie möglich ausfragen. Wenn Vater Main nämlich eine Sendung gestohlener Waren erwartet, so ölt er stets zuvor die Angeln der alten Tür ein, welche sich hinten in der Mauer befindet.“

„Das hat er heute also auch getan?“

„Ja. Ferner verbietet er uns, das Schanklokal zu verlassen. Erst wenn die Ware geborgen und der Hof wieder leer ist, meldet er, daß wir nun wieder hinaus dürfen.“

„Dieses Verbot hat er auch heute ausgesprochen?“

„Ja. Wir dürfen nicht einmal die Treppe empor. Er muß eine ungewöhnlich bedeutende Sendung erwarten, denn er hat ein Zimmer des dritten Stockes ausgeleert. Unbegreiflicherweise aber hat er einige Möbel hineingestellt.“

„Ich befürchte, daß er zuviel wagt und trotz seiner List doch einmal erwischt wird. Es sollte mir sehr leid tun, wenn auch du dann in Verdacht kämst!“

„Tät es dir wirklich leid?“ fragte sie erfreut. „Natürlich würden auch wir arretiert, wenn man ihn ergreift. Aber man würde uns doch laufen lassen müssen!“

„Ich würde lieber vorher laufen.“

„Wohin? Wer nimmt mich weg? Wer nimmt mich auf? Von einem Mädchen meines Standes mag kein Mensch etwas wissen. Wir sind verloren. Wer rettet uns?“

„Gibt es nicht Rettungshäuser und Magdalenenstifte?“

Sie sah ihn groß an.

„Das sagst du mir? Du?“ fragte sie. „Soll ich in ein solches Haus gehen, um mich dort höhnen zu lassen? Ist der Mensch ein Material, an welchem man Experimente macht? Habe ich mich dann einige Jahre gut geführt, so bekomme ich ein Zeugnis, daß ich eine gebesserte Sünderin bin, der man doch aus Mitleid Vertrauen schenken und irgendeine Arbeit geben möge. Nein! Entweder sterbe ich hier, oder ich steige aus diesem Elend empor an einen Ort, an welchem man mich nicht kennt, an welchem ich leben und arbeiten kann, ohne mich bis an das Ende meiner Tage schämen zu müssen!“

Er fühlte, was sie sagen wollte; er begriff, daß sie nicht ganz unrecht habe, obgleich sie ihren Gedanken nicht den gehörigen Ausdruck zu geben vermochte. Dieses Mädchen besaß doch vielleicht noch genug Kraft, sich aufzuraffen und so sagte er, von Mitleid bewegt:

„Wenn du nun die Mittel hättest, ein anderes Leben zu beginnen, würdest du niemals wieder Kellnerin an einem solchen Ort werden?“

„Niemals, nie! Ich würde lieber arbeiten, daß mir die Haut von den Händen fiele. Aber woher soll ich diese Mittel nehmen? Ich habe niemand, der sich meiner erbarmt!“

Die Tränen waren ihr in die Augen getreten. Er fühlte sich aufrichtig bewegt und meinte:

„Hast du nicht mich?“

„Dich? O ja, an dich würde ich glauben. Dir traue ich es zu, daß du mir helfen möchtest. Aber es wäre ja Wahnsinn zu glauben, daß du mich zu dir nehmen wolltest.“

„Ich sehe, daß du verständig bist, Sally. Du liebst mich, und ich hege eine innige Teilnahme für dich; aber unsere Wege führen uns auseinander. Dennoch werde ich dich bitten, eine Summe von mir anzunehmen, welche dich in den Stand setzt, ein gutes Mädchen und dann vielleicht auch eine glückliche und geachtete Frau zu werden.“

Sie war bleich geworden. Ihr Auge ruhte auf ihm mit einem Ausdruck, den er nicht zu definieren vermochte. Was für Regungen kämpften jetzt in ihrem Innern miteinander? Hatte sie vielleicht doch einen Augenblick lang geglaubt, daß sie die Frau dieses Mannes werden könne, den sie ja doch auch nur für einen mit den Gesetzen Zerfallenen halten mußte? Endlich, endlich kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück. Sie ergriff seine beiden Hände und fragte leise und mit bebenden Lippen:

„Wolltest du das wirklich tun, Arthur, wirklich?“

„Ja“, antwortete er, „und zwar gern, sehr gern!“

Da legte sie die Hände wie betend zusammen, blickte ihm mit rührender Dankbarkeit in das Gesicht und flüsterte:

„Oh, mein Gott, so könnte ich zu meinem Bruder gehen!“

„Wie? Du hast einen Bruder?“

„Ja. Wir waren Waisenkinder und wurden von einer alten Frau erzogen, mit welcher wir betteln gehen mußten. Mein Schicksal kennst du. Mein Bruder war glücklicher. Er entfloh dem Weib, weit fort von Paris, und wurde Knecht auf einem Gut. Das ist er noch. Vielleicht bringt er es so weit, daß ich dort einen Dienst finde.“

„Das wollen wir uns überlegen. Morgen komme ich wieder und werde dir Bescheid sagen. Jetzt wollen wir nach dieser Aufregung ein kurzes, beruhigendes Spielchen machen.“

Er griff nach dem Damebrett, welches beim nahen Fenster lag, und begann, die Steine zu ordnen. Er hatte zwei Gründe dazu. Einmal wollte er von dem jetzigen Thema ablenken, und sodann sagte er sich, daß es ihm während des Spiels vielleicht gelingen werde, etwas von der leisen Unterhaltung zu hören, die hinter ihm geführt wurde.

