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Zweiter Theil. 

Erstes Capitel.Der Sklavenhandel.

Sklavenhandel! Ein Jeder kennt die Bedeutung dieses Wortes, das in der menschlichen Sprache nie hätte Bürgerrecht erhalten sollen. Schon seit einer Reihe von Jahren ist dieser verabscheuungswürdige Handel, der lange Zeit zum Vortheil europäischer Mächte mit überseeischen Kolonialbesitzungen getrieben wurde, zwar streng verboten, dennoch blüht er noch immer, vorzüglich in Central-Afrika, in sehr großem Maßstabe. Mitten im 19. Jahrhundert sind doch noch mehrere Staaten, welche sich ausdrücklich christliche nennen, mit der Emancipation ihrer Sklaven noch nicht vorgegangen.

Man könnte glauben, daß wenigstens der offene Handel unterdrückt sei und das widerliche Feilschen um Menschenfleisch aufgehört habe. Dem ist leider nicht so, und der Leser muß diese Verhältnisse kennen lernen, um sich für den zweiten Theil unserer Erzählung zu interessiren. Er muß erfahren, was jene Menschenhetzen thatsächlich sind, welche einen ganzen Erdtheil zu entvölkern drohen, um einige Sklaven-Kolonien zu unterhalten, und auf welche Weise jene barbarischen Razzias ausgeführt werden, wie viel Blut sie kosten, welche Verwüstungen sie durch Mord, Brand und Plünderung erzeugen und zu wessen Nutzen sie noch unternommen werden.

Erst im 15. Jahrhundert tritt der Sklavenhandel zum ersten Male auf und er entstand nämlich unter folgenden Umständen:

Nach ihrer Vertreibung aus Spanien waren die Muselmänner über die Meerenge von Gibraltar nach der afrikanischen Küste entflohen. Die Portugiesen, welche jenes Uferland damals besaßen, verfolgten sie mit Ungestüm. Eine gewisse Anzahl jener Flüchtlinge ward gefangen und nach Portugal zurückgeschleppt. Diese verfielen dem harten Lose der Sklaverei und bildeten somit den ersten Kern afrikanischer Sklaven, der seit der christlichen Aera in West-Europa entstand.

Nun gehörten die gefangenen Mauren aber meist reichen Familien an, welche die Ihrigen um Gold wiederkaufen wollten. Die Portugiesen dagegen schlugen jedes, auch noch so hoch bemessene Lösegeld einfach aus. Für Gold hatten sie keine Verwendung. Ihnen fehlten vor Allem tüchtige Arme zur Arbeit in den aufblühenden Kolonien – um es kurz zu sagen.. – Sklavenarme!

Da es den maurischen Familien nicht gelang, ihre Angehörigen durch Geldopfer zu befreien, boten sie zum Austausch eine größere Zahl afrikanischer Neger an, welche sie sich ziemlich leicht verschaffen konnten. Die Portugiesen erkannten bei diesem Tausche ihren Vortheil nur zu gut und gingen also auf das Angebot ein – das war der Ursprung des ersten Sklavenhandels in Europa.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts fand dieser verächtliche Schacher allgemeine Anerkennung, welche bei den damaligen barbarischen Sitten ziemlich erklärlich erscheint. Alle Staaten begünstigten ihn geradezu, um die Kolonisirung der in der Neuen Welt erworbenen Inseln schneller und sicherer durchzuführen. In der That vermochten die Negersklaven da zu bestehen, wo nicht acclimatisirte und der tropischen Hitze ungewohnte weiße Arbeiter zu Tausenden dahingerafft worden wären. Der Transport der Neger nach den amerikanischen Kolonien geschah regelmäßig mittelst besonderer Schiffe, und bald führte dieser Zweig des atlantischen Handels die Gründung großartiger Comptoirs an verschiedenen Punkten der afrikanischen Küste herbei. Die »Waare« kostete im Productionslande nur wenig und der Verdienst war dabei ein sehr ergiebiger.

So nothwendig von den verschiedensten Gesichtspunkten aus die Gründung überseeischer Kolonien aber auch erscheinen mochte, so konnte sie doch nimmermehr jenen Handel mit Menschenfleisch rechtfertigen. Bald ließen sich auch edelmüthige Stimmen vernehmen, welche gegen den Negerhandel Einspruch erhoben und dessen Abschaffung im Namen der Menschlichkeit von den europäischen Regierungen forderten.

Im Jahre 1751 stellten sich die Quäker an die Spitze der abolitionistischen Bewegung, und zwar im Herzen Nordamerikas, wo ein ganzes Jahrhundert später der Secessionskrieg ausbrach, dem die Frage der Sklaven-Emancipation bekanntlich nicht fremd war. Mehrere Staaten des Nordens, Virginien, Connecticut, Massachusets, Pennsylvanien verfügten die Abschaffung des Sklavenhandels und befreiten die früher mit großen Unkosten nach ihren Gebieten eingeführten Sklaven.

Dieser von den Quäkern eröffnete Feldzug beschränkte sich jedoch nicht auf die Grenzen der nördlichen Provinzen der Neuen Welt. Die Sklavenhalter und Freunde der Sklaverei wurden selbst jenseits des Atlantischen Oceans lebhaft angegriffen. Aus Frankreich und vor Allem aus England recrutirten sich die Anhänger des Spruches: »Eher als ein richtiges Princip mögen die Kolonien untergehen!« So lautete das edelmüthige Feldgeschrei in der ganzen Alten Welt, und trotz der dabei in Frage kommenden großen politischen und commerciellen Interessen machte sich seine Wirkung durch ganz Europa hin bemerkbar.

Der Anstoß war gegeben. England schaffte 1807 in seinen Kolonien den Sklavenhandel ab und 1814 folgte Frankreich seinem Beispiele. Die beiden mächtigen Nationen einigten sich über einen diesbezüglichen Vertrag, den Napoleon während der Hundert Tage bestätigte.

Freilich hatte dieser Vertrag Alles in Allem keinen höheren Werth als den einer rein theoretischen Erklärung. Die Negerschiffe segelten nach wie vor über die Meere und löschten ihren »Cargo an Ebenholz« in den Häfen der Kolonien.

Um jenem Handel ein Ende zu machen, bedurfte es mehr praktischer Maßnahmen. Es erklärten zunächst die Vereinigten Staaten im Jahre 1820 und England 1824 den Sklavenhandel als Räuberei und als dem Gesetze verfallene Seeräuber Diejenigen, welche ihn betrieben. Als solche drohte ihnen die Todesstrafe und jedenfalls setzten sie sich der hartnäckigsten Verfolgung aus. Frankreich beeilte sich, diesem neuen Vertrage beizutreten. Die Staaten Südamerikas dagegen, vorzüglich die spanischen und portugiesischen Kolonien, schlossen sich dieser Abolitionsacte nicht an und die Ausfuhr von Negern nahm zu ihren Gunsten den gleichen Fortgang, trotz des allgemein anerkannten Visitationsrechtes, welches sich darauf beschränkte, festzustellen, ob die verdächtigen Schiffe unter wahrer oder falscher Flagge segelten.

Das neue Abolitionsgesetz hatte indeß keine rückwirkende Kraft. Man ließ wohl keine neuen Sklaven zu, doch die früheren hatten damit noch nicht ihre Freiheit wiedererhalten.

Auch nach dieser Seite ging England mit gutem Beispiele voran. Eine Generaldeclaration vom 14. Mai 1833 emancipirte alle Sklaven der britischen Kolonien und im August 1838 wurden wirklich 670.000 Sklaven für frei erklärt.

Zehn Jahre später, also 1848, emancipirte die Republik die Sklaven der französischen Kolonien, d.h. gegen 260.000 Neger.

Der 1859 zwischen den Föderirten und den Conföderirten der Vereinigten Staaten ausgebrochene blutige Krieg vollendete das Werk der Emancipation und verbreitete es über das gesammte Nordamerika.

Die drei großen Seemächte hatten jenes Werk der Menschlichkeit also glücklich durchgeführt. Heute florirt der schändliche Sklavenhandel nur noch in den spanischen oder portugiesischen Besitzungen oder zur Deckung des Bedürfnisses für die türkischen oder arabischen Völker des Ostens.

Wenn Brasilien auch seinen Sklaven noch nicht die Freiheit schenkte, so läßt es doch mindestens keine neuen zu und sichert auch den im Lande gebornen Negerkindern die Freiheit.

Im Innern von Afrika sind in Folge der blutigen Raubzüge, welche afrikanische Häuptlinge zum Zwecke der Menschenjagd anzustellen pflegten, ganze Völkerstämme in Sklaverei gerathen. Die betreffenden Karawanen bewegen sich dann aus dem Binnenlande nach zweierlei Richtungen; entweder östlich nach der portugiesischen Kolonie Angola, oder westlich nach Mozambique. Die unglücklichen Sklaven, von denen übrigens nur ein kleiner Theil seinen Bestimmungsort wirklich erreicht, werden entweder nach Kuba oder nach Madagaskar übergeführt; andere wieder schleppt man nach den arabischen oder türkischen Ländern in Asien, nach Mekka oder Maskat. Die englischen und französischen Kreuzer vermögen diesem Handel nur unzulänglich zu steuern, da eine wirksame Ueberwachung jener ausgedehnten Küstenstriche allzu große Schwierigkeiten bietet.

Erreicht wohl die Ziffer dieses verabscheuungswerthen Exportes noch immer eine beträchtliche Höhe?

Leider ja! Man schätzt die Zahl der jährlich an den Ausfuhrplätzen anlangenden Sklaven auf 80.000, und diese Zahl repräsentirt dem Anscheine nach nur etwa den zehnten Theil der daneben hingemordeten Eingebornen. Nach solchen grauenvollen Schlächtereien liegen die verwüsteten Felder verlassen, sind die niedergebrannten Flecken menschenleer, schwemmen die Ströme Massen von Leichen hinab und nehmen die wilden Thiere von den verwüsteten Ländereien Besitz. Als Livingstone bald nach einer Menschenjagd in eine solche Gegend kam, erkannte er diese nicht wieder, obwohl er sie erst einige Monate vorher bereist hatte. Alle anderen Reisenden, wie Grant, Speke, Burton, Cameron und Stanley, schildern das bewaldete Plateau InnerAfrikas, den Schauplatz der zwischen den Häuptlingen geführten mörderischen Kriege, in ganz ähnlicher Weise. In dem Gebiete der großen Seen, in den weitausgedehnten Ländereien, welche die Quellenländer des Zanzibar darstellen, in Bornu und Fezzan, weiter im Süden, längs des Nyassa-und Zambesistromes, weiter im Osten, in den Districten des oberen Zaïra, welche Stanley unlängst todesmuthig durchwanderte – dasselbe Bild von Ruinen, dieselben Anzeichen des Massenmordes und der Entvölkerung! Sollte die Sklaverei in Afrika wirklich erst mit dem Untergange der schwarzen Race ein Ende nehmen, wie es mit der australischen Race in Neu-Holland der Fall war?

Und doch, der Markt in den spanischen und portugiesischen Kolonien maß sich in unseren Tagen schließen, der Absatz dahin wird unterbunden werden; die civilisirte Welt kann den Sklavenhandel nicht länger dulden.

Ja, dieses Jahr 1878 wird Zeuge der Befreiung aller in christlichen Staaten noch vorhandenen Sklaven sein. Die mohamedanischen Völker werden freilich diesen abscheulichen, den afrikanischen Continent entvölkernden Handel noch lange genug fortsetzen. Nach jenen Ländern findet in der That die weitaus bedeutendste Ueberführung von Negern statt, da die Zahl der, ihrer Heimat entführten und nach der Ostküste geschleppten Eingebornen jährlich 40.000 noch überschreiten soll. Vor dem Feldzuge nach Egypten wurden die Neger von Sennaar zu Tausenden an die von Darfur, und letztere umgekehrt an jene verkauft. General Buonaparte konnte damals eine große Menge dieser Neger käuflich erwerben, welche er zu einzelnen Corps, nach Art der Mameluken, organisirte. Während dieses Jahrhunderts, von dem vier Fünftel nun verflossen sind, hat der Sklavenhandel aber nicht ab-, sondern im Gegentheil zugenommen.

In der That begünstigte der Islam diesen Menschenschacher. Der schwarze Sklave mußte in dem muselmännischen Reiche den weißen Sklaven der früheren Zeit ersetzen. So betreiben denn Händler aus aller Herren Länder dieses verabscheuungswürdige Geschäft in größtem Maßstabe. Sie führen ein Supplement an Bevölkerung jenen Racen zu, welche dereinst verschwinden werden, da sie sich nicht durch die Arbeit regeneriren. Ganz wie zu Buonaparte’s Zeit werden diese Sklaven oft Soldaten. Bei einzelnen Völkern am oberen Niger bilden sie wohl die Hälfte der Heerhaufen der afrikanischen Regenten. In diesem Falle ist ihr Los übrigens kaum ein schlimmeres als das der freien Männer. Ist der Sklave aber nicht Soldat, so hat er einen Werth als Münze, welche selbst in Egypten Kurs hat, und in Bornu werden, nach der Mittheilung Wilhelm Lejean’s als Augenzeugen, Officiere und Beamte oft mit solchem Gelde bezahlt.

Sollen wir noch hinzufügen, daß nicht wenige Vertreter der europäischen Großmächte sich nicht scheuen, diesem Schacher gegenüber eine bedauernswerthe Nachsicht an den Tag zu legen? Leider ist es an dem, und obwohl kreuzende Schiffe die Küsten des Atlantischen und Indischen Oceans unausgesetzt bewachen, so blüht der Handel im Innern ruhig weiter, ziehen die Karawanen unter den Augen gewisser Regierungsagenten ungehindert dahin und wiederholen sich die gräßlichen Schlächtereien, bei denen zehn Neger ermordet werden, um einen Sklaven zu erbeuten, immer in bestimmten Zwischenräumen.

Der Leser begreift nun wohl die schreckliche Wirkung der Worte Dick Sand’s, als er ausrief:

»Afrika! Das äquatoriale Afrika! Das Land der Sklavenhändler und der Sklaven!«

Er täuschte sich wirklich nicht: das war Afrika mit allen, ihm und seinen Gefährten drohenden Gefahren.

An welcher Stelle des afrikanischen Continentes aber hatte ein wirklich unerklärliches Geschick ihn aus Land geworfen? Offenbar an einem Punkte der Westküste und leider – glaubte der junge Leichtmatrose annehmen zu müssen, daß der »Pilgrim« an dem Gestade von Angola gescheitert sei, d.h. gerade an dem Ausfuhrplatze, nach welchen die, diesen Theil Afrikas so schwer schädigenden Karawanen zu ziehen pflegen.

In der That, hier war es. Es war das Land, welches Cameron im Süden und Stanley im Norden einige Jahre später, aber um den Preis welcher Mühsale und Entbehrungen, durchzogen! Von diesem ausgedehnten, aus den drei Provinzen Benguela, Congo und Angola bestehenden Gebiete kannte man bisher nur den Landstrich an der Küste. Er erstreckt sich von dem Nourse im Süden bis zum Zaïre oder Congo im Norden, während zwei bedeutendere Städte, nämlich Benguela und San Pablo de Loanda, die Hauptplätze der zu Portugal gehörigen Kolonie, dessen Häfen bilden.

Weiter im Innern war diese Gegend bisher so gut wie unbekannt. Nur ganz vereinzelte Reisende hatten dieselbe zu betreten gewagt. Ein verderbliches Klima, feuchtwarme Ländereien, welche die Brutstätten der Fieber sind, wilde Eingeborne, von denen nicht wenige noch zu den Kannibalen gehören, der Krieg ohne Ende von Stamm zu Stamm, das lauernde Mißtrauen der Sklavenhändler gegenüber jedem Fremden welcher ihnen stets nur in die Geheimnisse ihres fluchbeladenen Handels eindringen zu wollen scheint, das sind so die zu überwindenden Schwierigkeiten, die zu besiegenden Gefahren in der Provinz Angola, dem gefahrenreichsten Landestheile des ganzen äquatorialen Afrika.

Im Jahre 1816 war Turkey längs der Ufer des Congo bis über die Wasserfälle von Yellala, d.h. eine Strecke von höchstens zweihundert (englischen) Meilen vorgedrungen. Eine eingehendere Kenntniß des Landes wurde durch diesen kurzen Zug natürlich nicht gewonnen, und doch kostete er den meisten Gelehrten und Officieren, welche jene Expedition unternahmen, das Leben.

Siebenunddreißig Jahre später wagte sich Livingstone vom Cap der Guten Hoffnung aus bis nach dem oberen Zambesi. Von dort aus durchreiste er, seit November 1853, mit bisher unübertroffener Kühnheit Afrika von Süden nach Nordwesten, überschritt den Coango, einen der Nebenströme des Congo, und kam am 31. Mai 1854 in San Pablo de Loanda an. Das war die erste Reise durch das unbekannte Hinterland der großen portugiesischen Kolonie.

Achtzehn Jahre später unternahmen es zwei kühne Entdeckungsreisende, Afrika von Osten nach Westen zu durchstreifen und unter Nichtachtung geradezu unerhörter Schwierigkeiten, der Eine im Süden, der Andere im Norden von Angola die entgegengesetzte Küste zu erreichen.

Die wilden Thiere nahmen von den verwüsteten Ländereien Besitz. (S. 229.)

Der erste der Genannten war der Lieutenant in der englischen Marine Verney-Howet Cameron. Im Jahre 1872 hatte man alle Ursache, die zur Aufsuchung Livingstone’s nach dem Gebiete der großen Seen entsendete Expedition des Amerikaners Stanley gefährdet zu glauben. Lieutenant Cameron erbot sich, diesen wieder aufzusuchen. Das Anerbieten ward angenommen. Cameron reiste in Begleitung des Doctor Dillon, des Lieutenant Cecil Murphy und Robert Massats, eines Neffen Livingstones, von Zanzibar ab.

Die Unterhaltung begann eben. (S. 237.)

Nach Ueberschreitung des Ouyogo traf er die irdischen Ueberreste Livingstone’s, welche dessen treue Diener nach der Ostküste zurückführten. Mit dem felsenfesten Vorsatze, das Land von der einen Küste quer bis zur anderen zu durchreisen, setzte er nach jenem Zusammentreffen seinen Weg fort, passirte Unianyembe, Ugunda, Kahnela, wo er die Papiere des großen Reisenden vorfand und rettete, überschritt den Tanganyika, die Bergkette von Bambarre, den Loualaba, dessen Strombette er nach Besichtigung der angrenzenden, durch Krieg und Sklavenhandel entvölkerten Länder nicht weiter verfolgen konnte, durchzog ferner Kilemba, Uluda und Lavalé, nachdem er Coanze und jene ungeheuren Waldgebiete, in welche Harris Dick Sand und dessen Begleiter tief hineingeführt hatte, durchwandert, bis der energische Cameron den Atlantischen Ocean erblickte und endlich in San Felipe de Benguela eintraf. Diese drei Jahre und vier Monate andauernde Reise hatte zwei seiner Gefährten, dem Doctor Dillon und Robert Massat, das Leben gekostet.

Dem Engländer Cameron folgte der Amerikaner Henry Moreland Stanley auf dieser Entdeckungsreise fast auf dem Fuße. Bekanntlich zog dieser unerschrockene Correspondent des »New-York Herald« seiner Zeit aus, zunächst um Livingstone aufzusuchen, den er am 30. October 1871 in Ujiji am Ufer des Taganyïka-Sees, antraf. Was er aber vom Gesichtspunkte der Humanität aus so glücklich erreicht, das wollte Stanley im Interesse der geographischen Wissenschaften weiterführen. Sein Ziel war die möglichst eingehende Erforschung von Loualaba, welches er nur flüchtig gesehen hatte. Noch wanderte Cameron halb verloren in den Provinzen InnerAfrikas dahin, als Stanley im November 1874 Bagamoya an der Ostküste verließ, einundzwanzig Monate später, am 24. August 1876, von dem durch eine Pocken-Epidemie verheerten Ujiji aufbrach, in vierundsiebzig Tagen die Strecke von jenem See bis N’yangwé, dem großen, schon von Livingstone und Cameron besuchten Sklavenmarkte, zurücklegte und im Lande der Marungu und der Manyuema wider Willen den abscheulichsten, von den Officieren des Sultans von Zanzibar geleiteten Razzias beiwohnte.

Von hier aus bereitete sich Stanley vor, den Lauf des Loualaba zu erforschen und diesem Strome bis zu seiner Mündung zu folgen. Hundertvierzig in N’yangwé angenommene Träger und nicht weniger als neunzehn Boote bildeten das Personal und Material seiner Expedition. Gleich zu Anfang der Reise hatte er mit den Anthropophagen von Ugusu zu kämpfen und mußte auch alle Boote durch Träger fortschaffen lassen, um die unfahrbaren Katarakte des genannten Stromes zu umgehen. Unter dem Aequator, an der Stelle, wo der Loualâba nach Nordnordosten abbiegt, griffen vierundfünfzig Boote mit mehreren hundert Eingebornen die kleine Flottille Stanley’s an, dem es jedoch gelang, jene in die Flucht zu schlagen. Der muthige Amerikaner constatirte dann, indem er bis zum zweiten Grade nördlicher Breite hinausdrang, daß der Loualaba identisch sei mit dem Oberlauf des Zaïre oder Congo, und daß er, seinem Laufe folgend, direct nach dem Meere hinab gelangen müsse. Das that er denn auch, freilich nur unter fast täglichen Gefechten mit den Uferbewohnern des Stromes. Bei der Passage der Katarakte von Massassa, am 3. Juni 1877, verlor er einen seiner Begleiter, Francis Pocock, er selbst aber wurde am 18. Juli mit seinem Boote die Fälle von M’belo hinuntergerissen und entging nur wie durch ein Wunder dem drohenden Tode.

Am 6. August endlich langte Stanley in dem Flecken Ni Sanda, vier Tagereisen von der Küste, an. Zwei Tage darauf fand er in der Banza M’buko, die von zwei Kaufleuten in Eneboma entgegengesendeten Provisionen und gönnte sich endlich in genannter Küstenstadt einige Rast, nachdem er, durch Mühsal und Entbehrung mit fünfunddreißig Jahren schon gealtert, binnen zwei Jahren und neun Monaten das ganze Festland Afrikas durchzogen hatte. Die Feststellung des Laufes des Loualaba bis zum Ocean hinab war eine Frucht dieser beschwerlichen, gefahrenreichen Reise, und wenn der Nil als die große Pulsader des Nordens, der Zambesi als die des Ostens zu betrachten ist, so weiß man jetzt, daß Afrika ferner im Westen den dritten der größten Ströme der Welt besitzt, der mit einer Flußlänge von 2900 Meilen (= 4658 Kilometer) unter verschiedenen Namen, als Loualaba, Zaïra und Congo, die Gegend der großen Seen mit dem Atlantischen Meere verbindet.

Zwischen den beiden Reise-Routen Stanley’s und Cameron’s nun lag jene im Jahre 1873, zur Zeit als der »Pilgrim« an Afrikas Küste scheiterte, noch so gut wie unbekannte Provinz Angola. Was man von ihr wußte, beschränkte sich darauf, daß sie der Schauplatz des westlichen Sklavenhandels war, den die bedeutenden Märkte in Bihe, Cassange und Kazonnde begünstigten.

In diese Gegend nun war Dick Sand bis 100 Meilen von der Küste hineingeführt worden, mit einer von Anstrengungen und Schmerzen erschöpften Frau, einem sterbenskranken Kinde und seinen Gefährten, einigen Negern von Geburt, d.h. einer wie für die Habgier der Sklavenhändler geschaffenen Beute.

Ja, das war hier Afrika, und nicht jenes Amerika, wo weder die Eingebornen, noch die wilden Thiere oder das Klima ernstlich zu fürchten sind. Das war nicht jener gesegnete Landstrich zwischen den Cordilleren und der Küste mit seinen vielen Ortschaften und den für jeden Reisenden ohne Unterschied gastfreundlich geöffneten Missionen. O, sie lagen so weit von hier, jene Gestade von Peru und Bolivia, nach welchen hin der langandauernde Sturm den »Pilgrim« ohne Zweifel getrieben hätte, wenn ihn damals nicht eine verbrecherische Hand auf falschen Kurs lenkte, jene Länder, wo die Schiffbrüchigen ohne Schwierigkeit Gelegenheit gefunden hätten, in ihre Heimat zurückzukehren.

Das war das schreckliche Angola, und dazu nicht einmal jener von den portugiesischen Behörden einigermaßen überwachte Theil der Küste, sondern das Innere der Kolonie, welches die Sklaven-Karawanen unter der Peitsche der Havlidars durchziehen.

Was wußte Dick Sand wohl von dem Lande, nach dem der Verrath ihn gebracht hatte? Nur wenig, er kannte die Berichte der Missionäre des 16. und 17. Jahrhunderts, die dürftigen Nachrichten der Händler, welche von San Pablo de Loanda über San Salvador nach Zaïre ziehen, und das, was Doctor Livingstone bei Gelegenheit seiner Reise vom Jahre 1853 darüber veröffentlicht hatte, hätte hingereicht, eine minder starke Seele als die seine gänzlich niederzudrücken.

In der That, die augenblickliche Lage war entsetzlich!

Zweites Capitel.Harris und Negoro.

Am nächsten Morgen des Tages, da Dick Sand und seine Begleiter zum letzten Male ihr Lager im Urwald aufgeschlagen zu haben glaubten, trafen sich, offenbar in Folge vorgängiger Verabredung, zwei Männer, etwa drei Meilen von dem Ruheplatze der Reisegesellschaft.

Diese beiden Männer waren Harris und Negoro, und der Leser wird aus dem Folgenden ersehen, inwiefern der Zufall eine Rolle spielte, der den von Neu-Seeland kommenden Portugiesen mit dem Amerikaner, der in Folge seines Geschäftes als Sklavenhändler diese Provinz West-Afrikas häufig zu durchreisen genöthigt war, an der Küste von Angola zusammenführte.

Negoro und Harris hatten sich am Fuße einer mächtigen Banane niedergesetzt, am geneigten Ufer eines brausenden Bergbaches, der zwischen einer Doppelreihe von Papyrusstauden dahinfloß.

Die Unterhaltung begann eben, denn der Portugiese und der Amerikaner hatten sich nur diesen Augenblick erst getroffen, und betraf zunächst die Vorkommnisse der letzten Stunden.

»Nun, Harris, sagte Negoro, Du vermochtest also die kleine Gesellschaft des Kapitän Sand, wie sie den fünfzehnjährigen Jungen zu nennen belieben, nicht tiefer nach Angola hineinzuführen?

– Nein, Kamerad, erwiderte Harris, es wundert mich sogar, daß es mir gelang, sie mindestens hundert Meilen von der Küste wegzuschleppen. Seit einigen Tagen beobachtete mich mein Freund Dick Sand mit sehr unruhigen Blicken, sein Verdacht bildete sich allmälig zur Gewißheit aus, und meiner Treu…

– Noch hundert Meilen, und jene Leute wären noch sicherer unserer Gewalt verfallen gewesen. Doch entwischen dürfen sie uns auf keinen Fall!

– O, wie könnten sie das? antwortete Harris achselzuckend. Doch ich wiederhole Dir, Negoro, es war höchste Zeit, sich aus ihrer Gesellschaft wegzustehlen. In meines jungen Freundes Augen las ich es zehnmal, daß er nicht übel Luft hatte, mir eine Kugel in den Leib zu jagen, und ich habe einen zu schwachen Magen, um solche Bohnen, zwölf auf’s Pfund, zu verdauen!

– Schon gut! meinte Negoro; ich für meine Person habe mit jenem Novizen auch noch ein Hühnchen zu rupfen…

– Was Du mit ihm, wie es Deinem Interesse entspricht, abmachen wirst. Was mich betrifft, so bemühte ich mich während der ersten Reisetage, und zwar mit Erfolg, ihm diese Provinz für die Einöde von Atacama, die ich früher einmal besucht habe, auszugeben; da meldete sich aber der kleine Knirps, der seine Kautschukbäume und Kolibris haben wollte, da verlangte seine Mutter nach Chinabäumen, und der Herr Vetter, der sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt hatte, Cocuyos fangen zu wollen!… wahrhaftig, ich war mit meinem Latein zu Ende, und nachdem ich ihnen noch mit Müh’ und Noth Giraffen für Strauße aufgeschwatzt hatte – ja, das ist meine Entdeckung, Negoro! – wußte ich wahrlich nichts mehr zu erfinden. Ich sah übrigens recht gut, daß mein junger Freund von allen meinen Erklärungen kein Wort mehr glaubte. Dann trafen wir gar noch auf Wegspuren von Elefanten! Weiterhin kommen uns auch noch Flußpferde in die Quere, und Du weißt wohl, Negoro, Flußpferde und Elefanten in Amerika giebt’s ebensoviel wie Ehrenmänner unter den Sträflingen von Benguela! Um das Maß ganz voll zu machen, stöbert der alte Neger am Fuße eines Baumes auch einige Ketten und Fesseln auf, von denen sich ein Paar Sklaven auf der Flucht befreit haben mochten. Gleichzeitig brüllt unnützer Weise ein Löwe, daß es ringsum widerhallt, und es ist eine verteufelte Aufgabe, Jemandem einzureden, daß sein Gebrüll von einer unschuldigen Katze herrühre – mit einem Worte, ich mußte eilen, mein Pferd zu erlangen und hierher zu kommen!

– Ich verstehe, antwortete Negoro. Alles in Allem hätte ich sie aber doch lieber hundert Meilen weiter im Lande!

– Man thut eben, was man kann, Kamerad, erwiderte Harris. Du hast, während Du unserem Zuge von der Küste her folgtest, gut daran gethan, gehörige Distanz zu halten. Man witterte Dich in der Nähe! Da war ein gewisser Dingo, der Dir gar nicht grün zu sein schien. Was hast Du dem Thiere denn gethan?

– Ich – nichts, erklärte Negoro, aber eine Kugel kriegt er bald vor den Kopf.

– So wie’s Dir durch Dick Sand ergangen wäre, wenn Du Dich nur zum kleinsten Theile zweihundert Schritt vor seiner Büchse hättest sehen lassen. O, er schießt recht gut, mein junger Freund, und, unter uns, ich muß gestehen, daß er in seiner Art ein ganz tüchtiger Kerl ist.

– Das thut nichts, Harris, er soll mir seine Anmaßung noch theuer bezahlen, antwortete Negoro, dessen Physiognomie den Ausdruck unversöhnlicher Grausamkeit annahm.

– Schön, murmelte Harris, mein Kamerad ist noch der alte geblieben, wie ich ihn von jeher kannte. Das Reisen hat ihn nicht umgewandelt!«

Dann fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort:

»Nun sag’ mir aber, Negoro – als ich Dir da unten an dem Schauplatze des Schiffbruches, an der Mündung der Longa begegnete, hattest Du ja kaum Zeit, mir jene wackeren Leute zu empfehlen, mit dem Ersuchen, sie möglichst tief in das vorgebliche Bolivia hineinzuführen – erzähle mir, was Du seit zwei Jahren gemacht hast. In unserem ereignißvollen Leben sind zwei Jahre eine lange Zeit! Da hast Du so eines schönen Tages nach übernommener Führung einer Sklaven-Karawane für den alten Alvez, dessen dienstfertige Agenten wir ja sind, Cassange verlassen und Niemand hat ein Sterbenswörtchen wieder von Dir gehört! Ich glaubte schon, Du hättest mit den englischen Kreuzern eine kleine Unannehmlichkeit gehabt und eine fest zusammengedrehte Hanfcravate um den Hals bekommen.

– Es fehlte nicht viel, Harris.

– O, das kommt noch, Negoro

– Ich danke!

– Was willst Du? antwortete Harris mit wahrhaft philosophischem Gleichmuth, das ist eine der Annehmlichkeiten unseres Geschäftes. Sklavenhandel treibt man an der Küste Afrikas nicht, ohne die verlockende Aussicht, anderswo als in seinem eigenen Bette zu sterben. Doch erzähle, Du bist abgefangen worden!

– Ja.

– Von den Engländern?

– Nein, von den Portugiesen.

– Vor oder nach Ablieferung Deines Cargo?

– Nachher… erwiderte Negoro, der mit der Antwort ein wenig zögerte Diese Portugiesen spielen jetzt die Empfindsamen! Sie wollen keine Sklaverei mehr, nachdem sie von dieser so lange Zeit ihren Nutzen gehabt haben. Ich war denuncirt, überwacht. Man hat mich gefangen…

– Und verurtheilt?…

– In San Pablo de Loanda meine Tage als Sträfling zu beschließen.

– Tausend Teufel! rief Harris, in der Strafanstalt! Das ist ein ungesundes Gasthaus für Leute, die gleich uns daran gewöhnt, in freier Luft zu leben. Ich für meinen Theil hätte es vielleicht vorgezogen, gehenkt zu werden!

– Vom Galgen giebt’s keine Flucht mehr, entgegnete Negoro, doch aus dem Gefängniß…

– Ah, Du bist durchgegangen?…

– Ja wohl, Harris! Schon vierzehn Tage nach meiner Einlieferung in den Bagno gelang es mir, mich im Raume eines nach Auckland auf Neu-Seeland abfahrenden Dampfers zu verbergen. Ein Faß mit Wasser und eine Kiste mit Conserven, zwischen welchen beiden ich mich vergraben hatte, lieferten mir Nahrung während der ganzen Ueberfahrt. O, ich habe viel ausgestanden, um mich, als wir auf offener See waren, nicht zu zeigen. Wäre ich aber so thöricht gewesen, es zu thun, so hätte man mich einfach wieder in den Raum eingesperrt und die Tortur blieb dieselbe. Bei der Ankunft in Auckland hätte man mich jedenfalls den britischen Behörden übergeben und endlich nach der Verbrecher-Kolonie von Loanda zurückgeschickt, oder wie Du meintest, vielleicht gar aufgeknüpft – aus allen diesen Gründen zog ich es also vor, incognito zu reisen.

– Und ohne für die Ueberfahrt zu bezahlen! rief Harris lachend. Ei, ei, Kamerad, das ist nicht honett, sich gratis transportiren und füttern zu lassen!

– Mag sein, bestätigte Negoro, aber eine Reise von dreißig Tagen in einem Schiffsraume macht Vieles quitt!

– Na, jedenfalls ist’s nun einmal geschehen, Negoro. Du bist also nach Neu-Seeland, in das Land der Maoris gereist. Doch, Du kehrtest auch zurück; geschah das wohl unter denselben Verhältnissen?

– Ei nein, Harris, Du meinst wohl, ich habe da unten nur den einen Gedanken gehabt, nach Angola zurückzukehren und mein Metier als Sklavenhändler wieder aufzunehmen?

– Gewiß, antwortete Harris, man liebt sein Handwerk, so aus Gewohnheit!

– Achtzehn Monate lang…«

Kaum waren diese Worte über seine Lippen gekommen, als Negoro plötzlich innehielt. Er hatte den Arm seines Gefährten ergriffen und lauschte.

»Harris, sagte er mit gedämpfter Stimme, kommt Dir’s nicht vor, als bewegte sich dort etwas in den Papyrus?

»Es ist nichts!« erklärte Harris bald darauf. (S. 241.)

– Wahrhaftig!« bestätigte Harris, der sein Gewehr ergriff und sich schußfertig machte.

Negoro und er erhoben sich, schauten rings umher und lauschten mit gespanntester Aufmerksamkeit.

»Es ist nichts, erklärte Harris bald darauf. Der Bach ist in Folge des letzten Gewitters angeschwollen und fließt jetzt mit lauterem Rauschen dahin. Binnen zwei Jahren, Kamerad, hast Du die Sprache der Wälder verlernt; wirst Dich schon wieder daran gewöhnen. Erzähle Deine Abenteuer ruhig weiter. Wenn ich Deine Vergangenheit kennen gelernt, wollen wir über die Zukunft sprechen!«

Negoro und Harris hatten sich am Fuße der Banane wieder niedergesetzt. Der Portugiese fuhr also fort:

»Achtzehn Monate lang vegetirte ich in Auckland. Nach Ankunft des Dampfers konnte ich unbemerkt von Bord gehen; aber keinen Piaster, keinen Dollar in der Tasche! Um leben zu können, mußte ich jedes Geschäft ergreifen…

– Auch das eines ehrlichen Mannes, Negoro?

– Wie Du sagst, Harris.

– Armer Junge!

– Ich wartete dabei immer auf eine Reisegelegenheit, welche doch gar nicht kommen wollte, bis der Walfischfänger, der »Pilgrim«, im Hafen von Auckland einlief.

– Derselbe, der an der Küste von Angola auffuhr?

– Derselbe, Harris, und auf dem gleichzeitig Mrs. Weldon, ihr Kind und ihr Vetter überfahren wollten. Als gefahrener Seemann, denn ich war ja selbst einmal zweiter Officier an Bord eines Sklavenschiffes, brachte es mich nicht in Verlegenheit, auf einem Fahrzeuge Dienst zu nehmen. Ich stellte mich demnach dem Kapitän des »Pilgrim« vor, dessen Mannschaft freilich schon complet war. Zu meinem Glücke hatte sich der Koch der Brigg-Goëlette heimlich davon gemacht. Einen Seemann, der nicht in der Küche Bescheid wüßte, giebt es bekanntlich nicht. Ich bot mich also als Schiffskoch an. In Ermangelung eines Besseren wurde ich als solcher angestellt und wenige Tage darauf schon hatte der »Pilgrim« Neu-Seeland außer Sicht verloren.

– Nach dem aber, warf Harris ein, was mein junger Freund gelegentlich erzählte, segelte der »Pilgrim« keineswegs nach der Küste von Afrika. Wie kam er nun hierher?

– Das wird Dick Sand freilich noch nicht durchschaut haben und es voraussichtlich niemals einsehen, antwortete Negoro; Dir, Harris, will ich’s jedoch erklären, und wenn Dir’s Vergnügen macht, kannst Du es Deinem jungen Freunde ja einmal wieder mittheilen.

– Also wie? fragte Harris noch einmal, erzähle, Kamerad!

– Der »Pilgrim«, begann Negoro, steuerte auf Valparaiso. Als ich mich einschiffte, dachte ich auch nur, dadurch bis Chile zu gelangen. Das war immerhin die gute Hälfte des Weges von Neu-Seeland nach Angola und ich näherte mich damit der Küste Afrikas ja um mehrere tausend Meilen. Da traf es sich, daß Kapitän Hull, der Befehlshaber des »Pilgrim«, drei Wochen nach der Abfahrt von Auckland bei Gelegenheit einer Walfischjagd mit der ganzen Mannschaft zu Grunde ging! Seitdem befanden sich nur noch zwei eigentliche Seeleute an Bord, der Leichtmatrose und der Koch Negoro.

– Und Du übernahmst die Führung des Schiffes? fragte Harris.

– Daran dachte ich wohl im ersten Augenblick, doch ich sah, daß man mir nicht traute. An Bord befanden sich nämlich auch fünf stämmige, freie Neger. Ich hätte mich nicht als Befehlshaber behaupten können und blieb nach reiflicher Ueberlegung, was ich vorher gewesen, der Koch auf dem »Pilgrim«.

– Demnach wäre das Schiff nur zufällig nach der Küste Afrikas gelangt?

– O nein, Harris, antwortete Negoro, dem Zufall ist hierbei nichts weiter zu verdanken, als daß ich Dich auf einem Deiner Streifzüge gerade an demjenigen Küstenpunkte treffen mußte, wo der »Pilgrim« scheiterte. Daß wir aber nach Angola gekommen sind, das geschah nach meinem unbemerkt wirkenden Willen. Dein junger Freund ist noch etwas gar zu sehr Neuling in der Navigation und vermochte seine Position nur mittelst Log und Boussole zu bestimmen. Nun, siehst Du, eines Tages ging das Log auf den Grund und in einer dunklen Nacht ward der Compaß in seiner Weisung gestört, so daß der von heftigem Sturme getriebene »Pilgrim« einen falschen Kurs einhielt. Die lange Dauer der Ueberfahrt erschien Dick Sand freilich unbegreiflich, was dem erfahrensten Seemanne nicht anders ergangen wäre. Ohne daß unser Leichtmatrose es wissen oder nur muthmaßen konnte, ward das Cap Horn doublirt, wobei ich es übrigens mitten im Nebel ganz sicher erkannte. Nachher nahm die Compaßnadel durch meine Veranstaltung wieder die wahre Richtung an und das von einem beispiellosen Orkane gejagte Schiff flog nach Nordosten und ging an der Küste von Angola, nach der ich ja zu gelangen strebte, jämmerlich zu Grunde.

– Und genau zu der Zeit, Negoro, fuhr nun Harris fort, führte mich der Zufall eben dorthin, um Dich zu empfangen und jene wackeren Leute in’s Innere zu führen. Sie glaubten – sie konnten ja nicht anders – in Amerika zu sein, und es gelang mir leicht, diese Provinz für Unter-Bolivia auszugeben, mit der sie wirklich einige Aehnlichkeit hat.

– Gewiß, sie glaubten das ebenso, wie Dein junger Freund die Osterinsel vor sich zu haben wähnte, als wir Tristan d’Acunha in Sicht hatten!

– Darin hätte sich jeder Andere ebenso getäuscht, Negoro.

– Ich weiß, Harris, und ich rechnete nicht wenig darauf, aus diesem Irrthum Nutzen zu ziehen. Nun, jetzt haben wir ja Mistreß Weldon und ihre Begleiter hundert Meilen im Innern von Afrika, wohin ich sie bringen wollte.

– Aber, meinte Harris, sie wissen nun, wo sie sind.

– O, das hat jetzt auch nichts mehr zu bedeuten! rief Negoro.

– Und was denkst Du mit ihnen zu beginnen? fragte Harris.

– Was ich mit ihnen anfange, wiederholte Negoro… Ja, bevor wir davon sprechen, erzähle Du mir von unserem alten Herrn, dem Sklavenhändler Alvez, den ich seit zwei Jahren nicht gesehen habe.

– O, der alte Spitzbube befindet sich vorzüglich gut, sagte Harris, und wird sich freuen, Dich wieder zu sehen.

– Ist er etwa auf dem Markte in Bihe? fragte Negoro.

– Nein, Kamerad, seit einem Jahre verlegte er sein Etablissement nach Kazonnde.

– Und das Geschäft blüht?

– Ja, bei allen Teufeln! rief Harris, obwohl der Sklavenhandel, mindestens an dieser Küste, von Tag zu Tag schwieriger wird. Die portugiesischen Behörden auf der einen und die englischen Kreuzer auf der anderen Seite bereiten dem Export immer mehr Schwierigkeiten. Nur in der Umgebung von Messamedes, im Süden von Angola, ist die Einschiffung von Negern noch mit einiger Aussicht auf Erfolg zu versuchen. Eben jetzt sind die Baracken vollgestopft mit Sklaven, welche die Schiffe zu ihrer Ueberführung nach spanischen Besitzungen erwarten. Sie über Benguela oder San Pablo de Loanda zu führen, ist jetzt rein unmöglich. Die Gouverneure nehmen keine Vernunft mehr an, und die Chefs (Titel der portugiesischen Statthalter in den Niederlassungen zweiten Ranges) ebenso. Man mußte sich aus diesem Grunde nach den Factorien des Binnenlandes wenden, und das gedenkt der alte Alvez ebenfalls zu thun. Er will nun längs des N’yangwe und Taganyika seine Stoffe gegen Elfenbein und Sklaven austauschen. Mit Ober-Egypten und der Küste von Mozambique, welche Madagaskar versorgt, sind noch immer gute Geschäfte zu machen. Immerhin fürchte ich, wird die Zeit kommen, da es mit dem Sklavenhandel zu Ende ist. Die Missionäre dringen immer weiter vor und untergraben uns den Boden. Dieser Livingstone, den Gott verderben möge, will sich, wie man sagt, nach Durchforschung des Gebietes der großen Seen nach Angola wenden. Dann verlautet auch von einem Lieutenant Cameron, er wolle den Continent von Osten nach Westen durchwandern. Nebenbei fürchtet man von dem Amerikaner Stanley dasselbe. Diese Besuche müssen unsere Operationen unzweifelhaft schädigen, Negoro, und wenn wir noch eine Empfindung für unsere Interessen besitzen, darf keiner jener Reisenden nach Europa zurückkehren, um dort indiscreter Weise zu berichten, was er in Afrika gesehen hat!«

Glaubt man nicht, wenn man diese Schurken so reden hört, die Verhandlungen achtbarer Kaufleute zu vernehmen, deren Thätigkeit eine Handelskrise für den Augenblick bedroht und lahm legt? Wer kommt auf den Gedanken, daß es sich hier statt um Kaffeeballen und Zuckerfässer um den Export menschlicher Wesen handelt? Für Recht und Unrecht haben diese Sklavenhändler kein Gefühl. Die Moral fehlt ihnen ganz und gar, und besäßen sie solche zuerst wirklich, inmitten der teuflischen Grausamkeiten des afrikanischen Negerhandels ginge sie ihnen doch schnell und unmerklich verloren.

Darin allerdings hatte Harris Recht, daß die Civilisation dem Fuße jener kühnen Pionniere, deren Namen unaufhörlich mit der Geschichte der Erforschung des äquatorialen Afrika verwebt sind, langsam, aber stetig nachfolgt. Voran David Livingstone, nach ihm Grant, Speke, Vogel, Burton, Cameron, Stanley – Alle hinterlassen den unvergänglichsten Nachruhm als opferfreudige Wohlthäter der Menschheit.

Harris kannte jetzt die letzten zwei Jahre aus dem Leben Negoro’s. Der langjährige Agent des Sklavenhändlers Alvez, der Flüchtling aus dem Bagno von Loanda, erschien noch ganz ebenso, wie er sich früher gezeigt, d.h. bereit und entschlossen zu Allem. Noch wußte Harris jedoch nicht, was Negoro mit den Schiffbrüchigen vom »Pilgrim« im Sinne hatte und fragte ihn deshalb darüber.

»Was denkst Du nun, sagte er, mit jenen Leuten zu beginnen?

– Ich trenne sie zunächst in zwei Theile, antwortete Negoro im Tone eines Mannes, dessen Plan schon lange im Kopfe fertig ist, erstens diejenigen, welche als Sklaven verkauft werden sollen, und die…«

Der Portugiese vollendete seinen Satz zwar nicht, doch seine trotzig wilde Physiognomie sprach für ihn deutlich genug.

»Welche von jenen denkst Du zu verkaufen? fragte Harris.

– Natürlich die Neger, welche Mistreß Weldon begleiten, erklärte Negoro. Der alte Tom hat vielleicht keinen großen Werth, die anderen Bier aber sind stämmige Burschen, aus denen auf dem Markte zu Kazonnde ein gut Stück Geld herauszuschlagen ist.

– Das will ich glauben, Negoro! stimmte Harris bei, das sind ja vier wohlgebaute, an Arbeit gewöhnte Neger, welche sich von dem aus dem Inneren kommenden – Vieh recht vortheilhaft unterscheiden. Gewiß, diese wirst Du theuer verkaufen. In Amerika geborne und nach dem Markte von Kazonnde abgeführte Sklaven sind eine seltene Waare! – Doch, setzte der Amerikaner hinzu, Du sagtest mir noch gar nicht, ob sich an Bord des »Pilgrim« nicht auch einiges Geld vorfand?

– O, nur wenige hundert Dollars, die ich zu retten vermochte. Zum Glück rechne ich auf gewisse Einkünfte…

– Und welche denn, Kamerad? fragte Harris neugierig.

– Ah, nichts… nichts! antwortete Negoro, der schon zu bedauern schien, daß er mehr, als ihm lieb war, gesprochen hatte.

– Es bleibt also unsere nächste Aufgabe, diese ganze Waare für möglichst hohen Preis abzusetzen, sagte Harris.

– Sollte das so schwer sein? fragte Negoro.

– Nein, Kamerad. An der Coanza, nur zehn Meilen von hier, lagert eine von dem Araber Ibn Hamis geführte Sklaven-Karawane, welche nur meine Rückkehr abwartet, um nach Kazonnde aufzubrechen. Dort befinden sich mehr eingeborne Soldaten, als zur Gefangennahme Dick Sand’s und seiner Genossen nöthig sind. Dazu gehörte also nur, daß mein junger Freund auf den Gedanken käme, sich nach der Coanza zu wenden…

– Wird das aber der Fall sein? fragte Negoro.

– Gewiß, behauptete Harris, da er intelligent ist und die ihm hier drohende Gefahr nicht argwöhnen kann. Dick Sand kann gar nicht daran denken, auf dem von uns gemeinschaftlich verfolgten Wege zurückzukehren; er müßte sich inmitten jener unbegrenzten Wälder verirren. Ohne Zweifel wird er also einen nach der Küste zu strömenden Fluß zu erreichen und auf diesem mittelst Flosses abwärts zu fahren versuchen. Er kann keinen anderen Ausweg ergreifen, er wird es thun.

– Ja… vielleicht!… meinte Negoro nachdenklich.

– Nicht »vielleicht«, »bestimmt« mußt Du sagen, erwiderte Harris. Siehst Du, Negoro, das liegt Alles so, als hätte ich mit meinem jungen Freunde am Ufer der Coanza ein Stelldichein verabredet.

– Gut denn, antwortete Negoro, brechen wir also auf! Ich kenne Dick Sand. Er wird keine Stunde zögern; wir müssen ihm zuvorkommen.

– Vorwärts, Kamerad!«

Harris und Negoro erhoben sich, als das Geräusch, das die Aufmerksamkeit des Portugiesen schon einmal erregt hatte, sich von Neuem hören ließ. Es rührte von einer Bewegung der Stengel in den hohen Papyrusstauden her.

Negoro stand still und ergriff Harris’ Hand.

Plötzlich ließ sich ein verhaltenes Knurren vernehmen. An dem schrägen Bachesufer erschien, zum Sprunge bereit, ein Hund mit geöffneter Schnauze.

»Dingo! rief Harris.

– Ah, diesmal soll er mir nicht davon kommen!« antwortete Negoro.

Dingo verschwand zwischen der Doppelwand von Büschen. (S. 247.)

Eben wollte sich Dingo auf ihn stürzen, als Negoro, der Harris’ Gewehr ergriffen hatte, schnell anlegte und Feuer gab.

Ein langes, schmerzliches Geheul antwortete dem Krachen des Schusses und Dingo verschwand zwischen der Doppelwand von Büschen am Ufer des Baches.

»Ihr habt das Brüllen gehört?« (S. 252.)

Negoro eilte sofort nach jener Stelle.

An den Papyrusstengeln zeigten sich einzelne Blutflecken und eine lange röthliche Spur verlief über die Kiesel des Baches.

»Endlich hat das verdammte Thier seine Rechnung bezahlt bekommen!« rief Negoro.

Ohne ein Wort zu sprechen, hatte Harris dem ganzen Vorgange beigewohnt.

»Alle Kuckuck, Negoro, sagte er, der Hund schien es ganz besonders auf Dich abgesehen zu haben?

– So scheint es, Harris, doch letzt hat er seinen Theil.

– Und warum hegte er einen solchen Haß gegen Dich, Kamerad?

– O, das rührt noch von einer alten Geschichte zwischen ihm und mir her.

– Von einer alten Geschichte?…« wiederholte Harris.

Negoro gab keine weitere Antwort und Harris schloß daraus, daß ihm der Portugiese irgend einen Vorfall aus der Vergangenheit verheimlicht habe; doch ließ er die Sache ruhen.

Wenige Minuten später wandten sich Beide von dem Bette des Baches weg quer durch den Wald nach der Coanza.

Drittes Capitel.Unterwegs.

Afrika! Dieser unter den gegebenen Umständen so entsetzliche Name, der von nun an an die Stelle des Namens Amerika zu treten hatte, verschwand keinen Augenblick aus den Augen Dick Sand’s. Versetzte sich der junge Leichtmatrose im Geiste um einige Wochen zurück, so legte er sich nur die Frage vor, wie der »Pilgrim« habe dazu gelangen können, diese gefährliche Küste anzulaufen, wie er das Cap Horn umsegelt und von einem Ocean in den anderen gerathen sei? Jetzt freilich erklärte er sich wenigstens den Umstand, daß sich trotz der Schnelligkeit seines Schiffes immer kein Land habe zeigen wollen, da sich die Wegeslänge bis zur Küste Amerikas ohne sein Wissen nahezu verdoppelt hatte.

»Afrika! Afrika!« wiederholte Dick Sand noch immer.

Da kam ihm plötzlich, während er mit zäher Willenskraft die Ereignisse dieser unerklärlichen Ueberfahrt an seinem inneren Auge vorüberziehen ließ, der Gedanke, daß sein Compaß falsch gewiesen haben müsse. Er erinnerte sich auch, daß der eine Compaß zerbrach, daß die Logleine zerriß und ihm die Möglichkeit genommen wurde, die Schnelligkeit des Schiffes zu beurtheilen.