Sally spielte leidlich Dame. Sie war glücklich, bei dem Geliebten sitzen zu dürfen, und hatte nichts gegen seinen Vorschlag einzuwenden. Er war ein Meister und ihr weit überlegen; aber dennoch tat er vor jedem Zug, als ob er denselben reiflich überlegen müsse. Während dieser Augenblicke lauschte er aufmerksam hinter sich, und es gelang ihm wirklich, einiges zu vernehmen.

„Ist der alte General wirklich so reich?“ hörte er fragen.

„– hunderttausend Franken wird er bezahlen, um sie wieder zu bekommen“, lautete die Antwort, deren ersten Teil er nicht hatte verstehen können.

„– eines Generals entführen?“ klang es weiter.

Jetzt mußte der Changeur einen Zug tun. Sally sprach einige kurze, bemerkende Worte, und erst dann hörte er hinter sich wieder die flüsternde Stimme des Wirtes:

„– Fiakerkutscher – Nummer aufgeklebt – Haartouren und Bärte – so teilen wir – mir wird niemand etwas nachweisen können.“

Dies waren lauter Worte und Satzteile, welche für ihn keinen Zusammenhang hatten. Er konnte nicht unterscheiden, ob etwas Vergangenes erzählt oder etwas Zukünftiges verabredet werde; aber doch machten die Worte den Eindruck auf ihn, daß sie wert seien, gemerkt zu werden.

Der Wirt hatte sich erhoben, trat erst an den anderen Tisch und nachher zu ihm mit der Bemerkung:

„So ist's recht, Changeur! Spiele mit der Sally. Nach dem Spielzimmer wirst du ja heute doch nicht kommen.“

„Warum nicht?“

„Weil heute nicht gespielt wird. Die Kameraden haben abgesagt.“

„Mir recht. Ich hatte überhaupt gar nicht die Absicht, lange hier zu bleiben. Ich gehe heim.“

„O nein; bleib noch hier!“ bat Sally.

„Bis diese Partie zu Ende ist; dann gehe ich. Ich bin müde vom letzten Geschäft und muß schlafen.“

„Aber morgen kommst du wieder? Ganz bestimmt?“

„Ja.“

Der Wirt war an das Buffet getreten. Niemand blickte jetzt her. Da ergriff sie seine Hand, drückte die an ihre Lippen und flüsterte:

„Diesen Kuß, diesen einzigen, mußt du mir erlauben! Er ist besser als derjenige, den ich immer von dir haben wollte.“

Er bezahlte seine Zeche und ging. Kaum war er zur Tür hinaus, so trat der Wirt vom Buffet, wo er in einem Kästchen gesucht hatte, zu Brecheisen und sagte halblaut:

„Hier ist die Polizeimarke. Schnell nach!“

„Gibt es denn genug Zeit dazu?“

„Vollständig! Nur spute dich, daß du ihn nicht aus den Augen verlierst!“

Der Einbrecher steckte die Marke zu sich und eilte dem Davongegangenen nach.

Der Changeur schritt ziemlich langsam die Straße entlang. Zwischen zwei Laternen angekommen, wo die Beleuchtung nur eine sehr spärliche war, da in diesem entlegenen Stadtteil die Lampen weiter auseinander waren als im Inneren der französischen Metropole, warf er, ohne halten zu bleiben, einen raschen Blick zurück. Ungefähr fünfzig Schritte hinter sich bemerkte er einen Mann, mit einer Bluse bekleidet und einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Der Mann kam gerade an einer Laterne vorüber, deren Schein hell auf ihn fiel.

„Das ist Levier, Brecheisen!“ murmelte der Changeur. „Er wird mir folgen, um zu sehen, ob ich wirklich an dem Ort wohne, welchen ich angegeben habe.“

Seinen Weg weiter verfolgend, machte er an den Ecken die Bemerkung, daß Brecheisen sich wirklich hinter ihm hielt. So gelangte er in die Rue de Paradis und an das Haus, in welchem er wohnte. Vor demselben brannte eine Laterne, und auch der Flur war beleuchtet. Er grüßte den Portier, welcher an seinem offenen Fensterchen saß, und begab sich dann nach dem Hof. Im Hinterhaus schritt er die beiden Treppen, welche auch beleuchtet waren, empor, und stand nun vor zwei unweit nebeneinander liegenden Türen. An beiden waren je eine Visitenkarte befestigt. Auf der einen stand ‚Arthur Valley, Schreiber‘, und auf der anderen war ‚Guillaume Fredoq, Statist‘ zu lesen.

Er zog einen Schlüssel und öffnete die erstere Tür. Das Zimmer, in welches er trat, war finster, bald aber hatte er ein Licht angebrannt. Jetzt zog er den Schlüssel von außen ab und verriegelte die Tür von innen. Das Stübchen war nur spärlich möbliert. Aus demselben führte eine verschlossene Seitentür nach dem zweiten Zimmer, an dessen Tür der andere Name gestanden hatte. Er öffnete diese Seitentür und trat in den anderen Raum.

„So!“ lächelte er vor sich hin. „Jetzt war ich der Schreiber Arthur Valley, und nun will ich der Statist Guillaume Fredoq werden. Niemand im Haus ahnt, daß diese beiden Personen ein und derselbe Kerl sind. Auf diese Weise führe ich jeden Beobachter irre.“

Er öffnete einen Kleiderschrank, zog einen anderen, höchst eleganten Anzug an, setzte eine schwarze Haartour auf und legte sich einen ebenso schwarzen Backenbart an. Eine Brille vollendete die Verwandlung. Nachdem er einen nach der neuesten Fasson gearbeiteten Hut aufgesetzt und ein zierliches Stöckchen genommen hatte, nahm er vom Fensterbrett zwei kleine Kieselsteine und steckte sie sich in den Mund, den einen rechts, den anderen links.