»Ja, ja! dachte er, es blieb nur noch ein Compaß übrig, dessen Angaben ich nicht zu controliren vermochte!.. Und in einer Nacht ward ich durch einen Schrei des alten Tom erweckt… Negoro befand sich gleichzeitig auf dem Hinterdeck… er war auf das Compaßhäuschen gefallen… konnte dadurch nicht eine Störung hervorgerufen werden?…«

In Dick Sand’s Geiste dämmerte es allmälig. Die Wahrheit lag für ihn auf der Hand. Er begriff endlich die ganze Zweideutigkeit in Negoro’s Benehmen; er erkannte seine Hand in jener ganzen Reihe von Unfällen, welche den Verlust des »Pilgrim« herbeigeführt, und Die, welche er trug, in so gefährliche Lage geführt hatten.

Für was aber sollte er jenen elenden Wicht halten? War er ein Seemann, was er doch stets zu verheimlichen suchte? War er wirklich im Stande, die fluchwürdigen Maßnahmen zu berechnen und auszuführen, welche das Schiff nach der Küste Afrikas treiben mußten?

Verhüllte die Vergangenheit aber auch noch einige dunkle Punkte, bezüglich der Gegenwart konnte davon gewiß keine Rede sein. Der junge Leichtmatrose wußte nur zu gut, daß er sich in Afrika befinde und höchst wahrscheinlich in der gefährlichen Provinz Angola, mehr als hundert Meilen weit von der Küste. Auch daß Harris die Rolle des Verräthers gespielt, unterlag bei ihm keinem Zweifel. Dann führte aber auch die einfache Logik zu der weiteren Schlußfolgerung, daß der Amerikaner und der Portugiese sich längst schon kannten, daß sie ein unseliger Zufall hier an der Küste zusammengeführt, und daß zwischen ihnen ein Plan verabredet worden sei, der für die Schiffbrüchigen des »Pilgrim« offenbar von den verderblichsten Folgen sein mußte.

Welches Motiv jedoch lag dieser häßlichen Handlungsweise zu Grunde? Daß Negoro sich mit List oder Gewalt Tom’s und seiner Genossen bemächtigen wollte, um diese als Sklaven zu verkaufen, konnte man wohl annehmen. Daß der Portugiese, von dem Gefühle des Hasses getrieben, sich an ihm, Dick Sand, der ihn nach Verdienst behandelt hatte, rächen wollte, war vielleicht auch zu begreifen. Was beabsichtigte der Elende aber mit Mrs. Weldon, mit der Mutter und deren unschuldigem Kinder

Hätte Dick Sand jenem Gespräche zwischen Harris und Negoro lauschen können, er würde gewußt haben, was jetzt drohte, welchen Gefahren Mrs. Weldon, die Neger und er selbst entgegengingen!

Gewiß, die Lage war entsetzlich, den jungen Leichtmatrosen lähmte sie nicht. Kapitän an Bord, wollte er auch Kapitän am Lande bleiben. Ihm lag die Pflicht ob, Mrs. Weldon, den kleinen Jack, alle Diejenigen, deren Loos der Himmel in seine Hand gegeben, zu erretten. Jetzt fing seine schwerere Aufgabe wirklich erst an. Er wollte und mußte sie zu Ende führen!

Nach zwei oder drei Stunden, während welchen er die guten und die schlechten Aussichten der Gegenwart und Zukunft gegen einander abwog – wobei freilich die schlechten ein großes Uebergewicht zeigten – erhob sich Dick Sand fest und entschlossen.

Die ersten Morgenstrahlen vergoldeten eben die hohen Gipfel der Bäume. Mit Ausnahme Tom’s und des Leichtmatrosen lagen Alle noch in tiefem Schlafe.

Dick Sand näherte sich dem alten Neger.

»Tom, begann er mit leiser Stimme, Ihr habt das Brüllen des Löwen gehört, habt die Werkzeuge eines Sklavenhändlers gefunden und erkannt, Ihr wißt, daß wir in Afrika sind?

– Ja, Herr Dick, das weiß ich.

– Nun gut, Tom; kein Wort hierüber! – weder gegen Mistreß Weldon noch gegen Eure Gefährten. Wir wollen diese Kenntniß für uns allein behalten, allein fürchten, was zu fürchten ist!…

– Allein… freilich… das ist nothwendig!… antwortete Tom.

– Tom, fuhr der Leichtmatrose fort, wir haben nun strenger zu wachen denn je. Wir sind im feindlichen Lande – und welche Feinde, welches Land! Es genügt, unseren Begleitern mitzutheilen, daß wir von Harris verrathen wurden, um sie zu warnen, auf ihrer Hut zu sein. Sie werden glauben, es drohe uns ein Angriff nomadisirender Indianer, das wird genügen.

– Sie können unbedingt auf ihren Muth und ihre Ergebenheit zählen, Herr Dick.

– Ich weiß es, ebenso wie ich auf Euren gesunden Verstand und Eure Erfahrung rechne. Ihr werdet mich doch unterstützen, mein alter Tom?

– Stets und in Allem, Herr Dick«’

Dick Sand’s Entschluß war gefaßt und fand die Zustimmung des alten Negers. Da Harris’ Verrath sofort, bevor noch die Stunde des Handelns gekommen, entdeckt wurde, so bedrohte den jungen Leichtmatrosen und seine Begleiter wenigstens keine augenblickliche Gefahr. Allem Anscheine nach hatte die Auffindung der von einigen Sklaven zurückgelassenen Eisen, sowie das unerwartete Gebrüll des Löwen das plötzliche Verschwinden des Amerikaners veranlaßt. Er hatte sich entdeckt gefühlt und war entflohen, wahrscheinlich bevor die kleine Gesellschaft, welche er in die Wildniß führte, die Stelle erreicht hatte, wo man sich ihrer bemächtigen wollte. Negoro, dessen Nähe Dingo während der letzten Reisetage offenbar gewittert hatte, mochte nun wohl mit Harris zur Berathschlagung weiterer Maßregeln zusammengetroffen sein. Jedenfalls vergingen einige Stunden, ehe Dick Sand und die Seinen eine Ueberrumpelung zu befürchten hatten, und diese galt es zu benutzen.

Der einzig in Frage kommende Plan lief darauf hinaus, so schnell als möglich die Küste wieder zu erreichen. Der junge Mann hatte allen Grund, anzunehmen, daß diese Küste die von Angola sei. Nach Erreichung derselben wollte Dick Sand nach Norden oder Süden ziehen, um eine portugiesische Ansiedlung zu treffen, in der seine Begleiter irgend eine Gelegenheit zur Rückkehr nach der Heimat in Ruhe und Sicherheit abwarten könnten.

Sollte man aber zur Rückreise nach der Küste den auf dem Herwege benutzten Weg einschlagen? Dick Sand dachte daran gar nicht, und hierin begegnete er Harris’ Muthmaßungen, der recht wohl vorausgesehen hatte, daß die Verhältnisse den jungen Leichtmatrosen nöthigen mußten, die kürzeste Route zu wählen.

In der That wäre es unvortheilhaft, um nicht zu sagen unklug gewesen, die beschwerliche Wanderung rückwärts durch den Wald zu wagen, welche im glücklichen Falle am ersten Ausgangspunkte endigen mußte. Dabei wäre es Negoro’s Spießgesellen auch geboten gewesen, ihnen auf sicherer Fährte nachzufolgen. Um ohne Hinterlassung sichtbarer Spuren davon zu kommen, blieb ihnen nur die Aufsuchung eines Wasserlaufes übrig, den sie geeigneten Falles zur Rückfahrt benutzen konnten. Gleichzeitig verminderten sich damit auch die Gefahren des Angriffs wilder Thiere, welche sich bis jetzt durch einen glücklichen Zufall noch in beruhigender Ferne gehalten hatten. Auch ein etwaiger Angriff von Seiten Eingeborner hatte unter diesen Umständen weniger Bedeutung. Einmal auf einem solid gebauten Flosse eingeschifft, befanden sich Dick Sand und seine Gefährten unter Berücksichtigung ihrer ausgezeichneten und hinreichenden Bewaffnung in der erwünschtesten Lage, sich wirksam zu vertheidigen. Alles kam nur darauf an, den ersehnten Wasserlauf zu finden.

Hierzu kommt noch, daß sich diese Art zu reisen für Mrs. Weldon und deren kleinen Jack unter den thatsächlichen Verhältnissen als die geeignetste empfahl. Das kränkliche Kind zu tragen, konnte es an willigen Armen nicht fehlen. In Ermangelung von Harris’ Pferde konnte ja im Nothfall eine Tragbahre aus Zweigen hergestellt werden, auf welcher Mrs. Weldon Platz fand. Freilich wurden zwei von den fünf Negern in Anspruch genommen und Dick Sand hielt mit Recht darauf, seine Gefährten im Falle eines plötzlichen Angriffes in ihrer Bewegung möglichst unbeschränkt zu wissen.

Kam man aber erst dahin, auf einem Strom flußabwärts zu fahren, so befand sich der junge Leichtmatrose wieder in seinem Elemente.

Die nächstliegende Frage zielte also dahin, zu wissen, ob sich in der Nachbarschaft ein geeigneter Wasserlauf vorfinde. Dick Sand setzte das, und zwar aus folgenden Gründen voraus:

Der am Orte des Schiffbruches ihres »Pilgrim« in den Atlantischen Ocean ausmündende Fluß konnte weder nach Norden, noch nach Osten weit in’s Land hineinreichen, da eine nicht allzu entfernte Bergkette – dieselbe, welche man früher irrthümlicher Weise für die Cordilleren hielt – den Horizont nach jenen beiden Richtungen zu abschloß. Jener Fluß strömte also offenbar direct von diesen Höhen hinab oder er wendete sich nach Süden; in beiden Fällen konnte Dick Sand nicht fehlgehen, dessen Bett anzutreffen. Vielleicht fanden sie auch noch vor jenem Flusse – denn es hatte den Anschein, als bilde er einen directen Küstenstrom des Oceans – einen seiner Nebenarme, welcher zur Fortschaffung der kleinen Gesellschaft schon wasserreich genug wäre. Auf jeden Fall jedoch konnte irgend ein Wasserlauf von hier nicht fern sein.

Während der letztzurückgelegten Meilen ihrer Reise hatte sich die Bodenbeschaffenheit merklich geändert. Das Land war niedriger und feuchter. Da und dort schlängelten sich schmale Bäche dahin, welche den Beweis lieferten, daß der Untergrund ein ganzes Netz von Wasseradern bergen mochte. Am letzten Reisetage noch war die Gesellschaft an einem jener Bäche hingezogen, dessen von Eisenoxyd geröthetes Wasser seine Farbe dem abgenagten Ufer entnahm. Es konnte weder allzu lange dauern, noch allzu schwierig sein, diesen wieder aufzufinden. Gewiß konnte man auf seinem wenigen schäumenden Wasser noch nicht stromabwärts fahren, recht wohl aber ihm bis zu seiner Mündung in einen größeren Nebenfluß folgen, der dann schiffbar zu sein versprach.

Diesen einfachen Plan hatte Dick Sand nach einer kurzen Unterredung mit Tom festgesetzt.

Nach Tagesanbruch erwachten alle Reisegefährten allmälig. Mrs. Weldon legte den noch schlummernden kleinen Jack in die Arme Nan’s nieder. Das in der Periode des aussetzenden Fiebers todtenblasse Kind bot einen wirklich schmerzlichen Anblick.

Mrs. Weldon ging auf Dick Sand zu.

»Dick, begann sie nach einigem Umherblicken, wo ist Harris? Ich finde ihn nicht!«

Der junge Leichtmatrose war der Ansicht, daß er die Verrätherei des Amerikaners seinen Gefährten nicht wohl verheimlichen dürfe, wenn er sie auch in dem Glauben ließe, auf dem Boden von Bolivia zu sein.

»Harris ist nicht mehr da, antwortete er ohne Zögern.

– Er ist also wohl vorausgegangen? fragte Mrs. Weldon.

– Er ist entflohen, Mistreß Weldon, erklärte Dick Sand. Dieser Harris ist ein Verräther und hat uns in Uebereinstimmung mit Negoro hierher in die Irre geführt!

– Was kann er damit wollen? fragte Mistreß Weldon lebhaft.

– Das weiß ich nicht, erwiderte Dick Sand möglichst ruhig, aber das Eine weiß ich, daß wir schnellstmöglich nach der Küste zurückkehren müssen.

– Dieser Mann… ein Verräther! rief Mrs. Weldon. O, meine böse Ahnung! Und Du glaubst, Dick, daß er im Einvernehmen mit Negoro handelte?

– Das muß so sein, Mistreß Weldon. Dieser Bösewicht folgte unserer Spur. Der Zufall hat zwei Schurken zusammengeführt und…

– Und ich hoffe, daß sie noch beisammen sind, wenn wir sie wieder finden, sagte Herkules. Ich zerschmettere dem Einen den Schädel mit dem Kopfe des Anderen! fügte der Riese hinzu, indem er seine gewaltigen Fäuste drohend ausstreckte.

– Aber mein armes Kind! schluchzte Mrs. Weldon, wo bleibt die Pflege, die ich für Jack in der Hacienda de San Felipe zu finden hoffte?…

– Jack wird sich erholen, suchte sie der alte Tom zu trösten, wenn er wieder in die gesundere Küstengegend kommt.

– Du bist Deiner Sache sicher, Dick, fragte Mrs. Weldon noch einmal, daß dieser Harris uns betrogen hat?

– Ganz sicher, Mistreß Weldon!« bekräftigte der Leichtmatrose, der jede Erörterung hierüber zu vermeiden suchte.

Mit einem Seitenblick auf den alten Neger fügte er auch noch schnell hinzu:

»Diese Nacht schon haben Tom und ich seine Verrätherei entdeckt, und hätte er nicht sein Pferd zur Flucht gehabt, ich hätte ihn niedergeschossen!

– Jene Farm also?…

– Hier giebt es weder Farm, noch Dorf, noch Flecken in der Nähe, antwortete Dick Sand, ich wiederhole Ihnen, Mistreß Weldon, wir müssen eiligst zur Küste zurückkehren.

– Auf dem nämlichen Wege, Dick?…

– Nein, Mistreß Weldon, wir wollen einen Wasserlauf benutzen, der uns ohne Anstrengung und Gefahr zum Meere hinab befördern wird.

– O, ich bin stark genug! antwortete Mistreß Weldon, die sich gegen ihre eigene Schwäche sträubte. Ich werde marschiren! Ich werde mein Kind tragen!

– Wir sind auch noch da, meinte Bat, wir werden Sie gleich selbst tragen!

– Ja, freilich!… stimmte Austin ein, zwei Baumäste, einige Zweige mit Blättern dazwischen…

– Ich danke Euch, meine Freunde, lehnte Mrs. Weldon dieses Anerbieten ab, ich werde zu Fuß mitkommen…. ich werde gehen. Vorwärts nur!

– Vorwärts denn! befahl der junge Leichtmatrose.

– Geben Sie Jack mir! sagte Herkules, indem er das Kind aus Nan’s Armen nahm, wenn ich nichts zu tragen habe, werde ich davon müde!«

Die kleine Gesellschaft hatte noch keine fünfzig Schritte zurückgelegt. (S. 258)

Zärtlich nahm der wackere Neger den schlafenden Knaben, der dabei nicht einmal erwachte, in seine kräftigen Arme.

Die Waffen wurden sorgfältig untersucht. Den Rest der Lebensmittel vereinigte man zu einem kleinen Ballen, so daß ihn ein einziger Mann tragen konnte. Acteon warf diesen auf den Rücken, während seine Gefährten in ihrer freien Bewegung ziemlich unbehindert blieben.

Vetter Benedict, dessen lange stählerne Beine keine Ermüdung kannten, war zum Aufbrechen bereit. Hatte er Harris’ Verschwinden bemerkt? Es wäre voreilig, das behaupten zu wollen. Ihm ging es überhaupt wenig zu Herzen; er litt nämlich gleichzeitig unter den Schlägen des herbsten Mißgeschickes, das ihn nur treffen konnte.

Vetter Benedict hatte – o, welches Unglück! – seine Loupe und seine Brille verloren!

Zum Glück, aber ohne daß jener es wußte, hatte Bat die beiden kostbaren Instrumente im hohen Grase der letzten Lagerstätte gefunden, aber auf Dick Sand’s Anrathen für sich behalten. Auf diese Weise konnte man wenigstens sicher sein, daß das große Kind sich unterwegs ruhig verhalten werde, weil der arme Gelehrte, wie erwähnt, nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze sehen konnte.

Zwischen Acteon und Austin mit der bestimmten Weisung gestellt, diese auf keinen Fall zu verlassen, ließ der beklagenswerthe Benedict niemals ein Wort des Widerspruches hören und folgte wie ein Blinder, den man an der Leine mitführt.

Noch keine fünfzig Schritte hatte die kleine Gesellschaft aber zurückgelegt, als der alte Tom sie plötzlich durch ein einziges Wort zum Stehen brachte.

»Und Dingo? sagte er.

– Wahrhaftig, Dingo ist nicht da!« antwortete Herkules.

Mit seiner weithin schallenden Stimme rief er den Hund mehrere Male.

Kein Gebell ertönte als Antwort.

Dick Sand verhielt sich still. Der Verlust des Hundes erschien sehr bedauerlich, denn jener hätte die kleine Gesellschaft vor jeder Ueberrumpelung gehütet.

»Sollte Dingo Harris nachgelaufen sein? fragte Tom.

– Harris – nein, entgegnete Dick Sand. Wohl aber könnte er Negoro’s Spur verfolgen; er witterte jenen uns auf dem Fuße.

– Dieser unselige Koch wird nichts Eiligeres zu thun haben, als ihn mit einer Kugel zu begrüßen!…

– Wenn ihm Dingo nicht vorher an der Kehle sitzt, warf Bat ein.

– Vielleicht, antwortete der junge Leichtmatrose. Doch wir können Dingo’s Rückkunft hier nicht abwarten; ist er noch am Leben, so ist er auch klug genug, uns wieder aufzufinden. Vorwärts also!«

Die Witterung war ziemlich schwül. Seit Tagesanbruch lagerten schwere Wolkenmassen am Horizonte, ein Gewitter schien in der Luft zu liegen.

Voraussichtlich endete der Tag nicht ohne einige Donnerschläge. Glücklicher Weise bewahrte der Wald, wenn er auch minder dicht war, dem Erdboden noch eine gewisse Frische. Da und dort rahmte ein hochstämmiger Wald offene Wiesenflächen, mit hohen, dichten Gräsern ein. An manchen Stellen lagen ungeheure, schon versteinerte Baumstämme am Boden – ein Anzeichen kohlenführenden Untergrundes, dem man auf dem Festlande Afrikas sehr häufig begegnet. An den lichteren Stellen, deren grüner Unterteppich auch mit einzelnen röthlichen Büschen besetzt war, leuchteten Blumen in den verschiedensten Farben, wie gelber oder blauer Ingwer, zartblasse Lobelien oder brennendrothe Orchideen, alle von ganzen Schwärmen Insecten besucht, welche sie gegenseitig befruchteten.

Die Bäume bildeten letzt nicht mehr undurchdringliche Gehölze, dagegen zeigten sie mehr Wechsel der Arten. Hier erhoben sich Palmen, welche ein in Afrika sehr gesuchtes Oel liefern, dort Baumwollenstauden von acht bis zehn Fuß Höhe, aus deren holzigen Stengeln ein der Baumwolle von Fernambuco ähnliches, langfaseriges Product erzeugt wird. Wieder an anderen Stellen ließen Copalbäume aus kleinen, von dem Rüssel gewisser Insecten gebohrten Oeffnungen ihr wohlriechendes Harz ausschwitzen, das bis zum Erdboden herablief und sich daselbst für die Bedürfnisse der Eingebornen ansammelte. Hier standen Citronenbäume, wilde Granaten und zwanzig andere Baumspecies zerstreut umher, ein schönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit der innerafrikanischen Niederungen. Gleichzeitig ward auch der Geruchsinn durch einen zarten Vanilleduft angenehm erregt, ohne daß man die Pflanze, welche ihn ausströmte, hätte nachweisen können.

Alle diese Bäume und Sträucher grünten üppig trotz der eben herrschenden trockenen Saison, während der nur vereinzelte Gewitter diese reichen ergiebigen Gegenden benetzen. Jetzt war auch die Zeit der Fieber; von diesen kann man sich jedoch, wie Livingstone bemerkt, meistens befreien, indem man die Orte, wo jene erworben wurden, schleunig verläßt. Dick Sand kannte diese Beobachtung des berühmten Reisenden und hoffte, daß sie sich auch bei dem kleinen Jack bewähren würde. Er sprach davon gegen Mrs. Weldon, nachdem er sich überzeugt, daß der erwartete periodische Fieberanfall ausgeblieben war und das Kind friedlich in Herkules’ Armen ruhte.

Man wanderte also vorsichtig und schnell weiter. Manchmal zeigten sich neuere Spuren von vorübergekommenen Menschen und Thieren. Die zurückgebogenen oder abgebrochenen Aeste der Gebüsche gestatteten dann ein ungehindertes Vordringen. Den größten Theil der Zeit aber hielten allerlei erst zu besiegende Hemmnisse die kleine Gesellschaft zu Dick Sand’s großem Leidwesen auf. Hier waren es verschlungene Lianen, welche man treffend mit der in Unordnung gerathenen Takelage eines Schiffes verglichen hat, oder Reben, ähnlich etwa gezogenem Damascenerstahle, dessen Fasern mit Stacheln besetzt wären; fünfzig bis sechzig Fuß lange Schlangengewächse mit der unangenehmen Eigenschaft, daß sie sich erst zurückbiegen und dann den Vorübergehenden mit ihren spitzen Dornen verletzen. Mit mächtigen Beilhieben erzwangen die Neger wohl einen Durchgang, doch immer und immer wieder standen sie vor solchen Schlingpflanzen, welche die höchsten Bäume von der Wurzel bis zum Gipfel umrankten.

Auch das Thierreich dieser Provinz war nicht minder merkwürdig. In großer Anzahl flatterten die Vögel unter diesem mächtigen Laubdache umher, hatten aber erklärlicher Weise keinen Flintenschuß von Leuten zu fürchten, denen selbst daran lag, unbemerkt und schnell vorwärts zu kommen. Hier gab es Perlhühner in ganzen Schwärmen, sehr flüchtige und schöne Haselhühner verschiedener Art, sowie auch einzelne jener Vögel, welche die Nordamerikaner durch Onomapoetikon »Whip-poor-will« genannt haben, drei Silben, welche ihr Geschrei sehr bezeichnend wiedergeben. Dick Sand und Tom hätten hier fast glauben können, in irgend einer Provinz der Neuen Welt dahin zu wandern – leider wußten sie, daß das nicht der Fall war.

Bis jetzt waren reißende Thiere, welche in Afrika so gefährlich sind, der kleinen Gesellschaft noch nicht zu nahe gekommen. Im Verlaufe des ersten Tages bekam man noch einmal Giraffen zu Gesicht, welche Harris ohne Zweifel – aber diesmal gänzlich ohne Erfolg – für Strauße ausgegeben hätte. Diese leichtfüßigen Thiere entflohen eiligst, offenbar erschreckt durch die Erscheinung einer Karawane in diesen sonst nur wenig besuchten Wäldern. In der Ferne, am Rande der Wiesen, wirbelte manchmal eine dichte Staubwolke auf, welche von einer Büffelheerde ausging, die mit dem Geräusche schwer belasteter Wagen dahingaloppirte.

Zwei Meilen weit ging Dick Sand so dem Laufe des Baches nach, der in irgend einen bedeutenderen Fluß ausmünden sollte. Ihm lag es am Herzen, seine Begleiter erst der raschen Strömung eines Küstenflusses anvertraut zu haben. Er rechnete stark darauf, daß Gefahren und Anstrengungen sich dann vermindern würden.

Gegen Mittag waren drei Meilen ohne schlimmeren Zwischenfall zurückgelegt. Von Harris und Negoro keine Spur. Dingo war noch immer nicht wiedergekommen.

Man mußte jetzt Halt machen, um auszuruhen und etwas Nahrung zu nehmen.

In einem Bambusdickicht, das die kleine Gesellschaft vollständig verbarg, wurde das Lager aufgeschlagen.

Man sprach nur wenig während der Mahlzeit. Mrs. Weldon hatte ihren kleinen Knaben wieder im Arme und blickte ihn unverwandt sorgenvoll an; sie konnte nichts genießen.

»Sie müssen aber ein wenig essen, Mistreß Weldon, drängte sie Dick Sand wiederholt. Was soll aus Ihnen werden, wenn die Kräfte Sie verlassen? Essen Sie, ich bitte! Wir müssen uns bald wieder auf den Weg machen und später trägt eine freundliche Strömung uns mühelos bis zur Küste!«

Mistreß Weldon sah Dick Sand gerade in’s Gesicht, als er so zu ihr sprach. Die feurigen Augen des jungen Leichtmatrosen bezeugten den guten Muth, der ihn belebte. Als sie ihn so sah, als ihre Blicke auf die braven, so treu ergebenen Neger fielen, da wollte auch sie als Frau und Mutter nicht mehr verzweifeln. Und weshalb sollte sie auch so niedergeschlagen sein? Glaubte sie nicht, in einem gastlichen Lande zu reisen? In ihren Augen konnte ja Harris’ Verrath so gar schwere Folgen nicht nach sich ziehen Dick Sand errieth wohl den Gang ihrer Gedanken, und er, er war eher versucht entmuthigt den Kopf zu senken.

Viertes Capitel.Die schlechten Wege von Angola.

Eben erwachte der kleine Jack und legte die Arme um den Hals seiner Mutter. Seine Augen erschienen klarer Das Fieber war nicht wieder gekommen.

»Geht Dir’s besser, mein Herz? fragte Mrs. Weldon, indem sie ihr Kind an die Brust drückte.

– Ja, Mama, antwortete Jack, ich bin etwas durstig!«

Man konnte dem Kinde nichts Anderes als etwas frisches Wasser reichen, von dem es einige Schlucke mit offenbarem Wohlgefallen trank.

»Und mein Freund Dick? fragte der Kleine.

– Hier bin ich, Jack, meldete sich Dick Sand und ergriff die Hand des zarten Knaben.

– Und mein Freund Herkules?

– Herkules, hier, Herr Jack, antwortete der Riese, indem er sich näherte.

– Und das Pferd? fragte Jack weiter.

– Das Pferd? Allein abgereist, Herr Jack, sagte Herkules. Jetzt bin ich das Pferd! Ich werde Sie tragen. Glauben Sie, daß ich einen zu harten Nacken habe?

– Nein, erwiderte der kleine Jack, aber dann hab’ ich keinen Zügel zu halten.

– O, Sie legen mir ein Gebiß ein, wenn es Ihnen Spaß macht, sagte Herkules, seinen Mund weit öffnend, und können dann nach Belieben daran ziehen.

– Du weißt doch, daß ich kaum daran ziehen würde.

– Ei, da thäten Sie unrecht, meine Zähne sind fest genug.

– Aber die Farm des Herrn Harris?… fragte der kleine Knabe noch einmal.

– Dahin werden wir bald kommen, mein Jack, tröstete ihn Mrs. Weldon… Ja… bald!

– Sind Sie fertig, wieder aufzubrechen? mischte sich Dick Sand da ein, um derlei Gesprächen ein Ende zu machen.

– Ja wohl, Dick, vorwärts!« antwortete Mrs. Weldon.

Das Lager ward aufgehoben und der Rückweg in derselben Ordnung angetreten. Man mußte quer durch das Dickicht gehen, um das schmale Bächlein nicht zu verlieren. Hier zeigten sich zwar einige Fußwege, doch diese Pfade waren »todte«, wie die Eingebornen sagen, d.h. Wurzelwerk und massenhaftes Gesträuch hatten sie fast vollständig versperrt. Unter diesen erschwerenden Umständen mußte man eine ganze Meile zurücklegen und gebrauchte dazu drei volle Stunden. Die Neger arbeiteten ohne Unterlaß. Herkules betheiligte sich, nachdem er Nan den kleinen Jack übergeben hatte, an der Arbeit, und mit welchem Erfolg! Er rief ein kräftiges Hui! wenn er seine Axt schwang und gleich einem verheerenden Feuer eine ganze Oeffnung vor sich heraushieb.

Zum Glück sollte diese ermüdende Arbeit nicht von Dauer sein. Nach Zurücklegung der ersten Meile erreichte man eine durch das Gebüsch verlaufende weite Oeffnung, welche in schräger Richtung an dem Bache endigte und dann dessen Ufer folgte. Es war das die Spur von Elefanten, welche, jedenfalls zu Hunderten, durch diesen Theil des Waldes zu ziehen pflegten. Große, von den Füßen der ungeheuren Pachydermen eingedrückte Löcher verwandelten den Boden, der von der Regenzeit durchweicht war und den seine schwammige Natur hierzu sehr geeignet machte, fast zu einem Siebe.

Bald zeigte es sich, daß diese Furth durch den Wald jenen gewaltigen Thieren nicht allein gedient habe. Hier waren auch menschliche Wesen mehr als einmal gewandert, aber so, als hätten sie große Heerden mit allen grausamen Mitteln nach dem Schlachthause geschleppt. Da und dort bleichten Knochen auf dem Boden, die Reste der von wilden Thieren halb abgenagten Skelete, von denen einige noch durch Sklavenfesseln gekennzeichnet waren.

Hier im centralen Afrika giebt es lange Wegstrecken, welche in dieser Weise von den Resten menschlicher Körper eingefaßt sind. Die Sklaven-Karawanen durchziehen oft Hunderte von Meilen und wieviel Unglückliche brechen dabei unterwegs von der Peitsche der Agenten, getödtet durch Hunger und Entbehrungen aller Art oder decimirt durch Krankheiten, zusammen!

»Geht Dir’s besser, mein Herz?« (S. 262.)

Wieviel werden daneben noch von den Sklavenhändlern selbst getödtet, wenn an Lebensmitteln Mangel eintritt! Ja, wenn man sie nicht mehr ernähren kann, tödtet man sie einfach durch Flintenschüsse, Säbelhiebe und Messerstiche, und solche Metzeleien sind nicht einmal sehr selten!

Auf diesem Wege waren also, wie gesagt, Sklaven-Karawanen dahingezogen. Eine Meile weit stießen Dick Sand und seine Begleiter bei jedem Schritte auf solche verstreute Gebeine, wobei sie große Ziegenmelker verjagten, die sich bei ihrer Annäherung schwerfälligen Fluges erhoben und kreischend über ihnen hinflatterten.

Mrs. Weldon sah mit offenen Augen doch so gut wie nichts. Dick Sand fürchtete immer eine Frage von ihrer Seite, denn er mochte nicht gern die Hoffnung aufgeben, sie bis zur Küste zurückzuführen, ohne ihr davon Mittheilung zu machen, daß Harris’ Verrath sie in eine Provinz Afrikas verlockt habe. Zum Glück suchte Mrs. Weldon gar nicht nach einer Erklärung dessen, was sie sah. Sie wollte nur ihr Kind wieder haben, und der kleine Jack, welcher jetzt im süßen Schlummer lag, erfüllte ihre Gedanken ganz allein. Nan ging neben ihr her und weder die Eine noch die Andere stellte an den jungen Leichtmatrosen eine jener Fragen, welche er so sehr fürchtete. Der alte Tom wanderte mit niedergeschlagenen Augen dahin, denn er wußte recht wohl, warum so viele menschliche Gebeine längs der Seiten dieser Lücke im Holze lagen.

Seine Gefährten blickten erstaunt nach links und rechts, als durchschritten sie einen Friedhof ohne Grenzen, dessen Gräber eine Erdrevolution aufgebrochen und umgestürzt hatte; aber sie zogen in dumpfem Schweigen weiter.

Dann und wann vertiefte und erweiterte sich wohl das Bett des Baches. Dick Sand hoffte schon, daß er bald schiffbar werden würde. Er zauderte auch gar nicht, den freien Weg zu verlassen, wenn er sich, vielleicht eine geradere Linie bildend, von dem Wasserlaufe entfernte.

Die kleine Gesellschaft drang also noch einmal in das dichte Buschwerk ein. Mit Hilfe der Axt mußte man sich den Weg mitten durch Lianen und unentwirrbar verästeltes Gesträuch bahnen. Wenn aber diese Pflanzen auch den Boden bedeckten, so drängte sich doch nicht mehr der Urwald bis an das Ufer des Baches heran. Die Bäume wurden allmälig seltener. Ueber die Gräser stiegen nur schlanke Bambusstengel, und zwar so weit in die Höhe, daß sie nicht einmal Herkules mehr mit dem Kopfe überragte. Der Zug der kleinen Gesellschaft verrieth sich jetzt nur durch das Schwanken jenes Bambusrohres.

Nachmittags gegen drei Uhr desselben Tages veränderte sich die Natur des Bodens sichtlich. Es zeigten sich lange ausgedehnte Ebenen, welche zur Regenzeit vollständig überschwemmt sein mochten; der in noch höherem Grade sumpfige Boden war mit üppigem Grase bedeckt, welches reizende Farren überragten. Bildete er hie oder da einen steileren Abhang, so sah man den braunen Hämatit, offenbar die Ausläufer eines reichen Lagers dieses Minerals, zu Tage treten.

Da erinnerte sich Dick Sand zu rechter Zeit, was er in Livingstone’s Reisen gelesen hatte. Mehr als einmal blieb der muthige Doctor in diesem Sumpfboden mit den Füßen stecken.

»Gebt wohl Acht, meine Freunde, sagte er also, indem er sich an die Spitze des Zuges begab. Prüft den Boden, bevor Ihr ihn betretet!

– Wahrhaftig, meinte der alte Tom, es sieht so aus, als wäre dieses Terrain vom Regen tüchtig durchweicht, und doch ist in den letzten Tagen kaum ein Tropfen gefallen.

– Nein, antwortete Bat, aber ein Unwetter ist nicht mehr weit.

– Ein fernerer Grund, bemerkte Dick Sand, daß wir uns beeilen, über diese Sümpfe hinauszukommen, ehe es ausbricht! – Herkules, nehmt den kleinen Jack auf den Arm. Ihr, Bat und Austin, haltet Euch in der Nähe Mistreß Weldon’s, um sie im Nothfalle unterstützen zu können. – Sie, Herr Benedict – ja, was machen Sie denn, Herr Benedict?…

– Ich versinke!«…. erwiderte einfach Vetter Benedict, der langsam verschwand, als hätte sich eine Falle unter seinen Füßen geöffnet.

Der arme Mann war wirklich in eine Aushöhlung gerathen, und verschwand bis zum halben Leibe in zähschleimigem Schlamme. Man reichte ihm die Hand und er arbeitete sich wieder aus seiner Versenkung heraus, bedeckt zwar mit Schlamm, doch entzückt, daß seine Entomologen-Trommel dabei keinen Schaden genommen hatte. Acteon ward an seine Seite beordert, um jedem neuen Unfall des unglückseligen Kurzsichtigen vorzubeugen.

Vetter Benedict hatte gerade mit dem Loche, in welches er versank, eine sehr schlechte Wahl getroffen. Als man ihn aus dem breiigen Moraste herauszog, stiegen eine große Menge Blasen herauf, welche beim Zerplatzen ein sehr übelriechendes Gas entweichen ließen. Livingstone, der in solchem Moraste wiederholt bis an die Brust versunken war, verglich dieses Terrain mit einem großen, aus schwarzer, poröser Erde gebildeten Schwamme, aus dem der Eindruck des Fußes überall kleine Wasserfäden hervorlocke. Diese Wege waren stets sehr gefährlich.

Wohl eine halbe Meile weit mußten Dick Sand und seine Gefährten auf diesem schwammigen Boden hinziehen. Es ging sogar so weit, daß sie zuweilen Halt zu machen gezwungen waren, da auch Mrs. Weldon bis halb an’s Knie in den Schlamm versank Herkules, Bat und Austin wollten ihr alle weiteren Unannehmlichkeiten und Mühsale eines Weges durch diese sumpfige Ebene ersparen und fertigten eine Tragbahre aus Bambusrohr, auf welcher sie Platz nehmen mußte. Den kleinen Jack nahm sie dabei in die Arme und man befleißigte sich nun, aus diesem pestilentialischen Sumpfe baldmöglichst herauszukommen.

Der Schwierigkeiten gab es dabei genug. Acteon hielt Vetter Benedict mit kräftiger Hand fest. Tom unterstützte Nan, welche ohne seine Hilfe auch manchmal nahe daran war, einzusinken. Den Anderen voraus sondirte Dick Sand das Terrain. Die Wahl jedes Plätzchens, auf das man die Füße setzen konnte, machte ihm nicht wenig Mühe. Er mußte meist auf dem Uferrand hinwandern, den ein dichtes, zähes Gras bedeckte; oft fehlte auch hier jeder Stützpunkt und man sank bis an’s Knie in den Schlamm ein.

Gegen fünf Uhr Abends endlich war der Sumpf überwunden; der Boden erlangte in Folge seiner thonigen Natur hinreichende Festigkeit; man fühlte jedoch noch immer seinen feuchten Untergrund. Offenbar lag diese Landstrecke tiefer, als benachbarte Flüsse, und drang das Wasser überall in und durch die Poren des Untergrundes.

Die Hitze war allmälig sehr stark geworden. Sie wäre vielleicht unerträglich gewesen, hätten sich nicht dicke Gewitterwolken zwischen die brennende Sonne und die Erde gelagert. In der Ferne zerrissen schon die Blitze dann und wann die Wolken und in den Tiefen des Himmels grollte ein dumpfer Donner. Allen Anzeichen nach drohte ein heftiges Gewitter.

Diese Naturerscheinungen erreichen in Afrika eine uns ganz unbekannte Stärke. Wolkenbruchartige Platzregen, Windstöße, denen oft auch die festesten Bäume nicht zu widerstehen vermögen, Schlag auf Schlag knattert der furchtbarste Donner – das ist etwa der Kampf der Elemente in jenen Breiten. Dick Sand wußte das recht gut und wurde außerordentlich unruhig. Ohne Obdach konnte man die Nacht unbedingt nicht hinbringen. Die Ebene wurde wahrscheinlich überschwemmt und zeigte auch nirgends eine Erhöhung, nach welcher man sich hätte flüchten können.

Wo in dieser tiefliegenden Einöde, ohne Baum, ohne Strauch, sollte man aber ein Obdach finden? Selbst die Eingeweide der Erde konnten ein solches hier nicht bieten. Schon 0∙5 Meter unter der Oberfläche wäre man auf Wasser gekommen.

Inzwischen schien nach Norden zu eine Reihe niedriger Hügel die sumpfige Niederung zu begrenzen. Sie glich dem natürlichen Rande dieser Bodendepression. An einem vereinzelten hellen Theile des Horizontes, den die Wolken noch nicht bedeckten, sah man auch einige Bäume auf demselben.

Fehlte nun auch dort scheinbar jedes Obdach, so lief die kleine Gesellschaft doch mindestens nicht weiter Gefahr, von einer Ueberschwemmung überrascht zu werden. Dort winkte vielleicht die Rettung für Alle!

»Vorwärts, meine Freunde, vorwärts! drängte Dick Sand wiederholt. Noch drei Meilen und wir sind weit mehr in Sicherheit, als hier in dieser Niederung.

– Munter, munter!« rief Herkules.

Der wackere Neger hätte gern alle Welt auf den Arm genommen, um sie allein zu tragen.

Seine Worte trieben die muthigen Leute von Neuem an, und trotz der Anstrengung eines vollen Marschtages, schritten sie jetzt rüstiger und schneller voran, als im Anfange der Etappe.

Beim Ausbruch des Unwetters lag das zu erreichende Ziel noch gegen zwei Meilen vor ihnen. Die ersten Blitze – das machte die Sache noch gefährlicher – begleitete noch kein Regenfall; fast jeder derselben schlug zwischen den Wolken und der Erde über. Dazu war es beinahe dunkel geworden, obwohl die Sonne hinter dem Horizont noch nicht verschwunden war. Nach und nach senkten sich jedoch die schweren Dunstmassen, als drohten sie zusammenzubrechen – was also zweifellos einen furchtbaren Platzregen erwarten ließ. Röthliche und bläuliche Blitze durchzuckten sie in allen Richtungen und umhüllten sozusagen die ganze Ebene mit einem unentwirrbaren Feuernetze.

Zwanzigmal waren Dick Sand und seine Genossen in Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden.

Auf dieser baumlosen Fläche bildeten sie ja allein solche hervorspringende Punkte, welche elektrische Entladungen vorzüglich anziehen. Jack, der von dem Krachen des Donners erwacht war, verbarg sich in Herkules’ Armen. Er hatte wohl Furcht, der arme Kleine, aber er wollte sie seiner Mutter nicht bemerken lassen, um diese nicht noch mehr zu ängstigen. Herkules schritt tapfer vorwärts und tröstete ihn dabei nach Kräften.

»Keine Angst, mein kleiner Jack, sagte er. Wenn uns der Donner zu nahe kommt, breche ich ihn entzwei; sieh! hier mit der einen Hand! Ich bin stärker als er!«

Und in der That, die Kraft des Riesen beruhigte den kleinen Jack nicht wenig.

Inzwischen konnte es nicht mehr lange währen, bis der Regen kam, und dann mußten wahre Sturzbäche aus den sich condensirenden Wolken herabfallen. Was sollte aus Mrs. Weldon nebst ihren Begleitern werden, wenn sie bis dahin keine Unterkunft fanden?

Dick Sand blieb einen Augenblick neben dem alten Tom stehen.

»Was nun? fragte er.

– Unseren Weg fortsetzen, Herr Dick, antwortete Tom, auf dieser Ebene, die der Regen schnell zum Sumpfe verwandeln wird, können und dürfen wir nicht bleiben!

– Nein, Tom, gewiß nicht! Aber ein Obdach! Wo? Welches? Wär’s nur eine erbärmliche Hütte!…«

Dick Sand hatte seine Worte kurz abgebrochen. Ein hellleuchtender Blitz zuckte eben über die ganze Ebene vor ihnen.

»Was seh’ ich dort, eine Viertelmeile von hier?… rief Dick Sand.

– Ja wohl, ich, ich sah es auch!… antwortete der alte Tom kopfschüttelnd.

– Ein Lager, nicht wahr?

– Ja, Herr Dick… das muß ein Lager sein… aber ein Lager von Eingebornen!«

Ein zweiter Blitz machte es möglich, das vermuthete Lager, das einen Theil der ungeheuren Ebene bedeckte, deutlicher zu sehen.

In der That, dort erhoben sich etwa einhundert konische Hügel in symmetrischer Anordnung und in einer Höhe von 3∙5 bis 4∙5 Meter. Ein Krieger war dabei nicht zu erblicken. Hatten sich diese nun in jene Zelte (so schien es von hier aus) verkrochen, um das Ungewitter vorübergehen zu lassen, oder war das ganze Lager verlassen?

Im ersteren Falle hätte Dick Sand, der Himmel mochte nun noch so furchtbar drohend erscheinen, so schnell als möglich entfliehen mögen; im zweiten bot sich dort vielleicht das gesuchte Obdach.

»Darüber werd’ ich bald im Reinen sein!« sagte er.

Dann wandte er sich an den alten Tom:

»Bleibt Ihr hier, fuhr er fort. Daß mir kein Mensch folge! Ich will jenes Lager näher in Augenschein nehmen.

– Gestatten Sie, daß Einer von uns Sie begleite, Herr Dick.

– Nein, Tom, ich gehe allein. Ich kann mich unbemerkt nahe schleichen; Ihr erwartet mich hier zurück!«

Die kleine Gesellschaft, der Tom und Dick Sand sonst voranschritt, machte Halt. Der junge Leichtmatrose verließ sie und verschwand bald in der Finsterniß, welche eine vollständige war, so lange nicht ein Blitz die schwarzen Wolken zerriß.

Jetzt fielen einige schwere Tropfen nieder.

»Was ist geschehen?« fragte Mrs. Weldon, die an den alten Neger herantrat.

– Wir haben ein Lager gesehen, Mistreß Weldon, antwortete der alte Tom, ein Lager… vielleicht auch ein Dorf, und unser Kapitän wollte es erst in Augenschein nehmen, bevor er uns dahinführt!«

Mrs. Weldon beruhigte sich bei dieser Antwort.

Drei Minuten später schon war Dick Sand zurück.

»Kommt! Kommt! rief er mit einer Stimme, welche seine volle Befriedigung deutlich heraushören ließ.

– Ist das Lager leer? fragte Tom.

– Das ist kein Lager, auch keine Ansiedlung, antwortete der junge Leichtmatrose. Das sind Ameisenbauten!

– Ameisen!… rief Vetter Benedict, dem dieses Wort sozusagen in die Glieder fuhr.

– Ja wohl, Herr Benedict, Ameisenbauten von mindestens 3∙5 Meter Höhe, in welchen wir unterzukommen versuchen müssen.

– Dann müßten das aber Bauten der sogenannten kriegerischen oder gefräßigen Termiten sein, erwiderte der Gelehrte. Nur diese Insecten errichten derartige Bauwerke, um welche sie die größten Architekten beneiden!

– Mögen das nun Termiten sein oder nicht, Herr Benedict, antwortete Dick Sand, wir werden sie austreiben und uns an ihre Stelle setzen.

– Doch sie zehren uns auf! Sie sind dabei in ihrem Rechte!

– Vorwärts! Vorwärts!…

– Aber so warten Sie doch, begann Vetter Benedict noch einmal, ich glaubte, solche Termitenbauten gebe es nur in Afrika!…

– Vorwärts!« drängte Dick Sand zum letzten Male befehlend, weil er fürchtete, Mrs. Weldon könnte das letzte Wort des Entomologen gehört haben.

Alles folgte Dick Sand in größter Eile. Bald erhob sich ein wüthender Wind. Große Tropfen zerplatzten auf der Erde. Binnen Kurzem mußte der Sturm unerträglich werden.

Bald ward einer jener Kegel, welche aus der Ebene hervorragten, erreicht, und so furchterweckend die Natur der Termiten auch sein mochte, man durfte nicht zögern, selbst im Falle man sie nicht heraustreiben konnte, die Wohnung mit ihnen zu theilen.

Am Fuße des Kegels, der aus röthlichem Thone errichtet war, zeigte sich eine sehr enge Oeffnung, welche Herkules mit seinem Jagdmesser bald so weit vergrößerte, daß selbst ein Mann von seiner Statur durch dieselbe kriechen konnte.

Zu Vetter Benedict’s größtem Erstaunen zeigte sich auch nicht eine einzige jener Tausende von Termiten, welche sonst gewiß diesen Bau bevölkerten.

Sollte er von ihnen verlassen sein?

Nach gehöriger Erweiterung des Einganges schlüpften Dick Sand und seine Genossen hinein und Herkules verschwand darin zuletzt, eben als der Regen in solchen Massen niederstürzte, daß er die Blitze fast verlöschen konnte.

Von der Unbill des Wetters war letzt aber nichts mehr zu fürchten. Ein glücklicher Zufall hatte der kleinen Gesellschaft dieses sichere, einem Zelte oder der Hütte eines Eingebornen jedenfalls vorzuziehende Obdach vermittelt.

Ein zweiter Blitz machte es möglich, deutlicher zu sehen. (S. 269.)

Dasselbe bestand, wie erwähnt, aus einem jener kegelförmigen Termitenbauten, welche nach Lieutenant Cameron’s Vergleiche, wenn man ihre Herstellung durch jene kleinen Insecten in Betracht zieht, erstaunlicher erscheinen als die durch Menschenhände errichteten Pyramiden Egyptens.

»Es verhält sich das so, sagte jener Reisende, als hätte eine Völkerschaft etwa den Mount Everest, einen der höchsten Gebirgsköpfe der Himalaya Kette, künstlich aufgethürmt!«

Fünftes Capitel.Vortrag über die Ameisen, gehalten in einem Ameisenbau.

Das Unwetter brach letzt mit einer in gemäßigten Zonen völlig unbekannten Heftigkeit los.

Dick Sand und seine Genossen schlüpften hinein. (S. 271.)

Dick Sand und seine Gefährten hatten dieses Obdach gefunden, als hätte sie die Vorsehung selbst dahin geführt.

Der Regen fiel gar nicht mehr in einzeln abgegrenzten Tropfen, sondern stürzte gleich Wasserfäden von wechselnder Stärke hernieder. Manchmal bildete er eine wirklich compacte Masse, einen Wasserfall – noch mehr, einen Katarakt, einen Niagara! Stelle man sich ein in der Luft schwebendes Bassin mit einem ganzen Meere als Inhalt vor, das sich wie auf einen Schlag entleerte. Bei einem solchen Gusse brechen in den Boden tiefe Höhlen, verwandeln sich die Ebenen zu Seen, werden die Bäche zu rauschenden Strömen und überfluthen die austretenden Flüsse ungeheure Flächen. Hierzu kommt, daß in Afrika, entgegengesetzt dem Verhalten in gemäßigten Zonen, wo die Dauer der Gewitterstürme zu ihrer Heftigkeit in umgekehrtem Verhältnisse steht, derartige Unwetter gleich mehrere Tage hindurch ungeschwächt fortwüthen. Kaum begreift man, wie eine solche Menge Elektricität sich in den Wolken aufspeichern, wie so wahrhaft unermeßliche Dunstmassen sich ansammeln können. Dennoch ist es so, und man glaubt sich dabei fast in die außergewöhnlichsten Epochen der diluvianischen Zeit zurückversetzt.

Zum Glück erwies sich der dichtwandige Termitenbau als vollkommen undurchdringlich. Eine aus Lehm errichtete Biberwohnung hätte nicht trockener bleiben können. Und brodelte auch ein Bergstrom über den Kegel hinweg, durch seine Poren wäre kein Tröpfchen Wasser gedrungen.

Sobald Dick Sand und seine Begleiter von dem Ameisenbau Besitz genommen, suchten sie sich mit seiner inneren Einrichtung bekannt zu machen. Die Laterne ward angezündet und verbreitete hinlängliches Licht in dem Hause der Insecten. Der Kegel maß bei 3∙5 Meter innerer Höhe in Folge seiner zuckerhutähnlichen Gestalt am Boden 3 Meter in der Breite. Die Dicke seiner Wände mochte etwa 0∙3 Meter betragen und die dieselben auskleidenden Einzelzellen ließen in der Mitte einen Hohlraum von beträchtlicher Größe übrig.

Mit Recht erstaunt man über die Construction derartiger Monumente, welche den zarten Phalangen von Insecten ihre Entstehung verdanken, und doch finden sich solche Bauten, solche wahrhafte Riesenwerke gegenüber der Körpergröße der Bauleute (d.h. der Ameisen) im Innern Afrikas sehr häufig. Ein holländischer Reisender des letzten Jahrhunderts, Smeathman mit Namen, hat auf der Spitze eines solchen Hügels mit vier Begleitern ausreichenden Platz gefunden. In Loanda traf Livingstone wiederholt aus röthlichem Thone errichtete Ameisenbauten von 5, selbst 6 Meter Höhe.

Lieutenant Cameron hat in N’yangwe häufig solche in Gruppen bei einander stehende Kegel für Dörfer von Eingebornen gehalten. Er hat sogar am Fuße wirklicher Gebäude, nicht nur von 7, sondern von 13 bis 16 Meter Höhe gestanden, vor ungeheueren, abgerundeten, von einer Art Glockenthürmen flankirten Kegeln, ähnlich den Kuppeln von Kathedralen, wie sie in dieser Art nur Mittel-Afrika aufzuweisen hat.

Von welcher Gattung der Ameisen nun rührt die wahrhaft überraschende Errichtung jener Bauten her?

»Von der der kriegerischen Termiten!« hätte Vetter Benedict ohne langes Nachsinnen geantwortet, als er nur die Natur des zu ihrer Construction verwendeten Materiales erkannt.

In der That erwiesen sich die Wände aus einer röthlichen Thonart hergestellt. Wären sie aus grauem oder schwärzlichem Alluvium gebildet gewesen, so hätte man entweder die »bissigen« oder die »wilden« Termiten als Architekten voraussetzen müssen. Der Leser erkennt, daß diese Insecten lauter nur wenig vertrauenerweckende Namen führen, an denen höchstens ein so eingefleischter Entomolog wie unser Vetter Benedict Gefallen finden dürfte.

Der centrale Theil des Kegels, in welchem die kleine Gesellschaft zunächst Platz genommen hatte und der den inneren freien Hohlraum desselben bildete, hätte immerhin nicht ausgereicht, sie wirklich zu beherbergen; dafür bildeten weite, übereinander liegende Abtheilungen sozusagen Etagen, in welchen eine mittelgroße Person recht wohl Platz fand. Stelle man sich eine Reihe vorn offener Schubkästen vor, an deren Rückwänden Millionen früher von Termiten bewohnter Zellen, und man gewinnt damit leicht ein Bild von der inneren Einrichtung solcher Ameisenbauten. Diese Schubkästen liegen nun, wie die Schlafstätten in Schiffscabinen, einer über dem anderen, und in den oberen derselben fanden Mistreß Weldon, der kleine Jack, Nan und Vetter Benedict Platz. In den unteren Etagen richteten sich Austin, Bat und Acteon ein. Dick Sand, Tom und Herkules blieben in dem Mittelraume des Kegels.

»Meine Freunde, wendete sich jetzt der junge Leichtmatrose zu den Negern, der Erdboden hat sich voll Wasser gesaugt; wir werden ihn mittelst Thon aus den Wänden auffüllen, aber darauf Acht haben müssen, die Oeffnung, durch welche die Außenluft eindringt, nicht etwa zu verschließen.

– O, es handelt sich ja nur um eine einzige Nacht, meinte der alte Tom.

– Nun, so trachten wir ja darnach, daß diese uns nach so vielen Strapazen die möglichste Erholung bietet. Seit zehn Tagen ist es das erste Mal, daß wir nicht unter freiem Himmel übernachten.

– Zehn Tage! wiederholte Tom.

– Da dieser Kegel übrigens, fuhr Dick Sand fort, ein sehr gesichertes Obdach bietet, so dürfte es sich vielleicht empfehlen, hier während vierundzwanzig Stunden zu rasten. Inzwischen suche ich nach dem Flusse, der unser Wegweiser werden soll und der sich nicht fern von hier befinden muß. Ich halte sogar dafür, diese geschützte Wohnung nicht eher aufzugeben, als bis wir ein Floß gezimmert haben. Hier thut uns das Unwetter keinen Schaden. Schaffen wir uns also zunächst einen festeren trockenen Fußboden!«

Dick Sand’s Anordnungen wurden sofort ausgeführt. Herkules hackte mit der Axt die erste, aus sehr dürrem Thone bestehende Zellen-Etage herunter. Er erhöhte damit den sumpfigfeuchten Boden des Kegel-Innern um einen guten Fuß, wobei Dick Sand sich vergewisserte, daß die an der Basis des Baues befindliche Oeffnung nicht verengert wurde.

Gewiß war es ein sehr glücklicher Umstand, daß der Ameisenbau sich von den Termiten verlassen erwies. Mit Tausenden und Abertausenden dieser Insecten wäre derselbe unbewohnbar gewesen. War er aber schon seit langer Zeit leer oder hatten ihn die gefräßigen Neuropteren erst seit Kurzem verlassen? Diese Frage erschien in der That nicht unnütz.

Vetter Benedict hatte sich dieselbe auch sofort vorgelegt, so sehr verwunderte ihn das Oedestehen eines solchen Baues, und er für seinen Theil hatte bald die Ueberzeugung gewonnen, daß die Auswanderung der Insecten nur in letzter Zeit erst stattgefunden habe.

Mit Hilfe der Laterne durchsuchte er nämlich am unteren Theile des Kegel-Innern die verborgensten Winkel des Termitenbaues und entdeckte dabei das »Haupt-Magazin« (wie er es nannte) der Insecten, d.h. die Stelle, an der diese fleißigen, vorsorglichen Thiere die Vorräthe der Kolonie aufstapeln.

Das betreffende Magazin bestand aus einer in der Wand ausgehöhlten Zelle, unsern der Königin-Zelle, welche Herkules’ Erweiterungsarbeiten nebst den Zellen für die jungen Larven zerstört hatten.

Aus diesen Vorrathskammern brachte Vetter Benedict verschiedene, noch nicht völlig erhärtete Stückchen Gummi und halbweichen Zuckersaft zum Vorschein – ein Beweis, daß die Termiten dieselben erst unlängst eingetragen haben konnten.

»Nein, sicherlich nicht, rief er, als widerspräche irgend Jemand seiner Behauptung, nein, dieser Termitenbau steht noch nicht seit längerer Zeit leer!

– Nun, wer bestreitet denn das, Herr Benedict? sagte Dick Sand darauf. Ob kürzlich oder nicht, für uns liegt der Schwerpunkt darin, daß die Termiten ihn überhaupt verlassen hatten, weil wir ihren Platz einnehmen mußten.

– Der Schwerpunkt der ganzen Frage, erwiderte Vetter Benedict, liegt vielmehr darin, zu wissen, aus welchen Gründen jene ausgewandert sind. Gestern, selbst heute Morgen noch bewohnten die klugen Neuropteren ihren Bau, dafür spricht dieser halbflüssige Zucker, und heut’ Abend…

– Ja, was wollen Sie aber daraus folgern? fragte Dick Sand.

– Daß ein gewisses Vorgefühl sie getrieben hat, ihre Wohnung aufzugeben. Es ist nicht nur keine einzige Termite in dem Bau zurückgeblieben, sondern sie haben die Vorsorge sogar so weit getrieben, die jungen Larven mit fortzuschleppen, denn ich finde auch von diesen keine Spur. Ohne alle Ursache, das wiederhole ich, ist das nicht geschehen; die scharfsinnigen Insecten, werden vielmehr eine drohende Gefahr geahnt haben.

– Aha, sie ahnten, daß wir ihre Wohnung beziehen wollten! warf Herkules lachend ein.

– Du lieber Himmel, versetzte Vetter Benedict, den dieser Scherz des Negers in seinem Gelehrtendünkel verletzte, Sie glauben doch nicht etwa, daß Ihre Körperkraft den anmuthigen Insecten als eine Gefahr erschienen wäre? Ein paar Tausend jener Neuropteren schon hätte sie schnell zum Skelete reducirt, wenn Sie todt in deren Wege lagen.

– Todt! Ja, das glaub’ ich auch, erwiderte Herkules, der sich nicht so leicht überzeugen ließ, aber lebendig würde ich sie massenhaft vertilgen.

– Gewiß, hunderttausend, fünfmalhunderttausend, meinetwegen auch eine ganze Million, entgegnete Vetter Benedict, allmälig warm werdend, eine Milliarde aber nicht, und eine Milliarde derselben hätte Sie, lebendig oder todt, mit Haut und Knochen aufgezehrt!«

Während dieses Gespräches, das im Grunde minder unnütz war, als man glauben möchte, dachte Dick Sand im Stillen über Vetter Benedict’s vorherige Bemerkung nach. Der Gelehrte kannte die Gewohnheiten der Ameisen sicher gut genug, um sich hierin nicht zu täuschen. Behauptete jener nun, daß ein gewisser Instinct die Insecten zum Aufgeben ihres Baues getrieben habe, so mußte die einstweilige Bewohnung desselben gewiß auch mit irgend welcher Gefahr verknüpft sein.

Da bei dem zur Zeit mit einer Heftigkeit ohne Gleichen wüthenden Unwetter ein plötzliches Verlassen dieses Obdachs von vornherein ausgeschlossen war, so grübelte Dick Sand vorläufig nicht weiter nach einer ihm doch versagten Erklärung und begnügte sich zu antworten:

»Nun, Herr Benedict, wenn die Termiten ihre Vorräthe in diesem Bau nicht zurückließen, so erinnere ich Sie daran, daß wir die unsrigen mitgebracht haben, und denke, wir essen ein wenig zu Abend. Morgen, wenn das Gewitter vorüber ist, einigen wir uns über das Weitere!«

Man ging also daran, das einfache Abendessen herzurichten, denn so groß die Müdigkeit auch war, den Appetit hatte sie unseren rüstigen Wanderern nicht zu rauben vermocht. Im Gegentheil, die Conserven, welche sie etwa noch für zwei Tage besaßen, fanden die beste Aufnahme. Den Zwieback hatte die Nässe noch verschont und schon nach wenigen Minuten konnte man ihn zwischen den kernigen Zähnen Dick Sand’s und seiner Begleiter knacken hören. Zwischen Herkules’ Kinnladen verhielt er sich freilich wie Getreidekörner zwischen Mühlsteinen. Der Riese zerbrach ihn nicht, er zermalmte ihn.

Mrs. Weldon allein aß fast gar nicht und nur ein wenig, weil Dick Sand sie so dringend bat. Es schien ihm, als sei die sonst so muthige Frau niedergeschlagener als je vorher. Und doch litt der kleine Jack jetzt weniger, ein Fieberfall war nicht wieder aufgetreten und augenblicklich schlummerte er sehr ruhig unter den Augen seiner Mutter in einer mittelst Decken und Kleidungsstücken bestmöglich ausgepolsterten Zelle. Dick Sand wußte nicht, was er davon halten sollte.

Es bedarf kaum einer besonderen Erwähnung, daß Vetter Benedict der Mahlzeit alle Ehre anthat, nicht deshalb, daß er etwa der Qualität, noch weniger der Quantität der von ihm vertilgten Speisen auch nur einige Aufmerksamkeit gewidmet hätte, sondern nur, weil er eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit gefunden, eine entomologische Vorlesung über Termiten an den Mann zu bringen. O, hätte er nur eine Termite, nur eine einzige in dem ganzen Bau entdeckt! – Aber nichts – nichts!

»Diese wunderbaren Insecten, begann er, ohne sich darum zu kümmern, ob Jemand ihm zuhörte, diese wunderbaren Insecten gehören der herrlichen Ordnung der Neuropteren an, deren Antennen (Fühlhörner) länger als der Kopf, deren Kiefern sehr deutlich unterschieden und deren untere Flügel die längste Zeit über den oberen gleich sind. Fünf Gattungen bilden diese Ordnung: die Panorparten, Myrmileonien, Hemerobinen, Termiten und Perliden. Es versteht sich von selbst, daß die Insecten, deren Wohnung wir, vielleicht unrechter Weise, eingenommen haben, Termiten sind.«

Dick Sand lauschte Vetter Benedict’s Worten mit gespannter Aufmerksamkeit. Hatte die wiederholte Erwähnung der Termiten in jenem vielleicht den Gedanken erweckt, daß er sich hier in Afrika befinde, ohne eigentlich zu wissen, welcher Umstand es veranlaßte, daß er hierher gekommen war? Der Leichtmatrose wagte kaum, sich hierüber Rechenschaft zu geben.

Der Gelehrte tummelte das einmal gesattelte Steckenpferd nach Herzenslust weiter.

»Diese Termiten, fuhr er fort, sind durch die viergliedrigen Tarsen, die gebogenen Kiefern und durch ihre außerordentliche Kraft entscheidend charakterisirt. Es giebt unter ihnen die Familien der Mantispen, der Raphidien und der eigentlichen Termiten, alle Drei oft als weiße Ameisen bezeichnet, und unter den letztgenannten die Sippen der todtbringenden, gelbbrüstigen lichtscheuen Termiten, ferner die der beißenden, zerstörenden…

– Und die Erbauer dieses Kegels waren?… fragte Dick Sand.

– Die kriegerischen! antwortete Vetter Benedict in einem Tone, als handle es sich hier um die Macedonier oder ein anderes kampfberühmtes Volk des Alterthums. Ja, die kriegerischen, und zwar die größten wiederum unter diesen. Zwischen Herkules und einem Zwerge wäre der Unterschied verhältnißmäßig geringer als zwischen den größten und den kleinsten dieser Insecten. Giebt es einerseits unter ihnen »Arbeiter« von fünf, »Soldaten« von zehn, Männchen und Weibchen aber auch von zwanzig Millimeter Länge, so findet man andererseits eine sehr merkwürdige Unterart, die etwa einen halben Zoll langen »Sirafus«, welche Zangen an Stelle der Kiefern und, ähnlich den Haifischen, einen den ganzen Körper an Größe übertreffenden Kopf besitzen.

Das sind die echten Haifische unter den Insecten, und bei einem Kampfe zwischen Sirafus und einem wirklichen Hai würde ich ohne Bedenken auf die Ersteren wetten.

Er durchsuchte die verborgensten Winkel. (S. 276)

– Und wo findet man diese Sirafus gewöhnlich? fragte da Dick Sand.

– In Afrika, antwortete Vetter Benedict, und zwar in dessen mittleren und südlichen Provinzen. Afrika ist das Land der Ameisen par excellence!

Der Gelehrte tummelte das Steckenpferd weiter. (S. 279.)

Darüber muß man lesen, was Livingstone in den letzten, von Stanley aufgefundenen Berichten niedergeschrieben hat. Vom Glücke mehr begünstigt als ich, hat der Doctor einem wahrhaft homerischen Kampfe zwischen einem Heere schwarzer und einem solchen weißer Ameisen beiwohnen können. Die, welche die Gelehrten »drivers« und die Eingebornen Sirafus nennen, blieben die Sieger. Die anderen, die »Tschungus«, ergriffen die Flucht und nahmen, nach ehrenvoll hartnäckiger Vertheidigung, ihre Eier und Jungen mit sich fort. Niemals, so spricht sich Livingstone ungefähr aus, loderte die Kampfeswuth heftiger auf, weder bei Menschen noch bei Thieren! Mit ihrem kräftigen Kiefer, der dem Angegriffenen ganze Stücke aus dem Körper reißt, treiben sie den tapfersten Mann in die Flucht. Selbst die größten Thiere, wie Löwen und Elefanten, fliehen vor ihnen. Dabei hält nichts sie auf, weder Bäume, welche sie bis zum letzten Gipfel erklettern, noch Bäche, über die sie aus ihren eigenen, aneinander geklammerten Leibern eine Brücke zu schlagen verstehen. Und wie zahlreich sind sie dabei! Du Chaillu z.B., ein anderer Afrika-Reisender, sah einmal eine Ameisen-Colonne zwölf Stunden hindurch vorüberziehen, ohne daß diese sich jemals aufgehalten hätte. Was ist aber über solche Myriaden besonders zu verwundern? Die Fruchtbarkeit der Insecten ist eben eine unglaubliche, und, um auf unsere kriegerischen Termiten zurückzukommen, man hat constatiren können, daß ein einziges Weibchen in einem Tage 60.909 Eier legte! Dabei liefern diese Neuropteren den Eingebornen übrigens eine kräftige Nahrung. Geröstete Ameisen, meine Freunde, o, ich kenne nichts Besseres in der Welt!

– Haben Sie denn solche gegessen, Herr Benedict? fragte Herkules.

– Nein, erwiderte der gelehrte Professor, aber ich thät’s jeden Augenblick.

– Wo?

– Hier auf der Stelle.

– Hier sind wir aber nicht in Afrika! warf Tom schnell ein.

– Nein… freilich nicht, bestätigte Vetter Benedict, und doch wurden die kriegerischen Ameisen sammt deren dorfähnlichen Ansiedelungen bisher nur auf dem afrikanischen Continente beobachtet. Ah, da hat man nun die Reisenden! Sie verstehen nicht zu sehen! Nun, desto besser, ich habe in Amerika ja schon einen Tetse aufgefunden! Zu diesem rühmlichen Erfolge füge ich nun auch noch den, die kriegerischen Termiten in demselben Erdtheile zuerst entdeckt zu haben. Welche Fülle von Stoff für eine Denkschrift, welche das gelehrte Europa in Aufregung versetzt, vielleicht für einen Folianten mit Platten und Abbildungen neben dem Texte!…«

Offenbar war das Licht der Erkenntniß in Vetter Benedict’s Gehirn noch nicht aufgegangen. Der arme Mann und alle die Uebrigen, mit alleiniger Ausnahme Dick Sand’s und Tom’s, glaubten sich da und mußten sich wohl da glauben, wo sie in der That nicht waren. Es bedurfte noch anderer Vorkommnisse, schwerer in’s Gewicht fallender Thatsachen als einiger wissenschaftlicher Curiositäten, um sie aus ihrer Täuschung zu reißen.

Jetzt war es neun Uhr Abends. Vetter Benedict hatte lange gesprochen. Bemerkte er denn gar nicht, daß seine in den Einzelabtheilungen des Termitenbaues verkrochenen Zuhörer während seines entomologischen Vortrages nach und nach eingeschlafen waren? Allem Anschein nach, nein. Er docirte für und vor sich selbst weiter. Dick Sand unterbrach ihn mit keiner Frage und regte sich nicht, obwohl er keineswegs schlief. Herkules hatte noch etwas länger als die Anderen zu widerstehen vermocht; allmälig schloß die Abspannung jedoch auch ihm die Augen und mit den Augen zugleich die Ohren.

Vetter Benedict ließ seiner Beredtsamkeit noch immer freien Lauf. Endlich machte das Bedürfniß nach Schlummer seine Rechte geltend und er kletterte nach einer der oberen, schon früher als Schlafstätte auserkornen Abtheilungen des Kegels empor.

Jetzt herrschte tiefes Schweigen im Innern des Termitenbaues, während das Unwetter draußen mit Blitz und Donner weitertobte und nichts auf ein nahes Ende dieses Kampfes in der Natur hinzuweisen schien.

Die Laterne war ausgelöscht worden. Das Innere des beschränkten Obdachs lag in schwarzer Finsterniß.

Ohne Zweifel schliefen die Insassen desselben… Nur Dick Sand allein suchte im Schlummer nicht die ihm doch so nothwendige Ruhe. Seine sorgenden Gedanken hielten ihn wach. Er dachte an seine Gefährten, die er um jeden Preis retten wollte. Der Schiffbruch des »Pilgrim« bezeichnete noch keineswegs das Ende ihrer Prüfungen; noch weit schwerere standen ihnen ja bevor, wenn sie Eingebornen in die Hände fielen.

Auf welche Weise war aber diese Gefahr, offenbar die schlimmste aller, bei der Rückkehr nach der Küste zu vermeiden? Sicherlich hatten Harris und Negoro sie nicht ohne die geheime Absicht, sich ihrer zu bemächtigen, hundert Meilen weit in das Binnenland Angolas verlockt. Was hatte der elende Portugiese aber dann mit ihnen vor? Wem galt denn sein tödtlicher Haß? Der junge Leichtmatrose erinnerte sich, daß nur er ihm feindlich gegenübergetreten sei, und überflog im Geiste noch einmal alle mit der Ueberfahrt des »Pilgrim« verknüpften Ereignisse, die Auffindung des Wracks mit den Negern darin, die Jagd auf den Walfisch, das traurige Ende des Kapitän Hull und seiner ganzen Mannschaft.

Dick Sand sah sich, trotz seiner Jugend, berufen zum Commando eines Schiffes, das seiner Boussole und seines Logs durch Negoro’s verbrecherische Handlungsweise sehr bald verlustig ging. Es trat ihm die Scene wiederum vor Augen, wo er dem unverschämten Koche gegenüber seine Autorität geltend machen mußte, indem er ihm strengen Arrest in Aussicht stellte, oder ihm gar eine Revolverkugel durch den Kopf zu jagen drohte. Ach, warum hatte er es damals nicht gethan! Negoro’s Leiche wäre über Bord geworfen und die ganze Reihe der nachfolgenden Unfälle verhütet worden!

Das war etwa der Gedankengang des jungen Leichtmatrosen. Dann verweilte er bei dem Schiffbruch, der sich am Ende der Ueberfahrt des »Pilgrim« ereignete; wie hierauf der Verräther Harris auftrat und die vermeintliche Provinz Südamerikas sich allmälig verwandelte. Bolivia vertauschte sich gegen das entsetzliche Angola mit seinem Fieberklima, seinen wilden Thieren und noch wilderen Eingebornen. Konnte die kleine Gesellschaft wohl auf dem Rückweg zur Küste allen drohenden Gefahren entgehen? Versprach jener Fluß, den Dick Sand so emsig suchte und auch noch zu finden hoffte, sie sicherer und müheloser zum Uferland hinab zu tragen? Er sträubte sich, daran zu zweifeln, denn er wußte nur zu gut, daß eine Fußreise von über hundert Meilen, mitten durch diese ungastliche Gegend und jeden Augenblick zu fürchtende Gefahren zu den Unmöglichkeiten gehörte.

»Zum Glück, sprach er leise für sich, kennt weder Mrs. Weldon, noch ahnen die Uebrigen den Ernst unserer Lage! Der alte Tom und ich, wir allein wissen es, daß Negoro’s teuflische Bosheit uns nach der Küste Afrikas geführt, daß Harris uns in das Herz von Angola geschleppt hat!«

So brütete Dick Sand über seinen Gedanken, als er etwas wie einen Hauch über seine Stirn streichen fühlte. Eine Hand berührte hierauf seine Schulter und eine tiefbewegte Stimme flüsterte ihm in’s Ohr:

»Ich weiß Alles, mein armer Dick, doch Gott vermag uns auch jetzt noch zu retten! Sein unerforschlicher Wille geschehe!«

Sechstes Capitel.Die Taucherglocke.

Auf diese unvermuthete Offenbarung vermochte Dick Sand nicht zu antworten. Uebrigens hatte Mrs. Weldon ihren Platz neben dem kleinen Jack schon wieder eingenommen. Sie hatte offenbar nicht mehr sagen wollen und der junge Leichtmatrose hätte sonst auch nicht den Muth gehabt, sie daran zu hindern.

Mrs. Weldon wußte also, woran sie war. Die verschiedenen Reise-Erlebnisse hatten auch sie aufgeklärt, vielleicht das Wort »Afrika!« das Vetter Benedict den Tag vorher unglücklicher Weise ausgesprochen hatte.

»Mistreß Weldon weiß Alles, wiederholte sich Dick Sand. Nun, vielleicht ist es besser so. Die muthige Frau verzweifelt nicht. Und ich?…. Niemals!«

Jetzt sehnte sich Dick Sand wirklich nach dem Wiederanbruch des Tages, um die Umgebung des Termitendorfes näher in Augenschein nehmen zu können. Einen Küstenstrom des Atlantischen Oceans und seinen schnellen Lauf, das mußte er finden, um seine kleine Gesellschaft fortzuschaffen, und ihn verließ das Vorgefühl nicht, daß dieser ersehnte Wasserlauf nicht fern sein könne. Vor Allem kam es ihm darauf an, ein Zusammentreffen mit Eingebornen zu vermeiden, welche von Harris und Negoro vielleicht schon zu ihrer Verfolgung ausgesendet sein konnten.

Noch wollte es aber nicht Tag werden. Durch die Oeffnung im unteren Theile des Kegels drang kein Lichtstrahl ein. Das in Folge der dicken Wände nur dumpf ertönende Rollen des Donners bewies, daß das Unwetter ungeschwächt fortwüthete. Durch Anlegen des Ohres vernahm Dick Sand auch deutlich, wie der Regen zwar an die Basis des Termitenbaues anschlug, aber nicht mehr den festen Erdboden traf, woraus er auf eine Ueberschwemmung der ganzen Umgebung schließen mußte.

Es mochte gegen elf Uhr sein. Dick Sand fühlte, daß er in Folge einer halben Betäubung, vielleicht auch wirklichen Müdigkeit, wohl einschlafen würde. Immerhin hätte er einiger Ruhe genossen. Doch als er sich dieser schon hingeben wollte, kam ihm der Gedanke, daß die Eingangsöffnung durch Erweichung des aufgeschütteten thonigen Bodens verschlossen werden könne. Damit wäre aber jeder Lustzutritt von außen abgeschnitten gewesen und die Athmung der eingeschlossenen zehn Personen dadurch auf’s höchste gefährdet worden, daß die Luft durch ausgeathmete Kohlensäure verdorben wurde.

Dick Sand glitt also nach dem, mit dem Thongemisch aus den unteren Zellenreihen erhöhten Boden herab.

Die künstlich geschaffene Erhöhung erwies sich noch völlig trocken und die Oeffnung frei. Ungehindert drang die Luft in das Kegel-Innere ein und mit ihr ein schwacher Widerschein der Blitze des Gewitters, welche selbst ein diluvianischer Regenguß nicht zu löschen vermochte.

Dick Sand überzeugte sich, daß Alles in gutem Stande war. Vorläufig schienen den an die Stelle der Neuropteren-Kolonie getretenen menschlichen Termiten irgend welche Gefahren nicht zu drohen. Der junge Leichtmatrose gedachte sich also durch einige Stunden Schlaf, den er sich schon übermannen fühlte, neu zu stärken.

Fast aus übertriebener Vorsicht legte sich Dick Sand auf der Thonauffüllung des Kegelbodens, in gleicher Höhe mit der Eingangsöffnung nieder. So konnte draußen nichts geschehen, ohne daß er es zuerst bemerkte. Der anbrechende Tag mußte ihn erwecken und sofort wollte er dann die Umgebung untersuchen.

Den Kopf an die Wand gelehnt und das Gewehr unter der Hand, legte Dick Sand sich also nieder und schlief sofort ein.

Wie lange sein tiefer Schlummer gedauert habe, vermochte er nicht zu sagen, als ihn eine lebhafte Empfindung von Kälte erweckte.

Er erhob sich und wurde zur größten Bestürzung gewahr, wie das Wasser in den Termitenbau, und zwar mit solcher Schnelligkeit eindrang, daß es die von Tom und Herkules eingenommene Abtheilung binnen wenigen Secunden erreichen mußte.

Dick Sand machte die Genannten wach und setzte sie von dem Zustande der Dinge in Kenntniß.

Die schnell wieder angezündete Laterne erhellte das Innere des Kegels.

Bis 11/2 Meter Höhe war das Wasser gestiegen und verharrte dann bei diesem Stande.

»Was giebt es, Dick? fragte Mrs. Weldon.

– Nichts von Bedeutung, antwortete der junge Leichtmatrose. Das Erdgeschoß unserer Wohnung steht unter Wasser. Wahrscheinlich ist ein Bach in der Nähe über seine Ufer getreten.

– Schön! meinte Herkules, das beweist, daß unser Fluß gefunden ist.

– Gewiß, bestätigte Dick Sand, und er wird uns nach der Küste tragen. Beruhigen Sie sich, Mistreß Weldon, das Wasser kann weder Sie erreichen, noch den kleinen Jack, Nan oder Herrn Benedict!«

Mrs. Weldon antwortete nicht und der seelenruhige Vetter schlief wie eine leibhaftige Termite.

Die Neger blickten auf die im Scheine der Laterne reflectirende Wasserfläche herab und warteten, was Dick Sand, der noch einmal die Wassertiefe maß, zu thun für räthlich finden werde.

Dick Sand sagte aber nichts, sondern bemühte sich nur, die Mundvorräthe und Waffen vor der Ueberfluthung zu sichern.

»Das Wasser ist durch den Eingang eingedrungen? begann Tom.

– Ja, erwiderte Dick Sand, und es macht nun jede Erneuerung der Luft unmöglich.

– Sollten wir dann nicht über dem Wasserniveau ein Loch durch die Wand brechen? fragte der alte Neger.

– Gewiß… Tom; allein… ja, wenn wir hier drinnen 1 1/2 Meter Wasser haben, so steht es draußen möglicher Weise zwei, zwei ein halb oder noch mehr Meter hoch!

– Sie glauben, Herr Dick?

– Ich denke, Tom, daß das Wasser, als es im Innern dieses Kegels emporstieg, die Luft in dessen oberen Theilen comprimiren mußte und daß diese allein es jetzt am Höhersteigen verhindert. Bieten wir der Luft aber durch eine andere Oeffnung Gelegenheit zum Abzug, so wird sich der Wasserstand nothwendiger Weise erhöhen, bis er demjenigen außerhalb der Wände gleichkommt, und wenn er bis über die neue Oeffnung stiege, würde er die Luft darüber noch einmal zusammenpressen. Wir befinden uns hier in der Lage von Arbeitern in einer Taucherglocke.

– Was ist also zu thun? forschte Tom weiter.

»Ich weiß Alles, mein armer Dick!« (S. 284.)

– Wohl zu überlegen, bevor wir handeln, belehrte ihn Dick Sand. Eine Unklugheit könnte uns das Leben kosten!«

Diese Bemerkung des jungen Leichtmatrosen war sehr richtig und die Vergleichung des Kegels mit einer Taucherglocke unter Wasser ganz zutreffend. In letzterem Apparate jedoch wird die Luft mittelst Pumpen fortwährend erneuert, so daß die Taucher ungehindert athmen können und keinen anderen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sind, als denen, welche der längere Aufenthalt in einer über ihre Normalspannung comprimirten Luft mit sich führt.

Die angezündete Laterne erhellte das Innere. (S. 287.)

Außer diesen Beschwerden kam hier aber die Verminderung des Raumes um ein volles Drittel in Frage, und ferner, daß die Luft sich nicht erneuern konnte, außer wenn man in der Wand eine Oeffnung machte, die sie mit der äußeren Atmosphäre in Verbindung setzte.

Konnte man eine solche Oeffnung nun herstellen, ohne die von Dick Sand befürchteten Gefahren heraufzubeschwören, und verschlimmerte sich dadurch nicht die dermalige Lage?

Gewiß war, daß das Wasser sich jetzt auf einem Stande erhielt, dessen Erhöhung nur zwei Ursachen herbeiführen konnten: entweder wenn man eine Oeffnung herstellte und die Höhe der Ueberschwemmung draußen den Wasserstand im Innern übertraf, oder wenn die Ueberschwemmung selbst noch weiter anwuchs. In beiden Fällen konnte in dem Kegel nur noch ein beschränkterer Raum übrig bleiben, in dem die sich nicht erneuernde Luft wiederum comprimirt wurde.

Konnte der Termitenbau dabei aber nicht total vom Boden abgehoben und durch die Ueberschwemmung umgestürzt werden? Nein, so wenig wie eine Biberhütte, denn er hing ebenso fest wie eine solche mit der Erde zusammen.

Der am meisten zu fürchtende Umstand lag also in der Fortdauer des Unwetters und der Zunahme der Ueberschwemmung. 91/2 Meter Wasser auf der Ebene mußten den Kegel um 51/2 Meter überdecken und die Luft im Innern unter dem Drucke einer ganzen Atmosphäre zusammenpressen.

Eine reifliche Ueberlegung bestärkte Dick Sand’s Befürchtung, daß diese Ueberschwemmung bis zu sehr bedeutendem Grade zunehmen könne, da sie von dem Wasser, das die direct über der Ebene stehenden Wolken herabstürzten, offenbar nicht allein herrührte. Weit annehmbarer erschien die Erklärung, daß ein durch das Unwetter angeschwollener Wasserlauf der Nachbarschaft seine Uferdämme durchbrochen habe und sich nun über die jenseitige Niederung ausbreite. Wer konnte aber dafür einstehen, daß der Ameisenbau nicht schon vollständig überfluthet und sogar die Möglichkeit abgeschnitten war, durch seine obere Spitze hinauszugelangen, die zu demoliren es ja weder langer, noch beschwerlicher Arbeit bedurft hätte?

In quälendster Unsicherheit fragte Dick Sand sich selbst, was wohl zu thun wäre. Sollte man die Beendigung dieser Situation ruhig abwarten oder, nach Kenntnißnahme der Umstände, gewaltsam herbeizuführen suchen?

Es war jetzt drei Uhr Morgens. Regungslos und schweigend lauschten Alle. Durch den geschlossenen Eingang drang jedes Geräusch von außerhalb nur sehr geschwächt herein, doch verrieth ein ausgedehntes anhaltendes, dumpfes Rollen, daß der Kampf der Elemente noch immer nicht beendet sei.

Da bemerkte der alte Tom, daß das Niveau des Wassers allmälig steige.

»Ja wohl, bestätigte Dick Sand, und wenn das der Fall ist, obschon die Luft nicht nach außen entweichen kann, so beweist es, daß die Wasserfluth wächst und jene weiter zusammendrückt.

– Bis jetzt beträgt es nur wenig, sagte Tom.

– Gewiß, antwortete Dick Sand, aber wo ist die Grenze?

– Herr Dick, fragte Bat, wünschen Sie, daß ich draußen Umschau halte? Ich werde untertauchen und durch die Eingangsthüre zu gelangen suchen…

– Besser, ich unternehme diesen Versuch gleich selbst, meinte Dick Sand.

– Nein, nein, Herr Dick, widersprach ihm der alte Tom. Lassen Sie meinen Sohn gewähren und vertrauen Sie seiner Gewandtheit. Im Falle er nicht zurückkehren könne, ist Ihre Gegenwart hier doppelt nöthig!«

Und leiser setzte er hinzu.

»Denken Sie an Mistreß Weldon und den kleinen Jack!

– Gut, es sei, antwortete Dick Sand. An’s Werk also, Bat. Ist unsere Wohnung überschwemmt, so versucht nicht erst die Rückkehr. Wir verlassen sie dann ebenfalls. Ragt der Kegel aber noch über das Wasser empor, so schlagt mit der Axt, die Ihr mitnehmen müßt, kräftig auf seine Spitze. Wir werden das hören, und es soll uns als Zeichen dienen, diese auch unsererseits zu zerstören. Verstanden?

– Gewiß, Herr Dick, versicherte Bat.

– Also vorwärts, Junge!« drängte der alte Tom, indem er seinem Sohne die Hand drückte.

Nachdem sich Bat durch einen tiefen Athemzug einen tüchtigen Luftvorrath gesichert, tauchte er in dem jetzt über 11/2 Meter tiefen Wasser unter. Er ging an eine schwierige Aufgabe, denn zuerst mußte er die untere Oeffnung aufsuchen, dann durch diese schlüpfen und nach der äußeren Oberfläche des Wassers emportauchen. Alles das mußte auch in sehr kurzer Zeit ausgeführt sein.

Es verging nahezu eine halbe Minute. Schon glaubte Dick Sand, daß es dem Neger gelungen sei, hinaus zu gelangen, als Bat wieder auftauchte.

»Nun? rief Dick Sand erstaunt.

– Der Eingang ist verschlämmt und verschüttet! antwortete Bat, nachdem er wieder zu Athem gekommen war.

– Verschlossen? rief Tom.

– Ja wohl! bestätigte Bat. Wahrscheinlich hat das Wasser den Thon erweicht… ich habe mit den Händen die Wand ringsum abgetastet… nirgends ist eine Oeffnung mehrt«

Dick Sand schüttelte den Kopf. Seine Gefährten und er sahen sich hermetisch in den Kegel eingeschlossen, den vielleicht gar das Wasser überfluthete.

»Wenn keine Oeffnung mehr vorhanden ist, meinte Herkules, so müssen wir eine neue machen.

– Wartet noch!« fiel der junge Leichtmatrose ein, indem er Herkules, der die Axt in den Händen schon zum Schlage ausholte, zurückhielt.

Dick Sand überlegte einige Augenblicke, dann fuhr er fort:

»Wir können wohl anders zu Werke gehen. Die Hauptfrage bleibt ja, zu wissen, ob das Wasser den Bau überdeckt oder nicht. Wenn wir am Gipfel des Kegels eine ganz kleine Oeffnung herstellten, müßten wir ja erfahren, wie es sich damit verhält. Im Fall der vollständigen Ueberfluthung des Termitenhügels würde ihn das Wasser total erfüllen und unser Verderben gewiß sein. Gehen wir also ganz vorsichtig zu Werke…

– Aber schnell!« setzte Tom hinzu.

In der That stieg das Wasser nach und nach weiter und stand im Innern des Kegels schon circa zwei Meter hoch. Außer Mrs. Weldon, ihrem Sohne, Vetter Benedict und Nan, welche ja die obersten Abtheilungen eingenommen hatten, standen jetzt Alle schon mit halbem Leibe im Wasser.

Es galt also jetzt ohne Säumen in der von Dick Sand vorgeschlagenen Weise vorzugehen.

Ein halb Meter hoch über dem inneren Wasserniveau, also 2 1/2 Meter über dem Boden, beschloß Dick Sand, eine Probeöffnung in die Thonwand brechen zu lassen.

Gelangte man durch diese in Communication mit der äußeren Atmosphäre, so mußte der Kegel ja das Wasser noch überragen. Traf das Loch dagegen eine Stelle unterhalb der äußeren Wasseroberfläche, so wurde die Luft im Innern noch weiter zurückgedrängt, und in diesem Fall mußte man vorbereitet sein, jenes schnellstens wieder zu verschließen, weil das Wasser sonst bis an die Oeffnung selbst aufsteigen würde. Hierauf wollte man denselben Versuch ein halb Meter höher wiederholen und in ähnlicher Weise fortfahren. Wenn man nun aber auch an der Spitze des Kegels nicht auf die freie Luft stieß, also 41/2 Meter Wasser über der Ebene standen und die ganze Termiten-Ansiedelung unter der Wildfluth verschwunden war, was dann? Welche Aussicht winkte noch den in dem Ameisenbau Gefangenen, dem entsetzlichsten Tode, dem der langsamen Erstickung zu entgehen?

Dick Sand übersah das zwar Alles, seine Kaltblütigkeit verließ ihn aber keinen Augenblick. Die Folgen des zu unternehmenden Versuches hatte er im Voraus genau ermittelt. Länger zu zaudern, war übrigens unmöglich. In diesem engen Raume drohte die Asphyxie mehr und mehr, da jener sich zunehmend verkleinerte und die Luft sich mit Kohlensäure sättigte.

Das beste Werkzeug, welches Dick Sand zum Bohren eines Loches in der Hand besaß, bestand in einem Ladestock mit Kugelzieher am Ende, wie er zur Wiederentladung eines Gewehres benutzt wird. Durch schnelles Umdrehen desselben griff diese Schraube gleich einem Hohlbohrer in die Thonmasse ein und das Loch gewann allmälig an Tiefe. Es erhielt dabei freilich keinen größeren Durchmesser als den des Ladestockes, doch das reichte ja aus. Die Luft mußte dadurch ja hinlänglich circuliren können.

Herkules hielt die Laterne und leuchtete Dick Sand. Man besaß noch einige Kerzen und brauchte also nicht zu fürchten, daß es an Licht fehlen werde.

Eine Minute nach Beginn der Operation drang der Ladestock frei durch die Wand. Sofort entstand ein dumpfgurgelndes Geräusch, ähnlich dem von Luftblasen, welche durch eine Wassersäule aufsteigen. Die Luft drängte sich wirklich nach außen und sofort stieg das Wasser im Kegel und stand erst wieder in gleicher Höhe mit der Oeffnung, ein Beweis, daß man diese zu tief, nämlich unterhalb des äußeren Wasserniveaus gebohrt hatte.

»Noch einmal!« sagte der junge Leichtmatrose sehr kühl, nachdem er das Loch mit einem Thonpfropfen verschlossen hatte.

Der Wasserstand im Kegel war wieder stationär geworden, der freie Innenraum aber wieder um 21 Centimeter in der Höhe vermindert. Das Athmen ward beschwerlicher, denn es trat langsam ein Mangel an Sauerstoff ein. Man bemerkte das auch an der Flamme der Laterne, welche einen röthlichen Schimmer annahm und an Leuchtkraft verlor.

Dreizehntel Meter oberhalb des ersten Loches begann Dick Sand auf die nämliche Weise ein zweites zu bohren. Mißglückte der Versuch auch hier, so drohte zwar das Wasser im Kegel noch höher zu steigen… doch diese Gefahr mußte man eben in den Kauf nehmen.

Während Dick Sand mit seinem Bohrer arbeitete, hörte man plötzlich Vetter Benedict ausrufen:

»Ah, zum Teufel!… da… da haben wir’s ja!«

Herkules erhob die Laterne und ließ ihr Licht auf Vetter Benedict fallen, dessen Angesicht die tiefste Befriedigung ausdrückte.

»Ja, da haben wir’s, warum diese intelligenten Termiten ihren Bau aufgegeben haben. Sie fühlten die Ueberschwemmung schon voraus! O, der Instinct, meine Freunde, der Instinct! Sind pfiffiger als wir, diese Termiten, weit, weit pfiffiger!«

Das war so die ganze Moral, welche Vetter Benedict aus der thatsächlich verzweifelten Situation zog.

Eben zog Dick Sand den durch die Wand gedrungenen Ladestock zurück. Es entstand ein Pfeifen und wiederum stieg das Wasser im Innern des Kegels… das Loch hatte die freie Luft noch immer nicht getroffen!

Die Lage ward allgemach schrecklich. Mrs. Weldon, welche jetzt das Wasser fast erreichte, hielt den kleinen Jack in ihren Armen hoch. Alle erstickten fast in dem engen Raume. Ihre Ohren summten. Die Laterne verbreitete nur noch ein unzulängliches Licht.

»Steht denn der Kegel wirklich gänzlich unter Wasser?« murmelte Dick Sand.

Er mußte das erfahren und deshalb noch ein drittes Loch an der Kegelspitze selbst bohren.

Mißlang auch dieser letzte Versuch, so stand ihnen freilich der unmittelbare Tod durch Erstickung bevor. Was von Luft noch übrig war über der Wasserfläche, mußte dann entweichen und das Wasser den ganzen Kegel erfüllen.

»Mistreß Weldon, sagte Dick Sand, unsere Lage ist Ihnen bekannt. Zögern wir, so geht uns die athembare Luft aus. Schlägt auch der letzte Versuch fehl, so erfüllt das Wasser den ganzen Raum. Die einzige Aussicht auf Rettung liegt noch darin, daß der Gipfel des Kegels das Niveau der Wildfluth überragt. Es bleibt uns nur dieser letzte Versuch übrig. Stimmen Sie ihm zu?

– Thu’ es, Dick!« erwiderte Mrs. Weldon.

In diesem Augenblicke erlosch die Lampe in dem vorhandenen, zur Unterhaltung der Verbrennung untauglichen Gasgemische. Mrs. Weldon und ihre Gefährten saßen in absoluter Dunkelheit.

Dick Sand stieg auf die Schultern von Herkules, der sich selbst an eines der Wandfächer stemmte, wobei nur sein Kopf allein noch über Wasser blieb. Mrs. Weldon, Jack und Vetter Benedict hatten sich in die allerhöchste Zellenabtheilung zurückgezogen.

Dick Sand nahm die Wand in Angriff und rasch drang sein Ladestock durch den Thon. An dieser Stelle war die Wand selbst sowohl dicker als auch härter. Dick Sand beeilte sich, nicht ohne ein erdrückendes Angstgefühl, denn durch die enge Oeffnung, welche er bohrte, sollte mit der Luft entweder das Leben, oder mit dem Wasser der Tod seinen Einzug halten.

Plötzlich ließ sich ein scharfes trockenes Pfeifen vernehmen. Die comprimirte Luft drang hinaus… aber ein Strahl des Tages blitzte durch die Oeffnung. Das Wasser stieg nur noch um 21 Centimeter und stand dann still, ohne daß Dick Sand nöthig hatte, die Oeffnung wieder zu verschließen. Der Gipfel des Kegels ragte über die Fluth empor… Mrs. Weldon und ihre Gefährten waren gerettet!

Sofort kamen, nach einem wild aufjauchzenden Hurrah, in dem Herkules’ sonore Stimme vorherrschte, die Jagdmesser in Anwendung.

Alle gaben auf eines der Boote Feuer. (S. 298.)

Die eiligst angegriffene Kegelhaube zerbröckelte unter ihnen. Die Oeffnung erweiterte sich, die Luft drang in vollem Strome ein und mit ihr die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Nach Abdeckung des Kegels mußte es leicht sein, sich auf seine Wand emporzuschwingen, und dort wollte man sich nach einem Mittel umsehen, eine benachbarte, der Ueberschwemmung gänzlich entzogene Anhöhe zu erreichen.

Der Riese gebrauchte seine verkehrt gefaßte Flinte als Keule. (S. 298.)

Dick Sand bestieg zuerst den Gipfel des Kegels…

Ein Schrei entfuhr ihm.

Er vernahm das den Afrika-Reisenden nur zu wohlbekannte Geräusch durch die Luft schwirrender Pfeile.

Dick Sand vermochte in der Schnelligkeit auf hundert Schritte von dem Termitenhügel ein Lager, und zehn Schritt von demselben auf der über schwemmten Ebene einige lange, mit Eingebornen besetzte Barken wahrzunehmen.

Von einer dieser Barken aus war jene Wolke von Pfeilen weggeflattert, als nur der Kopf des jungen Leichtmatrosen außerhalb der Oeffnung erschien.

Mit einem Worte setzte Dick Sand seine Gefährten von Allem in Kenntniß. Er ergriff sein Gewehr, erklomm von Herkules, Acteon und Bat gefolgt, die Spitze auf’s Neue, und alle Bier gaben auf eines der Boote Feuer.

Mehrere Eingeborne stürzten zusammen und ein wüthendes Geheul nebst Flintenschüssen antwortete dem Knall der Feuerwaffen.

Was vermochte Dick Sand und seine Begleiter aber gegen ein ganzes Hundert Afrikaner auszurichten, die sie von allen Seiten umzingelten?

Der Termitenhügel ward gestürmt. Mrs. Weldon, ihr Kind, Vetter Benedict, Alle rücksichtslos herausgezerrt und, ohne Zeit zu einem Worte zu gewinnen oder sich zum letzten Male die Hand zu drücken, offenbar auf Grund vorher ergangener Vorschrift von einander getrennt.

Die eine Barke nahm Mrs. Weldon, den kleinen Jack nebst Vetter Benedict auf, und Dick Sand sah sie inmitten des Lagers verschwinden.

Er selbst wurde nebst Nan, dem alten Tom, Herkules, Bat, Acteon und Austin in eine zweite Pirogue geworfen, welche nach einem anderen, benachbarten Hügel steuerte.

Zwanzig Eingeborne besetzten diese Barke, der fünf andere nachfolgten. An Widerstand war zwar nicht zu denken, und doch versuchten ihn Dick Sand und seine Gefährten. Einige Krieger des Zuges wurden von ihnen verwundet, und gewiß hätten sie diesen Widerstand mit dem Leben bezahlt, wenn nicht ein ausdrücklicher Befehl ergangen gewesen wäre, sie zu schonen.

Nur wenige Minuten währte die Ueberfahrt. In dem Augenblick aber, da das Boot an’s Land stieß, sprang Herkules mit gewaltigem Satze heraus Zwei Eingeborne stürzten auf ihn zu, der Riese jedoch gebrauchte seine verkehrt gefaßte Flinte als Keule und mit zerschmettertem Schädel taumelten die Eingebornen zur Erde.

Einen Moment später verschwand Herkules unter einem Hagel von Kugeln in dem nahen Dickicht, gerade als Dick Sand und seine Begleiter, welche man an’s Land gesetzt hatte, ganz wie Sklaven in Fesseln gelegt wurden.

Siebentes Capitel.Ein Lager am Ufer der Coanza.

Nach der Ueberschwemmung, welche einen See gemacht hatte aus dieser Ebene, aus der sich die Termiten-Ansiedelung erhob, bot das Land einen völlig veränderten Anblick. Etwa zwanzig Ameisenbauten tauchten daraus mit ihrer Spitze empor und bildeten die einzigen hervorragenden Punkte dieser breiten Mulde.

Die Coanza war es, welche über Nacht in Folge der Zuströmung ihrer, durch den Gewitterregen geschwellten Nebenflüsse übergetreten war.

Diese Coanza, einer der Ströme von Angola, mündet in den Atlantischen Ocean etwa hundert Meilen von dem Punkte, wo der »Pilgrim« gescheitert war. Es ist das derselbe Fluß, den Lieutenant Cameron einige Jahre später überschreiten mußte, bevor er Benguela erreichte.

Die Coanza ist bestimmt, einst die Ader des Binnenverkehrs dieses Theiles der portugiesischen Kolonie zu bilden. Schon befahren Dampfer ihren Unterlauf, und es werden keine zehn Jahre vergehen, bis sie auch den oberen Lauf dem Verkehre dienstbar machen. Dick Sand hatte also ganz recht daran gethan, nach Norden zu einen schiffbaren Fluß zu suchen. Der kleine Bach, dem er nachgegangen war, floß auch selbst in die Coanza. Ohne jenen plötzlichen Ueberfall, vor dem ihn ja nichts zu warnen im Stande gewesen war, hätte er jenen eine Meile von hier gefunden; seine Gefährten und er hätten sich auf einem leicht herzustellenden Flosse eingeschifft und die beste Aussicht gehabt, auf der Coanza hinab bis zu den portugiesischen Flecken zu schwimmen, wo die Steamer Halt machen. Dort aber war ihre Rettung gesichert.

Es sollte anders kommen.

Das von Dick Sand bemerkte Lager war auf einer dem Termitenhügel benachbarten Höhe errichtet, in welchen sein Unstern ihn wie in eine Falle verlockt hatte. Auf dem Gipfel jener Anhöhe strebte eine gewaltige Sykomore empor, welche unter ihrem Blätterdache wohl fünfhundert Menschen Schutz gewährt hätte. Wer diese Baumriesen Central-Afrikas nicht selbst gesehen hat, vermag sich kaum eine richtige Vorstellung von denselben zu machen. Ihre Aeste bilden einen ganzen Wald, in dem man sich verirren könnte. Weiterhin vervollständigten sehr große Bananen, von der Gattung, deren Samenkörner sich nicht zu Früchten ausbilden, den grünen Rahmen der ausgedehnten Umgebung.

Unter dem Schutze jener Sykomore hatte, wie verborgen in geheimnißvollem Obdach, eine ganze Karawane – deren Eintreffen Harris schon Negoro meldete – – Halt gemacht.

Der große Zug von Eingebornen, welche die Agenten des Sklavenhändlers Alvez aus ihrer Heimat entführt hatten, bewegte sich nach dem Markte in Kazonnde hin. Von dort aus sollten die Sklaven, je nach Bedarf, entweder in die Baracken an der Westküste übergeführt oder nach N’yangwe, in die Gegend der großen Seen, gebracht werden, um sie endlich entweder nach Ober-Egypten oder nach den Factoreien von Zanzibar zu vertheilen.

Gleich nach ihrer Ankunft im Lager erfuhren Dick Sand und seine Gefährten ganz die Behandlung wie Sklaven. Der alte Tom aber, ebenso wie sein Sohn, Austin, Acteon und die arme Nan, obgleich Neger von Ursprung, doch keine Zugehörigen der afrikanischen Race, mußten gar die gewöhnliche Behandlung kriegsgefangener Eingeborner erdulden. Nachdem man sie trotz lebhaften Widerstandes entwaffnet, wurden sie je Zwei und Zwei am Halse mittelst einer 2 bis 21/2 Meter langen, an beiden Enden gabelförmigen und daselbst mit einem Quereisen geschlossenen Stange gefesselt. So waren sie genöthigt, in gerader Linie, Einer hinter dem Anderen, zu marschiren, ohne weder nach rechts, noch nach links abweichen zu können. Aus übertriebener Vorsicht verband sie auch noch eine schwere Kette am Gürtel. Die Arme behielten sie dabei frei, um noch Lasten zu tragen, die Füße, um zu marschiren, ohne daß ihnen eine Flucht möglich gewesen wäre. Auf diese Weise sollten sie nun, unter den Peitschenhieben eines rohen Havlidars, Hunderte von Meilen zurücklegen! Erschlafft von der Anspannung, welche den ersten Minuten ihres Kampfes gegen die Neger folgte, versuchten sie gar keine Bewegung. O, warum hatten sie Herkules auf seiner Flucht nicht folgen können! Und doch, was war für den Flüchtling wohl zu hoffen?

Was konnte trotz seiner außerordentlich kräftigen Constitution aus ihm werden in diesem ungastlichen Lande, wo der Hunger, die Verlassenheit, die wilden Thiere und die Eingebornen ihm gleichmäßig feindlich waren? Würde er sich nicht bald ebenfalls das Loos seiner Gefährten wünschen? Und doch hatten diese kein Erbarmen zu erwarten von den arabischen oder portugiesischen Führern der Karawane, deren Sprache sie nicht verstanden und welche ihre Befehle nur durch Blicke und drohende Bewegungen kundgaben.

Dick Sand selbst war leicht mit einem anderen Sklaven zusammengekoppelt worden. Als einen Weißen hatte man nicht gewagt, ihn der gebräuchlichen Be-oder vielmehr Mißhandlung zu unterwerfen. Man begnügte sich, ihn zu entwaffnen, ließ ihm jedoch Hände und Füße frei, während ein Havildar ihn besonders überwachte. Ringsum durchspähte er das Lager, in der Erwartung, Harris und Negoro erscheinen zu sehen….. Vergeblich! Nichtsdestoweniger zweifelte er keinen Augenblick daran, daß der Angriff auf den Termitenhügel von diesen zwei Schurken in’s Werk gesetzt worden sei.

Auch der Gedanke kam ihm, daß Mrs. Weldon, der kleine Jack und Vetter Benedict nur auf Befehl des Amerikaners oder des Portugiesen getrennt für sich weggeschleppt wurden; da er Niemanden von diesen sah, so schloß er daraus, daß jedenfalls die beiden Spießgesellen ihre Opfer selbst geleiten möchten. Wohin aber führte man sie? Was beabsichtigte man mit ihnen? das war seine peinlichste Sorge. Dick Sand vergaß gänzlich seiner selbst, nur um an Mrs. Weldon und die Ihrigen zu denken.