Nun löschte er das Licht aus und verließ das Zimmer, dasjenige nämlich, an dessen Tür der Name Fredoq stand. Als er diese letztere hinter sich verschlossen hatte, waren seit seinem Eintritt durch die erste Tür kaum fünf Minuten vergangen.

Mit fast unnachahmlicher Nonchalance schaukelte er sich die Treppe hinab und über den Hof hinüber. Als er den Flur erreichte, stand Brecheisen noch am Fenster des Hausmannes.

Der Einbrecher hatte nämlich erst einige Minuten verstreichen lassen, ehe er eingetreten war. Dann hatte er den Hausmann in dem selbstbewußt höflichen Ton, welcher der Polizei eigen zu sein pflegt, begrüßt und die Frage ausgesprochen:

„Ach, mein Lieber, kennen Sie vielleicht den jungen Mann, welcher vor drei Minuten von der Straße kam?“

„Ja“, antwortete der Gefragte, indem er den Blusenmann mit nicht sehr großer Ehrfurcht musterte. „Warum sollte ich ihn nicht kennen? Er wohnt ja in diesem Haus.“

„Im Vorderhaus?“

„Nein, sondern hinten.“

„Wie ist sein Name?“

„O Monsieur, wollen Sie mir nicht vorher sagen, wer Sie sind? Ich habe die Pflicht, zu erfahren, wer sich nach den Bewohnern dieses Hauses erkundigt.“

Brecheisen zog gravitätisch seine Marke hervor, hielt sie dem Hausmann vor das Gesicht und fragte:

„Genügt Ihnen das?“

Sofort verbeugte sich der Hüter des Einganges und antwortete in einem um vieles höflicheren Ton als vorher:

„Gewiß genügt das, gewiß, Monsieur! Ich bin natürlich zu jeder Auskunft, welche ich zu geben vermag, sehr gern bereit. Bitte, fragen Sie!“

„Wie also heißt der junge Mann?“

„Arthur Valley. So steht hier auf der Bewohnerliste.“

„Was ist er?“

„Schreiber.“

„Seit wann wohnt er hier?“

„Seit vielleicht zwei Wochen erst.“

„Hat er viel Verkehr im Haus?“

„Nein. Er erhält nie Besuch und hält sich stets allein.“

„Aber er geht viel aus?“

„Täglich einmal.“

„Ist er des Nachts oft außer dem Haus?“

„Nie. Er kommt um die jetzige Zeit oder noch früher, und geht erst am andern Tag zur Zeit der Dämmerung aus, ganz entgegengesetzt seinem liederlichen Nachbar, diesem Statisten Fredoq, welcher um die gegenwärtige Zeit ausgeht und des anderen Tages zur Dämmerzeit erst wiederkommt. Ich hoffe nicht, daß Sie einen unlieben Grund haben, sich nach dem höchst soliden jungen Mann zu erkundigen!“

„O nein. Er ging an mir vorüber, und eine Ähnlichkeit verleitete mich, ihn mit einem anderen zu verwechseln.“

In diesem Augenblick tänzelte der Changeur an ihnen vorüber und zum Tor hinaus. Er pfiff ein Liedchen vor sich hin, schien sich gar nicht um sie zu kümmern, kam aber nach zwei Augenblicken wieder bis an das Tor zurück und sagte:

„Heda, Alter! Wenn jemand nach mir fragen sollte, ich bin fort!“

„Sehr wohl, Monsieur Fredoq!“

Keiner hatte den Passierenden erkannt. Auch seine Stimme hatte infolge der Kieselsteinchen anders geklungen. Als er verschwunden war, meinte der Hausmann zu dem scheinbaren Polizisten:

„Das war der Statist. Heda, Alter! ruft er mich. Wie freundlich dagegen dieser brave Monsieur Valley grüßt!“

„Nicht ein jeder hat die gleiche Bildung, mein Lieber“, antwortete Brecheisen. „Nehmen Sie meinen Dank für Ihre freundliche Auskunft. Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

Der Einbrecher begab sich nach der Taverne zurück und setzte sich wieder bei seinen Genossen nieder. Der Wirt kam herbei, um seine Marke zurückzunehmen, und fragte:

„Nun, was hast du erfahren?“

„Daß wir ihm trauen können. Er kommt an jedem Abend regelmäßig nach Hause und geht erst bei Dämmerung des nächsten Tages wieder aus. Das könnte er nicht, wenn er ein Polizist wäre. Er hält sich ganz einsam, und ich denke, daß er diese Abgeschiedenheit zur Anfertigung seiner gefälschten Dokumente benutzt.“

„Wenn das so ist, so habe ich mich allerdings in ihm geirrt. Aber macht, daß ihr mit eurem Absinth fertig werdet. Es wird bald Zeit, euch anzukleiden und euch auf eure Posten zu begeben!“

Unterdessen war der Changeur bis nach dem nächsten Halteplatz der Fiaker gegangen.

„Nach der großen Oper!“ befahl er, in einen der Wagen steigend, der sich sofort mit ihm in Bewegung setzte.

Er fuhr die Straßen des Faubourg Saint Denis hinab, bog dann rechts in die Boulevards Bonne Nouvelle, Poissonnière und Montmartre ein und hielt nun vor der großen Oper, welche sich mit der anderen Seite an die Straße Le pelletier lehnte und später, im Oktober 1873 leider vom Feuer zerstört wurde. Sie fand ihre Auferstehung in prächtiger Form am Boulevards des Capucines.

Nachdem er ausgestiegen war, den Kutscher bezahlt hatte und nun in das berühmte Gebäude trat, hatte er eine ganz andere Haltung angenommen als vorher dem Hausmann gegenüber. Der Kutscher hatte gar nicht bemerkt, welch eine Verwandlung mit seinem Fahrgast vorgegangen war. Dieser hatte nämlich die Perücke und den Vollbart wieder abgenommen.