Die unter der ungeheuren Sykomore gelagerte Karawane zählte nicht weniger als 800 Köpfe, nämlich 600 Sklaven und etwa 200 Krieger, Lastträger und anderes verdächtiges Gesindel, Wächter, Havlidars und Agenten oder Chefs.

Diese Chefs waren arabischen oder portugiesischen Ursprungs. Nur schwer vermag man sich eine Vorstellung von den Grausamkeiten zu machen, mit welcher die entmenschten Wesen ihre Gefangenen quälten. Sie schlagen diese unaufhörlich, und Denjenigen, welche erschöpft zusammenbrechen und nicht mehr verkäuflich erscheinen, wird durch einen Flintenschuß oder einen Messerstich einfach der Garaus gemacht. Man sucht auf diese Weise jede Auflehnung im Voraus durch den Schrecken zu ersticken; als Resultat dieses Systems ergiebt sich aber, daß dem Händler beim Eintreffen einer solchen Karawane von hundert Sklaven fünfzig fehlen, wobei nur von wenigen derselben anzunehmen ist, daß es ihnen gelang, unterwegs zu entwischen, während die Gebeine der meisten längs der Wege vom Innern nach der Küste hin im Sonnenbrande bleichen.

Selbstverständlich recrutiren sich die Agenten europäischer Herkunft, meist Portugiesen, aus Taugenichtsen, welche von der eigenen Heimat verstoßen wurden, aus Verurtheilten, entsprungenen Sträflingen, vormaligen Sklavenschiff-Führern, die mit genauer Noth dem Stricke entgingen, mit einem Wort, aus dem Auswurfe der Menschheit. Zu dieser Sorte gehörten auch Harris und Negoro, jetzt Beide im Dienste eines der bedeutendsten Sklavenhändler Central-Afrikas, des Jose-Antonio Alvez, der unter allen Händlern wohl bekannt war und über den Lieutenant Cameron sehr merkwürdige Aufschlüsse gegeben hat.

Die Begleitmannschaften der Gefangenen sind gewöhnlich eingeborne, im Solde der Händler stehende Soldaten. Die Händler besitzen gleichwohl nicht das ausschließliche Monopol auf jene Razzias, die ihnen die Sklaven liefern. Auch die Negerkönige führen zu demselben Zwecke furchtbare Kriege mit einander; die besiegten Erwachsenen, die Frauen und Kinder, Alle verfallen dem Sklavenjoche und werden von den Siegern an die Sklavenhändler für einige Yards Calicot, für Pulver, Schießwaffen, rosenrothe oder brennendrothe Perlen und, wie Livingstone erzählt, in Zeiten von Hungersnoth für einige Körnchen Mais verkauft.

Die Soldaten, welche des alten Alvez Karawanen escortirten, konnten eine richtige Vorstellung von dem geben, was man sich unter afrikanischen Kriegern zu denken hat. Sie bildeten einen Haufen schwarzer, kaum bekleideter Banditen, welche lange, am Laufe von vielen Kupferringen fest umschlossene Feuerschloß-Gewehre schwangen. Mit einer solchen Escorte, zu denen noch die Marodeurs kommen, welche ebenso wenig werth sind, haben die Agenten häufig ihre liebe Noth. Man bekrittelt ihre Befehle, schreibt Ort und Dauer des Anhaltens vor, droht, sie im Stich zu lassen u.s.w., und nicht selten müssen jene sich den Anforderungen dieser undisciplinirten Soldateska fügen.

Obwohl die Sklaven, Männer und Frauen, gewöhnlich selbst Bündel und Lasten schleppen müssen, während die Karawane auf der Reise ist, begleiten letztere doch auch noch eine große Anzahl »Träger«. Man nennt sie specieller »Pagazis«, und ihnen liegt es ob, das werthvollere Gepäck, vorzüglich das Elfenbein, zu transportiren. Diese Elefantenzähne erreichen zuweilen eine solche Größe, daß sie, bei einem Gewichte von 169 Pfund, von zwei Pagazis nach den Factoreien getragen werden, von wo aus diese kostbare Waare nach den Märkten von Chartum, Zanzibar und Natal übergeführt wird. Bei der Ankunft erhalten die Pagazis ihren bedungenen Lohn, der in einigen zwanzig Yards Baumwollenstoff oder von dem Gewebe, das den Namen »Merikani« führt, ein wenig Pulver, einer handvoll Cauris,1 einigen Perlen oder auch aus solchen Sklaven besteht, welche schwerer verkäuflich erscheinen, wenn der Händler eben kein anderes Geld hat.

Unter den 500 Sklaven, welche die Karawane zählte, bemerkte man nur wenig reifere Männer. Es kam das davon her, daß nach Beendigung der Razzia und Niederbrennung der betreffenden Ansiedelung alle Eingebornen über vierzig Jahre erbarmungslos niedergemetzelt oder an den Bäumen der Umgebung aufgeknüpft worden waren. Nur die männliche und weibliche Jugend wird nach den Märkten geliefert. Nach solchen Menschenhetzen ist oft kaum noch der zehnte Theil der Besiegten am Leben. Auf diese Weise erklärt sich jene erschreckende Entvölkerung, welche die ungeheuren Gebiete Central-Afrikas in Wüsten verwandelt.

Die Kinder, wie die Erwachsenen, waren hier kaum mit einem Fetzen jenes Rindenstoffes bekleidet, den gewisse Baumarten liefern und der im Lande »Mbuzu« heißt. Der Gesammtzustand dieser Heerde menschlicher Wesen, die Weiber bedeckt mit Wunden von den Peitschen der Havlidars; die Kinder – welche die Mütter außer ihren anderen Lasten noch zu tragen suchten – elend, abgemagert und blutend an den Füßen; die jungen Männer eng geschlossen mit dem erwähnten Gabelholze, das noch schmerzlicher zu tragen ist als die Kette des Bagno, war ein über alle Beschreibung jämmerlicher. Der Anblick dieser Unglücklichen, halbtodten Geschöpfe mit tonloser Stimme, dieser »Ebenholz-Skelete«, wie Livingstone sagte, hätte wohl das Herz wilder Thiere zu rühren vermocht; nicht aber jener verhärteten Araber oder Portugiesen, welch’ letztere, wenn man Lieutenant Cameron glauben darf, noch grausamer sein sollen.2

Es versteht sich von selbst, daß die Gefangenen während des Marsches und während des Ausruhens gleichmäßig streng bewacht wurden. Dick Sand überzeugte sich bald, daß ein Fluchtversuch nicht einmal zu wagen wäre. Wie aber sollte er dann Mrs. Weldon wiederfinden? Daß sie nebst ihrem Kinde von Negoro entführt seien, schien nur zu gewiß. Der Portugiese hatte es offenbar veranlaßt, sie von ihren Gefährten zu trennen; aus Gründen freilich, welche der junge Leichtmatrose bisher noch nicht errieth; immerhin stand für ihn das außer Zweifel, daß Negoro seine Hand bei Allem im Spiele habe, und sein Herz brach bei dem Gedanken an die Gefahren aller Art, welche Mrs. Weldon bedrohten.

»O, sprach er leise für sich hin, wenn ich bedenke, daß ich diese beiden Schurken vor meinem Flintenlauf hatte und ihnen nicht das Lebenslicht ausblies!…«

Dieser Gedanke war es, der in Dick Sand’s Kopfe immer und immer wieder aufstieg. Wie viel Unglück hätte der Tod, der wohlverdiente Tod Harris und Negoro’s verhütet! Wie viel Elend Denen erspart, welche diese Schacherer mit Menschenfleisch jetzt als Sklaven mißhandelten!

Das Furchtbare der Lage Mrs. Weldon’s und des kleinen Jack trat deutlich vor seine Augen. Weder die Mutter noch das Kind durften auf Vetter Benedict rechnen. Der arme Mann konnte sich vielleicht kaum selber helfen. Jedenfalls schleppte man alle Drei nach irgend einem entlegenen Districte von Angola. Wer trug dann aber das noch kränkelnde Kind?

»Seine Mutter, gewiß, seine Mutter! wiederholte sich Dick Sand. Für ihr Söhnchen wird sie die nöthigen Kräfte wiedergefunden, dasselbe gethan haben, wie jene unglücklichen Sklaven… und sie wird endlich umsinken wie jene. Ach, daß Gott mich doch zusammenführen möchte mit ihren Henkern, wie wollte ich…«

Das Zeichen zum Aufbruch ward gegeben. (S. 309.)

Er war ja Gefangener! Er zählte nur als Kopf in der Heerde, welche Havildars in das Innere von Afrika trieben. Er wußte ja nicht einmal, ob Negoro und Harris persönlich jene Zugsabtheilung führten, zu welcher die Opfer ihrer Schandthaten gehörten. Dingo fehlte ja auch, um die Spur des Portugiesen aufzufinden und seine Annäherung zu melden. Herkules allein konnte der unglücklichen Mrs. Weldon zu Hilfe kommen. War auf solch’ ein Wunder aber zu hoffen?

Immerhin klammerte sich Dick Sand an diesen Gedanken, da er den kräftigen Neger frei wußte. An seinem guten Willen zu zweifeln, kam ihm gar nicht in den Sinn. Gewiß würde Herkules für Mrs. Weldon Alles thun, was nur in der Macht eines Einzelnen lag. Er versuchte jedenfalls, ihre Spuren zu entdecken und sich mit ihr in Verbindung zu setzen, oder er bestrebte sich, wenn ihm jenes nicht gelang, mit Dick Sand in Einvernehmen zu kommen, ihn vielleicht zu entführen und durch einen Gewaltstreich zu befreien. Konnte er sich nicht auf einem nächtlichen Halteplatze unbemerkt unter die Neger, mit denen er ja die gleiche Hautfarbe hatte, mengen, bis zu ihm heranschleichen, die Wachsamkeit der Soldaten überlisten, seine Fesseln sprengen und ihn nach dem Walde bringen; und was würden sie Beide im Vollgenuß der Freiheit für Mrs. Weldon Alles thun? Ein Wasserlauf würde ihnen gewiß die Möglichkeit bieten, bis zur Küste hinab zu gelangen, und Dick Sand wollte dann den früheren, durch den Ueberfall seitens der Eingebornen so traurig unterbrochenen Plan mit besserer Aussicht auf Gelingen und größerer Kenntniß seiner Schwierigkeiten jedenfalls wieder aufnehmen.

So schwankte der junge Leichtmatrose immer zwischen Furcht und Hoffnung. Dank seiner energischen Natur, widerstand er dabei jedoch einer vollständigen Erschlaffung und hielt sich bereit, die erste sich darbietende günstige Gelegenheit zu benutzen.

Zunächst kam es vorzüglich darauf an, zu erfahren, nach welchem Markte die Agenten ihren Sklaven-Transport leiteten. War dieser Platz eine der Factoreien von Angola, so handelte es sich nur um einen Marsch von wenigen Tagen, oder sollte der Zug viele Hunderte von Meilen durch das Innere von Afrika gehen? Der Haupt-Sklavenmarkt nämlich ist der von N’yangwe, in Manyema, unter dem Meridiane, der Afrika nahezu in zwei Hälften theilt, da, wo sich das Gebiet der großen Seen weithin ausdehnt, das Livingstone dereinst bereiste. Von dem Lager der Coanza war es aber sehr weit bis nach jener Ansiedelung und es bedurfte wohl mehrerer Monate, um dieselbe zu erreichen.

Diese Frage verursachte Dick Sand die meiste Sorge, denn wenn sie einmal in N’yangwe waren, wie schwer, selbst wenn Mrs. Weldon, Herkules und den anderen Negern die Flucht dort glückte, wenn nicht gar unmöglich, mußte es ihnen werden, ringsum von Gefahren bedroht die Küste wieder zu erreichen.

Dick Sand überzeugte sich indeß bald, daß der Zug seinen Bestimmungsort in kurzer Zeit erreichen werde. Verstand er auch die Worte der Karawanen-welche bald arabisch, bald das afrikanische Idiom sprachen, gar nicht, so fiel ihm doch die häufig wiederholte Erwähnung des Haupt-Sklavenmarktes dieser Gegend besonders auf. Es war das der Name Kazonnde, und er wußte recht gut, daß dort ein lebhafter Negerhandel getrieben wurde. Das führte ihn natürlich zu dem Schlusse, daß sich dort das Schicksal der Gefangenen entscheiden müßte, und diese entweder für Rechnung eines Stammeshäuptlings des Districtes oder für die eines reichen Sklavenhändlers zum Verkauf gestellt würden. Wir wissen, daß er sich hierin nicht täuschte.

Dick Sand kannte bei seinem Vertrautsein mit den Ergebnissen der neuesten Geographie schon Alles, was man von Kazonnde wußte. Die Entfernung zwischen San Pablo de Loanda und diesem Orte überstieg nicht 400 Meilen, und folglich lagen höchstens 250 Meilen zwischen demselben und dem Lager an der Coanza. Dick Sand stellte seine Wahrscheinlichkeitsrechnung auf mit Zugrundelegung der von der kleinen Gesellschaft unter Harris’ Führung zurückgelegten Wegstrecke. Unter gewöhnlichen Verhältnissen konnte der Marsch dorthin also nur zehn bis zwölf Tage in Anspruch nehmen. Verdoppelte er diese Zeit im Hinblick auf eine schon durch weite Wege erschöpfte Karawane, so schätzte er die Dauer der Reise von der Coanza bis Kazonnde auf höchstens drei Wochen. Gern hätte Dick Sand von dem, was er wußte, auch Tom und den Uebrigen Mittheilung gemacht. Es mußte ja eine Art Trost für sie darin liegen, zu wissen, daß sie nicht bis in das Herz Afrikas, in jene verderbenschwangeren Gegenden geschleppt würden, aus denen eine Rückkehr unmöglich erscheint. Einige im Vorübergehen ihnen zugeflüsterte Worte hätten ja hingereicht, sie davon in Kenntniß zu setzen. Sollte es ihm gelingen, diese kurze Mittheilung zu machen?

Tom und Bat – der Zufall hatte Vater und Sohn vereinigt – sowie Acteon und Austin befanden sich, zu Zwei und Zwei aneinander gefesselt, an der rechten Seite des Lagers, wo ein Havildar und ein Dutzend Soldaten sie bewachten.

Da sich Dick Sand freier zu bewegen vermochte, beschloß er, die Entfernung, welche ihn von der etwa fünfzig Schritt entfernten Gruppe mit seinen Gefährten trennte, allmälig und scheinbar ohne Absicht zu verringern.

Wahrscheinlich errieth der alte Tom Dick Sand’s Gedanken. Ein leise gesprochenes Wort genügte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie verstummten, lauschten aber gespannt mit Augen und Ohren.

Ohne seine Absicht zu verrathen, hatte Dick Sand weiter fünfzig Schritt zurückgelegt. Er befand sich den Anderen jetzt so nahe, daß er sich Tom durch lautes Sprechen wohl hätte verständlich machen, ihm den Namen Kazonnde zurufen und die wahrscheinliche Dauer des Marsches mittheilen können; doch erschien es ihm rathsamer, womöglich noch weitere Aufklärung zu erlangen und sich nach deren Ausfall mit ihnen über die während der Reise zu beobachtende Haltung zu verständigen. Er näherte sich jenen nach und nach weiter. Schon klopfte das Herz ihm lauter, er befand sich nur noch wenige Schritte von dem erwünschten Ziele, als der Havildar, dem über seine Absichten offenbar ein Licht aufgegangen war, auf ihn zustürzte. Der Ruf des Wüthenden zog schnell zehn Soldaten herbei, welche Dick Sand mit roher Faust zurückführten, während Tom und die Seinigen nach der anderen Seite des Lagers getrieben wurden.

Dick Sand hatte sich erbittert auf den Havildar geworfen und es gelang ihm, dessen Gewehr, das er ihm fast entrissen hätte, wenigstens untauglich zu machen, als ihn sechs oder sieben Soldaten mit einem Male überfielen und ihn nöthigten, seine Beute wieder aufzugeben. In ihrer Wuth hätten ihn diese sicherlich umgebracht, wenn nicht einer der Karawanen-Führer, ein hochgewachsener, wildblickender Araber, dazwischen getreten wäre. Dieser Araber war niemand Anderer als der von Harris erwähnte Chef Ibn Hamis selbst. Er sprach nur wenige, Dick Sand völlig unverständliche Worte, welche die Soldaten veranlaßten, ihren Gefangenen frei zu geben und sich zu entfernen.

Dieser Zwischenfall lieferte einerseits den Beweis, daß ein bestimmter Befehl vorliegen müsse, Dick Sand jede Verbindung mit den Seinigen abzuschneiden, und andererseits den, daß sein Leben unbedingt geschont werden solle. Von wem Anderen konnten diese Anordnungen aber herrühren, wenn nicht von Harris oder Negoro?

Eben jetzt – am 19. April, neun Uhr des Morgens – erklangen die dumpfen Töne der »Kudu«-Hörner3 und schlugen die Tambours einen Wirbel. Die Rast ging zu Ende.

Chefs, Soldaten, Träger, Sklaven, Alle waren sofort auf den Füßen. Mit Gepäck beladen, bildeten sich einzelne Gruppen Gefangener je unter einem Havildar, der eine Art grellfarbiger Fahne entrollte.

Das Zeichen zum Aufbruch ward gegeben.

Bald erklang ein monotoner Gesang, doch es waren die Besiegten, nicht die Sieger, welche ihn anstimmten.

Der Inhalt dieser Gesänge lief auf eine Drohung hinaus, in welcher der naive Sklaven-Glaube sich widerspiegelte.

»Ihr habt mich zur Küste hinabgeschleppt – das war etwa der Sinn des Textes – doch wenn ich einst todt bin, werd’ ich kein Joch mehr tragen und wiederkommen, Euch zu tödten!«

Fußnoten

1 Eine dortzulande sehr häufige Art kleiner, als Münze dienender Muscheln.

2 Cameron berichtet wie folgt: »Zur Erlangung jener fünfzig Frauen, deren Eigenthümer Alvez sich nannte, wurden nicht weniger als zehn Dörfer zerstört, zehn Dörfer mit je 100 bis 200 Seelen, in Summa 1500 Eingeborne umgebracht; Einzelnen mag es wohl gelungen sein, zu flüchten; die Mehrzahl aber – ja, fast Alle – waren entweder in den Flammen umgekommen, bei Vertheidigung ihrer Angehörigen getödtet worden, oder in den Dschungeln langsam durch Hunger gestorben, wenn nicht wilde Thiere ihren Leiden ein schnelles Ziel setzten…. Diese Gräuelthaten, im Innern von Afrika begangen von Menschen, welche sich damit brüsten, Christen zu sein und sich noch immer Portugiesen nennen, dürften den Bewohnern civilisirter Länder geradezu unglaublich erscheinen. Unmöglich kann die Regierung von Lissabon Kenntniß haben von den Grausamkeiten jener Leute, welche ihre Flagge führen und sich rühmen, ihre Staatsangehörigen zu sein,«

(Tour de mondes.)

NB. In Portugal hat man allerdings gegen obige Behauptungen Cameron’s protestirt.

3 »Kudu«, der Name eines in Afrika heimischen Wiederkäuers.

Achtes Capitel.Einige Anmerkungen Dick Sand’s.

Obwohl das Gewitter des vergangenen Tages ausgetobt hatte, blieb die Witterung doch stets sehr trübe. Es war jetzt nämlich die Zeit der »Masika«, d.i. die zweite Periode der Regenzeit unter dieser Zone des afrikanischen Himmels. Noch eine, zwei oder drei Wochen drohte Regen mindestens während der Nächte, ein Umstand, der die Mühsale der Karawane nur zu steigern geeignet schien.

Sie brach an diesem Tage bei bedecktem Himmel auf und wandte sich von dem Ufer der Coanza ziemlich genau nach Osten.

Etwa fünfzig Soldaten marschirten an der Spitze, je hundert an den beiden Seiten des Zuges, die übrigen als Nachtrab hinter diesem. Eine Flucht wäre für die Gefangenen, selbst ohne ihre Fesseln, gewiß sehr schwierig gewesen. Männer, Frauen und Kinder wanderten bunt durcheinander und die Havlidars trieben sie mit Peitschenhieben zur Eile an. Unter jenen schleppten sich unglückliche Mütter dahin, die, während sie ein kleines Kind nährten, mit dem freibleibenden Arme noch ein zweites trugen. Andere zogen die kleinen nackten und barfüßigen Wesen über das spitze Gras des Bodens hinter sich her.

Der Chef der ganzen Karawane, jener wilde Ibn Hamis, der bei Dick Sand’s Streite mit seinem Havildar intervenirte, überwachte die ganze Menschenheerde und war bald an der Spitze, bald am Ende des langen Zuges. Kümmerten sich seine Agenten, wie er selbst, auch blutwenig um die Leiden ihrer Gefangenen, so mußten sie doch auf die Soldaten, welche eine Lohnzutage verlangten, oder auf die Pagazis, wenn diese ausruhen wollten, entschieden mehr Rücksicht nehmen. Dadurch entstanden wiederholt Zänkereien, welche nicht selten zu brutalen Thätlichkeiten ausarteten. Die Sklaven aber hatten unter dieser stets gereizten Stimmung der Havlidars nur doppelt zu leiden. Man hörte nichts Anderes mehr als Drohungen von der einen und Klagerufe von der anderen Seite, und Diejenigen, welche in den letzten Reihen marschirten, gingen über einen Erdboden, den das Blut ihrer Vordermänner röthete.

Die Gefährten Dick Sand’s, welche stets sorgfältig in der ersten Abtheilung des Zuges gehalten wurden, konnten mit diesem unmöglich in Verbindung treten. Sie gingen reihenweise, eingeklemmt in die beschriebene schwere Holzgabel, welche jede Bewegung des Kopfes verhinderte. Die Peitschen schonten sie nicht weniger als ihre anderen bedauernswerthen Schicksalsgenossen.

In einer Koppel mit seinem Vater ging Bat vor diesem her, bemühte sich nach Kräften, die Gabel vor Stößen zu bewahren, und wählte sorgsam die besten Wege aus, die der alte Tom ja nach ihm gehen mußte. Von Zeit zu Zeit, wenn der Havildar ein wenig zurückblieb, flüsterte er einige ermuthigende Worte, welche Tom doch theilweise hörte. Er versuchte sogar seinen Schritt zu verlangsamen, wenn er bemerkte, daß Tom ermüdete. Es war eine schwere Strafe für den braven Sohn, nicht einmal den Kopf nach dem geliebten Vater umwenden zu können. Tom hatte wohl die Befriedigung, seinen Sohn zu sehen, er bezahlte diese aber sehr theuer. Wie oft stürzten schwere Thränen aus seinen Augen, wenn Bat die Peitsche des Havlidars traf. Es war ihm schmerzlicher, als hätte sie seinen eigenen Rücken getroffen.

Austin und Acteon marschirten einige Schritte hinter ihnen; auch sie waren zusammengefesselt und jeden Augenblick der rohesten Behandlung ausgesetzt. O, wie beneideten sie Herkules’ Loos! Welche Gefahren jenen auch in diesem entsetzlichen Lande bedrohen mochten, er konnte doch seine Kräfte gebrauchen und sein Leben vertheidigen.

Während der ersten Minuten ihrer Gefangenschaft hatte der alte Tom seinen Gefährten endlich auch die Wahrheit in ihrem vollen Umfange mitgetheilt. Zum größten Erstaunen erfuhren sie von ihm, daß sie in Afrika seien, daß der doppelte Verrath Negoro’s und Harris’ sie erst hierher verschlagen und dann erst landeinwärts geschleppt habe, und daß sie seitens ihrer jetzigen Herren auf Erbarmen bestimmt nicht rechnen durften.

Auch Nan traf keine bessere Behandlung. Sie war einer Gruppe Frauen zugetheilt, welche die Mitte des Zuges einnahmen, und zusammengefesselt mit einer jungen Mutter von zwei Kindern, deren eines diese noch an der Brust hatte, während das andere, im Alter von drei Jahren, kaum mitlaufen konnte. Von Mitleid bewegt, hatte Nan sich des kleinen Wesens angenommen und die arme Sklavin ihr durch eine Thräne gedankt. Nan trug also das Kind und ersparte diesem damit nicht nur die Strapazen, denen es unterlegen wäre, sondern auch die sonst gewiß nicht ausgebliebenen Peitschenstreiche des Havildars. Eine schwere Last war es aber für die alte Nan; sie fürchtete, daß ihre Kräfte bald schwinden würden und gedachte dabei des kleinen Jack. Sie stellte sich ihn vor in den Armen seiner Mutter. Wohl hatte die Krankheit ihn abgemagert, doch für die geschwächten Arme der Mrs. Weldon mochte er immer noch zu schwer sein. Wo aber befand sich jene? Was wurde aus ihr? Sollte ihre alte Dienerin sie jemals wiedersehen?

Dick Sand hatte seinen Platz fast am Ende des Zuges angewiesen erhalten, so daß er weder Tom und dessen Gefährten, noch Nan sehen konnte.

In einer Koppel mit seinem Vater ging Bat vor diesem her. (S. 310.)

Die Spitze der langen Karawane ward für ihn überhaupt nur sichtbar, wenn diese eine größere Ebene überschritt. Er marschirte stumm dahin, versunken in seine traurigen Gedanken, aus denen ihn die Rufe und das Geschrei der Agenten kaum zu erwecken vermochten. Er dachte dabei weder an sich selbst oder an die Strapazen, welche ihm noch bevorständen, noch an die Qualen, die Negoro ihm vielleicht für später aufgespart hatte. Er dachte nur an Mrs. Weldon.

Frauen und Kinder wurden von den Krokodilen erhascht. (S. 316.)

Vergeblich suchte er auf der Erde, an den Dornen neben den Fußpfaden, am niedrigen Gezweig irgend eine Spur von ihr zu entdecken. Wenn man auch sie, wie er annehmen zu dürfen glaubte, nach Kazonnde führte, konnte sie einen anderen Weg nicht gehen. Was hätte er nicht dafür gegeben, eine Andeutung dafür zu finden, daß die Dame sich unfreiwillig nach demselben Ziele begab, wohin auch sie befördert wurden!

Das war also körperlich und geistig die dermalige Lage Dick Sand’s und seiner Gefährten. So sehr sie aber auch Ursache hatten, für sich selbst zu fürchten, so groß auch ihre eigenen Leiden waren, das Mitleid gewann in ihnen doch die Oberhand, wenn sie das entsetzliche Elend dieser traurigen Heerde von Gefangenen und die empörende Brutalität ihrer Führer mit ansahen. Ach, sie vermochten ja nichts zu thun, um den Einen zu helfen, nichts um den Anderen zu steuern!

Auf einige zwanzig Meilen östlich der Coanza bestand das Land aus einem ununterbrochenen Walde, doch waren die Bäume, ob sie nun durch die Angriffe der unzähligen Insecten jener Gegenden zu Grunde gingen oder die Elefantenheerden dieselben, wenn sie noch kleiner waren, umknickten und zertraten, minder zahlreich als in dem Küstengebiete. Dieses Gehölz bot der Karawane also weniger Hindernisse als verschiedenes Buschwerk, unter dem man 2∙3 bis 2∙5 Meter hohen Baumwollenstauden begegnete, welche das Rohmaterial zu den im Innern der Provinz sehr beliebten, schwarz und weiß gestreiften Stoffen liefern.

Manchmal erschien das Land auch zu wirklichen Dschungeln verwandelt, in denen der Zug vollkommen verschwand. Von allen hier heimischen Thieren hätten nur Elefanten und Giraffen mit den Köpfen dieses Schilfrohr überragt, das schon mehr Bambusstengeln ähnelte und wohl fünf Centimeter im Durchmesser hatte. Die Agenten mußten nothwendiger Weise eine sehr genaue Kenntniß des Landes besitzen, um sich hier nicht zu verirren.

Jeden Tag brach die Karawane mit Tagesanbruch auf und machte erst zu Mittag eine Stunde Halt. Dann öffnete man einige Ballen mit Manioc und vertheilte dieses Nahrungsmittel sehr sparsam unter die Sklaven. Dazu kamen einige Pataten, oder Ziegen-und Hammelfleisch, wenn die Soldaten im Vorüberziehen ein Dorf geplündert hatten. Die Erschöpfung Aller war aber so groß, die Rast so unzureichend, ja während der regnerischen Nächte sogar unmöglich, daß die Gefangenen, wenn die karge Nahrung ausgetheilt wurde, kaum etwas zu sich nehmen konnten. Acht Tage nach der Abreise von der Coanza waren auch schon zwanzig derselben zusammengebrochen, eine erwünschte Beute für die Raubthiere, welche hinter dem Zuge umherschwärmten. Löwen, Panther und Leoparden lauerten nur auf die unglücklichen Opfer, welche ihnen ja nicht entgehen konnten, und jeden Abend hörte man nach Sonnenuntergang ihr Gebrüll so nahe, als ob man einen directen Angriff von ihnen fürchten sollte.

Bei diesem Brüllen, das in der Dunkelheit nur noch drohender klang, gedachte Dick Sand erschreckt der Hindernisse, welche ähnliche Begegnungen jedem Unternehmen Herkules’ in den Weg legen müßten, der Gefahren, welche bei jedem Schritte auf ihn lauerten. Und doch hätte auch er nicht gezaudert, zu entfliehen, wenn sich ihm eine Gelegenheit dazu geboten hätte.

Wir lassen hier einige Notizen Dick Sand’s aus den Tagen der Reise von der Coanza bis Kazonnde folgen. Dieser Zug von 250 Meilen erforderte 25 »Märsche«, da man einen »Marsch« (nach der Ausdrucksweise der Agenten) täglich zu je 10 Meilen bemaß.

– Vom 25 bis 27. April. – Ein von 21/2, bis 23/4 Meter hohem Schilfrohr umgebenes Dorf gesehen. Die Felder bestellt mit Mais, Bohnen, Sorgho und verschiedenen Arachiden (Erdnußbäumen). Zwei Neger eingefangen. Fünfzehn getödtet, die Bewohner auf der Flucht.

Am anderen Tage über einen 150 Yards breiten, rauschenden Fluß gesetzt. Baumstämme mit Lianen verbunden, dienten als Flöße. Eines derselben zerriß. Zwei mit einem Gabelholz gefesselte Weiber, deren eines sein Kind trug, in’s Wasser gestürzt. Das Wasser wird unruhiger und röthet sich von Blut. Krokodile gleiten unter die verbundenen Stämme. Man kommt in Gefahr, den Fuß in ihren geöffneten Rachen zu setzen.

– Am 28. April. – Einen Bauhinienwald passirt. Hochstämmige Bäume, die den Portugiesen das Eisenholz liefern.

Starker Regen. Boden erweicht. Gehen sehr beschwerlich.

In der Mitte des Zuges die arme Nan gesehen, die noch einen kleinen Negerknaben trägt. Sie schleppt sich nur mühsam fort. Die mit ihr zusammengefesselte Sklavin hinkt und von ihren Schultern tröpfelt das Blut in Folge der grausamen Peitschenschläge.

Abends gerastet unter einem enormen Affenbrotbaum mit weißen Blüthen und zartgrünem Laube.

In der Nacht Gebrüll von Löwen und Leoparden. Ein Eingeborner giebt einen Schuß auf einen Panther ab. Was macht Herkules?

– Am 29. und 30. April. – Die erste Kälte des sogenannten afrikanischen Winters. Sehr reichlicher Thau. Ende der mit November beginnenden Regenzeit gegen Ausgang April. Die Ebenen noch vielfach überschwemmt. Ostwind, der die Transpiration aufhebt, aber die Empfänglichkeit für Sumpffieber steigert.

Keine Spur von Mistreß Weldon oder Herrn Benedict. Wohin führt man wohl diese, wenn nicht nach Kazonnde? Sie werden denselben Weg, wie die Karawane, aber vor uns eingeschlagen haben. Die Unruhe verzehrt mich. Der kleine Jack wird in dieser ungesunden Gegend das Fieber wieder bekommen haben. Ist er überhaupt noch am Leben?…

– Vom 1. bis 6. Mai. – Während mehrerer Tagemärsche durch weite Ebenen gezogen, welche die starke Verdunstung noch immer nicht trocken zu legen vermochte. Das Wasser reicht uns manchmal bis zum halben Leibe. Unzählige Blutegel saugen sich an die Haut an. Dennoch muß Alles ohne Erbarmen weiter. Auf vereinzelt hervorspringenden Höhen Lotospflanzen und Papyrusstauden. Unter dem Wasser eine Menge kohlartiger Pflanzen, über welche der Fuß stolpert, so daß Viele dabei umfallen.

In dem Gewässer tummelt sich eine beträchtliche Menge kleiner, dem Geschlechte der Welse zugehöriger Fische, welche die Eingebornen zu Milliarden zwischen Flechtwänden aufbewahren und an die Karawanen verkaufen.

Es ist unmöglich, für die Nacht einen Lagerplatz zu finden. Man sieht noch kein Ende der überflutheten Fläche. Nun muß auch während der Nacht marschirt werden. Morgen werden nicht wenig Sklaven aus dem Zuge fehlen. Welch’ ein Elend! Wer da fällt, warum sollte er aufstehen? Einige Minuten länger unter dem Wasser und Alles ist vorüber. Dann trifft der Stock des Havildars Niemanden mehr!

Ja – aber Mistreß Weldon und ihr Sohn! Ich habe nicht das Recht, sie zu verlassen! Ich werde ausharren bis an’s Ende, das ist meine Pflicht!

Ein schreckliches Geschrei gellt durch die Nacht.

Zwanzig Soldaten haben Zweige der harzreichen, aus dem Wasser emporragenden Bäume abgerissen. Durch die Finsterniß glimmt ein unbestimmbares Leuchten.

Ein Angriff von Krokodilen war die Ursache jenes plötzlichen Lärmens. Zwölf bis fünfzehn dieser Ungeheuer stürzten sich in der Dunkelheit auf die eine Seite der Karawane. Frauen und Kinder wurden von ihnen erhascht und nach ihren »Weideplätzen« geschleppt. So bezeichnete Livingstone die tieferen Löcher, in welchen diese Amphibien ihre vorher ertränkte Beute niederlegen, denn sie verzehren dieselbe nur, nachdem sie bis zu gewissem Grade zersetzt ist.

Ich selbst ward von dem Panzer eines solchen Krokodills hart gestreift. Ein erwachsener Sklave in meiner Nähe wurde erfaßt und von dem Gabelholze, das ihn am Halse fesselte, losgerissen. Die Gabel zerbrach dabei. Noch höre ich sein verzweifeltes Geschrei, sein Heulen vor wüthendem Schmerze!

– Am 7. und 8. Mai. – Tags darauf forschte man nach den Opfern. Zwanzig Sklaven waren verschwunden.

Mit Tagesanbruch suche ich nach Tom und seinen Gefährten. Gelobt sei Gott, sie leben noch! Doch ach, soll man Gott dafür dankbar sein? Ist nicht Der glücklicher zu preisen, der all’ diesem Jammer entgangen ist?

Tom befindet sich an der Spitze des Zuges. Als sein Sohn Bat sich einmal bückte, stellte sich die Gabel schräg und jener konnte meiner ansichtig werden.

Die alte Nan hab’ ich vergeblich gesucht. Befindet sie sich unter dem Menschenknäuel in der Mitte, oder ist sie in jener Schreckensnacht mit umgekommen?

Am nächsten Tag die Grenze des überschwemmten Gebietes erreicht nach vierundzwanzigstündigem Waten durch das Wasser. Auf einem Hügel Halt gemacht. Die Sonne trocknet uns nothdürftig. Es wird gegessen doch welch’ erbärmliche Nahrung! Etwas Manioc, einige Hände voll Mais! Zum Trinken nur schlammiges Wasser. Wie viele der auf der Erde hingestreckten Gefangenen werden nicht wieder aufstehen?

Nein, unmöglich haben Mrs. Weldon und ihr Sohn solche Strapazen überstehen können! Gott wird ihnen wenigstens die eine Gnade erwiesen haben, sie auf besserem Wege nach Kazonnde führen zu lassen. Die unglückliche Mutter wäre hier zu Grunde gegangen!

In der Karawane neue Fälle von Spitzpocken, »Ndue«, wie sie sagen. Die Kranken werden nicht weit gehen können. Wird man sie einfach ihrem Schicksale überlassen?

– Am 9. Mai. – Mit dem Morgenrothe weiter gezogen. Keine Nachzügler. Die Peitsche des Havlidars hat Alle fortgetrieben, welche vor Anstrengung oder Krankheit erschlafften. Sklaven haben ja einen Werth. Sie entsprechen einer Münze. Die Agenten werden keinen zurücklassen, so lange er noch ein Restchen von Kraft besitzt.

Ich bin von lebenden Skeleten umgeben. Es fehlt ihnen sogar schon die Stimme, um sich zu beklagen.

Endlich hab ich auch die alte Nan entdeckt. Es ist ein Jammer, sie zu sehen. Das Kind, welches sie früher trug, ruht nicht mehr in ihrem Arme. Sie hat jetzt wenigstens nur für sich allein zu sorgen. Das ist doch eine Erleichterung; aber die Kette, deren Ende sie über die Schulter geworfen trägt, hängt noch an ihrem Gürtel.

Ich verdoppelte meine Schritte und es gelang mir, mich ihr zu nähern. Es schien, als erkenne sie mich nicht wieder. Sollte ich mich so sehr verändert haben?

»Nan!« rief ich sie an.

Die alte, brave Dienerin starrte mich lange an; endlich sagte sie:

»Sie, Herr Dick! Ich… ich… ich werde bald todt sein!

– Nein, nein, nur Muth! antwortete ich, während ich die Augen niederschlug, um die Jammergestalt der Unglücklichen nicht zu sehen.

– Todt! wiederholte sie; nun werd’ ich meine gute Herrin und meinen kleinen Jack nicht wiedersehen! Gott, ach Gott, hab’ Erbarmen mit mir!«

Ich wollte die alte Nan unterstützen, da sie in ihren zerfetzten Kleidern vor Schwäche zitterte. Wie dankbar hätte ich es empfunden, mit ihr zusammengefesselt zu werden und die Kette mit zu tragen, deren Last seit dem Tode der Gefährtin sie allein bedrückte.

Da stößt mich ein kräftiger Arm zurück, ein Peitschenhieb saust auf die arme Nan herab und treibt sie wieder mitten in den Haufen der Sklaven. Ich will mich auf den rohen Menschen stürzen… es erscheint der arabische Chef, er ergreift mich am Arme und hält mich zurück, bis die letzten Reihen der Karawane an uns heran kommen.

Dann ruft er mir nur ganz kurz zu:

»Negoro!«

Negoro! Auf Anordnung des Portugiesen handelt er also wirklich und benimmt sich mir gegenüber anders als gegen die anderen Unglücklichen.

Welches Schicksal mag mich noch erwarten?

– Am 10. Mai. – An zwei brennenden Dörfern vorübergekommen. Die Hütten alle in Flammen. An den noch nicht verkohlten Bäumen hängen Leichen. Alle sonstigen Bewohner entflohen. Die Felder verwüstet. Hier hat eine Razzia stattgefunden. Zweihundert ermordet, um vielleicht ein Dutzend Sklaven zu fangen.

Der Abend ist da. Es wird Halt gemacht. Nachtlager unter großen Bäumen. Am Waldsaume bilden hohe Gräser wirkliche Gebüsche.

Tags vorher entwischten einige Gefangene, denen es gelungen war, ihre Gabelsessel zu zerbrechen. Man fing sie wieder ein und bestrafte sie mit unerhörter Grausamkeit. Die Havildars und die Soldaten verdoppeln ihre Wachsamkeit.

Die Nacht sank herab. Gebrüll von Löwen und Bellen von Hyänen. In der Ferne Schnauben von Hyppopotamus. Gewiß ist ein See oder Wasserlauf in der Nähe.

Trotz aller Ermüdung kann ich nicht schlafen. Ich denke an so Vieles.

Jetzt scheint es mir, als hörte ich etwas durch das hohe Gras schleichen. Vielleicht ein Raubthier? Sollte es einen Angriff wagen?

Ich horche. Nichts! Doch, irgend ein Thier schlüpft durch das Schilf. Ich habe keine Waffe. Ich will mich dennoch vertheidigen. Ich werde rufen. Mein Leben kann Mrs. Weldon und meinen Gefährten wohl noch von Nutzen sein.

Ich bemühe mich, in der tiefen Finsterniß zu sehen. Kein Mond am Himmel. Die Nacht ist außerordentlich dunkel.

Da… da glühen zwei Augen im Schatten, zwischen den Papyrus, die Augen einer Hyäne oder eines Leoparden! Sie verschwinden… kommen wieder zum Vorschein…

Endlich… es knackt im Röhricht. Ein Thier springt auf mich zu!…

Es enthält ein Billet… (S. 321.)

Schon wollt’ ich einen Schrei ausstoßen, Alarm schlagen…

Zum Glück vermochte ich mich noch zu beherrschen!

Man hatte sie einfach Hungers sterben lassen. (S. 323)

Noch wage ich nicht, meinen Augen zu trauen… es ist Dingo, Dingo; der bei mir ist!… Braver Dingo!… Welch’ gutes Schicksal giebt ihn mir wieder? Wie konnte er mich wieder auffinden? O, der Instinct! Sollte der Instinct wirklich solche Wunder von treuer Anhänglichkeit schon allein erklären?

Er leckt mir die Hände. Ach, du guter Hund, jetzt mein einziger Freund! Sie haben dich also nicht getödtet!…

Ich erwidere seine Liebkosungen. Er versteht mich. Er möchte bellen vor Freude…

Ich beruhige ihn. Besser, es hört ihn Keiner. Möchte er der Karawane unbemerkt nachfolgen und vielleicht… Doch wie?… er reibt seinen Hals beständig an meinen Händen. Er sieht aus, als wolle er sagen: »Suche doch!«… Ich suche und finde wirklich etwas an seinem Halse… ein Stück Rohr steckt quer unter dem Halsband mit den eingravirten Buchstaben S. V., welche uns noch immer ein unaufgeklärtes Geheimniß blieben.

Da… ich zog das Rohrstück hervor… ich zerbrach es. Richtig, es enthält ein Billet…

Leider vermag ich letzteres jetzt nicht zu lesen und muß dazu erst den Tag abwarten… den Tag… ich möchte ja Dingo gern zurückbehalten, das gute Thier scheint aber, obwohl es mir immer die Hände leckt, große Eile zu haben, mich zu verlassen. Dingo weiß offenbar, daß er seinen Auftrag ausgerichtet hat. Mit einem Seitensprunge verschwindet er geräuschlos in dem Schilfe. Gott bewahre ihn vor dem Zahne der Löwen oder Hyänen!

Der Hund kehrte unzweifelhaft zu Dem zurück, der ihn zu mir sendete.

Dieser Zettel, den ich jetzt nicht lesen kann, brennt mir ordentlich in den Händen! Wer mag ihn geschrieben haben? Sollte er von Mrs. Weldon kommen? Oder von Herkules? Wie vermochte das treue, schon für todt gehaltene Thier die Eine oder den Anderen aufzufinden? Was werden mir diese Zeilen sagen? Deuten sie mir vielleicht einen Plan zur Entweichung an, oder bringen sie nur Nachricht von Denen, die mir theuer sind? Wie dem auch sei, die Sache erregt mich außerordentlich und hat die Empfindung meines eigenen Elendes gänzlich unterdrückt.

O, wie lange zögert heute die Sonne!

Ich harre dem ersten Morgenscheine am Horizont entgegen. Ich vermag kein Auge zu schließen. Noch höre ich das Brüllen der Raubthiere. Mein armer Dingo, mögest du ihnen glücklich entgehen!

Endlich, endlich kommt der Tag, und unter dieser Tropenzone fast ohne vermittelnde Dämmerung. Ich gebe mir Mühe, unbeobachtet zu sein.

Ich versuche zu lesen… ich kann es noch nicht.

Jetzt, jetzt endlich war es möglich, die Schrift zu erkennen. Das Billet rührt von Herkules her.

Es ist mit Bleistift auf ein abgerissenes Stück Papier geschrieben…

Sein Inhalt lautet:

»Mrs. Weldon ist mit dem kleinen Jack in einer Kitanda weggeführt worden. Harris und Negoro begleiten dieselbe. Sie sind mit dem Vetter Benedict der Karawane um drei bis vier Tagemärsche voraus. Ich fand Dingo wieder, der durch einen Flintenschuß verwundet schien, aber wieder hergestellt ist. Guten Muth, Herr Dick. Ich denke an Sie Alle und bin nur entwichen, um Ihnen mehr nützen zu können.

Herkules.«

Ach, Mistreß Weldon und ihr Söhnchen sind noch am Leben! Gott sei gelobt! Sie haben nicht so wie wir von den Strapazen dieser Reise zu leiden. Eine Kitanda ist, so viel ich weiß, eine mit dürrem Laube bedeckte, an langen Bambusstengeln befestigte Tragbahre, welche zwei Männer auf den Schultern tragen. Sie hat wohl auch ein Verdeck, wie ein Planwagen. Mistreß Weldon und mein kleiner Jack sitzen in einer solchen Kitanda. Was mögen Harris und Negoro mit ihnen vorhaben? Offenbar schleppen diese Bösewichte sie nach Kazonnde… ja, gewiß… ich werde sie dort wieder treffen. Ach, inmitten dieses Elends ist es doch eine frohe Botschaft, welche Dingo mir da brachte.

– Vom 11. bis 15. Mai. – Die Karawane setzt ihren Weg fort. Die Gefangenen schleichen von Tag zu Tag nur mühsamer weiter. Die Fußspuren der meisten sind durch Blut befleckt. Ich rechne, daß wir noch zehn Tage bis Kazonnde brauchen, wie Viele werden bis dahin am Ende ihrer Leiden sein? Doch ich, ich muß ankommen, ich werde mit ankommen.

Abscheulich! In dem Zuge giebt es nicht wenige Unglückliche, deren Körper nur eine einzige Wunde ist! Die Stricke, mit denen sie gebunden sind, dringen ihnen in’s Fleisch ein!…

Schon seit gestern trägt eine Mutter ihr vor Hunger umgekommenes Kind auf den Armen weiter; sie will sich nicht von der kleinen Leiche trennen!…

Unser Weg bedeckt sich allmälig mit Todten. Die Spitzpocken wüthen mit sonst unbekannter Heftigkeit.

Wir kommen an einem Baume vorbei, an welchen Sklaven mit dem Halse festgebunden waren, die man einfach hatte Hungers sterben lassen.

– Vom 16. bis 24. Mai. – Fast bin ich am Ende meiner Kräfte, und doch habe ich nicht das Recht, zu erlahmen. Die Regen haben völlig aufgehört. Wir haben jetzt Tage »harten Marsches«. So nennen die Agenten die »Terikosa«, d.i. die Reise des Nachmittags. Wir müssen noch schneller gehen; der Boden zeigt wiederholt ziemlich steile Erhebungen.

Der Zug bewegt sich durch hohes, sehr hartes Schilf. Es besteht aus dem »Nyassi«, dessen Stengel mich im Gesichte verwunden, während dessen spitze Samen durch meine defecte Kleidung bis auf die Haut eindringen. Mein starkes Schuhwerk hat zum Glück bis jetzt ausgehalten.

Die Agenten lassen die Sklaven, welche zu krank sind, um dem Zuge folgen zu können, jetzt einfach liegen. Uebrigens droht der Mundvorrath zu Ende zu gehen; Soldaten und Pagazis murren und kündigen ihre Dienste, wenn ihre Rationen verringert würden. Man wagt nicht, ihnen etwas abzuschlagen, weshalb sich die Lage der Sklaven nur noch mehr verschlimmert.

»Sie mögen einander selbst verzehren!« hat der Chef gesagt.

Die Folge dieser Zustände ist daß junge, noch kräftige Sklaven nicht selten ohne ein eigentliches Zeichen von Krankheit dahinsterben. Es fällt mir da ein, was Livingstone hierüber äußerte: »Diese Unglücklichen klagen über Beschwerden vom Herzen; sie legen ihre Hände über dasselbe und brechen zusammen. Es bricht ihnen auch buchstäblich das Herz. Diese Erscheinung ist besonders freien, unerwartet zur Sklaverei verdammten Menschen eigenthümlich.«

Heute wurden zwanzig Gefangene, welche sich nicht mehr weiterzuschleppen vermochten, von den Havlidars durch Axtschläge getödtet. Der arabische Chef kümmert sich um dieses Blutbad nicht im Mindesten.

O, es war ein schreckliches Schauspiel!

Die arme alte Nan ist bei dieser entsetzlichen Schlächterei durch das Messer umgekommen… ich stoße im Vorbeigehen auf ihren Leichnam. Nicht einmal ein christliches Begräbniß kann ich ihr vermitteln!…

Das ist also die Erste von den Ueberbleibenden des »Pilgrim«, welche Gott zu sich abberufen hat. Du armes, gutes Wesen! Du arme Nan!

Jede Nacht spähe ich nach Dingo aus. Er ist bis jetzt nicht wiedergekommen. Sollte ihm oder Herkules ein Unfall zugestoßen sein? Nein, nein! Ich kann, ich mag das nicht glauben!… Dieses mir so lang erscheinende Schweigen beweist nur, daß Herkules mir zunächst weitere Neuigkeiten nicht mitzutheilen hat. Er muß ja auch mit aller Klugheit handeln und immer wohl auf der Hut sein!

Neuntes Capitel.Kazonnde.

Am 26. Mai langte die Karawane zu Kazonnde an. Fünfzig Percent der bei der letzten Razzia Gefangenen gingen auf dem Wege hierher zu Grunde. Dessenungeachtet war das Geschäft für die Agenten noch ein gutes zu nennen; die Nachfragen drängten sich und der Preis für Sklaven stieg auf den Märkten Afrikas

Angola betrieb zu jener Zeit einen sehr ausgedehnten Negerhandel. Die portugiesischen Behörden in San Pablo de Loanda hätten diesem schwerlich Einhalt thun können, denn die Züge schlagen die Richtung nach dem Innern Afrikas ein. Die Baracken an der Küste strotzten von Gefangenen; die wenigen Sklavenschiffe, denen es gelang, durch die Kreuzer längs der Küste zu entkommen, genügten nicht, jene nach den spanischen Kolonien Amerikas überzuführen.

Kazonnde, etwa 300 Meilen von der Mündung der Coanza gelegen, ist einer der wichtigsten »Lakonis«, d.h. einer der hervorragendsten Märkte dieser Provinz. Auf einem großen Platze, der »Tchitoka«, werden die Geschäfte abgewickelt; dort stellt man die Sklaven aus und verkauft sie. Von diesem Punkte strahlen sozusagen die Karawanen nach allen Himmelsrichtungen aus, ziehen aber vorzüglich nach der Gegend der großen Seen weiter.

Kazonnde zerfällt, wie alle größeren Städte Central-Afrikas, in zwei bestimmt unterschiedene Theile, nämlich in das Quartier der arabischen, portugiesischen oder eingebornen Händler, in dem sich deren Baracken befinden, und in die Residenz des Negerkönigs, d.i. irgend ein roher Trunkenbold, der durch Schrecken regiert und von der Naturalverpflegung lebt, welche ihm die Sklavenhändler in reichem Maße liefern.

In Kazonnde gehörte damals fast das ganze Handelsquartier jenem Jose-Antonio Alvez, von dem zwischen Harris und Negoro, den zwei in seinem Solde stehenden Agenten, die Rede war. Dort befand sich das Haupt-Etablissement dieses Sklavenhändlers, der noch ein zweites in Bihe und ein drittes zu Cassange, in Benguela, besaß, wo ihm Lieutenant Cameron einige Jahre später begegnete.

Eine große Central-Straße, auf jeder Seite mehrere Gruppen von Häusern, sogenannte »Tembes«, mit flachem Dache und übertünchten Lehmmauern, deren viereckiger Hof als Aufenthaltsort des Schlachtviehs dient, am Ende der Straße die große, von Baracken eingerahmte »Tchitoka«; über das Ganze hinausragend einige ungeheure Bananen mit prächtiger Verzweigung, da und dort ein Paar große Palmen, im Staube der Straße einige zwanzig, aus Rücksichten der öffentlichen Gesundheitspflege geduldete Raubvögel – das ist etwa das Bild des Handelsquartiers in Kazonnde.

Unfern davon fließt der Luhi, eine noch nicht sicher bestimmte Wasserader, welche jedoch wahrscheinlich einen Zufluß oder Nebenzufluß des Congo, jenes zweiten Armes des Zaïre, bildet.

Die Residenz des Königs von Kazonnde (übrigens auch Kazonndji genannt), welche an das Handelsquartier grenzt, besteht nur aus mehreren Haufen schmutziger Hütten, die auf dem Raume einer Quadratmeile verstreut liegen. Einige derselben haben freien Zugang, andere sind mit einer Palissade von Rohr oder mit vielfach verflochtenem Feigengebüsch umgeben. Ein besonderes, von Papyrushecken umschlossenes Gehege, etwa dreißig, den Sklaven des Häuptlings als Wohnung dienende Hütten, eine andere Gruppe solcher für seine Weiber, ein etwas größerer und höherer, in Manioc-Pflanzungen halb versteckter »Tembe« – das ist der Sitz des Königs von Kazonnde, eines Mannes von fünfzig Jahren, Namens Moini Loungga, der von der Stellung, wie sie seine Vorgänger noch zu behaupten wußten, schon sehr viel eingebüßt hat. Kaum gebietet er noch über 4000 Krieger, während die vornehmsten portugiesischen Sklavenhändler deren 20.000 haben, und jetzt konnte er nicht mehr, wie ehemals, seiner Laune täglich zwanzig bis dreißig Sklaven hinopfern.

Dieser König war übrigens ein durch Ausschweifungen aller Art geschwächter Greis, ein wilder, durch starke Liqueure innerlich sozusagen verbrannter Wüstling, der seine Unterthanen, seine Minister oder Officiere aus reiner Laune verstümmelte, den Einen die Nase oder die Ohren, den Anderen einen Fuß oder eine Hand abschnitt, und dessen Tod, der in Bälde bevorstand, wohl von Keinem mit Bedauern erwartet wurde.

Höchstens ein einziger Mann in ganz Kazonnde konnte durch das Ableben Moini Loungga’s verlieren. Es war das der Sklavenhändler Jose-Antonio Alvez, der mit dem Trunkenbold, dessen Autorität die ganze Provinz anerkannte, auf bestem Fuße stand. Er allein konnte wohl fürchten, daß nach jenem, im Falle das Recht der Regierung seiner ersten Frau, der Königin Moina, bestritten wurde, das Land Moini Loungga’s von einem benachbarten Prätendenten, einem der Könige von Ukusu, in Besitz genommen würde. Dieser, ein jüngerer, thatkräftigerer Mann, hatte sich schon einiger, zu Kazonnde gehöriger Dörfer bemächtigt, wobei ihn ein anderer Sklavenhändler, ein Concurrent von Alvez, nämlich jener schwarze Vollblut-Araber Tipo-Tipo unterstützte, mit dem Cameron bald darauf in N’yangwe zusammentraf.

Jose-Antonio Alvez, der wirkliche Souverän unter der scheinbaren Herrschaft jenes verthierten Negers, dessen Laster er absichtlich großgezogen und ausgenutzt hatte, stand schon in vorgeschrittenem Alter und war nicht, wie man vermuthen sollte, »Msungu«, d.h. ein Abkömmling weißer Race. Er hatte eben nichts Portugiesisches als seinen Namen, den er wahrscheinlich einst nur mit Rücksicht auf seine Handelsthätigkeit annahm. Er war in der That ein Neger, wohl bekannt unter der ganzen dortigen Handelswelt, und nannte sich eigentlich Kenndele. Geboren in Dondo, an den Ufern der Coanza, begann er seine Laufbahn als ein einfacher Agent für Sklavenmäkler und brachte es bis zum Händler von größtem und bestem Rufe, d.h. in der Haut eines alten Spitzbuben, der sich als den ehrlichsten Mann der Welt hinzustellen liebte.

Derselbe Alvez war es, den Cameron im Jahre 1874 in Kliemmba, der Hauptstadt von Kassongo, traf und der ihn mit seiner Karawane bis zu den Etablissements von Bihe, eine Strecke von 700 Meilen, dahinleitete.

Nach dem Eintreffen in Kazonnde hatte man den ganzen Sklavenzug nach dem großen Platze der Stadt geführt.

Es war am 26. Mai. Dick Sands Berechnungen erwiesen sich demnach als richtig. Von dem am Ufer der Coanza aufgeschlagenen Lager aus hatte die Reise 38 Tage in Anspruch genommen. Fünf der entsetzlichsten Wochen, welche Menschen wohl überhaupt zu durchleben im Stande sind.

Der Einzug in Kazonnde fand gegen Mittag statt. Die Tamboure wirbelten und die Cudu-Hörner ertönten mitten unter dem Knattern der Feuerwaffen. Die Soldaten der Karawane feuerten zum Gruße ihre Flinten in die Luft ab und die Diener Antonio Alvez’ ließen nicht auf die gleiche Antwort warten. Das ganze Raubgesindel schien über das Wiedersehen nach viermonatlicher Trennung ordentlich glücklich zu sein. Jetzt sollten sie auch ausruhen können, um durch Ausschweifung und Völlerei die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Die in der Mehrzahl bis auf’s Aeußerste erschöpften Gefangenen zählten noch etwa 250 Köpfe. Nachdem man sie wie eine Viehheerde vor sich her getrieben, wurden sie nun in Baracken eingepfercht, welche die Farmer Amerikas nicht einmal als Ställe benutzt hätten. Dort warteten ihrer schon 12-bis 1500 andere Sklaven, die am zweitnächsten Tage mit ihnen auf dem Markte von Kazonnde zum Verkauf gestellt werden sollten. Die Baracken füllten sich nun mit den Sklaven der Karawane bis zum Uebermaß. Die lästigen Gabelhölzer hatte man ihnen zwar abgenommen, ihre Ketten mußten sie aber auch jetzt noch weiter tragen.

Gleichzeitig mit Alvez erschien sein Freund Coïmbra. (S. 332.)

Die Pagazis waren auf dem Platze geblieben, nachdem sie ihre Elfenbeinlast für die Händler von Kazonnde daselbst niedergelegt hatten. Sie wurden mit einigen Yards zu möglichst hohem Preise berechneten Callicots oder anderer Stoffe abgelohnt, und zogen sich zurück, um sich einer anderen Karawane anzuschließen.

Der alte Tom und seine Gefährten sahen sich also endlich von der Halsfessel befreit, welche sie fünf Wochen lang getragen hatten. Bat und sein Vater konnten einander doch einmal wieder in die Arme sinken. Alle drückten sich wehmüthig die Hände. Zu sprechen wagten sie kaum. Was hätten sie auch Anderes über die Lippen bringen sollen als Worte der fast hoffnungslosen Verzweiflung? Bat, Acteon und Austin, drei Männer im kräftigsten Alter, hatten den Strapazen wohl zu widerstehen vermocht; der durch Entbehrungen aller Art geschwächte alte Tom aber war am Ende seiner Kräfte. Nur wenige Tage noch, und sein Leichnam wäre, gleich dem der alten Nan, liegen geblieben als Beute für die Raubthiere des Landes.

Sogleich nach ihrer Ankunft hatte man jene Vier in eine enge Baracke eingesperrt, deren Thür sich unmittelbar hinter ihnen schloß. Dort fanden sie einige Nahrungsmittel vor und erwarteten den Eintritt des Sklavenhändlers, dem gegenüber sie, wiewohl voraussichtlich ohne Erfolg, unter Betonung ihrer Nationalität als Amerikaner gegen ihre Vergewaltigung protestiren wollten.

Dick Sand selbst war unter besonderer Aufsicht eines Havlidars zurückgeblieben.

Endlich befand er sich in Kazonnde und bezweifelte keinen Augenblick, daß Mistreß Weldon, der kleine Jack, sowie Vetter Benedict schon vor ihm angelangt seien. Er hatte sie begierig gesucht auf dem Wege durch die Stadt, und die Blicke gesandt bis in’s Innere der »Tembes« an der Straße, wie über die weite, jetzt ziemlich menschenleere Tchitoka.

Mrs. Weldon war nicht zu finden.

»Sollte man sie doch nicht hierher gebracht haben? fragte sich Dick Sand. Aber wo wäre sie dann? Nein, Herkules wird mich nicht falsch berichtet haben. Uebrigens spielen ja hierbei Harris’ und Negoro’s heimliche Absichten gewiß eine wichtige Rolle!… Und diese… ja, ich sehe auch diese nicht!…«

Eine unnennbare Angst kam über Dick Sand. Daß die gefangen gehaltene Mrs. Weldon ihm nicht sichtbar ward, ließ sich am Ende erklären. Harris und Negoro aber – vorzüglich der Letztere – mußten doch alle Ursache haben, den jetzt in ihrer Gewalt befindlichen Leichtmatrosen wiederzusehen, und wäre es nur, um sich ihres Triumphes zu freuen, um ihn zu insultiren, zu quälen und sich an ihm zu rächen. Sollte er aus ihrer Abwesenheit den Schluß ziehen, daß sie eine andere Richtung eingeschlagen und Mrs. Weldon nach einem anderen Punkte Afrikas entführt hätten? Selbst wenn die Gegenwart Harris’ und Negoro’s nur das Signal zu seiner Bestrafung wäre, so hätte er sie doch herbeigewünscht weil ihm das die Gewißheit gab, daß Mrs. Weldon und ihr Kind sich gleichfalls hier befänden.

Dick Sand erinnerte sich auch, daß Dingo seit der Nacht, da er ihm das Billet von Herkules überbrachte, nicht wieder erschienen sei. Eine auf gut Glück fertig gemachte Antwort, durch welche er Herkules empfahl, nur an Mrs. Weldon zu denken, sie nie aus dem Gesichte zu verlieren und sich möglichst von allem Vorgehenden unterrichtet zu erhalten, hatte er nicht an den Ort ihrer Bestimmung befördern können. Wenn Dingo es einmal glücklich ausführen konnte, bis in die Reihen der Karawane heranzuschleichen, warum ließ ihm Herkules es nicht ein zweites Mal versuchen? War das treue Thier bei einem solchen mißglückten Versuche umgekommen, oder hatte sich Herkules, indem er Mrs. Weldon’s Spuren nachging, wie es Dick Sand gewiß selbst gethan hätte, in die Tiefen des bewaldeten Plateaus Inner-Afrikas verirrt, in der Hoffnung, vielleicht irgend eine Factorei anzutreffen?

Was konnte Dick Sand darüber denken, wenn wirklich weder Mrs. Weldon noch ihre Entführer hier waren? Er hatte sich – vielleicht also doch mit Unrecht – so versichert gehalten, sie in Kazonnde wiederzufinden, daß er es gleich einem furchtbaren Schlage empfand, sie jetzt nicht zu sehen. Es ergriff ihn ein Gefühl von Verzweiflung, das er kaum zu bemeistern vermochte. Sein Leben hatte für ihn, wenn er damit Denen, an welchen er mit voller Liebe hing, nicht mehr nützen konnte, auch keinen Werth mehr; dann wünschte er sich fast den Tod herbei. Aber wenn er also dachte, so kannte er doch seinen eigentlichen Charakter blutwenig. Unter den wuchtigen Schicksalsschlägen war das Kind zum Manne herangereift und seine augenblickliche Entmuthigung hatte nur die Bedeutung eines der menschlichen Natur unverweigerbaren Tributs.

Da erdröhnte ein furchtbares Concert von Fanfaren und wildem Geschrei. Dick Sand, der sich in den Sand der Tchitoka niedergelassen hatte, erhob sich sofort wieder. Jedes neue Ereigniß konnte ihn ja auf die Spuren der Gesuchten führen. Der eben Verzweifelnde hoffte jetzt schon wieder.

»Alvez! Alvez!« diesen Namen rief eine Menge Eingeborener und Soldaten, welche nach dem weiten Platze hereinströmten. Der Mann, in dessen Hand das Loos so vieler Unglücklichen lag, sollte endlich erscheinen. Möglicher Weise begleiteten ihn seine Agenten Harris und Negoro. Dick Sand stand aufrecht, mit weit geöffneten Augen. Die beiden Verräther sollten den jungen, fünfzehnjährigen Matrosen hier ungebeugt, fest, Auge in Auge vor sich sehen. Der Kapitän des »Pilgrim« war nicht geschaffen, vor dem früheren Schiffskoch zu zittern!

Am Ende der Hauptstraße zeigte sich ein Hamac, eine Art Kitanda, mit ausgeflicktem, verschossenem und da und dort in Fetzen flatterndem Sonnendache. Ein bejahrter Neger stieg aus demselben, das war der Sklavenhändler Jose-Antonio Alvez.

Einige Diener, welche mit wichtiger Miene umherflunkerten, begleiteten den Gebieter.

Gleichzeitig mit Alvez erschien sein Freund Coïmbra, ein Sohn des Generals Coïmbra aus Bihe und, nach Lieutenant Cameron’s Bericht, der größte Strauchdieb der Provinz, ein schmutziger, sittenloser Kerl, mit wildem, krausem Haar, gelbem Gesichte und bekleidet mit einem zerlumpten Hemd und einem Rocke aus Schilf. Man hätte unter seinem aus den Nähten gegangenen Strohhute eher ein altes, abschreckendes Weib gesucht. Dieser Coïmbra, war der Vertraute Alvez’, eine ihm verschriebene Seele, der Organisator der Razzias und das würdige Subject, die Banditen des Sklavenhändlers zu befehligen.

Letzterer selbst sah vielleicht etwas weniger schmutzig aus als sein Ebenbild in der Verkleidung eines alten Türken am Morgen nach einem Carneval; jedenfalls entsprach er aber nicht im Mindesten der landläufigen Vorstellung von jenen Chefs der Factoreien, welche den Sklavenhandel im Großen treiben.

Zu Dick Sand’s größter Enttäuschung befanden sich weder Harris noch Negoro in Alvez’ Gefolge. Sollte der junge Gefangene also auf die Hoffnung verzichten, sie in Kazonnde wieder zu finden?

Inzwischen wechselte der Chef der Karawane, der Araber Ibn Hamis, einen Händedruck mit Alvez und Coïmbra, die ihm ihre Glückwünsche darbrachten. Die fünfzig Percent Sklaven, welche von der anfänglichen Gesammtsumme fehlten, veranlaßten Alvez zwar zu einer leisen Verzerrung seines Gesichtes; Alles in Allem blieb das Geschäft doch noch immer ein gutes zu nennen.

Mit dem Menschenwaare-Vorrathe in seinen Baracken konnte dieser Sklavenhändler die Nachfrage aus dem Binnenlande decken und auch noch Sklaven gegen Elfenbein eintauschen, oder gegen die »Hannas« aus Kupfer, d.i. eine Art Andreaskreuz, in welcher Form das genannte Metall nach dem Innern von Afrika gebracht wird.

Auch den Havlidars ward ihre Anerkennung zu Theil; bezüglich der Träger gab der Händler Befehl zur sofortigen Auszahlung ihres Lohnes.

Jose-Antonio Alvez und Coïmbra sprachen ein Kauderwelsch von Portugiesisch und dem Dialecte der Eingebornen, so daß sie ein Bewohner von Lissabon schwerlich verstanden haben würde. Auch Dick Sand verstand also nichts von dem, was die »Händler« unter einander abmachten. War vielleicht die Rede von seinen Gefährten und von ihm selbst, die so heimtückischer Weise in den Zug der Gefangenen eingereiht wurden? Dem jungen Leichtmatrosen schwand darüber jeder Zweifel, als sich auf eine Handbewegung des Arabers Ibn Hamis ein Havildar nach der Baracke begab, in der Tom, Austin, Bat und Acteon eingeschlossen waren.

Gleich darauf führte man Alvez die vier Amerikaner vor.

Dick Sand näherte sich langsam; er wollte sich von dieser Scene nichts entgehen lassen.

Jose-Antonio Alvez’ Gesicht nahm einen wohlzufriedenen Ausdruck an, als er die gutgewachsenen, kräftigen Neger erblickte, denen einige Ruhe in Verbindung mit etwas kräftiger Nahrung bald ihre natürliche Stärke wiedergeben mußte. Für den alten Tom hatte er freilich nur einen Blick der Geringschätzung. Das Alter verminderte ja seinen Verkaufswerth; die drei Anderen versprachen dagegen bei dem nächsten Lakoni von Kazonnde einen hohen Preis zu erzielen.

Alvez stöberte aus seiner Erinnerung auch einige englische Wörter auf, welche solche Agenten wie Harris ihm gelehrt haben mochten, und der alte Thor glaubte sich verpflichtet, seine neuen Sklaven ironischer Weise willkommen zu heißen.

Tom verstand des Sklavenhändlers Rede; er trat vor und sagte, indem er auf sich und seine Begleiter hinwies:

»Wir sind freie Männer und Bürger der Vereinigten Staaten!«

Alvez verstand ihn offenbar; er antwortete mit höhnischer Miene und verächtlichem Achselzucken:

»Ja… ja… Amerikaner! Nun, willkommen… willkommen!

– Willkommen!« fügte Coïmbra noch einmal hinzu.

Der Sohn des Commandanten von Bihe schritt auf Austin zu, prüfte ihn, wie der Kaufmann eine Waarenprobe, betastete ihm Brust und Schultern und wollte ihm endlich den Mund öffnen, um nach den Zähnen zu sehen.

In diesem Augenblicke erhielt aber Señor Coïmbra eine so wohlgezielte, kräftige Ohrfeige, wie sie kaum jemals dem Sohne eines Majors zu Theil geworden sein mochte.

Der Vertraute Alvez’ taumelte zehn Schritte rückwärts. Mehrere Soldaten stürzten auf Austin los, der in Gefahr kam, das Aufwallen seines Zornes theuer zu bezahlen.

Alvez hielt sie durch eine Handbewegung zurück. Er lachte sogar noch über das Mißgeschick seines Freundes Coïmbra, der von seinen noch vorhandenen fünf oder sechs Zähnen bei dieser Affaire zwei Stück eingebüßt hatte.

Jose-Antonio Alvez gab nicht zu, daß man den Werth seiner »Waare« verminderte; überdies war er ein lustiger Charakter und hatte seit langer Zeit nicht so herzlich gelacht.

Er tröstete wenigstens den ganz außer Fassung gebrachten Coïmbra, und dieser nahm, als man ihn wieder richtig auf die Füße gebracht, mit einer nicht mißzuverstehenden Drohung gegen den kecken Austin an der Seite des Sklavenhändlers seinen Platz wieder ein.

Da wurde Dick Sand, von einem Havildar escortirt, dem Alvez vorgeführt.

Offenbar wußte dieser schon, wer der junge Leichtmatrose war, woher er kam und wie man ihn am Ufer der Coanza gefangen hatte.

Nachdem er ihn mit listig-boshaften Blicken betrachtet, rief er in schlechtem Englisch:

»Aha, der kleine Yankee!

– Gewiß, Yankee! antwortete Dick Sand. Was soll nun hier mit mir und meinen Gefährten werden?

– Yankee! Yankee! Kleiner Yankee!« wiederholte Alvez.

Hatte er die an ihn gerichtete Frage nicht verstanden oder nur nicht verstehen wollen?

Dick Sand wiederholte auch seine Anfrage und wandte sich dabei gleichzeitig an Coïmbra, dessen Gesichtszüge, so sehr diese auch durch den Mißbrauch starker alkoholischer Getränke entstellt waren, es doch verriethen, daß er kein Eingeborner sei.

Coïmbra begnügte sich einfach, die früher an Austin gerichtete, drohende Handbewegung zu wiederholen, gab aber keine Antwort.

Inzwischen führte Alvez mit dem Araber Ibn Hamis ein lebhaftes Gespräch, dessen Inhalt offenbar die Angelegenheit Dick Sand’s und seiner Freunde berührte. Jedenfalls wollte man sie auch fernerhin gesondert halten, und wer konnte wissen, ob sich ihnen jemals wieder Gelegenheit bieten würde, einige Worte zu wechseln.

»Meine lieben Freunde, begann Dick Sand halblaut, als ob er nur mit sich selbst spräche, ich erhielt durch Dingo eine Nachricht von Herkules Er ist der Karawane nachgefolgt. Harris und Negoro führten damals Mistreß Weldon, Jack und Herrn Benedict davon. Wohin? – wenn sie nicht hier in Kazonnde sind, weiß es ich dann nicht. Geduld und Muth! Haltet Euch für jeden Augenblick bereit. Gott habe endlich Erbarmen mit uns!

– Und Nan? fragte der alte Tom.

– Nan ist todt!

– Die Erste!

– Und die Letzte!….. erwiderte Dick Sand, dafür wollen wir sorgen!…«

In diesem Augenblicke legte sich eine Hand auf seine Schulter und er hörte die, mit einem ihm wohlbekannten, freundlichen Tone gesprochenen Worte:

»Ah, wenn ich nicht irre, mein junger Freund. Sehr erfreut, Sie wiederzusehen!«

Dick Sand wandte sich um.

Harris stand vor ihm.

»Wo ist Mistreß Weldon? rief Dick Sand, dem Amerikaner näher rückend.

– O weh, antwortete Harris, der ein ihm gänzlich fernliegendes Mitgefühl erheuchelte, die arme Mutter! Wie hätte sie es erleben können…

– Todt! schrie Dick Sand. Und ihr Kind?

– Das arme Baby, fuhr Harris in dem nämlichen Tone fort, mußten es solche Strapazen nicht tödten?…«

Alles, was Dick Sand liebte, war also nicht mehr! Was geht da aber in ihm vor? Eine unwiderstehliche Erregung edlen Zornes und ein Bedürfniß nach Rache, das er um jeden Preis befriedigen mußte, erfüllen seine ganze Seele.

Dick Sand stürzt sich auf Harris, reißt ein Jagdmesser aus dem Gürtel des Amerikaners und gräbt es ihm in’s Herz.

»Verflucht!…« rief Harris zusammenbrechend.

Der schändliche Verräther war todt!

Zehntes Capitel.Ein großer Markttag.

Dick Sand’s Bewegung war eine so schnelle gewesen, daß Niemand ihn aufzuhalten vermochte.

Dick Sand reißt ein Jagdmesser heraus und gräbt es ihm in’s Herz. (S. 335.)

Einige Eingeborne fielen über ihn her und hätten ihm auf der Stelle den Garaus gemacht, wenn nicht Negoro hinzugekommen wäre.

Eng gefesselt ward Dick Sand in eine fensterlose Baracke eingesperrt. (S. 338.)

Ein Zeichen des Portugiesen entfernte die Eingebornen, welche nun Harris’ Leichnam aufhoben und wegtrugen. Alvez und Coïmbra verlangten Dick Sand’s schnellste Hinrichtung, doch beschwichtigte sie Negoro mit der Versicherung, daß sie durch einiges Zuwarten nichts verlieren würden, und gab Befehl, den jungen Leichtmatrosen abzuführen, denselben aber nie einen Augenblick aus den Augen zu lassen.

Endlich also sah Dick Sand Negoro wieder, zum ersten Male, seitdem sie die Küste verließen. Er wußte, daß dieser Schurke allein die Katastrophe des »Pilgrim« verschuldete. Ihn mußte sein Haß noch schwerer treffen als dessen Spießgesellen. Und doch würdigte er Negoro, nachdem er den Amerikaner niedergestoßen, auch nicht eines Wortes.

Harris hatte gesagt, daß Mrs. Weldon und ihr Kind nicht mehr am Leben seien!…. Jetzt reizte nichts mehr sein Interesse, nicht einmal sein eigenes ihm bevorstehendes Schicksal.

Eng gefesselt, ward Dick Sand in eine fensterlose Baracke eingesperrt, in eine Art Kerker, in welchem der Sklavenhändler Alvez die wegen Rebellion oder anderer Vergehen zum Tode verurtheilten Sklaven verwahrte. Hier war ihm jede Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten, ohne daß das auch nur sein Bedauern erregte. Er hatte sie ja gerächt, die er liebte und die jetzt nicht mehr waren! Welch’ Loos ihn auch erwarten mochte – er war bereit zu Allem.

Wenn Negoro zuerst die Eingebornen abhielt, Harris’ Mörder zu tödten, so versteht es sich, daß er Dick Sand zu einer jener entsetzlichen Todesstrafen verdammt wissen wollte, welche das Geheimniß der eingebornen Stämme sind. Der Schiffskoch hatte den Kapitän von fünfzehn Jahren in seiner Gewalt; jetzt fehlte ihm nur Herkules, um seine Rache vollständig zu machen.

Zwei Tage nachher, am 28. Mai, nahm der Markt, der große »Lakoni«, seinen Anfang, auf dem sich die Händler der verschiedenen Factoreien des Binnenlandes und die Eingebornen aus den benachbarten Provinzen von Angola zusammenfanden. Dieser Markt war nicht speciell zum Sklavenhandel bestimmt, sondern es vereinigten sich hier alle Erzeugnisse des fruchtbaren Afrikas.

Schon vom frühen Morgen ab zeigte sich die große Tchitoka von Kazonnde ganz außerordentlich belebt, so daß man sich davon nur schwer eine zutreffende Vorstellung zu machen vermag.

Mit Hinzurechnung der Sklaven des Jose-Antonio Alvez, unter welchen sich auch Tom nebst seinen Gefährten befand, bewegten sich hier vier-bis fünftausend Menschen bunt durcheinander. Gerade die erwähnten armen Leute mußten voraussichtlich, da sie von fremder Race waren, auf dieser Menschenfleisch-Börse am meisten gesucht sein.

Alvez traf hier zuerst von Allen ein; unter Coïmbra’s Mithilfe vertheilte er die Sklaven in einzelne Loose, aus denen dann verschiedene Karawanen gebildet wurden.

Unter den Händlern aus dem Innern bemerkte man auch einige Mestizen aus Ujiji, dem Hauptstapelplatz des Taganyika-Sees, und Araber, welche in diesem Handelszweige jenen Mestizen offenbar weit überlegen waren.

Auch Eingeborne tummelten sich in großer Zahl umher. Hier sah man Kinder, Männer und Frauen, jene passionirten Händlerinnen, welche bezüglich ihres Handelslatentes gewiß mit jedem weißen Kaufmann gewetteifert hätten. In den Hallen der größten Städte herrscht auch an einem eigentlichen Meßtage sicher weder mehr Geräusch, noch erscheint der Gang der Geschäfte lebhafter. Bei civilisirten Völkern übertrifft die Sucht zu verkaufen weitaus die Lust einzukaufen. Hier unter den Wilden Afrikas entwickelt sich Angebot und Nachfrage mit gleichmäßiger Leidenschaftlichkeit.

Für Eingeborne beiderlei Geschlechts ist der Lakoni ein Festtag, und selbst wenn sie dazu nicht ihre besten Kleider angelegt hatten, so trugen sie doch mindestens die kostbarsten Zierrathen.

Das Haar in vier mit kleinen Kissen bedeckte Abtheilungen vertheilt und das untere Ende der Flechten chignonähnlich zusammengebunden oder fast vorhangsartig vorn über den Kopf herabfallend, mit Büscheln von rothen Blumen – Haarfrisuren, bestehend aus zurückgebogenen, mit rothem Thon und Oel eingesalbten Hörnern, wie mit dem bekannten Mennigegemisch, das man zum Dichten von Dampfapparaten gebraucht – in jenen Haufen eigener oder falscher Haare eine Menge kleiner Brochen, Nadeln aus Eisen oder Elfenbein, zuweilen auch, vorzüglich bei den Stutzern, ein Tätowirmesser in dem krausen Gewirr befestigt, von dem wieder viele einzelne Haare, dadurch, daß an ihnen Safi, d.h. Glasperlen, aufgereiht sind, eine gebogene Linie verschiedenfarbiger Körnchen bildet – das waren etwa die Gebäude, die sich meist auf den Köpfen der Männer aufthürmten. Die Frauen zogen es vor, ihr Haar in eine große Anzahl kleiner, kirschgroßer Tollen zusammenzuballen, oder es in festen Strähnen gewunden fransenähnlich so zu tragen, daß das untere Ende der letzteren eine gewisse Figur darstellte oder pfropfenzieherartig neben dem Antlitz herabhing. Andere einfachere und vielleicht hübschere Mädchen und Frauen ließen das lose Haar nach englischer Mode auf den Rücken herabfallen, während es wiederum Andere nach französischer Mode als halben Vorhang über die Stirn trugen. Auf den dicken Haarhauben glänzte dann fast immer ein reichlicher Kitt von Oel, Thon oder leuchtender »Ukola«, eine rothe aus dem Sandelholz extrahirte Substanz, so daß die elegantesten wie mit gebrannten Ziegeln frisirt erschienen.

Man darf aber nicht glauben, daß dieser Luxus in der Ausschmückung sich allein auf’s Haar erstreckte. Wozu dienten die Ohren, wenn nicht zum Durchstecken von Stäbchen kostbaren Holzes, von durchbrochenen Kupferringen, von feingeflochtenen Maiskettchen oder kleinen Kürbissen, die als Tabaksdosen dienten – so daß die ausgedehnten Ohrläppchen zuweilen bis auf die Schultern ihrer Träger herabfielen. Uebrigens sind die Wilden Afrikas nicht im Besitz von Taschen, und wie könnte dies auch der Fall sein? Hieraus erklärt sich aber die Nothwendigkeit, Messer, Pfeifen und andere Gegenstände des gewöhnlichen Gebrauchs unterzubringen, wo und wie es eben angeht. Arme, Hals, Handgelenke, Beine, Knöchel, alle diese Körpertheile sind ausschließlich bestimmt, mit kupfernen oder erzenen Spangen geschmückt zu werden, mit geschnitzten Hörnern, welche kostbare Steine zieren, oder auch mit rothen Perlenschnüren, den sogenannten Same-Sames oder »Talakas«, welche damals sehr beliebt waren. Mit derlei Schätzen mehr als verschwenderisch beladen, boten die Reichen ganz das Aussehen wandernder Reliquienkästen dar.

Wenn die Natur den Eingebornen Zähne gab, geschah das nicht, um das Zahnfleisch zwischen ihnen zu entfernen, sie zu Spitzen auszufeilen, sie zu scharfen Haken auszubilden, wie die Hakenzähne der Klapperschlange? Wenn sie Nägel schuf für die Enden der Finger, sollten und mußten diese dann nicht zu einer solchen Länge gezogen werden, daß sie den Gebrauch der Hand so gut wie unmöglich machten? Wenn die Haut mit schwarzer oder brauner Farbe den menschlichen Körper gleichmäßig bedeckt, ladet das nicht von vornherein dazu ein, sie mit Tembos oder Tätowirungen zu schmücken, welche Bäume, Vögel, den zu-oder abnehmenden Mond oder den Vollmond darstellen, oder auch mit solchen Linien zu überziehen, in welchen Livingstone altgriechische Bilder wiederzuerkennen glaubte? Diese mittelst eines blauen, durch Hauteinschnitte eingeriebenen Stoffes hergestellten Tätowirungen der Väter »clichiren« sich dann Punkt für Punkt auf den Körper der Kinder über und ermöglichen es, daran zu erkennen, welchem Stamme oder welcher Familie sie angehören. Man ist ja gezwungen, sein Wappenschild auf der Brust zu malen, wenn man es an einer Wagenthür nicht anzubringen vermag.

Hierin bestand also etwa die Mode der Eingebornen bezüglich des Schmuckes. Was die eigentliche Kleidung betraf, so beschränkte sie sich bei den »Herren« auf eine bis zum Knie herabhängende Schürze aus Antilopenfell oder einem aus lebhaft gefärbten Pflanzenfasern gewebten Rocke; die »Damen« dagegen trugen einen Perlengürtel, der in der Taille einen grünen, seidengestickten Rock festhielt, dessen Ausschmückung aus Glasperlen oder »Kauris« bestand, manchmal auch nur einen Schurz aus, Lambba«, einem blau, schwarz und gelben, bei den Zanzibariten sehr gesuchten Faserstoffe.

Hier sprechen wir nur von Negern der besseren Gesellschaft. Die anderen alle, ob selbst Kaufleute oder Sklaven, waren überhaupt kaum bekleidet. Die Frauen versahen häufig Dienste als Lastträgerinnen und erschienen auf dem Markte mit großen Butten und Tragkörben auf dem Rücken, welche sie mittelst eines über die Stirn laufenden Riemens festhielten. Nach Auswahl eines Platzes und Auspackung ihrer Waaren kauerten sie sich dann in ihren leeren Tragkörben zusammen.

Die erstaunliche Fruchtbarkeit des Landes führte bei dem Lakoni auch Nahrungsmittel in enormer Auswahl zu. Hier fand sich Ueberfluß an jenem hundertfältigen Reis, jenem Mais, der bei drei Ernten binnen acht Monaten den zweihundertfachen Ertrag liefert, ferner an Sesam, an Pfeffer von Urua, der den Cayenne-Pfeffer an Schärfe noch übertrifft, an Manioc, Sorgho, Muscat, Salz, Palmöl u.s.w. Hier drängten sich Hunderte von Ziegen, Schweinen, Schafen ohne Wolle, mit Fett-oder behaarten Schwänzen, welche offenbar arabischen Ursprungs waren; hier wimmelte es von Geflügel, Fischen u.s.w. Sehr sauber gedrehte Töpferwaaren erregten die Aufmerksamkeit durch ihre grellen Farben. Verschiedene Getränke, welche die kleinen Eingebornen mit kreischender Stimme anpriesen, führten die Liebhaber von Bananenwein, »Pombe«, d.i. ein ebenso starker als beliebter Liqueur, in Versuchung, sowie die Verehrer des »Malosu«, eines aus dem Safte von Bananen erzeugten, milden Bieres, oder die des Methes, eines Gemisches von Honig und Wasser, das man durch Malzzusatz in Gährung bringt.

Was diese Messe von Kazonnde aber noch bemerkenswerther machte, das war der Handel mit Stoffen und Elfenbein.

Von Stoffen lagerten hier »Chukkas« zu Tausenden, klafterweise der »Mericani«, ein grauhaariger, aus Salem in Massachussets herstammender Calicot, der »Kaniki«, ein 90 Centimeter breiter Baumwollenstoff, der »Sohari«, ein blau und weiß quarrirtes, roth gerändertes Gewebe mit schmalen blauen Streifen dazwischen, der aber geringer geschätzt wird als die »Diulis«, d.h. grün, roth oder gelb geränderte Seidenzeuge aus Surate, von denen ein Stück von ungefähr drei Yard Länge von sieben Dollars an bis zu achtzig Dollars kostet, letzteres wenn der Stoff mit Goldfäden durchwirkt ist.

Das Elfenbein strömte hier aus allen Theilen Inner-zusammen, um nach Chartum, Zanzibar oder Natal übergeführt zu werden, und zahlreiche Händler betrieben nur allein diesen Zweig des afrikanischen Handels. Stellt man sich vor, wie viel Elefanten getödtet werden, um 500.000 Kilogramm Elfenbein1 zu erlangen, welche den Handelsplätzen Europas und vorzüglich Englands zugeführt werden? Das Bedürfniß des Vereinigten Königreiches fordert allein 40.000. Die Ostküste Afrikas erzeugt 140 Tonnen dieses kostbaren Materials. Das mittlere Gewicht eines Paares von Elefantenzähnen beträgt etwa 151/2 Kilogramm und diese galten im Jahre 1874 bis 1500 Francs, doch giebt es deren auch bis 921/2 Kilo Schwere, und gerade bei Gelegenheit des Marktes von Kazonnde hätten die Liebhaber dieser Waare wundervolle Exemplare gefunden, aus opalem, halbdurchscheinendem, leicht zu bearbeitendem Elfenbein mit brauner Rinde, das seine Weiße unverändert bewahrt und nicht, wie das Elfenbein von niederer Art, mit der Zeit nachdunkelt.

Wie kam zwischen Käufern und Verkäufern der Abschluß des Handels zu Stande? Welches war die coursfähige Münze? Für die afrikanischen Sklavenhändler waren das, wie gesagt, die Sklaven.

Der Eingeborne zahlt mit Glasperlen venetianischen Fabrikats, welche »Catchokolos« heißen, wenn sie kalkweiß, »Bubulus«, wenn sie schwarz, und »Sikunderetches«, wenn sie rosa von Farbe sind. Die Perlenschnüre bilden in zehnfacher Reihe oder »Khetes« und so lang, daß sie den Hals zweimal umschließen, den »Fundo«, der einen ansehnlichen Werth repräsentirt. Einen gewöhnlichen größeren Werthmesser dieser Perlen bildet der »Frasilach«, im Gewicht von 35 Kilo, und Livingstone, Cameron und Stanley sorgten immer für einen hinlänglichen Vorrath dieser Münze. In Ermanglung von Glasperlen haben auch der »Pize«, eine zanzibaritische Münze von 4 Centimes, und die »Viunguas«, d.s. nur der Ostküste eigenthümliche Muscheln, Courswerth auf den afrikanischen Märkten. Die menschenfressenden Stämme schätzen die Zähne und menschlichen Kiefern ziemlich hoch, und während des Lakoni sah man Rosenkränze von Zähnen am Halse von Eingebornen, welche jedenfalls deren frühere Träger aufgespeist hatten; solche Zähne haben neuerdings aber an Werth bedeutend verloren.

Das war das Bild des großen Marktes. Gegen Mittag erlangte die Belebtheit ihren Gipfelpunkt und ward das Geräusch wahrhaft betäubend. Die Aufregung der Verkäufer, wenn man ihnen zu niedrige Preise bot, und das Geschrei der Käufer, welche sich für übervortheilt hielten, spottet jeder Beschreibung. Ost kam es dabei zu Streitigkeiten und selbstredend fehlte es gänzlich an Hütern des Gesetzes und des Friedens, um diese heulende, gröhlende Masse im Zaume zu halten.

Um die Mitte des Tages war es, als Alvez die Sklaven, welche er verkaufen wollte, dem Markte zuführen ließ. Die Menschenmenge vermehrte sich dadurch um zweitausend Unglückliche jeden Alters, welche der Händler in seinen Baracken seit mehreren Monaten verwahrt gehabt hatte. Dieser »Stock« befand sich auch nicht in schlechtem Zustande. Eine längere Ruhe und hinreichende Nahrung hatten die Sklaven jene auf dem Lakoni beliebte, vortheilhafte Erscheinung gewinnen lassen. Die Letztangekommenen konnten mit jenen keinen Vergleich aushalten und nach einem Monat Barackenaufenthalt hätte sie Alvez sicher zu höheren Preisen an den Mann gebracht; die Nachfrage von Seiten der Ostküste trat aber so dringend auf, daß er sich dafür entschied, sie zum Verkauf zu stellen wie sie eben waren.

Für Tom und seine drei Genossen war das ein Unglück. Die Havlidars stießen sie unter die Heerde, welche die Tchitoka erfüllte. An den Händen fest geknebelt, sagten ihre Blicke doch, welcher Zorn in ihnen kochte, wie die Scham sie überwältigte.

»Herr Dick ist nicht hier! sagte Bat, als er den weiten Platz von Kazonnde prüfend überblickt hatte.

– Nein, antwortete Acteon, ihn wird man nicht zum Verkauf stellen.

– Er wird ermordet, wenn es nicht schon geschehen ist! fügte der alte Neger hinzu. Was uns betrifft, wir haben nur eine Hoffnung, und zwar die, daß uns ein und derselbe Händler ersteht. Es wäre doch ein Trost, nicht getrennt zu werden.

– Ach, Dich fern von mir und als Sklaven arbeitend zu wissen!… Ach, mein armer alter Vater! rief Bat schluchzend.

– Nein, sagte Tom bestimmt, nein, man wird uns nicht trennen, und vielleicht könnten wir gar…

– O, wenn Herkules zur Stelle wäre!« setzte Austin hinzu.

Der Riese war jedoch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Seit den letzten, Dick Sand zugegangenen Nachrichten hatte man weder von Dingo noch von ihm auch nur ein Wort gehört. Sollte man ihn um sein Schicksal beneiden? O gewiß! Denn wenn Herkules den Tod fand, so hatte er doch wenigstens keine Sklavenketten zu tragen gehabt.

Inzwischen hatte der Verkauf seinen Anfang genommen. Alvez’ Agenten bewegten sich unter der Menge einzelner Loose von Männern, Frauen und Kindern umher, ohne sich darum zu sorgen, ob sie die Mütter von ihren Kindern trennten oder nicht. Kann man wohl diesen Unglücklichen noch den Namen von Menschen geben, da sie nicht anders als wie Hausthiere behandelt wurden? Tom und die Seinen führte man von Käufer zu Käufer. Vor ihnen her schritt ein Agent, der den Preis ausrief, für den ihr Loos abgegeben werden sollte. Arabische Zwischenhändler oder Mestizen aus den inneren Provinzen unterzogen sie einer sorgfältigen Prüfung. Sie erkannte an ihnen nicht jene der afrikanischen Race eigenthümlichen Zeichen, welche sich bei Amerikanern der zweiten Generation gewöhnlich verwischen. In ihren Augen hatten diese kräftigen und intelligenten Neger, welche sich von den Schwarzen von Zambesi oder von der Lualaba auffällig unterschieden, indessen einen hohen Werth. Sie betasteten sie, wendeten sie nach allen Seiten, und sahen nach ihren Zähnen. So verfahren die Roßtäuscher, wenn sie Pferde kaufen wollen. Dann schleuderte man einen Stock weit weg, und ließ sie dahinlaufen, um ihn wieder zu holen und dabei die Art ihrer Bewegungen zu beobachten.

Dieser Methode huldigten Alle, und Alle wurden derselben erniedrigenden Probe unterworfen. Nun darf man nicht etwa glauben, daß diese Unglücklichen einer solchen Behandlung gegenüber ganz unempfindlich gewesen wären. Im Gegentheil. Mit Ausnahme der Kinder, welche ja nicht zu beurtheilen vermochten, wie sehr man hiermit der Menschenwürde zu nahe trat, stieg Allen, Männern und Frauen, die Farbe der Scham in’s Gesicht. Man ersparte ihnen auch weder Schimpfworte noch Schläge.

Dieser König war gegen fünfzig Jahre alt. (S. 348.)

Der halb betrunkene Coïmbra und die Agenten von Alvez schienen sich zum letzten Male noch ein Vergnügen daraus zu machen, sie recht brutal zu behandeln, und bei den neuen Herren, welche sie mit Elfenbein, Stoffen oder Perlen bezahlten, wartete ihrer im Ganzen kein besserer Empfang. Mutter und Kind, Mann und Frau, gewaltsam voneinander gerissen, durften sich nicht einmal Lebewohl sagen und sahen sich auf diesem Lakoni vielleicht zum letzten Male für dieses Leben.

Wegen der verschiedenen Zwecke, zu welchen man die Sklaven verwendet, müssen sie nach dem Geschlechte getrennt werden. Die Händler, welche Männer kaufen, haben gewöhnlich keine Verwendung für Frauen. Letztere werden, eine Folge der bei den Mohamedanern noch gesetzlichen Polygamie, meist nach arabischen Ländern ausgeführt, wo man sie gegen Elfenbein umtauscht. Die zu schwereren Arbeiten bestimmten Männer dagegen müssen nach den Factoreien beider Küsten wandern und werden entweder nach den spanischen Kolonien oder nach den Märkten von Mascate und Madagaskar exportirt. Diese Auswahl ruft oft herzzerreißende Auftritte zwischen Denen hervor, welche die Agenten voneinander trennen und die einst auch sterben werden, ohne sich je wieder gesehen zu haben.

Tom und seine Gefährten sollten das allgemeine Schicksal theilen. Im Grunde fürchteten sie diesen Wechsel ihrer Verhältnisse nicht. Jedenfalls war es ihnen lieber, nach irgend einer Sklavenkolonie zu gelangen, wo sie weit eher Gelegenheit finden mußten, eine Reclamation zu erheben. In einer Provinz von Inner-Afrika zurückgehalten, hätten sie auf jede Aussicht, jemals wieder frei zu werden, gewiß verzichten müssen.

Ihr Wunsch sollte in Erfüllung gehen. Sie hatten sogar den Trost, nicht voneinander getrennt zu werden. Um das Loos, zu dem sie gehörten, wurde von mehreren Händlern aus Ujiji sehr lebhaft gefeilscht. Jose-Antonio Alvez klatschte in die Hände. Die Preise gingen in die Höhe. Man drängte sich herbei, die Sklaven von bisher ungekanntem Werthe zu sehen, deren Anwesenheit auf dem Markte von Kazonnde Alvez bis jetzt sogar zu verheimlichen für gut befunden hatte. Tom und die Seinen konnten bei ihrer Unkenntniß der Landessprache hier natürlich nicht einmal protestiren.

Ihr Herr wurde ein reicher arabischer Händler, der sie in einigen Tagen nach dem Taganyika-See bringen wollte, wohin die meisten Sklaven gehen, welche später für Factoreien von Zanzibar bestimmt sind.

Würden sie dort überhaupt ankommen nach einer Reise quer durch die ungesundesten und gefährlichsten Gegenden von Afrika? Eintausendfünfhundert Meilen sollten sie unter diesen Verhältnissen zurücklegen mitten durch den zwischen so vielen Häuptlingen unausgesetzt herrschenden Kriegstrubel, mitten durch das mörderischste Klima! Würde der alte Tom die Kräfte haben, solche Strapazen zu ertragen? Mußte er nicht, wie die alte Nan, schon auf der Reise unterliegen?

Vor Allem jedoch sahen die armen Leute sich wenigstens nicht voneinander getrennt; die Kette, welche sie verband, schien ihnen weniger schwer zu tragen. Der arabische Händler ließ sie in einer besonderen Baracke unterbringen. Es lag ihm offenbar daran, mit einer Waare vorsichtig umzugehen, die ihm auf dem Markte von Zanzibar einen hohen Gewinn versprach.

Tom, Bat, Acteon und Austin verließen also den Platz und konnten die Scenen nicht mehr mit ansehen, welche den großen Lakoni von Kazonnde schlossen.

Fußnoten

1 Die Schnitzerei von Sheffield verarbeitet jährlich allein 170.000 Kilogramm Elfenbein.

Elftes Capitel.Ein dem König von Kazonnde dargebotener Punsch.

Es war gegen vier Uhr Nachmittags, als ein Höllenlärm von Trommeln, Cymbeln und anderen Instrumenten afrikanischer Herkunft am Ausgange der Hauptstraße entstand. An allen Ecken und Enden des Marktes regte es sich doppelt lebendig. Ein halber Tag Geschrei und Drängen und Stoßen hatte weder die Stimme, noch Arm und Beine dieser verteufelten Händler zu beruhigen, noch zu entkräften vermocht. Noch war eine ziemliche Anzahl Sklaven zu verkaufen; die Händler bestritten die einzelnen Loose mit einer Begierde, von welcher die Londoner Börse selbst an Tagen einer allgemeinen Hausse nur eine schwache Vorstellung giebt.

Bei dem mißtönenden Concert jedoch, welches eben seinen Anfang nahm, wurden die Handelsgeschäfte unterbrochen und schöpften die Ausrufer einmal Athem.

Der König von Kazonnde, Moini Loungga, beehrte den großen Lakoni mit seinem Besuche. Ein zahlreiches Gefolge von Weibern, Beamten, Soldaten und Sklaven begleitete ihn. Alvez und einige andere Händler gingen ihm entgegen und übertrieben absichtlich ihre demüthigen Huldigungen, auf welche der gekrönte Trunkenbold besonderen Werth legte.

Inmitten des großen Platzes stieg Moini Loungga, den man in einem alten Palankin getragen hatte, mühsam und mit Hilfe von zehn Armen aus.

Dieser König war gegen fünfzig Jahre alt, doch hätte man ihn für einen Achtziger gehalten. Um sich seine Erscheinung zu vergegenwärtigen, stelle man sich einen alten Affen am Ende seiner Jahre vor. Auf seinem Kopfe erhob sich eine Art Tiara, verziert mit rothgefärbten Leopardenkrallen und weißen Haarbüscheln – das war die Krone der Könige von Kazonnde. Von seinem Gürtel herab hing ein Doppelrock aus Cudu-Leder, der trotz seiner Perlenstickerei doch Aehnlichkeit mit der Schürze eines Schmiedes hatte. Seine Brust schmückten vielgestaltige Tätowirungen als Zeugen für das hohe Alter des königlichen Geschlechtes, und wenn man ihnen trauen durfte, verlor sich Moini Loungga’s Geschlecht bis hinauf in die dunkelste Vorzeit. Um Knöchel, Handgelenke und Arme Sr. Majestät wanden sich kupferne, mit Sofis ausgelegte Spangen, und seine Füße staken in ein Paar Dienerstiefeln mit gelben Stulpen, die ihm Alvez einige zwanzig Jahre früher zum Geschenk gemacht hatte. Fügt man dieser Ausstattung noch einen langen Stock mit silbernem Knopf in der linken Hand des Königs, in der rechten einen reichlich mit Perlen besetzten Fliegenwedel hinzu, über seinem Haupte ferner einen alten, vielfach ausgeflickten Regenschirm, der aus der bunten Jacke eines Harlequins hergestellt schien, endlich am Halse und auf der Nase des Monarchen – die Loupe und die Brille, welche Vetter Benedict so schmerzlich vermißt hatte und die aus Bat’s Tasche gestohlen waren, so hat man bis auf’s Haar genau das Conterfei dieser schwarzen Majestät, vor der das Land im Umkreise von hundert Meilen erzitterte.

Schon deshalb allein, weil er auf einem Throne saß, behauptete Moini Loungga, von himmlischer Abkunft zu sein, und hätte jeden seiner Unterthanen, der etwa daran zu zweifeln wagte, gewiß in die andere Welt befördert, um sich dort persönlich davon zu überzeugen. So rühmte er sich auch, seiner göttlichen Natur entsprechend, irdische Bedürfnisse nicht zu kennen.

Er aß, weil er es gern that, und trank nur, weil es ihm Vergnügen machte. Dabei konnte aber kein Mensch mehr trinken denn er. Seine Minister und Beamten, lauter unverbesserliche Trinker, hätte man ihm gegenüber für nüchterne Menschen gehalten. Jener stellte überhaupt eine bis zum höchsten Grade alkoholisirte Majestät dar, die fortwährend mit starkem Biere, Pombe, und vorzüglich mit einem von Alvez reichlich gelieferten 36grädigen Branntwein sorgsam aufgefüllt wurde.

Moini Loungga besaß in seinem Harem Gemalinnen jedes Ranges und jedes Alters. Die Mehrzahl derselben begleitete ihn nach dem Lakoni. Moina, die der Anciennität nach erste Frau, welche man auch als »Königin« titulirte, war eine Megäre von vierzig Jahren und ebenso wie ihre Colleginnen von königlichem Blute. Sie trug eine Art grellfarbigen Tartan (ursprünglich der großgewürfelte Plaid der Hochschotten), einen mit Perlen bestickten Rock, Goldspangen, wo für deren Anbringung nur ein Plätzchen übrig blieb, und eine übereinandergethürmte Haartour, die ihrem kleinen Kopfe einen gewaltigen Umfang verlieh und sie vollends zum Zerrbild machte.

Hinter ihr her schritten andere Gemalinnen, entweder Cousinen oder Schwestern des Königs, in ebenso reicher Kleidung, aber jünger an Jahren, welche auf jeden Wink ihres Herrn bereit waren, als »menschliche Hausgeräthe« Dienste zu leisten. Diese Unglücklichen sind im Grunde wirklich kaum etwas Anderes. Will der König sitzen, so krümmen sich zwei derselben auf der Erde zusammen, die er als Sessel benutzt, während seine Füße auf zwei anderen weiblichen Körpern, wie auf einem Teppiche von Ebenholz ruhen.

Im Gefolge Moini Loungga’s erschienen auch seine Beamten, Hauptleute und Zauberer. Zuerst bemerkte man an diesen Wilden, welche gleich ihrem Herrn halb taumelten, daß Jedem ein Körpertheil fehlte, dem Einen ein Ohr, dem Anderen ein Auge, Diesem die Nase und Jenem eine Hand. Kein Einziger war vollständig. Es rührt das daher, daß man in Kazonnde nur zwei Arten von Bestrafung kennt, die Verstümmelung und den Tod, welche je nach der Laune des Herrn verhängt werden. Der geringste Fehler zieht hier schon eine Amputation nach sich, und als am härtesten Bestrafte fühlen sich Diejenigen, denen man die Ohren abschneidet, weil sie nun keine Ringe mehr durch dieselben tragen können.

Die Hauptleute oder »Kilolos«, das sind entweder erbliche oder auf je vier Jahre ernannte Districts-Vorsteher, trugen eine Kopfbedeckung von Zebrafell und als einzige Uniform eine Art rother Weste. In der Hand schwangen sie lange Rotangstengel, deren eines Ende in irgend eine Drogue gesteckt war, welcher man magische Kraft zutraute.

Als Angriffs-und Vertheidigungswaffen führten des Königs Soldaten Bögen, deren Holz mit Reserve-Stricken umwickelt und mit Fransen geschmückt war, lange, schlangenzungenartig geschliffene Messer, breite und lange Lanzen und mit Arabesken verzierte Schilde aus Palmenholz. Was die eigentliche Uniform betrifft, so kostet diese dem Schatze Sr. Majestät – absolut nichts.