Welchen Eindruck machte er jetzt gegen vorher, da er in der Bluse bei der Kellnerin gesessen hatte! Das feine Habit stand ihm ausgezeichnet. Er glich in seinem gemessenen, vornehmen Wesen ganz einem Mann, der sich bewußt ist, den bevorzugten Kreisen der Aristokratie anzugehören.

Im Inneren des Musentempels angekommen, bemerkte er, daß Zwischenakt sei, und begab sich sogleich nach dem Foyer. Dieses machte einen blendenden Eindruck. Zwischen reichbesetzen Buffets wandelten Herren und Damen, oder sie standen in Gruppen beisammen, um miteinander zu plaudern.

Sein Auge sah forschend umher, und dann flog ein Lächeln des Glücks und der Befriedigung über sein schönes Antlitz. Er hatte gefunden, was er suchte. Zwei Damen standen in einem lebhaften Gespräch beisammen, eine ältere und eine junge. Von der ersteren war weiter nichts zu sagen, als daß sie ein sehr vornehmes Aussehen hatte; bei der jüngeren aber mußte jeder Blick, der auf sie fiel, verweilen.

Sie war von Mittelgröße, eine echte Französin, dunkelblond und von Eleganz umflossen. Das dunkel rosenfarbige Seidenkleid, in eine schwere Schleppe auslaufend, schmiegte sich so eng um die Taille, daß man, mit dem Auge von den runden, vollen Hüften abgleitend, eine so seltene Schlankheit geradezu bewundern mußte, zumal der Oberkörper sich dann zu einer beinahe üppigen, entzückenden Büste aufbaute. An Brust und Schultern ging der seidene Stoll in kostbare Spitzen über, deren durchbrochenes Muster einen göttlichen Busen und einen schneeweißen Nacken hindurchschimmern ließen. Dieselben Spitzen drapierten sich in leichten Falten von der Achsel hernieder. Aus ihnen glänzten zwei Arme hervor, wie sie Canova nicht herrlicher hätte meißeln können. Fleischig und doch den Regeln der Schönheit über alle Beschreibung entsprechend, zeigten sie am Ellbogen die seltene Zierde eines Grübchens, welches sinnberückend wirkte, und gingen dann zu zwei Händchen herab, welche einem Kind anzugehören schienen.

Das Haar wurde einfach getragen und war nur mit einer Rose geschmückt, wie ebenso eine dunkle, zum Aufbruch bereite Knospe an dem Busen duftete. Und doch war an dieser Dame das Gesicht das allerschönste! Die geistvollen und doch kindlich frohen Augen, diese klare, reine, unschuldige Stirn, das feine Näschen, der schalkhaft geschnittene, süß lächelnde Mund, die zarte und doch volle Formung der leicht angehauchten Wangen, das alles war erhaben über jede Beschreibung.

Und während sie sprach, war jede Bewegung ihrer bezaubernden Gestalt, ihrer Arme und ihrer Hände so schön, so harmonisch, als hätte die Göttin der Anmut ihre oft so schwer zu befolgenden Gesetze in diesem einzigen Wesen zur unwiderstehlichsten Inkarnation gebracht.

Sie schien gar nicht zu merken und zu wissen, daß aller Augen sich an ihrer Schönheit weideten und mancher Blick begeistert und verlangend auf ihr haften blieb. Sie stand so unbefangen da, als ob es gar keine Herren in der Nähe gäbe. Aber doch, doch, zwei Augen hatte sie bemerkt, zwei Augen, welche sich mit einem großen, strahlenden Blicke auf sie gerichtet hatten, und da, da schlug sie leise errötend die langen, schweren Wimpern nieder.

Wem gehörten diese Augen? Keinem anderen als dem Changeur!

Er schritt langsam und nahe an ihr vorüber. Kein Mensch hätte sagen können, daß er sie sähe und sie ihn. Er hatte ja mit diesem herrlichen Wesen noch kein einziges Wort gesprochen. Er hatte sie nur hier gesehen, hier und in der Loge des ersten Ranges, welche an die seinige stieß. Er nahm am Buffet eine kleine Erfrischung und sie eine Minute später auch. Ihre Blicke trafen sich nicht. Sie kannten einander ja nicht; sie waren einander ja vollständig fremd! Dann ertönte das Zeichen, daß in kurzer Zeit der neue Akt beginnen werde. Sie ging, und er folgte ihr. Auf dem Korridore, welcher vom Foyer nach den Logen führte, sah er eine Knospe liegen. Es war diejenige, welche sie an ihrem Busen getragen hatte. Er bückte sich schleunigst und hob sie mit einer Hast auf, als sei er ein armer Diamantenwäscher und habe den größten Edelstein der Welt gefunden. Er drückte die Rose an seine Lippen; er sog ihren süßen, würzigen Duft ein, und es war ihm, als habe er damit einen Teil der Seele derer eingeatmet, an deren Brust die Blüte vorher geschimmert hatte.

Er trat in seine Loge. Seine Nachbarin befand sich ganz allein in der ihrigen. Sie schien nicht zu ihm herüberzublicken; er durfte sie ja auch gar nicht grüßen; aber warum flog gerade jetzt eine so tiefe, glühende Röte ihr über Stirn, Wangen und Nacken, so daß sie das Batisttuch mit einer unwillkürlichen Bewegung zu ihrem Gesichtchen erhob? Hatte sie vielleicht dennoch bemerkt, daß ihre Rose jetzt einen Platz an seiner Brust gefunden hatte? Hatte sie diese Rose ohne ihr Wissen verloren, oder war ihre Hand der Bewegung ihres Herzens gefolgt, da sie ihn hinter sich wußte, um ihm ein duftendes Zeichen zu geben, daß –

Da erhob der Dirigent den Taktstock, und der Akt begann.