Die Suite des Königs schlossen endlich die Hofmagiker und die Musikanten.

Die Zauberer, die »Myannga«, sind die Aerzte des Landes. Diese Wilden hegen einen unzerstörbaren Glauben an Gebete zu ihren Götzen, Beschwörungsformeln, oder an Fetische, das sind weiß und roth gefärbte, thönerne Figuren, welche phantastische Thiere oder menschliche Wesen beiderlei Geschlechts darstellen. Uebrigens zeigten sich diese Magiker nicht minder verstümmelt als die anderen Höflinge, und jedenfalls lohnte ihnen der Monarch auf diese Weise jede mißlungene Kur.

Die Musiker, Männer sowohl wie Frauen, handhabten schrillende Klappern, bearbeiteten lärmende Trommeln oder schlugen mit ihren Stäben, welche in eine aus Kautschuk der »Merimebas« bestehende Kugel ausliefen, auf eine Art Tympanon aus zwei Reihen verschieden großer Kürbisflaschen los – vollführten mit einem Worte ein Concert, das jedes nicht eingeborne afrikanische Ohr geradezu betäubte.

Ueber diesem Haufen königlichen Gefolges flatterten verschiedene Fahnen und Wimpeln und zeigten sich, auf hohen Piken getragen, einige gebleichte Schädel von feindlichen Häuptlingen, welche Moini einst besiegt hatte.

Sobald der König seinen Palankin verlassen, ertönten von allen Seiten lebhafte Zurufe. Die Soldaten der Karawane platzten ihre alten Flinten ab, deren schwacher Knall aber bei dem Geschrei der Volksmenge kaum hörbar ward. Die Havlidars warfen sich nieder, nachdem sie ihr schwarzes Gesicht mit Zinnober-Puder, den sie in einem Säckchen bei sich trugen, wohl eingerieben hatten. Dann trat Alvez vor und überreichte dem König ein Päckchen frischen Tabak – »Beruhigungs-Kraut«, wie man diese Pflanze dort zu Lande nennt. Moini Loungga bedurfte der Beruhigung gar sehr, denn er war, aus bisher unbekannter Ursache, herzlich schlechter Laune.

Gleichzeitig mit Alvez machten auch Coïmbra, Ibn Hamis und die arabischen Händler oder Mestizen dem mächtigen Souverän von Kazonnde ihre Aufwartung. »Marhaba«, stammelten dabei die Araber, welches Wort aus der Sprache Central-Afrikas etwa »Hochwillkommen« bedeutet; Andere klatschten in die Hände und beugten sich bis zur Erde nieder; wieder Andere wälzten sich im Schlamme und erwiesen der abscheulichen Majestät durch diese Demüthigung ihre unbegrenzte Ergebenheit.

Moini Loungga würdigte die ganze Menschenmenge nicht eines Blickes und wandelte mit gespreizten Beinen, als ob der Boden gleich einem Schiffe stampfte und schlingerte, schwerfällig dahin. So promenirte oder rollte er vielmehr zwischen den verschiedenen Sklaven-Gruppen hin und her, und wie die Händler immer fürchteten, es könne ihm einfallen, sich einen ihrer Gefangenen zuzueignen, so schreckten auch die Letzteren selbst davor zurück, in die Gewalt eines solchen verthierten Tyrannen zu kommen.

Negoro hatte Alvez keinen Augenblick verlassen und brachte mit ihm vereinigt dem Könige seine Huldigung dar. Beide plauderten in der Sprache der Eingebornen, wenn man »plaudern« von einer Unterhaltung sagen kann, an welcher sich Moini Loungga nur mit einsylbigen, mühsam zwischen den wulstigen Lippen hervorgepreßten Lauten betheiligte. Uebrigens hatte er gegenüber seinem Freunde Alvez nur das Anliegen, seine durch reichliche Libationen erschöpften Vorräthe von Branntwein erneuert zu sehen.

»Willkommen dem Könige Loungga auf dem Markte in Kazonnde! begann der Sklavenhändler.

– Mich dürstet! antwortete der Monarch.

– Er wird seinen Antheil haben von den bei dem großen Lakoni abgeschlossenen Geschäften, fügte Alvez hinzu.

– Zu trinken! erwiderte Moini Loungga.

– Mein Freund Negoro schätzt sich glücklich, den Herrscher von Kazonnde nach so langer Abwesenheit wiederzusehen.

– Zu trinken! wiederholte drängender der Trunkenbold, dessen ganze Person einen widerlichen Alkoholgeruch um sich verbreitete.

Dann trat Alvez vor. (S. 350.)

– Zu Befehl – Pombe! Meth! rief Alvez, obwohl er recht gut wußte, wonach Moini Loungga lechzte.

– Nein… nein! lallte der König… Branntwein von meinem Freunde Alvez, und ich schenke ihm für jeden Tropfen seines Feuerwassers…

– Einen Tropfen Blut eines Weißen! fiel Negoro ein, der mit Alvez einen Seitenblick gewechselt hatte.

Der König hatte Feuer gefangen wie eine Petroleumkanne. (S. 356.)

– Eines Weißen? Einen Weißen umbringen! erwiderte Moini Loungga, dessen wilde Triebe bei dem Vorschlage des Portugiesen erwachten.

– Einer der Agenten Alvez’ ward durch denselben Weißen getödtet, erklärte Negoro.

– Ja, mein Agent Harris, bestätigte der Sklavenhändler, sein Tod schreit nach Rache!

– So sende man das Bleichgesicht dem Könige Massongo in Ober-Zaïra, zu den Assuas! Sie werden es in Stücke schneiden und bei lebendigem Leibe verzehren. Dort haben sie den Geschmack des Menschenfleisches noch nicht vergessen!« entschied der König.

Jener Massongo war in der That der König eines menschenfressenden Stammes, und es ist leider nur zu wahr, daß diesem Kannibalismus in manchen Gegenden Central-Afrikas noch ganz offenkundig gehuldigt wird. Livingstone giebt in seinen Reiseberichten darüber weitere Details. An den Ufern des Lualaba z.B. verzehren die Manyemas nicht allein die im Kampfe getödteten Feinde, sondern kaufen sich geradezu Sklaven, nur um sie aufzuessen, indem sie behaupten, »das Menschenfleisch sei mäßig gesalzen und bedürfe nur weniger Würze«. Bei Moene Bougga traf auch Cameron auf Anthropophagen, welche die Leichname nur nach mehrtägiger Maceration in fließendem Wasser genießen. Endlich fand auch Stanley diese scheußliche Sitte bei den Bewohnern von Ukusu, und offenbar herrscht sie also bei den Völkern im Innern des Continentes in weiter Verbreitung.

So grausam aber die vom Könige Dick Sand zugedachte Todesart auch war, so paßte sie Negoro, der sein Opfer ja nicht aus den Augen lassen wollte, doch gar nicht.

»Unser Kamerad Harris, bemerkte er, wurde von dem Weißen aber hier an Ort und Stelle getödtet.

– Hier muß er dafür sterben! setzte Alvez hinzu.

– Sei’s wo Du willst, antwortete Moini Loungga. Aber einen Tropfen Feuerwasser für jeden Tropfen Blut!

– Gewiß, versicherte der Händler, und Du sollst Dich heute überzeugen, wie es diesen Namen in der That verdient! Jose-Antonio Alvez wird dem Könige Moini Loungga mit einem Punsch aufwarten!…«

Der Trunkenbold schlug freudig in Alvez’ dargebotene Hand ein. Er konnte sich vor Freude kaum zügeln. Seine Frauen und Courtisanen theilten sein Entzücken. Noch niemals hatten sie Branntwein wirklich brennen sehen und glaubten, er werde in vollen Flammen stehend getrunken. Mit dem Verlangen nach Alkohol sollte bei diesen Wilden ja auch gleichzeitig der Durst nach Blut gestillt werden!

Der arme Dick Sand! Welch entsetzlicher Tod erwartete ihn! Denkt man nur an die schrecklichen oder mindestens wunderlichen Folgen der Trunkenheit bei civilisirten Völkern, so kann man wohl ahnen, wozu sie solche Barbaren verführen mag.

Begreiflicher Weise mußte die Aussicht, einen Weißen zu peinigen, sowohl die Eingebornen freudig erregen, wie auch Jose-Antonio Alvez, selbst ein Neger wie jene; ebenso Coumbra, einen Mestizen von schwarzem Blute, und endlich Negoro, den ein wilder Haß gegen alle Menschen seiner Farbe erfüllte.

Der Abend brach herein, ein Abend ohne Dämmerung, der die Nacht dem Tage fast ohne Uebergang folgen ließ, und mit ihm die Stunde der Vorbereitung des Alkohol-Festes.

Gewiß war es eine prächtige Idee von Alvez, Sr. schwarzen Majestät einen Punsch zu offeriren und ihm den Alkohol unter noch unbekannter Form zu zeigen. Moini Loungga war nach und nach der Meinung geworden, das Feuerwasser mache seinem Namen nicht so besondere Ehre. Vielleicht reizte es in Flammen auflodernd die abgestumpften Papillen seiner Zunge etwas besser.

Das Programm der Abendunterhaltung umfaßte also einen Punsch als Anfang und eine Hinrichtung als Ende.

Dick Sand ward in einem dunklen Kerker sicher eingeschlossen, den er nur auf dem Wege zum Tode wieder verlassen sollte. Die übrigen Sklaven sperrte man, ob verkauft oder nicht, einstweilen wieder in die Baracken ein. Auf der Tchitoka blieben nur die Händler zurück, mit ihnen die Havildars und die Soldaten, um auch ihr Theil an dem Punsche zu haben, wenn der König und der Hof überhaupt etwas übrig ließen.

Jose-Antonio Alvez richtete mit Negoro’s Hilfe Alles auf’s Beste zu. Man brachte ein geräumiges Kupferbassin, das etwa 200 Pinten fassen mochte, und stellte es mitten auf dem großen Platze auf. In dieses Bassin wurden ganze Fäßchen mit sehr unreinem, aber desto stärkerem Alkohol entleert. Man schonte weder Zimmt noch Nelken, oder irgend eines der Ingredienzien, die diesen Punsch den Wilden recht schmackhaft machen konnten.

Alle schlossen einen Kreis um den König. Schwankend näherte sich Moini Loungga der Riesen-Bowle. Es hatte den Anschein, als bezaubere ihn diese Kufe voll Branntwein und als wolle er sich ganz hineinstürzen.

Alvez hielt ihn vorsichtig zurück und gab ihm einen angezündeten Docht in die Hand.

»Feuer! rief er mit einer tückischen Miene der Befriedigung.

– Feuer!« wiederholte Moini Loungga, indem er die Flüssigkeit mit der Flamme peitschte.

Wie loderte es da empor und welche Zauberwirkung brachten die über die Oberfläche des Bassins weghüpfenden Flammen hervor! Alvez hatte, jedenfalls um den Alkohol noch etwas schärfer zu machen, demselben einige Hände voll Seesalz zugemischt. Die Gesichter der Umstehenden nahmen dadurch jene eigenthümliche Farbe an, welche die Phantasie den Gespenstern zuschreibt. Die schon vorher halbtrunkenen Neger singen an zu schreien, zu gesticuliren und bildeten, sich an den Händen fassend, einen ungeheuren Ring um den König von Kazonnde.

Alvez rührte mit gewaltigem, metallenem Schöpfeimer die Flüssigkeit um, welche einen grünlich-bleichen Schein auf den halbtrunkenen Kreis warf.

Jetzt schritt Moini Loungga vor. Er nahm den Punschlöffel aus der Hand des Agenten, tauchte ihn in das Bassin und näherte ihn, mit brennendem Punsch gefüllt, seinen Lippen.

Was schrie da der König von Kazonnde so furchtbar auf?

Ein Beispiel von Selbstverbrennung sollte sich hier ereignen. Der König hatte Feuer gefangen wie eine Petroleumkanne. Dieses Feuer verbreitete zwar nur wenig Hitze, zerstörte und verzehrte deshalb aber nicht weniger.

Die eben noch wild tanzenden Eingebornen erstarrten bei diesem Anblick.

Ein Minister Moini Loungga’s stürzte sich auf ihn, um seinen Souverän zu löschen, fing aber, da er nicht weniger alkoholisirt war als sein Gebieter, ebenfalls Feuer.

Unter gleichen Verhältnissen wäre übrigens der ganze Hof Moini Loungga’s in Gefahr gewesen, zu verbrennen.

Alvez und Negoro wußten nicht, wie sie Sr. Majestät helfen sollten. Die erschreckten Frauen hatten die Flucht ergriffen. Auch Coïmbra machte sich, in Berücksichtigung seiner ebenfalls leicht entzündbaren Natur, eiligst aus dem Staube.

Zwei Opfer der wüthendsten Schmerzen wälzten sich der König und sein Minister auf der Erde umher.

Bei solchen durch und durch alkoholisirten Körpern erzeugt die Verbrennung nur eine leichte, bläuliche Flamme, welche Wasser nicht einmal zu löschen vermag. Selbst äußerlich erstickt, würde sie im Innern doch weiter brennen. Wenn alle Gewebe vom Branntwein durchdrungen sind, giebt es eben kein Mittel, der Verbrennung Einhalt zu thun.

Nach wenigen Minuten erlagen Moini Loungga und sein Minister ihren entsetzlichen Qualen, brannten aber auch noch später fort. Bald fand man auf der Stelle, wo sie zusammengebrochen waren, nur noch einige leichte Kohlen, ein paar Stückchen Wirbelsäule, einige Finger und Zehen, welche das Feuer bei einer solchen spontanen Verbrennung nicht verzehrt, aber mit übelriechendem, halb jauchigem Ruße überzieht.

Das war Alles, was vom König von Kazonnde und dessen Minister übrig blieb!

Zwölftes Capitel.Ein königliches Begräbniß.

Am folgenden Tag, dem 29. Mai, bot die Stadt Kazonnde einen völlig ungewohnten Anblick. Die entsetzten Eingebornen hielten sich in ihren Hütten zurück. Noch niemals hatten sie weder einen König, der sich aus göttlichem Stoffe zu bestehen rühmte, noch einen ganz gewöhnlichen Minister dieses schrecklichen Todes sterben sehen. Wohl hatten sie schon wiederholt ihresgleichen verbrannt und die Aeltesten unter ihnen erinnerten sich noch recht gut der zu jenen Zeiten des noch blühenden Kannibalismus in solchen Fällen getroffenen Maßregeln. Sie wußten, wie schwierig es ist, einen menschlichen Körper gänzlich in Asche zu verwandeln, und hier verbrannten ihr König und sein Minister vor ihren Augen sozusagen aus freien Stücken! Das erschien ihnen und mußte ihnen in der That unerklärlich erscheinen.

Jose-Antonio Alvez verhielt sich ganz still in seinem Hause. Er mochte fürchten, daß man ihn für diesen Zufall verantwortlich machen könnte. Negoro erhielt ihn bezüglich der Vorgänge in der Stadt auf dem Laufenden und rieth ihm, auf seiner Hut zu sein. Kam der Tod Moini Loungga’s auf seine Rechnung, so möchte er sich doch nicht so leicht aus dieser bösen Geschichte herausgewickelt haben.

Da kam Negoro aber ein rettender Gedanke. Mit seiner Unterstützung ließ Alvez das Gerücht aussprengen, daß dieser Tod des Herrschers von Kazonnde ein übernatürlicher sei, dessen der große Manitu nur seine Auserwählten würdige, und die dem Aberglauben ja so sehr ergebenen Eingebornen nahmen dieses Märchen leicht für baare Münze. Die Flammen, welche aus den Körpern des Königs und seines Ministers emporschlugen, wurden zum heiligen Feuer. Nun blieb nur übrig, Moini Loungga noch durch Todtenfeierlichkeiten zu ehren, welche eines zum Range der Götter erhobenen Manneswürdig waren.

Dieses Begräbniß mit all’ seinem Ceremoniell, wie es bei den afrikanischen Völkern gebräuchlich ist, bot Negoro eine höchst günstige Gelegenheit, Dick Sand eine Rolle zuzutheilen. Man würde kaum glauben, was dieser Tod Moini Loungga’s für Blut kostete, wenn die Afrika-Reisenden, vorzüglich Lieutenant Cameron, nicht ähnliche, unzweifelhafte Thatsachen berichteten.

Die natürliche Erbin des Königs von Kazonnde war die Königin Moina. Dadurch, daß sie die Leichenfeierlichkeiten sofort veranlaßte, übte sie einen Act souveräner Autorität aus und lief damit den Mitbewerbern um den Thron den Rang ab, unter Anderen z.B. dem Könige von Ukusu, der sich die Rechte des Souveräns von Kazonnde anzumaßen drohte. Dabei entging Moina, eben als Königin, dem grausamen Loose der anderen Frauen des Verschiedenen und entledigte sich dabei der jüngeren derselben, über die sie, als Erste der Zeit nach, sich natürlich nicht selten zu beklagen hatte. Das war Alles so recht nach dem Sinne der wilden Megäre. Sie ließ also unter Begleitung von Cudu-und Marimebas-Hörnern ankündigen, daß die Leichenfeierlichkeiten für den verstorbenen König am folgenden Abend und mit allem, sonst dabei gebräuchlichen Ceremoniell stattfinden würden.

Weder seitens des Hofes noch seitens des Volkes wurde ein Einwand dagegen erhoben. Alvez und die übrigen Sklavenhändler hatten ja von der Thronbesteigung dieser Königin Moina nichts zu fürchten. Durch einige Geschenke und gelegentliche Schmeicheleien konnten sie sich sicherlich leicht ihren Einfluß auf dieselbe erhalten. Die Uebernahme der königlichen Erbschaft vollzog sich demnach ohne Schwierigkeiten. Nur im Harem herrschte, und zwar nicht ohne Grund, darüber ein gewisser Schrecken.

Noch an demselben Tage begannen die Vorarbeiten zu der Leichenfeier. Nahe dem Ausgange der Hauptstraße von Kazonnde floß ein tiefer, brausender Fluß, ein Nebenarm des Congo, dessen Lauf abgeleitet werden sollte, um sein Bett trocken zu legen; in diesem Bette sollte die Ruhestätte des Königs ausgegraben werden; nach dem Begräbniß erhielt das Wasser dann seinen gewöhnlichen Lauf wieder.

Die Eingebornen arbeiteten emsig an der Aufschüttung eines Dammes, der den Fluß nöthigte, sich ein provisorisches Bett durch die Ebene von Kazonnde zu suchen. Bei dem letzten Acte der bevorstehenden Ceremonie sollte dann der Damm wieder geöffnet und der Wasserlauf in sein natürliches Bett zurückgeleitet werden.

Zu den unglücklichen Opfern, welche auf dem Königsgrabe hingeschlachtet werden sollten, bestimmte Negoro auch Dick Sand. Jener war Zeuge gewesen des unwiderstehlich durchbrechenden Zornes des jungen Leichtmatrosen, als Harris ihm fälschlich Mrs. Weldon’s und Jack’s Tod meldete. Negoro, ein von Natur feiger Schurke, vermied es ängstlich, sich dem gleichen Schicksale wie sein Spießgeselle auszusetzen. Gegenüber einem an Händen und Füßen gefesselten Gefangenen glaubte er jetzt aber nichts mehr befürchten zu müssen und beschloß, jenen aufzusuchen. Negoro gehörte zu den Scheusalen, denen es nicht genügt, ihre Opfer zu quälen, sondern die sich auch noch an deren Qualen weiden wollen.

Er begab sich also gegen Mittag nach der Baracke, in der Dick Sand von einem Havildar scharf bewacht wurde; dort lag der eng geknebelte junge Leichtmatrose, seit vierundzwanzig Stunden fast ohne jede Nahrung, entkräftet von den ausgestandenen Strapazen, gepeinigt durch die Bande, welche ihm tief in’s Fleisch einschnitten, kaum im Stande, sich nur zu wenden, und in Erwartung des Todes, der, so grausam er auch sein mochte, doch seine Qualen endigen mußte.

Die Stadt Kazonnde bot einen völlig ungewohnten Anblick. (S. 357.)

Beim Erblicken Negoro’s lief ein Zittern durch seinen ganzen Körper. Er machte eine unwillkürliche Anstrengung, seine Fesseln zu sprengen, um sich auf den elenden Wicht zu stürzen und mit ihm Abrechnung zu halten. Selbst Herkules jedoch hätte dieser Versuch mißlingen müssen.

»Du Elender!« rief der Portugiese. (S. 363.)

Er begriff, daß es sich hier nur noch um einen anderen Kampf zwischen ihnen Beiden handeln könne, und so zwang sich Dick Sand, ruhig zu sein und Negoro furchtlos anzusehen, entschlossen, ihn auf keinen Fall einer Antwort zu würdigen.

»Ich hielt es für meine Pflicht, begann Negoro, meinen jungen Kapitän zum letzten Male zu begrüßen und ihm mein Bedauern auszusprechen, daß er hier nicht ebenso das Commando führt wie an Bord des »Pilgrim«.

Da Dick Sand auf diese Worte schwieg, fuhr er fort:

»Zum Kuckuck, Kapitän, erkennen Sie denn ihren früheren Schiffskoch nicht wieder? Er kommt ja nur, Ihre Befehle entgegenzunehmen und zu fragen, was Sie zum Frühstück aufgetragen wünschen.«

Gleichzeitig versetzte Negoro dem auf der Erde liegenden jungen Leichtmatrosen einen rohen Fußtritt.

»Außerdem, fügte er hinzu, hätte ich noch eine Frage an Sie zu richten, mein junger Kapitän. Können Sie mir wohl erklären, wie Sie eigentlich nach Angola, wo wir uns heute befinden, gekommen sind, während Sie doch nach der Küste Amerikas steuerten?«

Für Dick Sand bedurfte es kaum der höhnischen Worte des Portugiesen, um einzusehen, daß seine Voraussetzung völlig zutreffend war, als er zu der Ueberzeugung kam, daß der Kompaß des »Pilgrim« durch diesen Verräther unrichtig gemacht worden sei. Die jetzige Frage Negoro’s galt ihm aber als wirkliches Geständniß. Auch hierauf antwortete er jedoch nur durch verächtliches Schweigen.

»Sie werden zugeben, Kapitän, fuhr Negoro fort, daß es ein Glück für Sie war, damals einen Seemann, einen wirklich erfahrenen Seemann an Bord zu haben. Großer Gott! Wo wären wir jetzt ohne diesen? Statt an irgend welcher Klippe, an welche der Sturm Sie warf, elend umzukommen, verdanken Sie ihm, zuletzt doch nach einem befreundeten Hafen gekommen zu sein, und wenn irgend Jemand das Verdienst hat, Sie jetzt zu einem sicheren Orte befördert zu haben, so ist es eben jener Seemann, den Sie ungerechter Weise so geringschätzig behandelten, mein junger Herr!«

Mit diesen Worten hatte Negoro, dessen scheinbare Ruhe nur das Resultat einer unglaublichen Anstrengung war, sein Gesicht Dick Sand genähert; den Ausdruck thierischer Wildheit in den Zügen, berührte er damit das Dick Sand’s so nahe, daß man glaubte, er wolle ihn aufzehren. Jetzt konnte der Schurke seinen inneren Grimm nicht mehr bemeistern.

»Einer nach dem Anderen! rief er plötzlich in einem Ausbruche von Wuth, welche die gleichmäßige Ruhe seines Opfers nur noch steigerte. Jetzt bin ich der Kapitän, bin ich der Herr! Dein verfehltes Schiffsjungenleben liegt in meiner Hand.

– Nimm es hin, antwortete Sand ohne jede Erregung, aber wisse, im Himmel lebt ein Rächer aller Verbrechen und Deine Strafe wird nicht mehr fern sein!

– Wenn Gott sich um die Menschen kümmert, dann ist es Zeit, daß er sich Deiner annimmt!

– Ich bin jeden Augenblick bereit, vor den höchsten Richter zu treten, erwiderte Dick Sand gelassen und der Tod erschreckt mich nicht.

– Das werden wir ja sehen, heulte Negoro. Du hoffst vielleicht noch auf irgend welche Hilfe. Hilfe und Rettung in Kazonnde, wo Alvez und ich allmächtig sind – Du bist ein Narr! Du sagst Dir vielleicht, Deine früheren Gefährten, der alte Tom und die Anderen, seien ja noch da! Laß diesen Irrthum: sie sind schon längst verkauft und nach Zanzibar unterwegs, wobei sie von Glück sagen können, wenn sie nicht schon auf der Reise elend umkommen.

– Gott besitzt unzählige Mittel, Gerechtigkeit zu üben, erwiderte Dick Sand. Ihm genügt das unscheinbarste Mittel. Herkules ist noch frei.

– Herkules! rief Negoro mit dem Fuße stampfend, o, der ist längst unter den Zähnen der Löwen und Panther umgekommen, und ich bedauere dabei nur, daß diese Bestien meiner Rache zuvorgekommen sind.

– Wenn Herkules todt ist, antwortete Dick Sand, so lebt doch Dingo noch. Ein Hund seines Schlages, Negoro, ist mehr als genug, um mit einem Menschen gleich Dir fertig zu werden. Ich kenne Dich durch und durch, Negoro, und muthig bist Du nicht. Dingo sucht Dich, er wird Dich zu finden wissen, und seinen Zähnen wirst Du einst noch erliegen.

– Du Elender! rief der Portugiese wild. Du Erbärmlicher! Dingo ist längst durch eine Kugel von mir crepirt! Er ist todt, so wie Mistreß Weldon und ihr Sohn, todt wie alle Ueberlebenden des »Pilgrim«!

– So wie auch Du bald Dein Schurkenleben beschließen wirst!« vervollständigte Dick Sand, dessen ruhiger Blick den Portugiesen zittern machte.

Negoro war außer sich und stand auf dem Punkte, von Worten zu Thätlichkeiten überzugehen und seinen hilflosen Gegner mit den Händen zu erwürgen. Schon hatte er sich auf ihn gestürzt und schüttelte ihn heftig, als ein plötzlicher Gedanke seine Arme lähmte. Er sagte sich, daß er sein Opfer tödten, daß damit Alles vorbei sein, und er jenem die vierundzwanzig Stunden Todesangst ersparen würde, die er noch leiden sollte. Er stand also wieder auf, richtete einige Worte an den Havildar, der der ganzen Scene theilnahmslos zugesehen hatte, indem er ihm anempfahl, den Gefangenen auf’s Strengste zu bewachen, und verließ dann die Baracke.

Statt ihn niedergeschlagener zu machen, gab dieser Auftritt Dick Sand im Gegentheil seine ganze moralische Kraft wieder. Auch seine physische Energie erhielt dadurch eine glückliche Anregung und gewann wieder die Oberhand. Hatte Negoro, als er sich auf ihn warf, vielleicht die Fesseln etwas gelockert, die ihm bisher jede Bewegung verwehrten? So schien es; denn Dick Sand überzeugte sich, daß seine Glieder mehr Spielraum hatten, als vor dem Erscheinen seines Peinigers. Mit dem Gefühle der Erleichterung kam dem jungen Manne auch der Gedanke, daß es ihm jetzt vielleicht nicht allzu schwer fallen könnte, seine Arme gänzlich frei zu machen. Da er in einem sicher verwahrten Gefängniß noch überdem streng bewacht war, erreichte er damit zwar nicht mehr, als daß er sich wenigstens von einer Marter befreite, aber in mancher Lebenslage gewinnt auch die geringste Erleichterung einen unschätzbaren Werth.

Gewiß hegte Dick Sand kaum einen Schimmer von Hoffnung. Menschliche Hilfe konnte ihm ja nur von außen kommen, aber wie sollte er auf solche rechnen? Er hatte sich also ergeben in sein Schicksal. Im Grunde war ihm das Leben jetzt werthlos. Er gedachte nur Derer, die ihm im Tode vorausgegangen, und ihn erfüllte die Sehnsucht, diese in einer besseren Welt wiederzusehen. Negoro behauptete ja ebenso wie Harris, daß Mrs. Weldon und der kleine Jack umgekommen seien. Dazu war es nur gar zu wahrscheinlich, daß auch Herkules den ihn rings bedrohenden Gefahren erlegen sei und ein schreckliches Ende gefunden habe. Tom und seine Gefährten waren jetzt weit, weit entfernt und, wie Dick Sand annehmen mußte, ihm für immer verloren. Auf etwas Anderes zu hoffen, als auf das Ende seiner Leiden durch einen Tod, der ja nicht furchtbarer sein konnte als ein solches Leben, wäre eine offenbare Thorheit gewesen. Er bereitete sich also vor, zu sterben, empfahl sich der Gnade des Höchsten und bat nur um den Muth, bis an’s Ende ohne Schwachheit auszuharren. Nicht vergebens erhebt man aber seine Seele zu Dem, der ja Alles vermag, und als Dick Sand sein schweres Opfer dargebracht, fand er im Grunde seines Herzens doch noch ein Fünkchen Hoffnung, ein Fünkchen, das ein Hauch von oben, trotz aller Unwahrscheinlichkeit eines erhofften Ausganges, doch noch zur leuchtenden Flamme anfachen konnte.

Die Stunden schlichen dahin. Die Nacht kam heran. Nach und nach erstarben die letzten Schimmer des Tages, welche sonst durch das Strohdach der Baracke drangen. Das Lärmen von der Tchitoka, wo es heute vergleichsweise sehr still zuging gegenüber dem Getöse und den wilden Auftritten des Vortages, verstummte allmälig. Im Innern des engen Gefängnisses herrschte tiefe Dunkelheit Bald pflegte in der Stadt Kazonnde Alles der Ruhe.

Die Nacht mochte schon halb verflossen sein. Der Havildar lag in bleiernem Schlafe, den er einer Flasche Branntwein verdankte, deren Hals seine Hand noch immer umschlossen hielt. Der Wilde hatte sie bis zur Neige geleert. Dick Sand kam auf den Gedanken, sich der Waffen seines Wächters zu bemächtigen, die ihm ja im Falle einer Flucht von großem Werthe sein konnten; in demselben Augenblicke vernahm er ein leises Scharren am unteren Theile der Barackenthür. Mit Hilfe der Arme gelang es ihm, bis zur Schwelle hinzukriechen, ohne den Havildar zu erwecken.

Dick Sand täuschte sich nicht. Das Scharren währte fort und ward immer deutlicher. Es schien, als werde von außen der Erdboden unter der Thür weggekratzt. War das ein Thier? War es ein Mensch?

»Herkules! Wenn das Herkules wäre?« sagte sich der junge Leichtmatrose.

Er heftete die Augen auf seinen Wächter; dieser lag in seinem Todtenschlafe nach wie vor unbeweglich da. Dick Sand näherte seine Lippen möglichst der Thürschwelle und glaubte es wagen zu dürfen, leise Herkules’ Namen zu flüstern. Ein unbestimmter Laut, ähnlich einem unterdrückten, kläglichen Bellen, antwortete ihm.

»Herkules ist es nicht, sagte Dick Sand für sich, aber Dingo ist es! Er hat meine Spur bis nach dieser Baracke gewittert. Bringt er mir wohl ein Wort von Herkules? Wenn Dingo aber nicht todt ist, so hat Negoro also gelogen und vielleicht…«

Da drängte sich eine Tatze unter der Thür hindurch. Dick Sand erfaßte sie und erkannte nun Dingo mit Sicherheit daran. Wenn dieser aber ein Billet trug, dann konnte es nur an dem Halse des Hundes befestigt sein. Was nun? War es möglich, das Loch so weit zu vergrößern, daß Dingo den Kopf durchzwängen konnte? Jedenfalls mußte dieser Versuch gemacht werden.

Kaum hatte Dick Sand jedoch begonnen, die Erde mit den Fingernägeln wegzuscharren, als auf dem Platze draußen ein lebhaftes Gebell, aber nicht von Dingo herrührend, anhob. Die einheimischen Hunde hatten das treue Thier aufgespürt, und ihm blieb gewiß nichts Anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen. Einige Flintenschüsse krachten. Der Havildar ward halb munter. Dick Sand konnte nicht mehr daran denken, auszubrechen, nachdem einmal Lärm geschlagen war, und mußte auf’s Neue in seinen Winkel kriechen wo er den Tag anbrechen sah, der für ihn der letzte sein sollte.

Während des ganzen Tages ward die Ausschachtung des Grabes emsig fortgesetzt. Unter Leitung des ersten Ministers der Königin Moina nahmen sehr viele Eingeborne daran Theil. Bei Strafe der Verstümmelung sollte Alles zur festgesetzten Stunde fertig sein, denn die neue Herrscherin befleißigte sich, nach allen Richtungen hin die Gewohnheiten des entseelten Königs beizubehalten.

In dem nach Abdämmung des Wassers trocken gelegten Flußbette wurde das Grab in einer Tiefe von etwas über drei Meter, bei gleicher Breite und etwa sechzehn Meter Länge ausgehoben.

Gegen Abend tapezierte man sozusagen den Boden und die Seitenwände der Grube mit lebenden, unter Moini Loungga’s Sklavinnen auserwählten Frauen. Gewöhnlich werden diese unglücklichen Geschöpfe bei ähnlichen Gelegenheiten einfach lebendig begraben. Unter Berücksichtigung des eigenartigen und wunderbaren Todes Moini Loungga’s war aber dahin entschieden worden, sie in nächster Nähe der Leiche ihres Herrn zu ertränken.1

Die Sitte erheischt es, den verstorbenen König, bevor er in’s Grab gelegt wird, mit seinen prächtigsten Kleidern zu schmücken. Diesmal mußte freilich, da Sr. Majestät Ueberreste nur aus einigen calcinirten Knochenstücken bestanden, in anderer Weise verfahren werden. Man fertigte eine Art Gliedermann aus Weidenzweigen an, der Moini Loungga hinlänglich, höchstens etwas zu vortheilhaft vertrat, und füllte in denselben die nach der Selbstverbrennung gesammelten Ueberbleibsel. Diese Puppe ward mit der königlichen Kleidung angethan – welche Hinterlassenschaft, wie wir wissen, keine besonderen Werthgegenstände enthielt – und man vergaß dabei auch nicht, ihr Vetter Benedict’s verhängnißvolle Brille als Zierrath aufzusetzen. Die ganze Maskerade hatte wirklich den Anstrich einer entsetzlichen Komik.

Die letzte Ceremonie sollte bei Fackelschein und mit möglichstem Glanze vor sich gehen. Die ganze Bevölkerung von Kazonnde, Einheimische wie Fremde, sollte ihr beiwohnen.

Als der Abend herankam, bewegte sich ein langer Zug von der Tchitoka aus bis nach dem Begräbnißplatze. Geschrei, wilde Tänze, Beschwörungen der Magiker, der Lärm verschiedener Instrumente, das Knallen alter Musketen aus dem Arsenal – nichts fehlte dabei.

Jose-Antonio Alvez, Coïmbra, Negoro, die arabischen Händler und ihre Havlidars vergrößerten die Reihen des Volkes von Kazonnde. Noch Niemand war bis jetzt nach Schluß des großen Lakoni abgereist. Die Königin Moina hätte es nicht zugegeben, und es wäre unklug gewesen, den Befehlen Derjenigen entgegen zu handeln, welche ihre Kräfte jetzt im Regierungsgeschäfte erprobte.

Der in einem Palankin ruhende Körper des Königs wurde in den letzten Gliedern des Leichenzuges getragen. Ihn umgaben seine Frauen zweiten Ranges, deren einige ihm aus diesem Leben das Geleite geben sollten. Königin Moina ging in großem Ornate hinter dem Aufbau her, den man hier als Katafalk bezeichnen könnte. Es war vollständig Nacht, als Alles am Flußufer anlangte, die von ihren Trägern fleißig geschwungenen Harzfackeln warfen aber einen hellen Schein über die Versammlung.

Die Grube war deutlich zu übersehen. Sie zeigte sich mit schwarzen, lebenden Körpern ausgekleidet, welche sich unter den Ketten wanden, die sie am Boden festhielten. Fünfzig Sklavinnen erwarteten hier, daß der Strom sich über sie ergieße; meist waren es junge Eingeborne, die Einen ergeben und lautlos, die Anderen leise seufzend und jämmernd.

Die gleichwie zu einem Feste geschmückten Gattinnen, welche hier gleichzeitig den Tod erleiden sollten, hatte die Königin selbst ausgewählt.

Die Eine unter diesen Schlachtopfern, welche sonst den Titel der zweiten Gemalin führte, wurde mit gekrümmten Armen und gebogenen Knieen gebunden, um als Sessel des Königs zu dienen, wie sie es bei seinen Lebzeiten zu thun pflegte, die dritte Gemalin hatte die Gliederpuppe aufrecht zu halten, während die vierte als Kissen zu deren Füßen lag.

Am Ende des Grabes und vor der Gliedergruppe erhob sich ein rothangestrichener Pfahl aus der Erde. An demselben festgebunden, stand ein Weißer, den man den Schlachtopfern dieser grauenvollen Leichenfeierlichkeit zugesellt hatte.

Die Grube war deutlich zu übersehen (S. 367.)

Jener Weiße war kein Anderer als Dick Sand. Sein halb entblößter Körper zeigte die Merkmale der Torturen, welche ihm auf Negoro’s Anordnung schon vorher zu Theil wurden. An den Pfahl geknebelt, stand er hier in Erwartung des Todes, im Herzen nur noch mit der Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben.

Noch war indeß der Augenblick, den Damm zu durchstechen, nicht gekommen.

Auf ein Zeichen der Königin wurde die vierte Gemalin, welche ihren Platz zu Füßen des Königs hatte, von dem Nachrichter in Kazonnde hingeschlachtet und ihr Blut floß in die Grube hin. Das war der Anfang einer geradezu entsetzlichen Blutscene. Fünfzig Sklavinnen fielen unter dem Messer ihrer Mörder. Das Bett füllte sich mit Menschenblut.

Eine halbe Stunde hindurch mischte sich das Geschrei der Opfer mit den Ausrufungen der Zuschauer, vergebens aber hätte man unter dieser Menge nach einem Zeichen des Abscheus oder des Mitleids gesucht.

Endlich gab Königin Moina ein weiteren Zeichen, worauf der Verschluß, welcher das obere Wasser zurückhielt, langsam geöffnet wurde. Mit ausgesuchter Grausamkeit ließ man das Wasser nur allmälig ansteigen, statt es durch eine plötzliche Oeffnung des Dammes herabstürzen zu lassen. Der langsame Mord statt des schnellen Todes!

Das Wasser erreichte zuerst die Schicht Sklaven, welche den Grund der Grube bedeckte. Mit schrecklichen Anstrengungen und Verrenkungen arbeiteten die Unglücklichen gegen den Erstickungstod. Dick Sand stand schon bis zu den Knieen im Wasser und versuchte noch eine letzte Anstrengung, seine Fesseln zu sprengen.

Doch das Wasser stieg höher. Die letzten Köpfe verschwanden unter dem Strome, der wieder seinem alten Laufe folgte, und nichts verrieth, daß in seinem Grunde ein Grab war, in dem zu Ehren des Königs von Kazonnde hundert unglückliche Opfer hingemordet wurden.

Die Feder sträubt sich vor solcher Schilderung, wenn nicht die Verpflichtung, bei der Wahrheit zu bleiben, es verlangte, auch diese Scenen in ihrer ganzen Abscheulichkeit wiederzugeben. In jenen traurigen Ländern steht der Mensch leider noch auf so niedriger Stufe. Man bessert solche Verhältnisse nicht, indem man sich ihrer Erkenntniß verschließt.

Fußnoten

1 Man macht sich gar keine zureichende Vorstellung von den furchtbaren Hekatomben, wenn es bei den Stämmen Central-Afrikas sich darum handelt, das Andenken eines mächtigen Häuptlings würdig zu ehren. Cameron erzählt, daß bei dem Leichenbegängniß des Vaters des Königs von Kassongo weit über hundert Opfer hingeschlachtet wurden.

Dreizehntes Capitel.Das Innere der Factorei.

Harry und Negoro hatten gelogen, als sie sagten, daß Mrs. Weldon und der kleine Jack todt seien. Sie befanden sich vielmehr mit Vetter Benedict Alle in Kazonnde.

Nach Erstürmung des Termitenbaues waren sie von Harris und Negoro, welche etwa ein Dutzend eingeborner Soldaten begleiteten, von dem Lager an der Coanza weggeführt worden.

Ein Palankin, die landesübliche »Kitonda«, nahm Mrs. Weldon und den kleinen Jack auf. Weshalb diese Fürsorge seitens eines Mannes wie Negoro? Mrs. Weldon wagte gar nicht, sich das zu erklären.

Schnell und ohne Anstrengung ward der Weg von der Coanza bis Kazonnde zurückgelegt. Vetter Benedict, auf den alle Strapazen keinen Einfluß zu haben schienen, wanderte raschen Schrittes dahin. Da man ihn links und rechts umherschweifen ließ, dachte er gar nicht daran, sich zu beklagen. Acht Tage vor Ibn Hamis’ Karawane langte die kleine Gesellschaft in Kazonnde an. Mrs. Weldon wurde nebst ihrem Kinde und Vetter Benedict in dem Etablissement des Händlers Alvez eingeschlossen.

Es sei hier gleich im Voraus erwähnt, daß der kleine Jack sich weit besser befand. Nach dem Verlassen der sumpfigen Gegend, wo er sich früher das Fieber zuzog, genaß er allmälig wieder und erfreute sich jetzt des besten Wohlseins. Die Anstrengungen der Karawane hätten freilich weder er, noch seine Mutter auszuhalten vermocht. Bei den Verhältnissen aber, unter welchen sie diese Reise zurücklegten, während welcher sie auch nach keiner anderen Seite Noth litten, befanden sie sich, wenigstens physisch, Alle in leidlich gutem Zustande.

Von ihren Gefährten erhielt Mrs. Weldon keinerlei Nachrichten. Nachdem sie Herkules hatte in das Dickicht entfliehen sehen, wußte sie nicht, was aus ihm geworden war. Bezüglich Dick Sand’s hoffte sie, daß seine Eigenschaft als Weißer ihn vor zu rücksichtsloser Behandlung schützen werde, da Harris und Negoro ja nicht in seiner Nähe waren, um ihn zu quälen. Nan, Bat, Tom. Austin und Acteon waren freilich Schwarze, und es schien nur zu gewiß, daß sie auch als solche behandelt würden. Die armen Leute, welche niemals den Boden Afrikas hätten betreten sollen und welche nun ein elender Verrath hierher verschlagen mußte!

Auch als Ibn Hamis’ Karawane in Kazonnde anlangte, erfuhr Mrs. Weldon, der jede Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten war, davon nicht das Geringste.

Selbst der Lärm des Lakoni konnte sie nicht weiter aufklären. Sie wußte nicht, daß Tom und die Seinen an einen Sklavenhändler in Ujiji verkauft worden waren und daß sie in nächster Zeit abziehen sollten. Sie kannte weder etwas von der Tödtung Harris’, noch von dem Ableben des Königs Moini Loungga, nichts von der königlichen Leichenfeier, der Dick Sand mit so vielen Anderen zum Opfer gefallen war. Die unglückliche Frau befand sich demnach allein in Kazonnde, abhängig von der Gnade der Händler, in der Gewalt Negoro’s, und um diesem zu entfliehen, konnte sie nicht einmal daran denken, zu sterben, da ihr Kind ja bei ihr war!

Das Loos, welches ihrer wartete, blieb Mrs. Weldon also völlig unbekannt. Im Laufe der ganzen Reise von der Coanza bis Kazonnde hatten weder Harris noch Negoro jemals ein Wort an sie gerichtet. Seit ihrer Ankunft hier sah sie weder den Einen noch den Anderen nur mit einem Blicke wieder und konnte die Einzäunung des Etablissements des reichen Sklavenhändlers nicht verlassen.

Braucht es der ausdrücklichen Versicherung, daß Mrs. Weldon seitens ihres großen Kindes, des Vetters Benedict, keinerlei hilfreiche Unterstützung fand? – Das versteht sich ja wohl von selbst.

Als der würdige Gelehrte hörte, daß er sich nicht auf amerikanischem Boden befand, wie er doch bisher annahm, machte er sich nicht die mindeste Sorge darüber, zu erfahren, wie das wohl zugegangen sein mochte. Nein! Seine erste Empfindung war die der Enttäuschung. Die Insecten, welche er zuerst von allen in Amerika entdeckt zu haben glaubte, diese Tetses und andere, verwandelten sich nun ja zu ganz gewöhnlichen afrikanischen Hexapoden, welche eine Menge Naturforscher schon lange vor ihm in ihrer Heimat auffanden.

Wie traurig mußte er dem Ruhme, den diese Entdeckungen an seinen Namen heften sollten, Lebewohl sagen! Was war denn auch Erstaunliches daran, daß Vetter Benedict afrikanische Insecten gesammelt hatte, da er sich ja in Afrika befand?

Als der erste Schmerz der Enttäuschung aber vorüber war, sagte sich Vetter Benedict, daß »das Land der Pharaonen« – so pflegte er es noch immer zu nennen – ganz unvergleichliche Reichthümer an entomologischen Schätzen besaß, daß er, wenn er denn einmal nicht im »Lande der Inkas« sein sollte, bei diesem Tausche nicht viel verlieren könne.

»O, wiederholte er, und wiederholte es auch gegenüber Mrs. Weldon, welche ja gar nichts davon hören wollte, hier ist ja das Vaterland der Manticoren, jener Koleopteren mit langen, behaarten Füßen, mit verbundenen und doch verschiedenfarbigen Flügeldecken und verhältnißmäßig ungeheuren Kiefern, deren hervorragendste Art die knotige Manticore ist. Hier ist die Heimat der goldpunktirten Calosonen, der Goliaths von Guinea und Gabon, deren Füße mit Stacheln bewehrt sind; der gefleckten Anthidien, welche ihre Eier in das leere Gehäuse der Schnecken legen; der geheiligten Ateuchus, denen die Ober-Egypter eine wahrhaft göttliche Verehrung zollen! Hier wurden jene Sphinxe mit dem Todtenkopfe erzeugt, die jetzt durch ganz Europa verbreitet sind, und die Idias Bigoti, deren Stich die Bewohner der Küste von Senegal ganz besonders fürchten! O, hier ist noch manch prächtiger Fund zu thun und ich werde das nicht vernachlässigen, wenn diese wackeren Leute es nur erlauben!«

Man weiß, wer diese »wackeren Leute« waren, über welche Klage zu führen, Vetter Benedict gar nicht in den Sinn kam. Im Gegentheil genoß der Entomolog, wie gesagt, unter Harris’ und Negoro’s Leitung einer halben Freiheit, während Dick Sand ihn derselben während der Reise von der Küste zur Coanza beraubt hatte. Der naive Gelehrte schien von dieser Zuvorkommenheit ihm gegenüber ganz entzückt.

Vetter Benedict wäre mit einem Worte der glücklichste Entomologe gewesen, hätte er nicht einen Verlust erlitten, den er gar zu schmerzlich empfand. Noch immer besaß er zwar seine Blechbüchse, aber die Brille thronte nicht mehr auf seiner Nase und die Loupe hing nicht ferner an seinem Halse! Ein Naturforscher ohne Brille und Loupe ist aber so gut wie gar keiner. Leider sollte Vetter Benedict seine beiden optischen Hilfsmittel niemals wieder sehen, denn sie waren mit dem königlichen Gliedermann begraben worden.

Wenn er nun ein Insect fand, war er gezwungen, es sich fast in die Augen selbst zu halten, um dessen elementarste Einzelheiten zu erkennen O, das war ein schwerer Kummer für Vetter Benedict, und er hätte eine Lorgnette oder Brille gewiß gern theuer bezahlt. Diese Artikel pflegt man aber bei dem Lakoni von Kazonnde nicht feilzubieten. Jedenfalls durfte Vetter Benedict in Alvez’ Etablissement ungehindert hin und hergehen. Man wußte ja, daß er unfähig war, einen Fluchtversuch zu machen. Uebrigens trennte eine hohe Palissade die Factorei von den übrigen Stadtvierteln, und diese war schon nicht so leicht zu übersteigen.

Blieb er nun auch stets streng eingeschlossen, so maß dieses Gefängniß dafür doch eine ganze Meile im Umfange. Verschiedene Bäume, Buschwerk aus Afrikas eigenthümlichen Arten, große Gräser, der Wasserlauf eines Baches, die Strohdächer der Baracken und Hütten – das war mehr als hinreichend, hier die seltensten Insecten zusammenzulocken und Vetter Benedict, wenn auch nicht reich, so doch glücklich zu machen. Er entdeckte auch wirklich einige Hexapoden, wenn es ihm auch fast das Augenlicht kostete, sie ohne Loupe zu untersuchen; doch nahm seine kostbare Sammlung ja dabei an Umfang zu und er legte damit den Grund zu einem umfassenden Werke über afrikanische Entomologie. Wie wünschte er, daß sein glücklicher Stern ihm ein neues Insect entdecken ließe, um an dasselbe seinen Namen zu knüpfen, dann wäre ja sein Herzenswunsch erfüllt gewesen!

Erwies sich Alvez’ Etablissement schon hinreichend groß für Vetter Benedict’s wissenschaftliche Ausflüge, so schien es dem kleinen Jack geradezu unermeßlich. Nur wenig suchte dieses Kind indeß die gewöhnlichen Vergnügungen seines Alters. Selten wich es von seiner Mutter, welche es überhaupt nicht gern allein ließ und immer irgend ein Unglück fürchtete. Der kleine Jack sprach häufig von seinem Vater, den er so lange nicht gesehen hatte, und verlangte zu ihm zurückzukehren. Er erkundigte sich nach Allen, nach der alten Nan, nach seinem Freunde Herkules, nach Bat, Austin, Acteon und nach Dingo, der ihn ja ebenfalls verlassen zu haben schien. Er wollte seinen Kameraden Dick Sand wiedersehen. Seine Einbildungskraft lebte nur in der schönen Vergangenheit Mrs. Weldon konnte auf seine Fragen nicht anders antworten, als dadurch, daß sie ihn an die Brust drückte und seine Stirn mit Küssen bedeckte. Nicht in seiner Gegenwart zu weinen, das war das einzige, was sie thun konnte!

Inzwischen nöthigte sich Mrs. Weldon die Beobachtung auf, daß die verhältnißmäßig rücksichtsvolle Behandlung, die ihr auf der Reise von der Coanza bis hierher zu Theil geworden war, auch in Alvez’ Etablissement keine Aenderung erleiden solle. In der Factorei befanden sich nur die speciellen, für die Bedienung des Händlers bestimmten Sklavinnen. Alle Uebrigen waren in den Baracken der Tchitoka untergebracht und an die Mäkler aus dem Innern verkauft worden. Jetzt strotzten die Magazine von Stoffen und Elfenbein, die Stoffe mit der Bestimmung, in den Provinzen Central-Afrikas ausgetauscht, das Elfenbein, um nach den Handelsplätzen des Continents exportirt zu werden.

In der Factorei wohnten also nur wenig Menschen. Mrs. Weldon nahm mit dem kleinen Jack eine besondere Hütte ein; Vetter Benedict eine andere. Mit den Dienern des Händlers kamen sie nicht viel zusammen und speisten gemeinschaftlich. Die aus Ziegen-oder Hammelfleisch, Gemüsen, Manioc, Sorgho und anderen Landesfrüchten bestehende Nahrung war für sie völlig hinreichend. Halima, eine junge Sklavin, welche Mrs. Weldon besonders beigegeben war, erwies ihr sogar, so gut sie das vermochte, eine zwar rohe, aber jedenfalls aufrichtige Theilnahme.

Jose-Antonio Alvez, der das Hauptgebäude bewohnte, bekam Mrs. Weldon kaum zu Gesicht, und sie sah auch den außerhalb wohnenden Negoro nicht, dessen Fernbleiben ihr gänzlich unerklärbar blieb. Diese Zurückhaltung erregte ihre Verwunderung und beunruhigte sie nur desto mehr.

»Was will er? Was zögert er? fragte sie sich. Warum hat er uns nach Kazonnde geschleppt?«

So verliefen die acht Tage vor Eintreffen der Karawane Ibn Hamis, die zwei Tage vor der Leichenfeier des Königs und auch noch sechs Tage nach dieser.