Was die Musiker spielten und bliesen, was die Künstler und Künstlerinnen sangen, er hörte es nicht, er wußte es nicht. Wäre er später danach gefragt worden, so hätte er nicht zu antworten vermocht. Er vernahm Musik, ja, er hörte die Töne von Instrumenten und menschlichen Stimmen, aber es war ihm, als ob er über den Wolken fliege, und hoch, hoch über ihm klinge wie ein himmlisches Märchen jene Harmonie dahin, welche man die Musik der Sphären nennt, welche das menschliche Ohr nie wahrnehmen, sondern die der menschliche Geist nur ahnen kann.

Und neben ihm –! Er wagte es nicht, hinüber zu blicken zu ihr, aber er fühlte und bemerkte jede, auch die leiseste ihrer Bewegungen, gerade als ob seine Nerven mit denen ihres Körpers in einem magnetischen Rapport ständen.

Erst als ein stürmischer Applaus ihm sagte, daß die Vorstellung ihr Ende erreicht habe, gab er sich Mühe, den Seelenzustand von sich abzuwehren, für welchen er selbst gar keine Bezeichnung zu finden vermochte. Er erhob sich.

Drüben in der Nachbarloge war ein galonierter Diener eingetreten, welcher seiner jungen Herrin einen Umhang über die Schultern legte. Dann ging sie.

Hatte sie vorher einen Blick hinüber geworfen, einen flüchtigen, wenn auch ganz und gar flüchtigen und kurzen Blick? Er vermochte nicht, sich auf diese Frage eine bestimmte und sichere Antwort zu geben, und die Röte, welche er sich in die Wangen steigen fühlte, konnte ja nicht als eine deutliche Erwiderung gelten.

Als er hinaustrat, war sie bereits fort. Er ließ sich widerstandslos vom Gedränge des Publikums erfassen und die breiten Treppen hinunter auf die Straße treiben. Dort nahm er einen der bereitstehenden Fiaker, um sich nach seiner eigentlichen Wohnung, welche in der Rue Richelieu lag, bringen zu lassen.

Diejenige, welche einen solchen Eindruck auf ihn gemacht hatte, war unten in die auf sie harrende Equipage gestiegen, und der Diener hatte sich hinten aufgestellt. Im Galopp fuhr der Kutscher von dannen. Er bemerkte gar nicht, daß ein Fiaker ihm fast auf dem Fuße folgte. Das Pferd desselben konnte kein gewöhnlicher Droschkengaul sein, sonst hätte es nicht eine solche Schnelligkeit entwickeln können.

Zwei Straßen weiter, da, wo es jetzt nur noch vereinzelte Passanten gab, standen vier Männer, zwei hüben und zwei drüben auf dem Trottoir. Sie hielten die beiden Enden eines dünnen aber festen Seiles, welches quer über die Straße reichte, in den Händen. Da hörten sie das laute Rasseln von zwei Wagen, welche sich mit großer Geschwindigkeit näherten.

„Aufgepaßt!“ rief der eine hinüber zu den beiden anderen.

„Werden sie es auch wirklich sein?“ antwortete es herüber.

„Ja. Horch, das Zeichen!“

Der Lenker des Fiakers klatschte viermal laut mit der Peitsche. Die vier Männer zogen das Seil fest. Die Pferde der Equipage kamen im schnellsten Tempo heran, rannten an das Seil, verfingen sich in demselben und stürzten zu Boden. Die Deichsel brach ab; der Wagen erlitt einen gewaltigen Stoß und blieb dann stehen. Der Kutscher war vom Bock gerissen und der Diener hinten von seinem Tritt geschleudert worden. In den Doppelschrei, welchen sie ausstießen, mischte sich der laute Schreckensruf der Dame.

In demselben Augenblick hielt der Fiaker neben dem Gewirr von Equipage, Pferden, Kutscher und Diener, welche beide letzteren noch gar nicht Zeit gefunden hatten, sich wieder aufzuraffen.

„Herein!“ rief der Lenker des Fiakers.

Die Dame stieß einen zweiten Schrei aus; es war ein Hilferuf. Vier starke Arme hatten sie erfaßt. Sie wurde im Nu aus den Kissen ihres Wagens gerissen und hinüber in den Fiaker gezogen, in welchen die beiden Männer mit sprangen.

„Fort!“ gebot der eine derselben.

Der Wagen setzte sich in Bewegung und jagte rasenden Laufes davon. Die unglückliche Dame wollte abermals rufen, aber zwei harte, knochige Hände verschlossen ihr den Mund, in welchen ihr dann mit bewundernswerter Geschicklichkeit ein Knebel geschoben wurde. Sie wollte sich wehren, doch Arme und Beine wurden ihr zusammengepreßt und dann mit Stricken gefesselt. Man hörte nur noch ein kurzes, durch den Knebel unterdrücktes Stöhnen, dann war es still.

„Wie steht es?“ fragte der Kutscher, sich rückwärts wendend, während er die Pferde unaufhaltsam ausgreifen ließ.

„Gut!“ wurde geantwortet. „Sie ist ohnmächtig.“

„Das können wir uns nicht besser wünschen.“

„Es hat überhaupt alles prachtvoll geklappt. Die hunderttausend Franken sind so gut wie verdient!“ –

Als die Ohnmächtige wieder zu Bewußtsein kam, vermochte sie noch immer nicht, ihre Arme und Füße zu bewegen. Sie waren ihr noch immer fest angebunden; aber sie befand sich nicht mehr in dem Wagen, sondern in einem kleinen Stübchen, in welchem außer den nackten, kahlen und schmutzigen Wänden nichts zu sehen war als ein elender Tisch und ein noch viel elenderer Stuhl. Auf dem Tisch steckte in dem Hals einer Flasche ein stinkend brennendes Talglicht. Die Tür schien verschlossen zu sein. Gefesselt war die Gefangene an zwei eiserne Haken, welche unterhalb Knie- und Schulterhöhe in die Mauer eingetrieben waren.