Trotz ihrer eigenen Angst konnte Mrs. Weldon doch niemals vergessen, daß ihr Gatte sicher in der größten Seelenangst schwebe, weder Weib noch Kind nach San Francisco zurückkehren zu sehen. Mr. Weldon konnte nicht wissen, daß seine Frau den verderblichen Gedanken gehabt habe, sich auf dem »Pilgrim« einzuschiffen, und mußte glauben, daß sie auf einem der Steamer der transpacifischen Compagnie Passage genommen habe. Diese Dampfer langten nun zwar regelmäßig an, doch weder Mrs. Weldon, noch Jack oder Vetter Benedict mit ihnen. Uebrigens hätte auch der »Pilgrim« jetzt schon längst nach seinem Heimathafen zurückgekehrt sein sollen und James W. Weldon mußte ihn wohl, bei dem Fehlen aller weiteren Nachrichten von dem Schiffe unter die Zahl der verschollenen Fahrzeuge rechnen. Welch’ furchtbarer Schlag würde es aber erst für ihn gewesen sein, als er von seinem Correspondenten in Auckland Avis von der Abfahrt des »Pilgrim« und der Einschiffung der Mrs. Weldon auf demselben erhielt! Was war da wohl in ihm vorgegangen? Selbst wenn er noch nicht glaubte, daß sein Sohn und sie auf dem Meere umgekommen seien, wohin sollte er sich mit seinen Nachforschungen wenden? Offenbar nach den Inseln des Stillen Oceans, vielleicht nach der Küste Amerikas. Aber nie, niemals konnte ihm nur einfallen, daß sie an das Gestade des schrecklichen Afrika geworfen worden sein könnten.

So dachte Mrs. Weldon. Was konnte sie selbst aber in ihrer Lage thun? Entfliehen? Doch wie? Man überwachte sie sehr streng. Fliehen hieß aber, sich auf’s Gerathewohl in das Dickicht der Wälder wagen, mitten in tausend Gefahren stürzen und eine Fußreise von mehr als zweihundert Meilen bis zur Küste versuchen. Trotz alledem war Mrs. Weldon, wenn ihr kein anderes Mittel zu Gebote stand, ihre Freiheit wieder zu erlangen, zu jenem Wagniß entschlossen. Vorher jedoch wollte sie die eigentlichen Absichten Negoro’s kennen lernen.

Endlich sollte das geschehen.

Am 6. Juni, drei Tage nach dem Begräbnisse des Königs von Kazonnde, trat Negoro in die Factorei, in welche er bisher nie den Fuß gesetzt hatte, ein und ging unmittelbar auf die von der Gefangenen bewohnte Hütte zu.

Mrs. Weldon war allein. Vetter Benedict machte eben einen seiner wissenschaftlichen Spaziergänge. Der kleine Jack tummelte sich unter Aufsicht Halima’s auf dem freien Platze der Factorei.

Vetter Benedict durfte in dem Etablissement ungehindert hin-und hergehen. (S. 373.)

Negoro stieß die Thür der Hütte auf.

»Mistreß Weldon, begann er ohne weitere Vorrede, Tom und seine Gefährten sind nach den Märkten von Ujiji verkauft worden.

– Gott sei ihnen gnädig! sagte Mrs. Weldon, die sich eine Thräne trocknete.

– Nan ist unterwegs gestorben und Dick Sand kam um..

»Und wer würde eine Weiße kaufen?« (S. 378.)

– Nan todt! Und Dick’… rief Mrs. Weldon.

– Ja, die Gerechtigkeit verlangte, daß der Kapitän von fünfzehn Jahren die Ermordung Harris’ mit dem Tode bezahlte, erwiderte Negoro. Sie sind allein in Kazonnde, Mistreß, allein in der Gewalt des früheren Koches vom »Pilgrim«, ganz allein, verstehen Sie?«

Was Negoro sagte, war leider nur zu wahr, auch so weit es Tom und seine Genossen betraf. Der alte Neger, sein Sohn Bat, Acteon und Austin

brachen schon am Tage vorher mit der Karawane des Händlers aus Ujiji auf, ohne den Trost, Mrs. Weldon wiederzusehen, sogar ohne zu wissen, daß ihre Leidensgefährtin sich überhaupt in Kazonnde in Alvez’ Etablissement befand. Nun waren sie abgereist nach der Gegend der großen Seen, den Weg, der viele hundert Meilen beträgt, den nur Wenige zurücklegen und von dem noch Wenigere wiederkehren.

»Nun, was weiter? fragte Mrs. Weldon, ohne Negoro anzusehen.

– Mistreß Weldon, fuhr der Portugiese kurz angebunden fort, ich könnte mich jetzt für die schlechte Behandlung rächen, die ich an Bord des »Pilgrim« erlitten habe. Der Tod Dick Sand’s soll mir jedoch genügen. Jetzt bin ich wieder Kaufmann und nun hören Sie meine Absichten wegen Ihrer Zukunft!«

Mrs. Weldon betrachtete den Mann, ohne ein Wort zu äußern.

»Sie selbst, erklärte der Portugiese, Ihr Kind und der gelehrte Tölpel, welcher nach Fliegen jagt, haben für mich einen gewissen Handelswerth, den ich mir zu Nutze zu machen gedenke. Ich werde also auch Sie verkaufen.

– Ich bin eine Freie, antwortete Mrs. Weldon mit sicherer Stimme.

– Sie sind eine Sklavin, wenn ich das will.

– Und wer würde eine Weiße kaufen?

– Ein Mann, der so viel für Sie zahlt, wie ich verlange!«

Mrs. Weldon senkte einen Augenblick das Haupt, denn sie wußte, daß in diesem entsetzlichen Lande eben Alles möglich sei.

»Sie haben mich verstanden? begann Negoro wieder.

– Wer ist der Mann, von dem Sie glauben, daß er mich kaufen werde?

– Sie kaufen oder wiederkaufen!… Ich setze das wenigstens voraus! fügte der Portugiese grinsend hinzu.

– Der Name dieses Mannes? fragte Mrs. Weldon.

– Ei… das ist James W. Weldon, Ihr Gatte.

– Mein Mann! rief Mrs. Weldon, welche nicht recht gehört zu haben glaubte.

– Er selbst, Mistreß Weldon, Ihr Mann, dem ich seine Frau und sein Kind zwar nicht zurückgeben, aber doch verkaufen will; den Vetter Benedict erhält er bei dem Handel dann als Zugabe!«

Mrs. Weldon fragte sich, ob Negoro ihr nicht blos eine Falle stelle, doch schien es ihr, als spreche er im Ernste. Einem elenden Wicht, dem das Geld Alles ist, darf man wohl trauen, wenn es sich um ein Geschäft für ihn handelt, und hier lag ja ein solches vor.

»Und wann gedenken Sie dieses Geschäft abzuschließen? fragte Mrs. Weldon.

– Sobald als möglich.

– Wo?

– Hier auf der Stelle. James W. Weldon wird sich gewiß nicht besinnen, bis nach Kazonnde zu kommen, um seine Frau und sein Kind abzuholen.

– Nein, er würde nicht zögern! – Doch, wer giebt ihm Nachricht?

– Ich. Ich werde nach San Francisco gehen und Herrn Weldon aufsuchen. Das Geld zu dieser Reise fehlt mir nicht.

– Das vom »Pilgrim« gestohlene Geld?

– Ja, …. eben das…. und noch anderes obendrein, antwortete Negoro prahlend. Doch ich will Sie schnell verkaufen und theuer an den Mann bringen. Ich denke, James Weldon wird so einhunderttausend Dollars nicht ansehen.

– Er wird sie nicht ansehen, wenn er sie geben kann, bestätigte Mrs. Weldon frostig. Nur wird mein Mann, wenn Sie ihm sagen, daß ich als Gefangene in Kazonnde, im Innern Afrikas zurückgehalten werde…

– Natürlich werde ich ihm das sagen.

– Mein Mann wird Ihnen ohne Beweise nicht glauben und nicht so unklug sein, auf Ihr bloßes Wort hin, hierher nach Kazonnde zu kommen.

– Er wird schon kommen, entgegnete Negoro, wenn ich ihm einen von Ihnen geschriebenen Brief bringe, in dem Sie Ihre Lage schildern und mich für einen treuen Diener ausgeben, dem es gelang, den Händen dieser Wilden zu entfliehen…

– Nie werden meine Hände diesen Brief schreiben! antwortete Mrs. Weldon bestimmt.

– Sie schlagen es ab? rief Negoro.

– Ja, gewiß!«

Der Gedanke an die Gefahren, welche ihrem Gatten drohten, wenn er nach Kazonnde kam, das wenige Vertrauen, das sie in die Versprechungen Negoro’s setzen konnte, die Leichtigkeit für diesen, auch Mr. Weldon nach eingezogenem Lösegeld zurückzuhalten, alle diese Gründe wirkten zusammen, daß Mrs. Weldon, die im ersten Augenblicke nicht an ihr Kind dachte, den Vorschlag Negoro’s rundweg ablehnte.

»Sie werden diesen Brief schreiben! begann der Portugiese noch einmal.

– Nein! antwortete Mrs. Weldon wiederholt.

– Ah, nehmen Sie sich in Acht! rief Negoro. Sie sind hier nicht allein! Ihr Kind ist ebenso in meiner Gewalt wie Sie selbst!«

Mrs. Weldon wollte antworten, daß ihm das unmöglich sei. Ihr Herz schlug zum Zerspringen und die Stimme versagte ihr.

»Mistreß Weldon, begann Negoro noch einmal, Sie werden sich mein Anerbieten überlegen. Binnen acht Tagen werden Sie mir einen Brief mit der Adresse des Herrn Weldon übergeben haben oder sie dürften es bereuen!«

Mit diesen Worten zog der Portugiese sich zurück, ohne seiner Wuth freien Lauf zu lassen, an Allem aber zeigte es sich, daß er vor keinem Mittel zurückschrecken werde, Mrs. Weldon zum Nachgeben zu zwingen.

Vierzehntes Capitel.Einige Nachrichten von Dr. Livingstone.

Als sie allein war, bewegten sich Mrs. Weldon’s Gedanken nur darum, daß acht Tage vergehen sollten, bis Negoro eine endgiltige Antwort von ihr verlangte. Jetzt galt es also zu überlegen und einen Entschluß zu fassen. Um die Ehrlichkeit des Portugiesen handelte es sich bei dieser Angelegenheit ja nicht, sondern nur um sein Interesse. Der Handelswerth, den er seiner Gefangenen beimaß, gewährte dieser offenbar einen gewissen Schutz und sicherte sie wenigstens vorläufig vor jeder drohenden Gefahr. Vielleicht machte sie ein Mittel ausfindig, ihrem Gemal zurückgegeben werden zu können, ohne daß dieser sich nach Kazonnde begab. Sie wußte wohl, daß James W. Weldon auf einen Brief seiner Frau hin sofort abreisen und allen Gefahren dieser Reise durch die verrufensten Gegenden Afrikas trotzen werde. War er aber einmal in Kazonnde und hatte Negoro die Summe von 1 00.000 Dollars in den Händen, welche Garantie hätten dann Mr. Weldon, seine Frau, sein Kind und Vetter Benedict dafür, daß man sie auch unbehelligt ihren Weg ziehen ließe? Genügte nicht eine Laune der Königin Moina, sie daran zu hindern? Vollzog sich der vorgeschlagene »Austausch« Mrs. Weldon’s und der Ihrigen nicht weit sicherer an irgend einem vorherbestimmten Punkte der Küste, wodurch James W. Weldon wenigstens die Gefahren einer Reise in’s Innere und die Schwierigkeiten, um nicht zu sagen, die Unmöglichkeit der Rückreise erspart blieben?

Diese Gedanken etwa drängten sich in Mrs. Weldon’s Kopfe. Aus den angeführten Gründen hatte sie von vornherein Negoro’s Vorschlag, ihm einen Brief an ihren Gatten zu geben, kurz abgewiesen. Sie überlegte sich auch, daß Negoro, wenn er seinen zweiten Besuch erst nach acht Tagen ansetzte, gewiß eben so lange Zeit brauche, sich für die geplante Reise vorzubereiten, sonst würde er wohl einen kürzeren Termin bestimmt haben, ihr sozusagen die Pistole auf die Brust zu setzen.

»Sollte er es wirklich wagen, mich von meinem Kinde zu trennen? murmelte sie.

In diesem Augenblick hüpfte Jack in die Hütte und seine Mutter umschlang ihn zärtlicher denn je, so als sei Negoro schon hier, ihr das Kind zu entreißen.

»Du bist recht betrübt, Mama? fragte der kleine Knabe.

– Nein, mein Jack, o nein! antwortete Mrs. Weldon. Ich dachte an Deinen Papa. Du möchtest ihn gewiß gern wiedersehen?

– Ach ja, Mama! Wird er hierher kommen?

– Nein… nein! Das darf er nicht!

– So werden wir zu ihm zurückkehren?

– Ja, mein Jack!

– Mit meinem Freunde Dick… und Herkules… und dem alten Tom?

– Ja… freilich!… antwortete Mrs. Weldon, indem sie den Kopf niedersenkte, um ihre Thränen zu verbergen.

– Hat Papa an Dich geschrieben? fragte der kleine Jack weiter.

– Nein, mein Schatz.

– So hast Du an ihn geschrieben, Mama?

– Ja… ja… Vielleicht!«… erwiderte Mrs. Weldon.

Unwillkürlich trat der kleine Jack hiermit den Gedanken seiner Mutter entgegen, die ihn mit Küssen bedeckte, um jeder weiteren Antwort enthoben zu sein.

Zu den anderen Gründen, welche Mrs. Weldon veranlaßt hatten, Negoro’s Vorschläge von vornherein abzulehnen, gesellte sich nämlich noch ein anderer, und zwar ein nicht ganz unrichtiger. Vielleicht bot sich ihr ohne Mitwirkung ihres Mannes und gegen Negoro’s Absicht eine unerwartete Aussicht auf Befreiung. Zwar leuchtete ihr nur ein Schimmer von Hoffnung, nur ein sehr schwacher, immerhin aber war es doch ein solcher.

Einige Worte, die sie von einer, wenige Tage vorher stattgefundenen Unterhaltung hörte, eröffneten ihr die Aussicht auf eine baldige, scheinbar wie von der Vorsehung gesandte Hilfe.

Alvez und ein Mestize aus Ujiji plauderten wenige Schritte vor der Hütte, welche Mrs. Weldon inne hatte. Daß sich das Gespräch um nichts Anderes drehte als um den Handel mit Negern, wird Niemand erstaunen machen. Die beiden Menschenfleischhändler sprachen eben vom Geschäft. Sie ließen sich über die ihrem Gewerbe bevorstehenden Aussichten aus und zeigten sich nicht wenig beunruhigt über die Störungen, welche ihnen die Engländer nicht nur draußen durch ihre Kreuzer, sondern auch im Innern durch die Missionäre und Reisenden bereiteten.

Jose-Antonio Alvez war der Ansicht, daß jene kühnen Pionniere nur der Freiheit ihrer commerciellen Thätigkeit schaden könnten. Sein Partner theilte diese Anschauung vollkommen und hätte jene weltlichen oder geistlichen Besucher lieber mit Flintenschüssen empfangen gesehen.

In gewissem Grade war das übrigens auch der Fall; zum großen Mißvergnügen der Händler kamen nur immer andere, wenn man einmal einen jener Neugierigen abgethan hatte. Kehrten diese nun in ihre Heimat zurück, so erzählten sie »mit crasser Uebertreibung«, wie Alvez sagte, von den Gräueln des Sklavenhandels, und das schadete dem an und für sich beschränkten Geschäft natürlich ganz bedeutend.

Der Mestize stimmte ihm bei und beklagte dasselbe vorzüglich in Betreff der Märkte von Ujiji, N’yangwe und Zanzibar, sowie des ganzen Gebietes der großen Seen. Dorthin waren nacheinander Speke, Grant, Livingstone, Stanley und Andere gekommen. Das glich einem feindlichen Einfall.

Bald würden ganz England und ganz Amerika sich des Landes bemächtigt haben.

Alvez bedauerte seinen Geschäftsfreund aufrichtig und gestand, daß die Provinzen des westlichen Afrikas bisher noch weniger mißhandelt, d.h. weniger besucht worden seien; die Reisenden-Epidemie gewann aber an Ausbreitung; war Kazonnde auch noch verschont geblieben, so war das doch nicht mit Cassange und Bihe der Fall, wo Alvez ja auch Factoreien besaß. Man erinnert sich wohl der Mittheilung Harri’s gegen Negoro über einen gewissen Lieutenant Cameron, der die Frechheit haben konnte, Afrika von einer Küste zur anderen zu durchreisen und von Zanzibar ausgehend es in Angola verlassen wollte.

Der Sklavenhändler hatte in der That allen Grund, zu fürchten, denn man weiß ja, daß Cameron im Süden und Stanley im Norden wenige Jahre später die noch ziemlich unbekannten Provinzen des Westens durchforschten, die fortdauernden Gräuel des Sklavenhandels an den Pranger stellten, die schändliche Mitschuld der fremden Agenten darlegten und Alle zur Verantwortung zu ziehen suchten.

Von diesen Reisen Camerons und Stanley’s konnten jetzt freilich weder Alvez noch der Mestize etwas wissen; doch was sie wußten, was sie einander mittheilten, was Mrs. Weldon hörte und was für sie ein so großes Interesse hatte, mit einem Worte, was sie veranlaßt hatte, sich den Anforderungen Negoro’s nicht sofort zu unterwerfen, das war die Nachricht, daß Doctor Livingstone binnen Kurzem nach Kazonnde kommen werde.

Die Ankunft Livingstone’s mit seinem Gefolge, das weitreichende Ansehen, das er in Afrika genoß, der Beistand der portugiesischen Behörden von Angola, der ihm nicht fehlen konnte – das zusammen konnte ja recht wohl die Befreiung Mrs. Weldon’s und der Ihrigen, gegen Negoro’s und gegen Alvez’ Willen, herbeiführen. Jetzt winkte den Gefangenen vielleicht die Rückkehr nach dem Vaterlande in nahe bevorstehender Zeit, und ohne daß James W. Weldon sein Leben erst bei einer Reise wagte, deren guter Erfolg noch nicht einmal sicher war.

Lag denn aber die Wahrscheinlichkeit nahe, daß Livingstone diesen Theil des Continents binnen Kurzem besuchen werde? Ja, denn wenn er seiner eingehaltenen Reiseroute weiter folgte, kam er bei der Durchforschung Central-Afrikas nun sicher hierher.

Die Heldenlaufbahn des Sohnes jenes kleinen Theehändlers in Blantyre, einem Dorfe der Grafschaft Lamark, ist wohl schon ziemlich bekannt. David Livingstone, als das zweite von den sechs Kindern seines Vaters am 13. März 1813 geboren, bildete sich durch theologische und medicinische Studien, absolvirte sein Noviziat in der »London missionary Society« und schiffte sich im Jahre 1840 nach dem Cap in der Absicht ein, im südlichen Afrika den Missionär Moffat in Kuruman aufzusuchen.

Vom Cap aus begab sich der zukünftige Reisende nach dem Lande der Bechuanas, welches er als der Erste durchforschte, kehrte nach Kuruman zurück, heiratete Moffat’s Tochter, die sich als muthige Lebensgefährtin seiner würdig zeigen sollte, im Jahre 1843, und gründete eine Mission im Thale von Mobatsa.

Vier Jahre später finden wir ihn in Kalobeng wieder, 225 Meilen nördlich von Kuruman, im Gebiete der Bechuanas.

Zwei Jahre nachher, im Jahre 1849, verließ Livingstone Kalobeng in Begleitung seiner Frau, seiner drei Kinder und zweier Freunde, MM. Oswell und Murray. Am 1. August desselben Jahres entdeckte er den Nyami-See und kam, dem Laufe des Zouga folgend, nach Kalobeng zurück.

Bei dieser Reise vermochte Livingstone, durch die Eingebornen gehindert, den Nyami nicht zu überschreiten. Ein zweiter Versuch fiel nicht glücklicher aus. Erst der dritte sollte gelingen. Wiederum schlug er mit seiner Familie und M. Oswell den Weg nach Norden ein und erreichte nach unsäglichen Mühsalen bei mangelnden Lebensmitteln und fehlendem Wasser, wodurch selbst das Leben seiner Kinder bedroht ward, längs des Chobe, eines Nebenflusses des Zambesi, hinwandernd, das Land der Makololos. In Linyanti begegnete er auch deren Häuptling Sebituane. Ende Juni 1851 wurde dann der Zambesi entdeckt und der Doctor kehrte nach dem Cap zurück, um seine Familie nach England heimzuführen.

Der unerschrockene Livingstone wollte allein sein, um sein Leben für die gefahrvollen Reisen wagen zu können, die er noch beabsichtigte.

Zuerst handelte es sich darum, vom Cap ausgehend, Afrika von Süden nach Westen schräg zu durchwandern und auf diesem Wege nach San Pablo de Loanda zu gelangen.

Mit wenigen Eingebornen reiste der Doctor am 3. Juni 1852 ab. Er erreichte zunächst Kuruman und zog längs der Wüste von Kalafari hin. Am 31. December betrat er Litubaruba und fand das Land der Bechuanas verwüstet von den Boers, alten holländischen Kolonisten, die die Herren des Caplandes waren vor dessen Besitznahme durch die Engländer.

Livingstone verließ Litubaruba am 15. Januar 1853, drang in’s Innere des Landes der Bamanguatos ein und kam am 23. Mai in Linyanti an, wo ihn der junge Herrscher der Makololos, Sekeletu, mit großen Ehren empfing.

Dr. Livingstone.

Durch das heftig herrschende Fieber zurückgehalten, beschäftigte sich der Doctor mit dem Studium der Sitten des Landes und constatirte zuerst die Verheerungen, welche der Sklavenhandel in Afrika anrichtete.

Einen Monat später wanderte er den Lauf des Chobe hinab, erreichte den Zambesi, betrat Naniele, besuchte Katenga und Libonta und fand auch den Zusammenfluß des Zambesi und des Leeba. Hier stellte er das Project auf, längs dieses Wasserlaufes bis zu den portugiesischen Besitzungen im Westen vorzudringen, und kehrte wegen der hierzu nöthigen Vorbereitungen nach neunwöchentlicher Abwesenheit nach Linyanti zurück.

Am 11. November 1853 verließ der Doctor von siebenundzwanzig Makololos begleitet, Linyanti und erreichte am 27. December die Mündung des Leeba. Diesem Strome folgte er bis zum Lande der Balondas, wo jener den von Osten kommenden Makondo aufnimmt. Es war das zum ersten Male, daß ein Weißer diese Gegend besuchte.

Am 14. Januar erreichte Livingstone die Hauptstadt Sinthe’s, des mächtigsten Souveräns der Bolondas, der ihn freundlich aufnahm, und am 26. desselben Monats kam er nach Ueberschreitung des Leeba bei dem König Katema an. Auch dort ward ihm ein wohlwollender Empfang zu Theil und unbehelligt zog die kleine Gesellschaft weiter und lagerte am 20. Februar an den Ufern des Dilolo-Sees.

Von hier aus schien sich Alles gegen Livingstone verschworen zu haben; das Land wurde unwegbar, die Eingebornen belästigten ihn, verschiedene Stämme griffen die Truppe an, seine Begleiter selbst empörten sich und bedrohten ihn mit dem Tode – kurz, ein weniger energischer Mann als Livingstone hätte nun seine Absichten gewiß aufgegeben. Der Doctor widerstand dem Allen und erreichte am 4. April das Ufer des Coango, eines bedeutenden Wasserlaufes, der die Ostgrenze der portugiesischen Besitzungen bildet und sich weiter im Norden in den Zaïre ergießt.

Sechs Tage später betrat Livingstone Cassauge, wo ihn der Sklavenhändler Alvez flüchtig sah, und am 31. Mai kam er glücklich in San Pablo de Loanda an. Zum ersten Male war Afrika in Zeit von zwei Jahren schräg von Süden nach Westen durchwandert worden.

Am 24. September des nämlichen Jahres verließ David Livingstone Loanda wieder. Er folgte dem rechten Ufer der Coanza, die für Dick Sand und die Seinigen so verderblich werden sollte, gelangte zu der Einmündungsstelle des Lombe, kreuzte zahlreiche Sklavenkarawanen, kam noch einmal nach Cassange, verließ dasselbe am 20. Februar, überschritt den Coango und erreichte den Zambesi in Kawawa. Am 8. Juni fand er den Dilolo-See wieder, begrüßte Sinthe, wanderte den Zambesi hinab und betrat wiederum Linyanti, das er am 3 November 1855 verließ.

Dieser zweite Theil der Reise, der den Doctor nach der Ostküste führte, sollte die vollständige Durchwanderung Afrikas von Westen nach Osten beendigen.

Nach einem Besuche der berühmten Victoria-Fälle, des »donnernden Rauchs«, verließ David Livingstone den Zambesi, um eine nordöstliche Richtung einzuschlagen. Der Durchzug durch das Gebiet der Batokas, das sind durch die Gewohnheiten des Haschisch-Rauchens halb verthierte Eingeborne, ein Besuch bei Semalembue, einem mächtigen Häuptling dieser Gegend, die Ueberschreitung des Kafue und Wiedererreichung des Zambesi, ein Besuch bei dem König Mburuma, die Besichtigung der Ruinen von Zumbo, eine alte portugiesische Stadt, das Zusammentreffen mit dem Häuptling Mpende am 17. Januar 1856, der damals noch mit den Portugiesen im Kriege lag, endlich die Ankunft in Tete am Ufer des Zambesi – das waren etwa die Hauptstationen dieser Reise. Am 22. April verließ Livingstone diese Station, welche sich ehemals durch ihren Reichthum auszeichnete, ging bis zum Delta des Flusses hinab und kam an dessen Mündung, in Quilimane, am 20. Mai an, vier Jahre nach seinem Aufbruche vom Cap. Am 12. Juli schiffte er sich nach Mauritius ein und reiste nach zehnjähriger Abwesenheit nach England zurück.

Die große Medaille der Gesellschaft für Geographie in London, der Preis derselben Gesellschaft in Paris und ehrenvolle, ja enthusiastische Aufnahme – nichts fehlte dem berühmten Reisenden. Ein Anderer hätte nun vielleicht gedacht, der Ruhe zu pflegen. Nicht so der Doctor; am 1. Mai 1858 schon reiste er in Begleitung seines Bruders Karl, des Kapitän Lidingfield, der Doctoren Kirk und Meller, der MM. Thornton und Baines wieder ab und kam im Mai in Mozambique mit der Absicht an, das Stromgebiet des Zambesi näher kennen zu lernen.

Nicht Alle sollten von der Reise zurückkehren.

Ein kleiner Dampfer, der, Ma-Robert«, gestattete den Reisenden, jenen großen Fluß von seiner Mündung bei Kongone aus zu beschiffen. Sie gelangten damit am 8. September nach Tete.

Als Hauptereignisse der ersten Jahre dieser Expedition sind zu verzeichnen: die Aufnahme des Unterlaufs des Zambesi und des Chire, seines linken Nebenflusses im Januar 1859, der Besuch des Chirua-Sees im April, die Durchforschung des Gebietes der Manganjas, die Entdeckung des Nyassa-Sees am 10. September, die Rückkehr nach den Victoria-Fällen am 9. August 1860, die Ankunft des Bischofs Makensie und seiner Missionäre an der Mündung des Zambesi am 31. Januar 1861; die Untersuchung des Rovouma auf dem »Pionnir« im März, die Rückkehr nach dem Nyassa-See im September 1861 und der Aufenthalt daselbst bis Ende October; ferner traf am 30. Januar 1862 auch Frau Livingstone und mit ihr ein zweiter Dampfer, die »Lady Nyassa«, ein. Bischof Makensie und einer seiner Missionäre waren zu dieser Zeit schon der Unbill des Klimas erlegen und am 27. April starb auch Mrs. Livingstone in den Armen ihres Gatten.

Im Mai zog der Doctor zu einer zweiten Untersuchung Rovoumas aus; von da erreichte er im November wieder den Zambesi, ging längs des Chire hinauf, verlor im April 1863 seinen Begleiter Thornton, schickte seinen Bruder Karl und den von Krankheit erschöpften Doctor Kirk nach Europa zurück und sah am 10. November zum dritten Male den Nyassa, dessen Hydrographie er vollendete. Drei Monate später befand er sich an der Mündung des Zambesi, ging nach Zanzibar und kam am 20. Juli 1864 nach fünfjähriger Abwesenheit wieder in London an, wo er sein berühmtes Werk: »Untersuchung des Zambesi und seiner Nebenflüsse« veröffentlichte.

Am 28. Januar 1866 schiffte sich Livingstone von Neuem nach Zanzibar ein. Es war die vierte Reise, welche er unternahm!

Am 8. August befand sich der Doctor, nachdem er vielfachen Gräuelscenen, welche der Sklavenhandel in jenen Gegenden veranlaßte, beigewohnt, diesmal nur von wenigen Cipayen und Negern begleitet, in Macalasa, am Ufer des Nyassa. Sechs Wochen später ergriff der größte Theil seiner Begleiter die Flucht, kehrte nach Zanzibar zurück und verbreitete dort die falsche Nachricht von Livingstone’s Tode.

Letzterer jedoch ging von seinen Plänen nicht ab. Er wollte das Land zwischen dem Nyassa-und dem Taganayika-See besuchen. Am 10. December überschritt er, nur von wenigen Eingebornen begleitet, den Loangua und entdeckte am 2. April 1867 den Lienneba-See. Dort schwebte er einen Monat lang zwischen Tod und Leben. Kaum hergestellt, erreichte er am 30. August den Moero-See, dessen nördliches Ufer er untersuchte, und betrat am 21. November die Stadt Cazembe, in der er vierzig Tage verweilte, während welchen er seinen Besuch des Moero-Sees noch zweimal wiederholte.

Von Cazembe aus richtete Livingstone seine Schritte nach Norden, in der Absicht, die bedeutende Stadt Ujiji am Taganyika zu erreichen. Von Ueberschwemmungen heimgesucht und von seinen Führern verlassen, mußte er jedoch nach Cazemba umkehren und nach Süden hin zurückwandern, wo er sechs Wochen später den großen See Banguelolo auffand. Dort blieb er bis zum 9. August und machte sich dann nochmals auf den Weg nach dem Taganyika.

Welch’ mühselige Reise! Den heldenmüthigen Doctor ergriff eine solche Schwäche, daß er vom 7. Januar 1869 ab stets getragen werden mußte. Im Februar endlich erreichte er den See und traf in Ujiji ein, woselbst er eine für ihn bestimmte Sendung der orientalischen Gesellschaft in Calcutta vorfand.

Livingstone beschäftigte sich nun mit dem einen Gedanken, längs des Taganyika hinziehend, die Quellen oder das Flußthal des Nils zu finden. Am 21. September war er in Bambarre, im Staate Manyuema, der von Kannibalen bewohnt ist, und kam bei dem Lualaba an, von dem Cameron später voraussetzte und Stanley es feststellte, daß er nichts Anderes sei als der Oberlauf des Congo oder Zaïre. In Mamohela, wo ihm nur noch drei Diener übrig blieben, lag der Doctor vierundzwanzig Tage lang krank darnieder. Am 21. Juli 1871 reiste er endlich nach dem Taganyika zurück und traf erst am 23. October in Ujiji wieder ein. Er war nur noch ein Skelet!

Lange vor diesem Zeitpunkte blieben alle Nachrichten von dem Reisenden aus. In Europa konnte man ihn wohl für todt halten. Er selbst gab fast jede Hoffnung auf, sein Werk durchzuführen.

Elf Tage nach seiner Ankunft in Ujiji, am 3. November, knattern Gewehrschüsse etwa eine Viertelmeile vor der Stadt. Der Doctor eilt hinaus. Ein Mann, ein Weißer, steht vor ihm.

»Doctor Livingstone, wie ich annehmen muß?

– Gewiß!« antwortete dieser, mit höflichem Lächeln die Mütze lüftend.

Die Hände der beiden Männer fanden sich.

»Ich danke Gott, nahm der Weiße wieder das Wort, daß er mir vergönnt hat, Sie aufzufinden.

– Und ich schätze mich glücklich, erwiderte dieser, gerade jetzt hier zu sein, um Sie zu empfangen.«

Jener Weiße war der Amerikaner Stanley, der Reporter des New-York Herald, den M. Bennet, der Eigenthümer des Blattes, zur Aufsuchung David Livingstone’s ausgesendet hatte.

Im October 1870 schiffte sich genannter Amerikaner ohne Zögern, ohne davon viel Aufsehen zu machen, ein Held im besten Sinne des Wortes, in Bombay nach Zanzibar ein und kam, indem er etwa der Reiseroute Speke’s und Bourton’s folgte, nach zahllosen Strapazen und unter wiederholt drohender Lebensgefahr in Ujiji an.

Die beiden Reisenden, welche schnell zu Freunden wurden, unternahmen alsbald eine Expedition nach dem nördlichen Theile des Taganyika. Sie schifften sich ein, segelten bis zum Cap Magala und kamen nach genauester Besichtigung zu der Ansicht, daß der Abfluß des großen Sees einen Nebenarm des Lualaba speise. Wenige Jahre später bestimmten dies Cameron und Stanley selbst mit voller Sicherheit. Am 12. December waren Livingstone und sein Begleiter wieder in Ujiji zurück.

Stanley bereitete sich zur Rückreise. Am 27. December kamen er und der Doctor nach achttägiger Wasserfahrt in Urimba an und gelangten am 23. Februar nach Kuihara.

Mit dem 12. März kam der Tag des Abschieds.

»Sie vollbrachten, sagte der Doctor zu seinem Gefährten, was nur wenige Menschen ausgeführt hätten, und das besser als manche große und erfahrene Reisende. Ich danke Ihnen herzlich dafür. Gott geleite Sie, mein Freund, und nehme Sie in seinen mächtigen Schutz!

– Und möge er Sie, sagte Stanley, Livingstone’s Hand ergreifend, einst frisch und gesund zurückführen, bester Doctor!«

Dann zog er seine Hand rasch zurück und wandte sich um, seine Thränen zu verbergen.

»Leben Sie wohl, Doctor, mein lieber Freund! rief er mit halb erstickter Stimme.

– Leben Sie wohl«’ wiederholte Livingstone schwach.

Am 12. Juli 1872 reiste Stanley nach Marseille ab.

Livingstone nahm seine Untersuchungen wieder auf. Am 25 August, nach fünfmonatlichem Aufenthalte in Kuihara, brach er in Begleitung seiner schwarzen Diener Souzi, Chouma und Amoda, zwei anderer Träger, ferner Jakob Wainwright’s und weiterer 56 Mann, welche Stanley geschickt hatte, nach dem Süden des Taganyika auf.

Einen Monat später erreichte die Karawane unter heftigen, durch außergewöhnliche Trockenheit erzeugten Gewittern die Stadt M’oura. Immer strömte der Regen herab, murrten die Eingebornen, und unter den Stichen der Tetses erlagen die meisten Saumthiere. Am 24 Januar 1873 war die kleine Truppe in Tchitunkue. Am 27. April wandte sie sich, nach Umschreitung des Bangueolo-Sees, nach dem Dorfe Tchitambo.

Das war der Ort, wo mehrere Sklavenhändler Livingstone verlassen hatten. Von ihnen erfuhren dann Alvez und sein College aus Ujiji etwa Folgendes: Man war allgemein sehr ernstlich besorgt, daß der Doctor nach Erforschung des südlichen Theiles des Sees sich nach Loanda begeben und die Gegenden besuchen würde, wo der Sklavenhandel seinen Hauptsitz hat. Dabei sollte er nach Kazonnde kommen, wohin ihn der Weg ganz naturgemäß führte, und nur zu wahrscheinlich folgte er auch dieser Route.

Auf die bald bevorstehende Ankunft des berühmten Reisenden konnte Mrs. Weldon um so mehr rechnen, als er nun schon vor zwei Monaten den südlichen Theil des Bangueolo erreicht haben mußte.

Da verbreitete sich am 13. Juni, am Tage bevor Mrs. Weldon Negoro den Brief übergeben sollte, der hunderttausend Dollars in dessen Hände lieferte, unerwartet eine traurige Nachricht, über welche sich freilich Alvez und die anderen Händler nur freuen konnten.

Mit dem Morgenrothe des 1. Mai 1873 war David Livingstone verschieden!

Die Hände der beiden Männer fanden sich. (S. 389.)

Seine kleine Karawane hatte das Dorf Tchitamba am Südende des Sees im Laufe des 29. April erreicht. Den Doctor brachte man auf einer Tragbahre aus Zweigen dahin. In der Nacht zum 30. seufzte er unter der Marter seiner durchdringenden Schmerzen, doch so leise, daß man es kaum hörte, noch. »Oh! dear! dear!« und sank dann bewußtlos zusammen.

Nach Verlauf einer Stunde rief er seinen Diener Souzi, verlangte einige Arzneimittel und murmelte dann mit schwacher Stimme:

»Es ist gut, Ihr könnt nun gehen.«

Weshalb schlug er diese unerwartete Richtung ein? (S. 395.)

Gegen vier Uhr Morgens traten Souzi und fünf Mann von der Begleitung in die Hütte des Doctors.

Vor seinem Lager knieend und den Kopf in die Hände gestützt, schien Livingstone zu beten.

Sonzi berührte mit dem Finger leicht seine Wange: sie war kalt.

David Livingstone war nicht mehr!

Neun Monate später langte seine Leiche, von den treuesten Dienern unter Verachtung jeder Anstrengung getragen, in Zanzibar an und wurde am 12. April 1874 in der Westminster-Abtei beigesetzt, mitten unter jenen Männern, welche England durch diese Grabstätte gleich seinen Königen ehrt. 

Fünfzehntes Capitel.Wohin eine Manticore den Menschen bringen kann.

Klammert sich der Unglückliche nicht an jede schwache Planke, die ihm Rettung verheißt? Suchen die ängstlichen Blicke des Verurtheilten nicht nach dem schwächsten Schimmer von Hoffnung, der ihm noch leuchtet?

So erging es auch Mrs. Weldon, und deshalb wird ihre Entmuthigung um so erklärlicher erscheinen, als sie aus Alvez’ eigenem Munde vernahm, daß Doctor Livingstone in einem kleinen Dorfe am Bangueolo gestorben sei. Sie schien sich nun verlassener als je; es war, als ob ein geistiges Band, das sie mit dem kühnen Reisenden und durch diesen mit der civilisirten Welt verknüpfte, plötzlich zerschnitten sei. Die rettende Planke entschlüpfte ihren Händen, der Schimmer von Hoffnung erstarb vor ihren Augen. Tom und seine Gefährten hatten Kazonnde nach dem Gebiete der großen Seen zu verlassen. Von Herkules keine Nachrichten. Mrs. Weldon blieb Niemand mehr, auf den sie zählen konnte. Wohl oder übel mußte sie auf Negoro’s Vorschlag zurückkommen, indem sie nur versuchte, sich dessen Bedingungen günstiger zu gestalten und den endlichen Erfolg sicherzustellen.

Am 14. Juni, pünktlich an dem von ihm angesetzten Tage, stellte sich Negoro in Mrs. Weldon’s Hütte ein.

Den Portugiesen leiteten, wie er sagte, immer nur praktische Rücksichten. Von der Höhe des bedungenen Lösegeldes brauchte er sich nichts abhandeln zu lassen, da seine Gefangene diesen Punkt gar nicht berührte. Mrs. Weldon erwies sich jedoch der ganzen Frage gegenüber nicht weniger praktisch.

»Wollen Sie einmal ein Geschäft machen, sagte sie, so vereiteln Sie es nicht durch unannehmbare Bedingungen. Unsere Freigebung kann im Austausch gegen die von Ihnen verlangte Summe erfolgen, ohne daß mein Mann sich in ein Land begiebt, wo Sie ja selbst wissen, was man auch mit einem Weißen beginnen kann!«

Nach einigem Zögern fügte sich Negoro und Mrs. Weldon erhielt schließlich die Zusicherung, daß Mr. James W. Weldon sich nicht erst bis Kazonnde zu wagen brauchte. Er sollte nur in Mossamedes, einem kleinen, im Süden der Küste von Angola gelegenen Hafen landen, den meist nur Sklavenhändler besuchten und der Negoro hinlänglich bekannt war. Dorthin wollte der Portugiese Mr. Weldon bringen, während Agenten von Alvez Mrs. Weldon, den kleinen Jack und Vetter Benedict zu bestimmter Zeit ebenfalls dahingeleiten sollten. Gegen Rückgabe der Gefangenen sollte die bedungene Summe an die Agenten ausgezahlt werden und Negoro, der Mr. Weldon gegenüber die Rolle des höchst ehrbaren Mannes gespielt hatte, unbemerkt verschwinden.

Mrs. Weldon erzielte hiermit ein sehr wichtiges Zugeständniß. Sie ersparte ihrem Gatten die Gefahren einer Reise nach Kazonnde, das Risico, nach Zahlung des Lösegeldes ebenfalls zurückbehalten zu werden, und außerdem die Mißlichkeiten der Rückreise. Legte sie die 600 Meilen zwischen Kazonnde und Mossamedes in derselben Weise zurück wie den Weg von der Coanza nach der genannten Stadt, so hatte sie ja nur eine mäßige Anstrengung zu befürchten, und in Alvez’ Interesse – der dem ganzen Handel keineswegs fern stand – lag es ja, die Gefangenen heil und gesund abzuliefern.

Nach Ordnung dieser Vorbedingung setzte Mrs. Weldon einen Brief in gewünschtem Sinne auf und überließ es Negoro’s Sorge, sich in die unpassende Rolle eines treu ergebenen, den Eingebornen glücklich entflohenen Dieners zu finden. Negoro nahm das Schreiben in Empfang, auf welches hin James Weldon gar nicht zögern konnte, ihm nach Mossamedes zu folgen, und brach am folgenden Tage unter der Escorte einiger zwanzig Neger nach Norden zu auf. Weshalb schlug er diese unerwartete Richtung ein? Hegte er, Negoro, die Absicht, sich auf einem der Fahrzeuge, welche die Mündungen des Congo besuchen, einzuschiffen, um dadurch die portugiesischen Stationen und die Strafanstalten zu umgehen, deren unfreiwilliger Insasse er ja selbst gewesen war? Vielleicht; mindestens gab er Alvez diesen Grund dafür an.

Nach seiner Abreise mußte Mrs. Weldon sich nun einzurichten suchen, um die Zeit ihres Aufenthaltes in Kazonnde so gut wie möglich hinzubringen. Selbst im günstigsten Falle konnte das drei bis vier Monate dauern denn so lange Zeit nahm die Hin-und Rückreise Negoro’s gewiß in Anspruch.

Mrs. Weldon hatte auf keinen Fall den Gedanken, die Factorei zu verlassen. Ihr Kind, Vetter Benedict und sie selbst befanden sich hier ja verhältnißmäßig in Sicherheit. Halima’s aufmerksame Sorgfalt machte ihr die Härten dieser Einsperrung minder fühlbar. Uebrigens hätte ihr der Sklavenhändler wahrscheinlich auch gar nicht gestattet, das Etablissement zu verlassen. Die große Prämie, welche ihm der Rückverkauf seiner Gefangenen versprach, lohnte wohl der Mühe, letztere streng zu bewachen. Es traf sich auch glücklich, daß Alvez keine Veranlassung hatte, Kazonnde zu verlassen, um die beiden anderen Factoreien in Bihe und Cassange zu besuchen. Bei der Leitung weiterer Razzias vertrat jetzt Coïmbra seine Stelle, und Niemand hatte Ursache, die Abwesenheit dieses Trunkenboldes zu bedauern.

Zum Ueberfluß empfahl Negoro vor seiner Abreise Mrs. Weldon noch dringend der Fürsorge Alvez’. Er legte besonderes Gewicht darauf, sie unausgesetzt zu überwachen. Man wußte ja gar nicht, was aus Herkules geworden war. Kam er in dieser todtbringenden Provinz Angola wirklich nicht um’s Leben, so konnte er ja vielleicht versuchen, sich der Gefangenen zu nähern und sie Alvez’ Händen zu entführen. Der Sklavenhändler überschaute vollständig die Situation, bei welcher für ihn eine nicht zu verachtende Summe Dollars auf dem Spiele stand Er übernahm die Verantwortlichkeit für Mrs. Weldon ebenso wie für seine eigene Casse.

Das einförmige Leben der Gefangenen nahm also seinen Fortgang, ganz wie in den ersten Tagen ihrer Hierherkunft. Was innerhalb der Einfriedigung der Factorei vorging, gab übrigens ein vollkommenes Spiegelbild von dem Leben der Eingebornen außer derselben. Alvez selbst huldigte keinerlei anderen Gewohnheiten als die Bevölkerung von Kazonnde. In dem Etablissement arbeiteten die Frauen ebenso, wie sie es zum Vergnügen ihrer Ehegatten oder Herren in der Stadt gethan hätten. Die Zubereitung des Reises durch Klopfen mit dem Stößer in großen hölzernen Mörsern bis zur vollendeten Schälung desselben; das Reinigen und Mahlen des Maises und alle nothwendigen Manipulationen, um ihn in Form kleinerer Körnchen zu gewinnen, welche zur Bereitung eines unter dem landesüblichen »Mtyelle« bekannten und beliebten Gerichtes dienen; die Einerntung des Sorgho, dessen eingetretene Reise eben zu jener Zeit mit besonderen Ceremonien verkündigt wurde; die Extraction eines wohlriechenden Oeles aus den Steinfrüchten des »Mpafu«, d.i. eine Art Oliven, deren Essenz ein bei den Eingebornen sehr beliebtes Parfum liefert; das Spinnen der Baumwolle, deren Fasern mittelst einer anderthalb Fuß langen und von den Arbeiterinnen in sehr rasche Umdrehung versetzten Spindel zu Fäden vereinigt werden; die Herstellung von Rinden-Stoffen mittelst Schlägeln; das Ausziehen der Manioc-Wurzeln und die Bearbeitung des Bodens zur Cultur verschiedener einheimischer Producte, wie Cassave, Mehl aus dem Manioc, Bohnen, deren ein drittel Meter lange, »Mosilanes« genannte Schoten auf Bäumen von 6 bis 7 Meter Höhe wachsen; Arachiden, aus denen Oel gewonnen wird; perennirende Erbsen, bekannt unter dem Namen »Tchilobes«, deren hellblaue Blüthen den etwas faden Geschmack des Sorgho einigermaßen verbessern; einheimische Kaffeebäume, Zuckerrohr, dessen Saft sich leicht in Syrup verwandelt, Zwiebeln, Goyaven, Sesam, Gurken, deren große Kerne man wie Kastanien zu rösten pflegt; ferner die Bereitung der gegohrenen Getränke, wie des »Malafu« aus Bananen, des »Pombe« und anderer Liqueure; die Sorge für die Hausthiere, z.B. für jene Kühe, die sich nur in Gegenwart ihres eigenen oder wenigstens eines ausgestopften Kalbes melken lassen; für jene Färsen von kleinem Wuchs und mit kurzen Hörnern, von denen manche einen deutlichen Höcker haben; für die Ziegen, die in den Landestheilen, wo ihr Fleisch als Nahrungsmittel beliebt ist, ein wichtiges Tauschobject, fast eine Münze, wie die Sklaven, bilden; endlich die Unterhaltung des Geflügels, der Schweine, Schafe, Stiere u.s.w. – diese lange Aufzählung beweist, welch’ harte Arbeiten dem schwächeren Geschlecht im Innern Central-Afrikas obliegen oder doch gewöhnlich aufgebürdet werden.

Die Männer rauchen inzwischen Tabak oder Hanf, jagen Elefanten oder Büffel und verdingen sich zur Ausführung der Razzias an die Sklavenhändler. Zu gewissen Zeiten heimst man stets eine Ernte ein, entweder eine solche an Mais oder an – Sklaven!

Von den genannten mannigfachen Beschäftigungen kamen in Alvez’ Factorei zur Kenntniß Mrs. Weldon’s natürlich nur diejenigen, welche den Frauen oblagen. Manchmal blieb sie stehen und sah jenen theilnehmend zu, während diese nur durch wenig einladende Grimassen zu antworten pflegten. Eine Weiße haßten sie schon aus gewissem Racen-Instinct, und ihr Herz fühlte offenbar nicht das mindeste Mitleid mit jener. Die junge Halima bildete die einzige, rühmliche Ausnahme, und bald gelang es Mrs. Weldon, die sich einzelne Worte der Landessprache angeeignet hatte, sich mit der jungen Sklavin nothdürftig zu unterhalten.

Der kleine Jack begleitete häufig seine Mutter, wenn diese innerhalb der Einfriedigung lustwandelte, aber er sehnte sich doch auch einmal hinaus. Da gab es in dem Gezweig eines mächtigen Baobab Marabut-Nester aus Baumästen, Nester von »Suimangas« mit scharlachrother Brust und Kehle, ähnlich den »Tissangen« (Webervögeln); ferner »Witwenvögel«, welche die Strohdächer zum Besten ihrer Familie plünderten; »Calaos«, die sich durch ihren lieblichen Gesang auszeichnen; hellgraue, rothgeschwänzte Papageien, welche in Manyema »Rouß« heißen und auch den Stammeshäuptlingen ihren Namen leihen; insectenvertilgende »Drugos«, ähnlich grauen Hänflingen mit sehr großem, rothem Schnabel. Da und dort, vorzüglich in der Umgebung der Bäche, welche durch die Factorei rieselten, schwärmten hunderte von Schmetterlingen der verschiedensten Arten; doch das interessirte Vetter Benedict fast noch mehr als den kleinen Jack, der es immer bedauerte, nicht größer zu sein, um über die Umplankung hinwegsehen zu können. Ach, wo war jetzt sein armer Freund Dick Sand, der ihn so hoch in die Takelage des »Pilgrim« mit hinausnahm! Wie hätte er mit ihm die Bäume erklettern wollen, deren Wipfel oft dreißig Meter und mehr emporragte! Welch’ herrliche Ausflüge hätten sie miteinander unternommen!

Vetter Benedict fühlte sich, da hier an Insecten kein Mangel war, für seine Person ganz glücklich. Er entdeckte zur größten Genugthuung in der Factorei eine Zwergbiene, die ihre Zelle in wurmstichigem Holze anbaute, dazu einen, Sphex«, der seine Eier in jene ihm nicht gehörigen Zellen, wie der Kuckuck in fremde Nester, ablegte, und er studirte sie, selbst ohne Brille und Loupe, so gut es eben anging. An Muskitos war nahe den Wasseradern auch kein Mangel, ja, diese zerstachen den Gelehrten bis nahe zur Unkenntlichkeit. Wenn Mrs. Weldon aber ihn fragte, warum er sich von den abscheulichen Insecten so zurichten lasse, antwortete er:

»O, Cousine Weldon, das ist eben ihr Instinct (dabei kratzte er sich, bis ihm Blutstropfen durch die Haut traten), deshalb darf man ihnen nicht böse sein!«

Eines Tages, es war am 17. Juni, wäre Vetter Benedict beinahe der glücklichste aller Entomologen geworden. Wir müssen das betreffende Abenteuer, welches so unerwartete Folgen haben sollte, indessen etwas eingehender erzählen.

Es mochte gegen elf Uhr Morgens sein. Eine geradezu unerträgliche Hitze zwang die Insassen der Factorei, sich in ihren Hütten versteckt zu halten, und auch auf den Straßen von Kazonnde begegnete man keinem einzigen Eingebornen.

Mrs. Weldon saß halbschlummernd neben dem kleinen Jack, der schon fest eingeschlafen war.

Selbst Vetter Benedict unterlag dem Einflusse dieser tropischen Temperatur und hatte auf seine Lieblingsjagd verzichtet – freilich nicht ohne großes Herzeleid, denn er hörte in den sengenden Strahlen der Mittagssonne eine ganze Welt von Insecten schwirren. Wohl oder übel hatte er sich jedoch in den kühlsten Winkel seiner Hütte zurückgezogen und auch ihn überwältigte fast der Schlaf bei dieser aufgezwungenen Siesta.

Da, als seine Augen sich schon halb schlossen, vernahm er ein Schwirren, eine Art unerträgliches Surren von Insecten, deren manche in der Secunde fünfzehn bis sechzehntausend Flügelschläge machen sollen, eine Angabe, welche jedoch schon die einfachsten akustischen Gesetze als weit übertrieben erscheinen lassen, da in jenem Falle ein weit höherer Ton hörbar werden müßte, als ihn irgend welche Insecten erzeugen.

»Eine Hexapode!« rief Vetter Benedict, der sofort wieder munter wurde und aus der horizontalen in die verticale Lage überging.

Daß es eine Hexapode sei, welche in der Hütte summte, unterlag wohl keinem Zweifel. Wenn Vetter Benedict einerseits sehr an Kurzsichtigkeit litt, so besaß er andererseits doch ein besonders scharfes Gehör, so daß er ein Insect von einem anderen schon an der Intensität des Summens zu unterscheiden vermochte, und das hier in Frage stehende erschien ihm gänzlich unbekannt, da dieses Geräusch nur von einem Riesen seiner Art herrühren konnte.

Mrs. Weldon saß halbschlummernd neben dem kleinen Jack. (S. 399.)

»Was für eine Hexapode mag das sein?« fragte sich Vetter Benedict.