Sie mußte sich besinnen, was mit ihr geschehen war. Das Gedächtnis kehrte ihr erst langsam zurück. Sie dachte an die große Oper und an den, welchen sie dort bereits einige Male in der Nachbarloge gesehen hatte. Sie kannte ihn nicht. Wer war er? Dann war sie nach Hause gefahren und unterwegs bei dem Unfall, welcher ihr begegnet war, aus dem Wagen gerissen, in einen anderen gebracht und dort gefesselt und geknebelt worden.

Damit war sie bei der Gegenwart angelangt. Was wollte man mit ihr? Wo befand sie sich? Wer waren die fürchterlichen Männer, welche sich ihrer bemächtigt hatten?

Indem sie sich diese Frage stellte, kam eine entsetzliche Angst über sie. Man hatte sie auf eine ebenso raffinierte wie gewaltsame Weise ergriffen und hierher gebracht. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um einzusehen, daß der Sturz ihrer Pferde mit der Entführung im innigsten Zusammenhang stehe. Sie sann und sann, um sich einer Person ihrer Bekanntschaft zu erinnern, welche sie eines solchen Vorgehens für fähig halten und welcher sie Veranlassung dazu gegeben haben könne. Vergebens; es fiel ihr niemand ein.

Sie hatte Anbeter gehabt; aber dieselben waren ja nicht beleidigt, sondern nur mit stillabweisender Gleichgültigkeit von ihr behandelt worden. Einen wirklichen Feind, welcher Grund zu einem solchen Akt der Rachgier zu haben vermeinen könne, kannte sie nicht. Eine entsetzliche Angst erfaßte sie, und diese wuchs, je weniger sie eine Erklärung dafür finden konnte, daß man sich in einer rohen Weise ihrer Person versichert hatte.

Warum schloß man sie nicht einfach ein? Warum fesselte man sie an die Mauer? Sie hätte ja nicht zu entfliehen vermocht, denn die Tür war verschlossen, und das Zimmer hatte nicht ein einziges Fenster. Es glich einer alten Rumpelkammer, welche nur zu dem Zweck angelegt war, allerlei altes, unbrauchbar gewordenes Gerät dort aufzubewahren.

Sie war keineswegs ein von der Natur furchtsam angelegtes Menschenkind, aber ihre jetzige Lage flößte ihr doch ein Gefühl ein, für welches der Ausdruck Besorgnis zu schwach war.

Daß sie in außerordentlich rohe, gewalttätige und rücksichtslose Hände geraten sei, hatte sie bereits erfahren. Beim Schein des qualmenden Lichts sah sie, daß man ihre kostbare Toilette in Fetzen gerissen hatte. Was stand also zu erwarten? Mochte das, was man mit ihr beabsichtigte, sein, was es wolle, auf Schonung und Achtung durfte sie keineswegs rechnen.

Sie mußte trotz der Angst, welche sie empfand, tief erröten, wenn sie an sich herniederblickte und den Zustand sah, in welchem sich ihre Kleidung befand. Der Überwurf, welchen ihr der Diener in die Loge gebracht hatte, war gar nicht mehr vorhanden. Die feinen Brüsseler Spitzen, welche Brust und Nacken so entzückend umhüllt hatten, waren zerrissen, so daß die Schönheit ihrer Büste den Blicken derer, welche sie erwarten mußte, preisgegeben war, und der übrige Teil der seidenen Robe hing ihr ebenso in Stücken um den Leib.

Es wurde ihr heiß und kalt zu gleicher Zeit. Sie hätte um Hilfe rufen mögen, aber sie sah ein, daß man sie jedenfalls an einen Ort gebracht habe, von welchem aus ein solcher Ruf nicht gehört werden könne.

Da hörte sie draußen ein Geräusch. Es war an der Tür. Man nahm ein Vorlegeschloß ab; eine Eisenstange klirrte, und dann wurde die Tür geöffnet. Ein Mann trat ein. Man konnte seine Gestalt ebenso wenig wie sein Gesicht erkennen, denn die erstere war in einen alten, abgetragenen Domino gehüllt, und vor dem letzteren war eine ebenso ziemlich defekte Larve von Papiermache befestigt. Es ließ sich annehmen, daß der Kerl auch den Ton seiner Stimme, welcher übrigens bereits durch die Larve ein anderer werden mußte, verbergen werde.

Bei seinem Eintritt wollte sie unwillkürlich mit den Händen nach dem Busen fahren, um diesen den Blicken dieses Menschen schamvoll zu entziehen; aber es ging ja nicht. Ihre Arme waren in der Weise an die Mauer befestigt, daß die Ausführung einer solchen Bewegung zur Unmöglichkeit wurde.

Er machte die Tür hinter sich zu, betrachtete sie eine Weile wortlos und nahm dann auf dem Stuhl Platz.

Sie wollte sprechen, sie wollte ihn mit einer ganzen Flut von Fragen und Vorwürfen überschütten, aber sie brachte es nicht fertig. Der Hals war ihr wie zugeschnürt, ihr Herz klopfte ungestüm, sie rang nach Atem, ihr Angesicht war so blaß wie dasjenige einer Leiche geworden.

Da endlich begann er zu sprechen. Seine Stimme klang dumpf und drohend unter der Maske hervor. Die natürliche Klangfarbe derselben war unmöglich zu erkennen.

„Ich warne Sie, ein Wort so laut auszustoßen, daß es weiter gehört werden kann als bis zu diesem Stuhl“, sagte er. „Auch warne ich Sie, irgendeinen Vorwurf oder eine Schmähung auszustoßen. Es würde Ihnen nicht nur nichts helfen, sondern Ihre Lage nur verschlimmern.“

Er griff unter den Domino und zog ein langes, spitzes Messer hervor. Er hielt ihr die blanke, glänzende Klinge entgegen und fuhr fort:

„Sie sehen dieses Messer. Die Klinge desselben fährt Ihnen augenblicklich in das Herz, sobald Sie das Kleinste sagen oder tun, was mir nicht gefällt!“

Jetzt endlich fand sie Atem und mit demselben die Fähigkeit zum Sprechen.

„Nun, so sagen Sie wenigstens, was Sie von mir wollen und weshalb Sie sich meiner bemächtigt haben?“

„Ja, das sollen Sie hören. Vorher aber muß ich wissen, ob man in Ihnen auch wirklich die Richtige ergriffen hat. Wer sind Sie?“

„Mein Name ist Latreau.“

„Sie sind die Komtesse Ella de Latreau? Nicht?“

„Ja.“

„Sie haben keine Eltern mehr?“

„Nein.“

„Nur einen Großvater?“

„Ja.“

„Dieser Großvater ist der pensionierte General de Latreau?“

„Ja.“

„Ist Ihr Großvater reich?“

„Ja“, antwortete sie.

Bei dieser Frage begann sie zu ahnen, daß die Ursache ihrer Gefangenschaft nur eine gewinnsüchtige sei.

„Hat er stets Geld in seiner Wohnung liegen?“ fragte er weiter.

„Ich weiß es nicht. Großpapa hat mit mir noch niemals von Geschäften gesprochen.“

„Aber er hat einen Bankier, bei dem seine Anweisung honoriert wird?“

„Ich bin davon überzeugt.“

„Nun wohl, so will ich Ihnen sagen, daß ich Sie nur um eines Geldgeschäftes willen zu mir habe bringen lassen. Warum ich dabei gerade auf Sie gekommen bin, das brauchen wir dabei ja gar nicht zu erörtern. Ich habe eine nicht ganz unbedeutende Summe Geldes nötig; ich aber bin arm, und darum kann oder will mir niemand so viel beschaffen, wie ich brauche. Es gibt reiche Leute, welche die Summe recht gut entbehren können, ohne den Verlust zu empfinden. Aber welcher Reiche verschenkt sein Geld freiwillig? Man muß ihn dazu zwingen.“

Er hielt einen Augenblick inne. Nun sie wußte, um was es sich handelte, fühlte sie sich ziemlich beruhigt. Er fuhr wieder fort:

„Ein Dieb und Einbrecher bin ich nicht. Man weiß da ja auch niemals, ob man dabei so viel findet, als man braucht, und so habe ich mich entschlossen, irgendeinen Reichen auf eine möglichst ungefährliche Weise zu zwingen, mir das zu geben, was ich nötig habe.“

„Wieviel bedürfen Sie?“ fragte sie.

„Warten Sie!“ antwortete er. „Es muß alles hübsch nach der Ordnung gesagt werden! Ganz zufällig erfuhr ich, daß Ihr Großvater steinreich ist, daß Sie nicht nur seine einzige Erbin, sondern auch sein Liebling sind. Ich bin stets kurz entschlossen; der Plan war fertig. Ich ließ Sie beobachten, ich erfuhr, daß Sie heute zur Oper fahren würden; meine Leute lauerten Ihrem Wagen auf, überfielen Sie und brachten Sie hierher. Sie wissen nun, weshalb Sie hier sind, und was ich will.“

„Gut. Also wieviel brauchen Sie?“ wiederholte sie.

Er schwieg ein Weilchen und wiegte den maskierten Kopf hin und her. Dann antwortete er:

„Apropos, Mademoiselle, wieviel denken Sie, daß Sie wert sind?“

„Das ist hier Nebensache! Welche Summe wollen Sie haben?“

„Nun gut. Ich sage Ihnen im voraus, daß ich Ihnen die Summe nennen und mir nicht einen Centime davon abhandeln lassen werde. Ich muß rund hunderttausend Franken haben.“

Sie erschrak doch ein wenig. Eine solche Summe ist selbst für einen reichen Mann keine Kleinigkeit, zumal, wenn er sie geben muß, um damit gleichsam das Verbrechen anderer Leute zu honorieren. Sie zögerte, zu antworten, darum fragte er:

„Nun, wie steht es? Was sagen Sie dazu?“

„Sie fordern viel, sehr viel!“

„Ich fordere es von einem Mann, der es bezahlen kann!“

„Und wenn er es nicht geben will?“

„So sind Sie am dritten Tag eine Leiche.“

Es lief ihr bei dieser Drohung eiskalt über den Rücken.

„Unmensch!“ seufzte sie.

Da stieß er abermals ein höhnisches Lachen aus, welches unter der Maske hervor wie das Gelächter eines Teufels erklang, und antwortete:

„Oh, Mademoiselle, das ist noch nicht alles! Ehe Sie sterben, werde ich erst meinen Leuten erlauben, sich ein wenig mit Ihnen zu beschäftigen. Sie sind alle jung und Liebhaber des anderen Geschlechts. Keiner von ihnen hat jemals das Glück gehabt, die Tochter eines Grafen und Generals umarmen zu können. Dieses Glück will ich ihnen gewähren, um sie dafür zu entschädigen, daß sie den Lohn nicht erhalten, den ich ihnen für Ihre Entführung versprochen habe.“

„Sie sind ein Ungeheuer!“

„O nein! Ich bin ein sehr rücksichtsvoller Mann; das sehen Sie ja aus der Weise, in welcher ich für mein Personal besorgt bin. Also, geben Sie mir eine Antwort.“

„Gut. Großpapa wird zahlen!“

„Schön. Ich sehe, daß Sie nicht nur eine vornehme und schöne, sondern auch eine verständige Dame sind.“

„Aber ich mache auch eine Bedingung“, fiel sie ein.

„Welche?“

„Sie binden mich los und gewähren mir, solange ich noch gezwungen bin, bei Ihnen zu bleiben, eine menschenwürdige Gefangenschaft und Behandlung.“

Er wiegte den Kopf nachdenklich hin und her und antwortete:

„Das geht nicht. Ich kann Sie nicht losbinden, denn ich würde mich da in Gefahr setzen. Es kann einer Gräfin gar nichts schaden, einmal einen Tag oder zwei in einer unbequemen Stellung zuzubringen. Und sodann bin ich der Überzeugung, daß ich das Geld um so eher und leichter erhalten werde, je weniger es Ihnen bei mir gefällt.“

„Das ist mehr, viel mehr als grausam. Geben Sie mir wenigstens ein Kleidungsstück.“

„Ihre Toilette gefällt mir gerade so am allerbesten. Lassen wir sie also, wie sie ist.“

Sie war ein schwaches Weib, aber wenn sie sich jetzt hätte frei bewegen können, wahrlich, sie hätte den Versuch gemacht, diesen Unmenschen zu erwürgen. So aber konnte sie nur, bebend vor Zorn, rufen:

„Ich bin hilflos in Ihrer Gewalt; aber Gott wird Sie strafen!“

Da hielt er ihr das Messer vor und sagte:

„Sprechen Sie leiser und enthalten Sie sich solcher Reden, sonst mache ich die Drohung wahr, welche ich vorhin ausgesprochen habe. Regen wir uns überhaupt nicht auf. Wir stehen im Begriff, ein Geschäft abzuschließen, und da ist es geraten, seine Kaltblütigkeit und Überlegung zu bewahren. Ihr Großvater muß benachrichtigt werden. Das muß auf eine Art geschehen, welche mich keiner Gefahr aussetzt! Ebenso die Auszahlung des Geldes. Ist ihm Ihre Handschrift bekannt?“

„Das versteht sich wohl ganz von selbst.“

„Haben Sie einen Siegelring anstecken?“

„Nein.“

„Gut. Sie werden schreiben. Vorher aber muß ich Ihnen einiges sagen. Sobald ich nämlich merke, daß Ihr Großvater die Polizei beauftragt, mir entgegenzuarbeiten, sind Sie verloren. Ich würde Sie dann selbst gegen Geld nicht freigeben.“

„Aber die Polizei wird vielleicht bereits nach mir suchen.“

„Dagegen habe ich nichts. Nur Ihr Verwandter soll sich davon fernhalten. Meine Adresse wird natürlich nicht in Ihrem Brief stehen. Ich werde das Geld da und so in Empfang nehmen, wo und wie ich keine Gefahr für mich zu befürchten habe. Sie schreiben also, daß der General keine Nachforschungen anstellen und sodann, daß er übermorgen vormittags punkt zehn Uhr sich zu Fuß und ohne Waffen auf der Straße von Passy nach Saint Germain einfinden soll. Er hat das Taschentuch in der linken Hand zu halten und wird einem Reiter begegnen, welcher ihm eine von Ihnen geschriebene Quittung gibt, um dafür dort auf offener Straße das Geld in Empfang zu nehmen. Dieses letztere hat nur in Gold zu bestehen, er darf dasselbe in einem Köfferchen mitbringen. Wird bemerkt, daß geheime Vorbereitungen getroffen sind, den Reiter zu fangen, so schießt derselbe Ihren Großvater nieder. Ist der letztere aber ehrlich, so werden Sie des Abends freigelassen.“

„Sie treffen da Vorsichtsmaßregeln, denen ich auch die meinigen entgegensetzen möchte“, bemerkte Ella von Latreau.

„Sie? Vorsichtsmaßregeln?“ fragte er verwundert. „Welche könnten das sein?“

„Sie erhalten des Vormittags das Geld. Wer aber garantiert mir, daß ich dann des Abends auch wirklich auf freiem Fuß gesetzt werde?“

„Mein Wort.“

„Ah, das Wort eines Räubers!“

„Mademoiselle“, sagte er drohend, „ich wiederhole, daß Sie sich solcher Ausdrücke zu enthalten haben. Sogar der raffinierteste Spitzbube hat ein Ehrenwort, welches er zu halten pflegt.“

„Aber wer um Geldes willen eine Dame raubt, kann leicht auf den Gedanken kommen, noch mehr zu verlangen. Wie leicht ist es Ihnen gemacht, noch einmal die gleiche Summe zu fordern, wenn Sie die hunderttausend empfangen und mich noch in Ihrer Gewalt haben.“

„Ich habe eine bestimmte Summe gefordert und werde nicht weniger nehmen, aber auch nicht mehr verlangen.“

„Ich habe bereits gesagt, daß ich mich in Ihrer Gewalt befinde; ich kann leider nichts anderes tun als das, was Sie bestimmen. Wann soll ich schreiben?“

„Sogleich.“

„In Fesseln?“

„Ich werde Sie losbinden. Natürlich nur so lange, bis Sie mit dem Brief fertig sind.“

Er zog ein Fläschchen mit Tinte, eine Feder, Briefpapier und ein Kuvert hervor, legte das alles auf den Tisch und machte dann die Stricke los, mit denen Ella festgebunden war. Dabei sagte er:

„Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß ich mit dem Messer in der Hand bei Ihnen stehen werde. Der geringste Versuch zur Flucht oder die kleinste drohende Bewegung gegen mich kostet Ihnen das Leben.“