Eifrig suchte er das Insect zu entdecken, was in Folge der Nichtbewaffnung seiner Augen sehr schwierig war, oder es an dem Schlagen seiner Flügel zu erkennen.

Es machte auf der äußersten Spitze dieses Gesichts-Appendix’ Halt. (S. 403.)

Sein Instinct als Entomolog flüsterte ihm zu, daß hier ein seltener Fang zu machen sei und daß dieses vom günstigen Zufall in seine Hütte verschlagene Insect nicht ein gewöhnliches sein könne.

Vetter Benedict erhob sich schweigend von seinem Lager. Er horchte. Ein schwacher Sonnenstrahl drang bis zu ihm. Da entdeckten seine Augen einen großen, schwarzen, hüpfenden Punkt, der nur nicht nahe genug kam, um für ihn erkennbar zu werden. Er hielt den Athem an und war entschlossen, wenn er irgendwo im Gesicht oder an den Händen einen Stich fühlte, sich nicht zu rühren, um seine Hexapode nicht zu verscheuchen.

Nach langem Hinundherfliegen setzte sich das summende Insect auf seinen Kopf. Vetter Benedict’s Mund erweiterte sich einen Augenblick zu einem Lächeln, und zu welchem glückseligen Lächeln! Er fühlte, wie das leichte Thier über seine Haare spazierte. Schon ergriff ihn das kaum widerstehliche Verlangen, mit der Hand nach jenem zu haschen; doch er beherrschte sich und that wohl daran.

»Nein, nein! dachte er; ich würde es verfehlen oder, noch schlimmer, ihm gar ein Leid zufügen! Sieh da, wie es marschirt! Es steigt abwärts. Ich fühle seine niedlichen Füße auf meinem Schädel! Das muß eine wohlgebildete Hexapode sein. Du himmlische Güte, gieb nur, daß sie zur Spitze meiner Nase herabklettert und dort ein wenig verweilt, damit ich sie sehen und vielleicht bestimmen kann, wohin sie nach Ordnung, Familie, Art oder Unterart gehört!«

So dachte Vetter Benedict. Aber der Weg war weit von seinem etwas spitzen Schädel bis zum Ende der etwas langen Nase. Und wie viele andere Wege konnte das launische Insectwählen, wie nach der Gegend der Ohren oder des Hinterhauptes, wobei es der eifrige Gelehrte im ganzen Leben nicht zu Gesicht bekommen hätte, ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß es jeden Augenblick wieder auffliegen, die Hütte verlassen und in den blendenden Sonnenstrahlen verschwinden konnte, wo es sonst mitten im Geschwirr und Gesumm seiner Brüder und Verwandten, das lockend von draußen ertönte, sein kurzes Leben vertändelte.

Vetter Benedict verhehlte sich das Alles nicht. Nie hatte er während seiner Entomologen-Laufbahn so erwartungsvolle Minuten durchlebt. Da krabbelte eine afrikanische Hexapode von unbekannter Art, Abart oder Unterabart auf seinem Haupte herum, und er konnte sie nur unter der einzigen Bedingung zu Gesicht bekommen, daß jene sich herbeiließ, auf einen Zoll Entfernung vor seinen Augen vorüberzulaufen.

Vetter Benedict’s heißer Wunsch sollte jedoch erfüllt werden. Nachdem das Insect auf dem ziemlich struppigen Haupthaar wie auf einem wild aufgeschossenen Gebüsch umhergewandelt war, kletterte es den Stirnabhang des Gelehrten hinab, der nun wirklich Hoffnung schöpfte, daß es sich auf den Gebirgskamm seiner Nase hinaus begeben werde. Einmal auf diesem Kamme, warum sollte es dann nicht auch bis zu dessen frei auslaufendem Ende marschiren?

»Ich an seiner Stelle, ich ginge bis dahin!« dachte der würdige Gelehrte.

Weit richtiger wäre freilich, daß an Stelle Benedict’s jeder Andere sich einen derben Schlag vor die Stirn gegeben hätte, um das stechende Insect zu zermalmen oder doch in die Flucht zu jagen. Sechs Füße so auf der eigenen Haut dahinspazieren zu fühlen – von der Furcht vor einem empfindlichen Stiche ganz zu schweigen – ohne auch nur die leiseste Bewegung zu machen, dazu gehört gewiß auch ein specieller Heldenmuth. Der Spartaner, der seine Brust von einem Fuchse verzehren ließ, der Römer, der seine Hand dicht über glühende Kohlen hielt, bedurften dabei keiner größeren Selbstbeherrschung als Vetter Benedict, der ohne Zweifel von jenen beiden Helden abstammte.

Nach vielfachen kleinen Umwegen kam das Insect am oberen Theile der Nase an. Einen Augenblick zauderte es, wodurch dem Vetter Benedict schon alles Blut nach dem Herzen getrieben wurde. Kehrte die Hexapode jetzt etwa nach oben zurück oder bewegte sie sich weiter nach abwärts?

Sie stieg bergab. Vetter Benedict fühlte die behaarten Füßchen schon auf seiner Nasenwurzel. Das Insect wich weder nach rechts noch nach links ab. Es hielt sich zwischen den beiden leise zitternden Nasenflügeln, auf dem leicht gebogenen Kamm dieser Gelehrten-Nase, welche zum Tragen einer Brille wie geschaffen schien. Es überschritt den kleinen, durch den fortwährenden Gebrauch genannten optischen Instrumentes eingedrückten Graben und machte wirklich auf der äußersten Spitze dieses Gesichts-Appendix’ Halt.

Das war der zweckmäßigste Platz, den die Hexapode nur erwählen konnte. In dieser Entfernung vermochten Vetter Benedict’s Blicke, indem sich seine Augenachsen convergent einstellten, das Insect wie die durch zwei Linsen zusammengefaßten Strahlen von beiden Seiten zu umfassen.

»Allmächtiger Gott! rief Vetter Benedict, außer Stande, seine freudige Erregung zu bemeistern, eine knotige Manticore!«

Das hätte er nun freilich gar nicht ausrufen, sondern nur denken sollen. Wäre das aber von einem enthusiastischen Entomologen nicht gar zu viel verlangt gewesen?

Auf seiner Nasenspitze eine knotige Manticore mit breiten Flügeldecken zu beherbergen, ein Insect aus der Familie der Cicindeleten, ein Cabinetsstück der Sammlungen, das den tropischen Gegenden InnerAfrikas eigenthümlich zu sein scheint, und dabei keinen Ausruf der Bewunderung von sich zu geben – das überstieg alle menschliche Kraft!

Leider hörte aber auch die Manticore jenen Ausruf, gefolgt von einem kräftigen Niesen, welches den ihr als Sitz dienenden Appendix gründlich erschütterte. Vetter Benedict wollte sie einfangen, streckte die Hand aus und schloß sie schnell wieder, ergriff aber weiter nichts als – die Spitze seiner eigenen Nase.

»Verdammt!« rief er.

Sofort gewann jedoch das kalte Blut wieder die Herrschaft über ihn.

Er wußte, daß eine knotige Manticore sich meist nur flatternd fortbewegt und eigentlich mehr läuft als fliegt. Er kniete also nieder und wirklich entdeckte er, eine Spanne weit vor seinen Augen, den schwarzen Punkt wieder, der in einem sonnenbeschienenen Streifen schnell dahinglitt.

Offenbar erschien es dem Gelehrten zweckmäßiger, das Thier bei seinen unbehinderten Bewegungen zu beobachten; nur durfte er es nicht aus dem Gesichte verlieren.

»Wenn ich die Manticore hasche, könnte ich sie zerdrücken! sagte sich Vetter Benedict. Nein! Ich werde ihr nachfolgen, ich werde sie bewundern! Ich kann mir ja Zeit nehmen!«

That Vetter Benedict Unrecht daran? Wer weiß; jedenfalls erniedrigte er sich zum Vierfüßler, berührte die Erde beinahe mit der Nase, gleich einem Hunde, der einer Spur nachgeht, und folgte der prächtigen Hexapode in einer Entfernung von wenigen Centimetern nach. Im nächsten Augenblick befand er sich außerhalb der Hütte, unter der sengenden Mittagssonne, und wenige Minuten später an der Palissade, welche Alvez’ Etablissement umschloß.

Wenn die Manticore hier die Umplankung nun mit einem Sprunge überflog und damit eine Scheidewand zwischen sich und ihrem tollen Bewunderer setzte? Nein, das war nicht ihrer Natur gemäß, und Vetter Benedict kannte diese aus dem Fundamente. Noch immer kroch er ihr wie eine Schlange auf der Erde nach, zu entfernt, um sie entomologisch genauer zu erkennen, doch nahe genug, um den schwarzen Punkt auf dem Boden hinhüpfen zu sehen.

Am Fuße der Palissade traf die Manticore auf die weite Mündung eines Maulwurfbaues, der sich nach innen zu öffnete. Ohne Zögern schlüpfte sie in den unterirdischen Gang, denn es liegt in ihrer Gewohnheit, solche dunkle Wege aufzusuchen. Vetter Benedict fürchtete schon, sie nun aus den Augen zu verlieren Zu seinem freudigen Erstaunen erwies sich jene Oeffnung aber über einen halben Meter weit und bildete der Maulwurfsbau einen hinreichend großen Gang, um seinen langen, hageren Körper hineinzwängen zu können. Seine Verfolgungswuth beraubte ihn gänzlich der Ueberlegung, und er bemerkte, als er sich »begrub«, gar nicht, daß er dabei unter der Palissade hinwegkroch. Wirklich stellte der Maulwurfsbau eine Verbindung von innen nach außen dar. Binnen einer halben Minute befand sich Vetter Benedict außerhalb der Factorei. Hierüber machte er sich jedoch nicht die geringste Sorge, sondern ging gänzlich auf in der Bewunderung des eleganten Insectes, welches ihn führte. Letzteres schien jedoch vom langen Marschiren ermüdet. Seine Flügeldecken hoben sich und die Flügel spannten sich auf. Vetter Benedict merkte die Gefahr und wollte die Manticore schon in seiner hohlen Hand vorläufig gefangen setzen, als sie, frrr!… schwirrend davonflog.

Welche Verzweiflung! Und doch, weit konnte die Manticore ja fliegend nicht gelangen. Vetter Benedict erhob sich, spähte umher und stürzte ihr mit ausgestreckten, geöffneten Händen nach…

Das Insect schwebte bald wieder über seinem Kopfe, er aber erkannte davon nichts als einen großen, dunklen Punkt ohne näher bestimmbare Form.

Sollte sich die Manticore nach Beschreibung einiger launischer Kreise um das struppige Haupt Vetter Benedict’s wieder auf die Erde setzen? Alle Voraussetzungen sprachen dafür.

Zum Unglück für den bedauernswerthen Gelehrten grenzte das am Nordende der Stadt gelegene Etablissement von Alvez an einen ausgedehnten Wald, der das Gebiet von Kazonnde im Umfange mehrerer Quadratmeilen bedeckte. Erreichte die Manticore erst die Bäume und fiel es ihr etwa ein, von Zweig zu Zweig zu flattern, dann schwand die Hoffnung gänzlich, sie noch in der berühmten Blechkapsel figuriren zu sehen, deren kostbares Kleinod sie gebildet hätte.

Ach, so sollte es wirklich kommen. Die Manticore hatte sich zwar auf die Erde niedergelassen. Schnell drückte auch Vetter Benedict, erfreut über die unerwartete Aussicht, jene noch weiter beobachten zu können, das Gesicht fast auf den Boden. Die Manticore lief aber jetzt nicht, sie hüpfte mit Hilfe der Flügel in größeren Sprüngen weiter.

Erschöpft, mit blutenden Knieen und Fingern, sprang Vetter Benedict ihr nach. Die Finger gespreitzt, wandten sich seine beiden Arme nach links oder rechts, je nachdem der dunkle Punkt hier-oder dorthin hüpfte. Er machte wirklich Bewegungen auf dem glühheißen Erdboden, wie ein Schwimmer auf dem Wasser.

Vergebliches Bemühen! Immer schlossen sich seine Hände umsonst. Neckisch spielend, entschlüpfte ihm das Insect, und bald erhob es sich, unter einer kühlen Laubdecke angelangt, nachdem es Vetter Benedict’s Ohr im Vorüberstreifen mit einem intensiveren, aber nur ironisch klingenden Summen begrüßt hatte.

»Verdammt! rief Vetter Benedict noch einmal. Sie entwischt mir! Undankbare Hexapode! Du, der ich den Ehrenplatz in meinen Sammlungen bestimmt hatte. Und doch, noch geb’ ich dich nicht auf; ich folge dir, bis ich dich gefangen habet«

Der außer Fassung gebrachte Gelehrte dachte gar nicht daran, daß seine myopischen Augen ihn verhinderten, die Manticore unter den Blättern herauszufinden. Aber er war seiner nicht mehr mächtig. Die Enttäuschung, die Wuth machten ihn zum Narren. Nur sich selbst, nur sich allein hatte er diesen grausamen Mißerfolg zuzuschreiben! Hätte er sich des Insects gleich anfangs bemächtigt, ohne ihm »bei seinen unbehinderten Bewegungen« zu folgen, so wäre Alles vermieden worden, so besäße er jetzt dieses wunderbare Exemplar afrikanischer Manticoren, dessen Namen ein fabelhaftes Thier mit Menschenkopf und Löwenkörper bezeichnet.

Vetter Benedict hatte den Kopf verloren. Er bekümmerte sich nicht im Mindesten darum, daß ihm ein ganz unerwarteter Zwischenfall die Freiheit geschenkt habe. Er dachte gar nicht mehr an den Maulwurfsbau, in den er gekrochen, und der ihm einen Ausweg aus Alvez’ Etablissement geboten hatte. Er war im Walde, die Manticore aber in diesen entflohen! Um jeden Preis mußte er sie wieder erlangen!

Nun lief er planlos durch die dichten Bäume, ohne recht zu wissen, was er überhaupt that, und focht, in der Meinung, das kostbare Insect vor sich zu haben, wie eine riesige Holzspinne mit den langen Armen in der leeren Luft herum. Wohin er lief, wie er und ob er überhaupt den Rückweg finden würde, das kam ihm gar nicht in den Sinn, und so drang er, auf die Gefahr, von einem Eingebornen entdeckt oder von einem Raubthiere angefallen zu werden, eine gute Meile weit in den Urwald hinein.

Plötzlich – er lief eben an einem dichten Gebüsch vorüber – sprang ein gewaltiges Geschöpf empor und stürzte sich auf den Gelehrten. Dann ergriff es ihn fest, wie es Vetter Benedict mit der Manticore hätte machen sollen, faßte ihn einerseits am Nacken, andererseits unten am Rücken, und ohne Zeit zu gewinnen, sich seine Situation nur klar zu machen, ward Vetter Benedict quer durch den Hochwald fortgeschleppt.

Wahrhaftig, heute ließ Vetter Benedict die Gelegenheit unbenutzt entschlüpfen, sich als den glücklichsten Entomologen aller fünf Erdtheile preisen zu können!

Sechzehntes Capitel.Ein Mgannga.

Mrs. Weldon empfand die lebhafteste Unruhe, als sie an jenem Tage, dem 17. Juni, Vetter Benedict zur gewohnten Stunde nicht wiedererscheinen sah. Sie vermochte sich gar nicht vorzustellen, was aus ihrem großen Kinde geworden sei. Daß es ihm gelungen sein könnte, aus der mit einer unübersteigbaren Palissade umzäunten Factorei zu entweichen, kam ihr natürlich gar nicht in den Sinn. Uebrigens kannte Mrs. Weldon den Vetter ja gar zu gut. Hätte man diesem Originale eine Gelegenheit zur Flucht geboten, aber zur Flucht unter Zurücklassung seiner Blechkapsel und der Sammlung afrikanischer Insecten, er würde sie ohne Zögern abgelehnt haben. Die Blechkapsel nun stand unversehrt in der Hütte, mit dem ganzen Inhalt, den der Gelehrte seit seinem Betreten dieses Continents zusammengetragen hatte. Die Annahme, daß er sich freiwillig von seinen entomologischen Schätzen getrennt habe, erschien aber ganz unhaltbar.

Und doch, in Jose-Antonio Alvez’ Etablissement befand sich Vetter Benedict nicht mehr.

Vergebens, doch unermüdlich suchte ihn Mrs. Weldon den ganzen Tag über. Der kleine Jack und die Sklavin Halima unterstützten sie dabei. Alles umsonst!

Er ward quer durch den Hochwald fortgeschleppt. (S. 407.)

Mrs. Weldon kam in Folge dessen nothwendiger Weise zu der wenig erfreulichen Schlußfolgerung, daß der Gefangene auf Befehl des Sklavenhändlers und aus ihr gänzlich unbekannten Gründen abgeführt worden sei.

Der Mgannga umkreiste zunächst den großen Platz. (S. 412.)

Aber was hatte Alvez dann mit ihm vor? Hatte er ihn nur abgesondert in einer der Baracken am großen Marktplatze eingesperrt? Warum diese Entführung erst nach dem Abkommen zwischen Mrs. Weldon und Negoro, nach welchem auch Vetter Benedict zur Zahl derjenigen Gefangenen gehörte, die nach Mossamedes gebracht werden sollten, um dort gegen Erlegung des Lösegeldes an James W. Weldon ausgeliefert zu werden?

Hätte Mrs. Weldon Zeugin des aufbrausenden Zornes des Händlers sein können, als dieser von dem Verschwinden des Gefangenen erfuhr, so hätte sie sich wohl sagen müssen, daß dessen Entweichung ganz gegen Jenes Willen stattgefunden habe. War Vetter Benedict aber freiwillig entflohen, warum hatte er nicht wenigstens sie in sein Geheimniß eingeweiht?

Die Nachforschungen Alvez’ und seiner Diener, welche mit größter Sorgfalt betrieben wurden, führten zur Entdeckung des Maulwurfsbaues, der die Factorei mit dem benachbarten Walde in Verbindung setzte. Dem Sklavenhändler wurde es sofort klar, daß der »Mückenjäger« nur durch diese enge Oeffnung entflohen sein könne. Sein Zorn loderte hierüber um so heller auf, da er sich sagte, daß diese Flucht nun auf seine Rechnung kommen und den ihm zufallenden Gewinnantheil bei dem Geschäfte wesentlich kürzen würde.

»Viel Werth hatte er ja nicht, der Schwachkopf, dachte er, und mir wird man ihn doch theuer bezahlen lassen. O, wenn er wieder in meine Hände fiele!…«

Trotz aller Nachforschungen im Innern der Factorei aber und trotz der sorgfältigsten, weithin ausgedehnten Absuchung des Gehölzes zeigte sich nirgends nur eine Spur des Flüchtlings. Mrs. Weldon mußte sich in den Verlust ihres Vetters fügen und Alvez konnte um seinen Gefangenen Trauer anlegen Da gar nicht anzunehmen war, daß dieser Verbindungen mit außerhalb angeknüpft haben könne, so lag es auf der Hand, daß nur der Zufall ihn auf die Entdeckung jenes Maulwurfsbaues geführt, und daß er die Flucht ergriffen habe, ohne an Die zu denken, welche er ohne Anstand zurückließ, so als ob sie gar nicht vorhanden wären.

Mrs. Weldon sah sich wohl zu dieser Annahme genöthigt, und doch dachte sie gar nicht daran, dem armen Manne zu zürnen, der, wie ihr bekannt, oft handelte, ohne sich davon Rechenschaft zu geben.

»Der Unglückliche! Was wird aus ihm geworden sein?« fragte sie sich voll Theilnahme.

Selbstverständlich wurde der Maulwurfsbau noch an dem nämlichen Tage fest und sorgsam zugefüllt und die Ueberwachung innerhalb und außerhalb der Factorei mit doppelter Strenge geregelt.

Für Mrs. Weldon und ihr Kind begann wieder das frühere, eintönige Leben.

Inzwischen trat ein, zu dieser Jahreszeit im Lande sehr ungewöhnliches klimatisches Ereigniß ein. Mit dem 19. Juni begannen sehr anhaltende Regengüsse, obwohl die Periode der Masika, welche mit dem April endigt, schon vorüber war. Der ganze Himmel schien sich geöffnet zu haben und fortwährende Platzregen überschwemmten das Gebiet von Kazonnde.

Was aber für Mrs. Weldon, die auf ihre kleinen Spaziergänge innerhalb der Factorei verzichten mußte, nur eine Unannehmlichkeit darstellte, wurde zum öffentlichen allgemeinen Unglück für die Landesbewohner. Alle von der reisen Ernte bestandenen Niederungen lagen völlig unter Wasser. Die Einwohner der Provinz, denen es plötzlich an Nahrung mangelte, litten bald unter dem bittersten Nothstande; die sonst in dieser Jahreszeit vorzunehmenden Arbeiten konnten nicht ausgeführt werden, und weder die Königin Moina noch ihre Minister wußten, was sie dieser Katastrophe gegenüber beginnen sollten.

Man nahm seine Zuflucht zu den Magikern, doch nicht zu denen, deren Geschäft darin besteht, durch ihre Beschwörungen und Zaubereien Kranke zu heilen oder den Eingebornen die Zukunft vorherzusagen. Es handelte sich ja um ein allgemeines Unglück, und deshalb wurden die besten »Mganugas«, welche die Macht besitzen sollen, die Regen hervorzurufen oder aufhören zu lassen, gebeten, die Gefahr zu beschwören.

Dabei ging freilich ihr Latein zu Ende. Mochten sie nun ihre langen, eintönigen Gesänge anstimmen, ihre Schellen oder Glöckchen schwingen, ihre kostbarsten Amulette hervorholen, darunter vorzüglich ein mit Rindenstückchen und Kuhmist gefülltes Horn, dessen Spitze wieder in drei kleine Hörner ausläuft, mochten sie die geweihten Kügelchen aus Kuhmist auswerfen oder den höchsten Personen am Hofe in’s Gesicht speien – es gelang ihnen doch nicht, die bösen Geister zu vertreiben, welche die Bildung der Wolken regieren.

Die Nothlage verschlimmerte sich mehr und mehr, als die Königin Moina auf den Gedanken kam, einen berühmten Mganuga herbeizurufen, der sich damals im Norden von Angola aufhielt. Es war das ein Hexenmeister ersten Ranges, dessen Kenntnisse umsomehr bewundert wurden, als man sie in dieser Gegend, welche er noch niemals besuchte, eben noch nicht erprobt hatte. Ueberall war jedoch von seinen Erfolgen rücksichtlich der Masikas die Rede.

Am Morgen des 25. Juni verkündete der neue Mganuga durch helles Schellengeläute geräuschvoll seinen Einzug in Kazonnde.

Der Zauberer begab sich geraden Weges nach der Tchitoka, wo ihm sofort eine Menge Eingeborner entgegenströmte. Der Himmel sah etwas weniger regnerisch aus, der Wind zeigte Neigung, umzuschlagen, und diese mit dem Eintreffen des Mganuga zusammenfallenden Vorzeichen der Wiederaufhellung erweckten für jenen eine höchst günstige Stimmung.

Im Ganzen war es ein prächtiger Mann, ein Schwarzer von reinstem Wasser. Er maß mindestens 6 Fuß und mußte gewaltige Körperkraft besitzen Diese Vorzüge imponirten der Menge schon allein.

Gewöhnlich vereinigen sich die Zauberer zu Gruppen von drei bis fünf Mann, wenn sie durch die Dörfer ziehen, und eine gewisse Anzahl Genossen und Helfershelfer bilden ihre Begleitung. Dieser Mganuga erschien allein. Seine ganze Brust war mittelst Pfeifenthon weiß gestreift. Den unteren Theil seines Körpers verhüllte ein weiter Bastrock, dessen »Schleppe« mit der einer eleganten Modedame wetteifern konnte. Eine Schnur mit Vogelschädeln um den Hals, auf dem Kopfe eine Art Lederhaube mit perlengeschmückten Federn, um die Hüften ein kupferner Ring mit Hunderten von Glöckchen und Schellen, welche mehr Lärm machten als das Riemenzeug eines spanischen Maulesels – so gekleidet erschien dieses Muster-Exemplar aus der Zunft der eingebornen Wahrsager.

Sein gesammtes »Handwerkzeug« bestand aus einer Art Korb, dessen Boden ein Flaschenkürbis bildete, und der mit Muscheln, Amuletten, kleinen hölzernen Götzenbildern nebst anderen Fetischen und endlich mit einer beträchtlichen Menge Kuhmistkügelchen angefüllt war, welche nun einmal ein nothwendiges Inventarstück bei den Beschwörungen und den Wahrsagekünsten im Centrum Afrikas darstellen.

Eine von der Menge bald herausgefundene Eigenthümlichkeit dieses Mgannga lag darin, daß er stumm war; dieser Mangel trug aber nur zur Steigerung der Bewunderung bei, mit der man ihn betrachtete. Er ließ nichts als einen tiefen, gedehnten, aber vollkommen bedeutungslosen Kehlton von sich hören. Ein Grund mehr, ihn für desto bewanderter in allen Künsten der Hexerei zu halten.

Der Mgannga umkreiste zunächst den großen Platz, indem er eine Art Pfanentanz aufführte, bei dem alle seine Schellen und Glöckchen schrillend ertönten. Die Volksmenge folgte ihm unter möglichster Nachahmung seiner Bewegungen. Man hätte eine Heerde Affen vor sich zu sehen geglaubt, die einem riesigen Vierhänder nachsprang. Plötzlich bog der Zauberer in die Hauptstraße von Kazonnde ein und tänzelte auf die königliche Wohnung zu.

Sobald die Königin Moina von der Ankunft des neuen Magikers Nachricht erhielt, erschien sie, gefolgt von ihren Höflingen.

Der Mganuga verneigte sich vor ihr bis zur Erde und erhob sich, indem er seine prächtige Gestalt zeigte. Dann streckten sich seine Arme nach dem Himmel, an dem lange Wolkenfetzen schnell vorüberflogen. Auf diese Wolken wies der Zauberer mit der Hand, ahmte ihre Bewegungen mit lebendiger Pantomime nach und zeigte, wie sie nach Westen hin flohen, aber von Osten her wiederkehrten in Folge einer Rotationsbewegung, welche Niemand zu hemmen im Stande war.

Plötzlich, und zum größten Entsetzen der Stadt und des Hofes, ergriff der Zauberer die erhabene Souveränin von Kazonnde. Einige Höflinge wollten sich diesem, jeder Etiquette Hohn sprechenden Vorgehen widersetzen; der muskelkräftige Mganuga packte aber den Nächsten am Genick und schleuderte ihn gute fünfzehn Schritt weit von sich weg.

Die Königin schien dieses sichere, selbstbewußte Auftreten nicht zu mißbilligen. Sie sah den Zauberer mit einer Grimasse, welche ein Lächeln bedeuten sollte, zustimmend an, und dieser schleppte die Herrscherin schnellen Schrittes fort, während die Volksmenge dem Paare nachfolgte.

Jetzt wendete sich der Magiker nach dem Etablissement von Alvez zu, dessen geschlossene Pforte er bald erreichte. Ein Fußtritt von ihm sprengte dieselbe und er brachte die gänzlich seiner Gewalt unterworfene Königin in die Factorei.

Der Händler, seine Soldaten und Sklaven waren herzugelaufen, den fremden Eindringling zu züchtigen, der die Thüren sprengte, statt zu warten, bis man ihm öffnete. Beim Erblicken der Königin, welche selbst keinen Einspruch gegen das ganze Verfahren erhob, hielten sie sich jedoch in respectvoller Entfernung.

Ohne Zweifel wollte Alvez schon die Königin fragen, was ihm die Ehre ihres Besuches verschaffe: der Magiker aber ließ ihm dazu gar nicht Zeit, sondern begann, nachdem er durch Zurückscheuchung der Umstehenden sich genügenden Platz gemacht, die frühere Pantomime womöglich mit noch größerer Lebhaftigkeit. Er wies mit der Hand nach den Wolken, drohte ihnen und verfluchte sie, und machte Bewegungen, als ob er sie erst festhalten und dann zerstreuen wollte. Seine Wangen blähten sich gewaltig auf und er blies nach dem Haufen schwerer Dunstmassen, als vermöchte er ihn dadurch zu zertheilen. Dann richtete er sich lang auf, wie um sie in ihrem Laufe zu hemmen, und man konnte angesichts seiner Riesengestalt beinahe glauben, daß er sie mit den Händen zu fassen vermöge.

Die abergläubische Moina, geradezu »gepackt« durch das Spiel des Komödianten, war völlig außer sich. Wiederholt entfuhr ihr ein sinnloser Schrei. Sie phantasirte und ahmte instinctiv die Bewegungen des Mganuga nach. Die Höflinge und das Volk folgten diesem Beispiele, so daß sich die dumpfen Kehllaute des Magikers bald unter dem Gesang, dem Geschrei und dem Heulen verloren, welches die Natur der Landessprache so leicht hervorbringt.

Stiegen deshalb aber weniger Wolken am westlichen Horizonte auf, um die Tropensonne zu verschleiern? Nein. Gerade als die Königin und deren treue Unterthanen die bösen Geister, welche sie durch die unaufhörlichen Platzregen plagten, zu verscheuchen glaubten, überzog sich der seit dem Morgen etwas hellere Himmel wieder mit dunklen Wolken.

Bald klatschten die großen Tropfen eines Gewitterregens auf die Erde.

Da entstand eine lebhafte Bewegung in der Menge. Man begann auf den Mganuga zu schimpfen und das Stirnrunzeln der Königin schien ihn mindestens mit dem Verlust der Ohren zu bedrohen. Wieder hatten die Eingebornen einen Kreis um ihn geschlossen; schon ballten sich die Hände, um ihm seinen Lohn zu ertheilen, als ein unerwarteter Zwischenfall die feindseligen Bewegungen abschnitt.

Der Magiker, welcher die Anderen gut um Kopfeslänge überragte, streckte die Arme nach einem bestimmten Theile der Einfriedigung aus, und zwar mit so sicherer, befehlerischer Geste, daß Alle unwillkürlich zurückwichen.

Von dem Lärmen und Rufen herbeigelockt, hatten Mrs. Weldon und der kleine Jack ihre Hütte verlassen. Sie waren es, auf die der Magiker in aufwallendem Zorn mit der linken Hand wies, während sich seine rechte zum Himmel erhob.

Sie, sie waren es! Eine Weiße nebst ihrem Kinde verschuldete all’ das Unheil des Landes! Hier lag die Quelle des Unglücks! Diese Wolken hatte sie aus ihrem regnerischen Vaterlande hierher gelockt, um das Gebiet von Kazonnde zu überschwemmen!

Die Umstehenden verstanden ihn. Königin Moina wies mit drohender Bewegung auf Mrs. Weldon. Unter furchtbarem Geschrei stürzten die Eingebornen schon auf diese zu.

Mrs. Weldon hielt sich für verloren und blieb, ihren Sohn mit den Armen umfassend, ruhig wie eine Bildsäule vor dem wüthenden Haufen stehen.

Der Magiker ging auf sie zu. Alle machten dem Wahrsager Platz, der mit der Ursache des Uebels auch das Heilmittel dagegen gefunden zu haben schien.

Auch der Sklavenhändler Alvez, für den das Leben seiner Gefangenen kostbar war, kam herbei, ohne zu wissen, was er thun solle.

Der Magiker hatte den kleinen Jack ergriffen und ihn den Armen seiner Mutter entreißend, hob er den Knaben gen Himmel. Es schien, als wolle er ihm den Kopf auf der Erde zerschmettern, um die erzürnten Götter zu versöhnen.

Mrs. Weldon stieß einen entsetzlichen Schrei aus und fiel besinnungslos zu Boden.

Der Magiker aber richtete, nach einem Zeichen gegen die Königin, welches diese von seinen Absichten unterrichten sollte, auch die unglückliche Mutter wieder auf und schleppte sie mit ihrem Kinde fort, während die von seinem Vorhaben verblüffte Volksmenge ihm freiwillig Platz machte.

»Hier bringe ich Ihnen Mistreß Weldon und den kleinen Jack wieder!« (S. 417.)

Alvez freilich faßte die Sache ganz anders auf. Erst einen Gefangenen von Dreien verloren zu haben und nun das ganze seiner Obhut anvertraute Depot, mit diesem zugleich aber die beträchtliche, ihm von Negoro versprochene Summe verschwinden zu sehen – nein, niemals, und wenn auch ganz Kazonnde unter einer neuen Sündfluth zu Grunde ginge!

Er wollte sich also dieser Entführung widersetzen.

Da wandte sich der Ingrimm der Eingebornen aber gegen ihn selbst. Die Königin ließ ihn durch ihre Mannen ergreifen, und da er wohl wußte, was es ihm kosten könne, wenn er Widerstand leistete, mußte er sich wohl oder übel ruhig verhalten und verwünschte heimlich die Leichtgläubigkeit der Unterthanen der erhabenen Moina.

In der That erwarteten diese Wilden, die Wolken mit denen verschwinden zu sehen, die sie herbeigerufen hatten, und sie zweifelten nicht im Geringsten daran, daß der Zauberer die ihnen so schädlichen Regengüsse durch das Blut der Fremden verbannen werde.

Inzwischen trug der Magiker seine Opfer weg – wie der Löwe ein Paar Ziegen, die für seinen gewaltigen Rachen ja so gut wie gar kein Gewicht haben – den kleinen erschrockenen Jack und die bewußtlose Mrs. Weldon, während die Volksmenge ihm in höchster Aufregung mit kreischendem Getöse folgte; jener aber verließ die Einfriedigung, schritt durch die Stadt nach dem Walde zu und lief drei Meilen weit dahin, ohne daß sein Fuß nur jemals ermattete, und erreichte endlich allein – die Eingebornen sahen wohl ein, daß er keine Begleitung wünsche – einen Fluß, der mit raschem Falle nach Norden strömte.

Dort fand sich, tief im Grunde einer von den langen Zweigen eines Busches versteckten Einbiegung, eine mit einer Hütte überbaute Pirogue vor.

Der Magiker legte seine doppelte Last darin nieder, stieß das Fahrzeug mit dem Fuße vom Ufer, so daß es bald von der schnellen Strömung erfaßt wurde, und sagte dann mit heller Stimme:

»Mein Kapitän, hier bringe ich Ihnen Mistreß Weldon und den kleinen Jack wieder! Nun vorwärts, und alle Wolken des Himmels mögen jenen Dummköpfen von Kazonnde den Garaus machen!«

Siebenzehntes Capitel.Auf der Fahrt.

Herkules, der unter seiner Verkleidung als Magiker nicht erkennbare Neger war es, der also sprach, und Dick war es, an den er jene Worte richtete – ja, Dick Sand, der sich vor Schwäche freilich noch auf Vetter Benedict stützen mußte, neben welchem Dingo lagerte.

Als Mrs. Weldon wieder zum Bewußtsein kam, vermochte sie nur die Worte zu stammeln: »Du, Dick, Du!«

Der junge Leichtmatrose erhob sich, doch Mrs. Weldon preßte ihn in ihre Arme und überhäufte ihn mit Liebkosungen.

»Mein Freund Dick! Mein Freund Dick!« wiederholte der kleine Knabe immer.

Dann wandte er sich gegen Herkules.

»Und Dich, sagte er, Dich hab’ ich nicht einmal erkannt!

– Ja, das nennt man aber auch eine Verkleidung! antwortete Herkules, der die weißen Streifen wieder von seiner Brust abzureiben suchte.

– Du sahst gar zu häßlich aus, meinte der kleine Jack.

– Ei, ich war ja der Teufel, und der Teufel kann nicht schön aussehen!

– Herkules! sagte Mrs. Weldon, indem sie dem braven Neger die Hand reichte.

– Er hat Sie befreit, fiel Dick Sand ein, wie er mich gerettet hat, obwohl er es nicht zugestehen will.

– Gerettet! gerettet! Das sind wir jetzt noch nicht. Uebrigens wäre ohne Herrn Benedict, der hierher kam und uns mittheilte, wo Sie sich befänden, Mistreß Weldon, nicht das Geringste anzufangen gewesen!«

Herkules war es nämlich gewesen, der vor fünf Tagen auf den Gelehrten zusprang, als dieser schon zwei Meilen von der Factorei, auf der Jagd nach der kostbaren Manticore, durch den Wald trabte. Ohnedem hätten weder Dick Sand noch der Neger von dem Aufenthalt der Mrs. Weldon Kenntniß gehabt und Herkules konnte sich auch nicht als falscher Zauberer nach Kazonnde hineinwagen.

Während nun das Boot mit großer Schnelligkeit in dem hier sehr eingeengten Flußbett hinabglitt, erzählte Herkules, was sich seit seiner Flucht vom Lager an der Coanza ereignet hatte; wie er der Kitannda, in der er Mrs. Weldon und ihren Sohn wußte, ungesehen gefolgt sei; wie er Dingo verwundet wiedergefunden habe und beide in der Nachbarschaft von Kazonnde angekommen seien; wie ferner ein Zettel von Herkules Dick Sand unterrichtet habe, was aus Mrs. Weldon geworden wäre; wie er nach dem unverhofften Zusammentreffen mit Vetter Benedict vergebens in die strenger als bisher bewachte Factorei einzudringen versucht, und wie er endlich die Gelegenheit fand, sie dem schrecklichen Jose-Antonio Alvez zu entführen. Diese Gelegenheit hatte sich erst an dem nämlichen Tage geboten. Ein Mganuga, auf einer Zauberer-Rundreise begriffen, derselbe, welcher von der Königin so ungeduldig erwartet wurde, kam früh Morgens durch den Wald, in dem Herkules jede Nacht spähend und lauschend umherlief. Auf den Magiker losspringen, ihn seines Apparates zu erleichtern und seiner Hexenmeister-Kleidung zu berauben und jenen mit unlösbaren Knoten mittelst Lianen an einen Baum binden, sich den Körper zu bemalen, wobei der Magiker als Modell dienen mußte, und dessen Rolle zur Beschwörung des unablässigen Regens zu übernehmen – das Alles war das Werk weniger Stunden; freilich gehörte die grenzenlose Leichtgläubigkeit der Eingebornen dazu, diesen Mummenschanz durchzuführen.

In dieser ganzen Erzählung, welche Herkules ziemlich schnell berichtete, war von Dick Sand in keiner Weise die Rede.

»Und Du, Dick? fragte deshalb Mrs. Weldon.

– Ich, Mistreß Weldon, antwortete der junge Leichtmatrose, ich habe Ihnen nichts zu erzählen. Mein letzter Gedanke galt Ihnen und dem kleinen Jack! Vergeblich suchte ich die Fesseln zu sprengen, die mich an dem Todespfahl festhielten… Dann stieg mir das Wasser über den Kopf… ich verlor das Bewußtsein…. Als ich wieder zu mir kam, sah ich mich in einer von Papyrusblättern gedeckten Versenkung am Ufer dieses Flusses, und Herkules vor mir knieend, der mich mit größter Sorgfalt pflegte.

– Potz tausend, weil ich eben Heilkünstler bin, warf Herkules ein, Wahrsager, Zauberer, Magiker, Zukunftsdeuter!…

– Sagt mir, Herkules, fragte Mrs. Weldon, wie es Euch möglich wurde, Dick Sand zu retten?

– Hab’ ich denn das gethan, Mistreß Weldon? entgegnete Herkules; hat nicht die Strömung den Pfahl umreißen können, an den unser Kapitän gebunden war, und ihn im Dunkel der Nacht eben auf jenem Balken unbemerkt wegführen können, bis ich ihn auf jenem halbtodt entdeckte? War es denn bei der Finsterniß so schwierig, sich mitten unter die Opfer, welche den Boden des Grabes auskleideten, zu schleichen, die Durchstechung des Dammes abzuwarten und beim Steigen des Wassers heimlich den Pfahl zu lockern und auszureißen, an den die Schurken unsern Kapitän gebunden hatten? Dabei ist doch nichts so Besonderes! Das hätte der erste Beste auch gethan. Ich wette, selbst Herr Benedict, im schlimmsten Falle sogar Dingo! Wahrhaftig, warum könnte es denn nicht Dingo ausgeführt haben?…«

Da ließ sich ein leises Kläffen hören; Jack faßte den großen Kopf des Hundes und streichelte ihn sanft. Dann sagte er:

»Sprich, Dingo, hast Du unsern Freund Dick gerettet?«

Gleichzeitig bewegte er den Kopf des Hundes von links nach rechts.

»Da, er sagt Nein, Herkules! fuhr Jack fort. Du siehst nun wohl, daß er es nicht gewesen ist. – Nun aber, Dingo, war es Herkules, der unsern Kapitän vom Tode gerettet hat?«

Der Knabe bewegte den schönen Kopf Dingo’s fünf-bis sechsmal auf und ab.

»Er sagt Ja, Herkules! Er sagt Ja! rief der kleine Jack. Du siehst wohl ein, daß Du es selbst gewesen bist!

– Freund Dingo, erwiderte Herkules, den Hund liebkosend, das ist nicht hübsch von Dir. Du hast ja versprochen, mich nicht zu verrathen!«

In der That, Herkules hatte sein Leben für das Dick Sand’s eingesetzt. Doch das lag nun einmal so in seiner Natur und seine Bescheidenheit erlaubte ihn nicht, davon zu sprechen. Uebrigens fand er die Sache so einfach, und wiederholte, daß Keiner seiner Gefährten gezögert haben würde, unter den gegebenen Umständen ebenso zu handeln, wie er es gethan habe.

Das veranlaßte Mrs. Weldon, nach dem alten Tom, dessen Sohn, Acteon und Bat, ihren unglücklichen Begleitern, zu fragen.

Sie waren nach dem Gebiet der großen Seen abgereist. Herkules hatte sie mit der Sklaven-Karawane fortziehen sehen. Er war ihnen zwar eine große Strecke gefolgt, doch wollte sich nie eine Gelegenheit bieten, mit ihnen in Verbindung zu treten Sie waren fort! Sie waren verloren!

Dem früheren heiteren Lachen Herkules’ folgten jetzt schwere Thränen, die er auch nicht zu verbergen suchte.

»Weint nicht, mein Freund, sprach ihm Mrs. Weldon zu; wer weiß, ob Gott uns nicht die Gnade gewährt, sie einst doch noch wiederzusehen.«

Wenig Worte genügten, um Dick Sand von dem in Kenntniß zu setzen, was sich während des Aufenthaltes der Mrs. Weldon in der Factorei von Alvez zugetragen hatte.

»Vielleicht, fügte sie hinzu, wäre es besser gewesen, in Kazonnde auszuharren…

– O, über mich Tölpel! rief Herkules.

– Nein, Herkules, nein! entgegnete Dick Sand. Jene Elenden hätten Mittel und Wege gefunden, Mrs. Weldon in irgend welche Falle zu locken! Fliehen wir vereint und ohne Zögern! Wir werden an der Küste ankommen, bevor Negoro nach Mossamedes zurück sein kann. Dort leihen uns die portugiesischen Behörden ihre Hilfe und Unterstützung, und wenn Alvez sich dann einstellt, seine einhunderttausend Dollars in Empfang zu nehmen…

– So wird der alte Schurke einhunderttausend Stockhiebe über den Schädel erhalten! rief Herkules; ich verpflichte mich, die letzte Rechnung mit ihm abzuschließen!«

Konnte Mrs. Weldon auch gar nicht daran denken, nach Kazonnde zurückzukehren, so bildete ihre vorher getroffene Verabredung doch eine gewisse Erschwerung der Flucht. Vor Allem galt es, Negoro zuvorzukommen. Alle weiteren Projecte Dick Sand’s mußten dieses Ziel im Auge haben.

Endlich kam nun Dick Sand’s lang gehegter Plan, die Meeresküste mittelst eines Flusses oder Stromes zu erreichen, zur Ausführung. Jetzt war der Wasserlauf da, seine Strömung verlief nach Norden und es hatte einige Wahrscheinlichkeit für sich, daß derselbe sich in den Zaïre ergießen möchte. In diesem Falle würden Mrs. Weldon und die Ihrigen statt in San Pablo de Loanda freilich an der Mündung dieses großen Stromes anlangen; das verschlug ihnen jedoch nicht viel, da auch in den Kolonien Unter-Guineas ja auf einige Hilfe zu rechnen war.

Als Dick Sand sich dafür entschieden hatte, jenen Fluß hinabzufahren, war es sein erster Gedanke, eine Art Floß von Stämmen und Zweigen zu benützen, etwa eine schwimmende Insel, wie man sie auf den afrikanischen Strömen ziemlich häufig antrifft und von denen bei Cameron wiederholt die Rede ist.

Als Herkules aber während der Nacht am Flußufer umherspähte, fand er ein wirkliches Boot, welches führerlos den Strom hinabschwamm. Ein besseres Fahrzeug hätte Dick Sand sich gar nicht wünschen können, und der Zufall hatte ihn hierbei wirklich ausnehmend begünstigt. Es gehörte jenes nämlich keineswegs zu den schmalen Barken, wie sich die Eingebornen solcher gewöhnlich bedienen. Die Länge der von Herkules entdeckten Pirogue überschritt wohl 9 Meter bei einer Breite von über 1 Meter; derlei Boote sieht man, von zahlreichen Ruderern getrieben, auf den großen Seen oft pfeilschnell dahinschießen.

Mrs. Weldon und ihre Begleiter fanden also ausreichend Platz in jenem, und man brauchte es nur mittelst eines Bootsriemens einigermaßen zu steuern, um bequem mit der Strömung flußabwärts zu gelangen.

Anfangs hatte Dick Sand, um möglichst ungesehen zu bleiben, die Absicht, nur in der Nacht zu reisen. Benutzte man von vierundzwanzig Stunden aber nur zwölf, so verdoppelte man offenbar die Dauer einer an und für sich nicht gefahrlosen Fahrt, welche ja ohnedies lange genug währen mußte. Glücklicher Weise kam Dick Sand auf den Gedanken, die Pirogue mit einem Dache aus langen, durch eine Stange gehaltenen Zweigen so zu bedecken, daß auch der Bootsriemen nicht sichtbar war. Man konnte das Ganze recht wohl für einen Haufen Aeste und Zweige halten, der mitten unter anderen schwimmenden Inseln dahinfloß. Die Herstellung dieses natürlichen Daches gelang auch so ausgezeichnet, daß sich selbst Vögel dadurch täuschen ließen, und oft setzten sich rothschnäblige Möven, schwarzgefiederte »Arrhingos« oder grüne oder weiße Papageien auf dasselbe, um einige Körner zu naschen.

Außerdem bildete dieses Dach einen vorzüglichen Schutz gegen die Sonnengluth. Eine unter diesen Verhältnissen unternommene Reise versprach also, wenn auch nicht ohne Gefahr, doch mindestens ohne besondere Anstrengung zu verlaufen.

Jedenfalls nahm die Fahrt eine ziemliche Zeit in Anspruch und mußte man sich täglich mit der nöthigen Nahrung zu versehen suchen. Gewährte der Fischfang diese nicht, so trat die Nothwendigkeit ein, am Flußufer zu jagen, und Dick Sand besaß als Feuerwaffe nur das eine Gewehr, welches Herkules nach dem Angriffe auf den Termitenbau mitgenommen hatte. Dafür bemühte er sich desto mehr, keinen Schuß vergeblich abzufeuern. Manchmal konnte er wohl auch aus der Bootshütte heraus durch die Wand von Zweigen schießen, wie der Hüttenjäger durch die Oeffnung seiner Hütte.

Inzwischen floß die Pirogue den Fluß mit einer Geschwindigkeit hinab, welche Dick Sand auf nicht weniger als zwei Meilen in der Stunde schätzte. Er rechnete also darauf, zwischen zwei Sonnenaufgängen eine Entfernung von fünfzig Meilen zurückzulegen. Gerade diese schnelle Strömung verlangte auch eine erhöhte Aufmerksamkeit, um etwaigen Hindernissen, wie Felsen, Baumstämmen oder Untiefen, rechtzeitig auszuweichen. Dazu lag auch die Befürchtung nahe, daß diese Strömung später in Stromschnellen, vielleicht gar in die Form von Wasserfällen übergehen könnte, was bei afrikanischen Flüssen ja sehr häufig der Fall ist.

Dick Sand, dem die Freude, Mrs. Weldon und ihr Kind wiederzusehen, die Kräfte schnell wiedergegeben hatte, nahm im Vordertheil der Pirogue Platz. Durch das lang herabhängende Gras und Laub beobachtete er den Fluß vor sich und bezeichnete Herkules, der den langen Bootsriemen führte, durch Worte oder durch Gesten, was er thun sollte, um das Fahrzeug auf dem richtigen Wege zu erhalten.

In Gedanken vertieft, lag Mrs. Weldon in der Mitte auf einem Lager von Blättern. Vetter Benedict saß schweigend, manchmal die Stirn runzelnd, wenn er Herkules sah, dem er wegen seines Dazwischentretens bei der Jagd auf die Manticore noch immer zürnte, daneben und dachte an seine verlornen Sammlungen, an seine entomologischen Notizen, deren Werth die Bewohner von Kazonnde kaum zu schätzen wissen würden. Er streckte die langen Beine von sich, kreuzte die Arme auf der Brust und machte dann und wann instinctiv eine Bewegung, als wolle er die Brille, welche ja seiner Nase schon so lange fehlte, auf die hohe Stirn rücken. Der kleine Jack sah wohl ein, daß er hier keinen Lärmen verursachen dürfe; da es jedoch nicht verboten war, sich zu bewegen, so lief er mit seinem Freunde Dingo um die Wette von einem Ende des Bootes zum anderen.

Während der ersten zwei Tage entnahmen Mrs. Weldon und ihre Begleiter alle die nöthige Nahrung aus den Vorräthen, die Herkules sich vor der Abfahrt zu verschaffen gewußt hatte. Dick Sand ließ also nur wenige Stunden in der Nacht anhalten, um sich einige Ruhe zu gönnen. Er ging vorläufig jedoch nicht an’s Land und wollte nur, wenn die Nothwendigkeit, neue Provisionen zu besorgen, an ihn heranträte, das Fahrzeug verlassen.

Der Anfang dieser Reise auf einem völlig unbekannten Flusse von oft nicht mehr als vierzig Meter Breite, wurde durch keinerlei Zwischenfall unterbrochen. Mehrere schwimmende Inseln trieben auf jenem mit der nämlichen Geschwindigkeit wie das Boot dahin. So lange sie also kein unerwartetes Hinderniß aufhielt, brauchte man einen Zusammenstoß mit denselben nicht zu fürchten.

Die Ufer erschienen übrigens vollkommen menschenleer. Offenbar wurden diese Theile des Gebietes von Kazonnde von den Eingebornen sehr wenig besucht.

Nach zwei Stunden war die Sperrung durchbrochen. (S. 426.)

Am Flußrande wucherten wildwachsende Pflanzen in großer Menge und schmückten diesen mit lebhaften Farben. Asclepias, Schwertlilien, Lilien, wilder Wein, Balsaminen, Umbelliferen, Aloës, baumartige Farren und wohlriechende Sträucher bildeten eine Einrahmung von unvergleichlicher Pracht.

Die Elefanten wollten ihren Durst löschen. (S. 428)

Da und dort badeten auch Wälder ihren Rand in dem schnell dahineilenden Wasser. Copalbäume, Akazien mit streifigen Blättern, »Bauhinias« mit eisenfestem Holze, deren Stämme an der den kältesten Winden ausgesetzten Seite dick mit Moos überzogen waren, Feigenbäume, auf Wurzelstämmen wie auf Grundpfeilern gleich den Magnolien thronend, und noch andere prächtige Baumarten neigten sich über die Uferwand. Wenn dann ihre Gipfel bei dreißig und noch mehr Meter Höhe einander trafen, bildeten sie ein grünes Laubdach, das kaum ein Sonnenstrahl zu durchdringen vermochte. Ost entstand auch eine große Brücke von Lianen von einem Ufer zum anderen und im Laufe des 27. sah der kleine Jack zu seiner größten Ueberraschung über diesen Pflanzenpfad eine Heerde Affen ziehen, welche sich gegenseitig an den Schwänzen hielten, für den Fall, daß jener unter ihrer Last in Stücke ging.

Diese Affen, zu den kleinen Schimpansen gehörig, die in Central-Afrika den Namen »Sokos« erhalten haben, bilden eine sehr häßliche Familie des Affengeschlechts, mit niedriger Stirn, hellgelblichem Gesicht und hoch oben stehenden Ohren. Sie leben in Gesellschaft von etwa einem Dutzend beisammen, bellen wie wilde Hunde und werden sehr gefürchtet von den Eingebornen, deren Kinder sie nicht selten rauben und zerkratzen oder jämmerlich beißen. Beim Passiren jener Lianenbrücke ahnten sie offenbar gar nicht, daß unter dem Laub-und Reisighaufen, den der Strom dahintrieb, sich auch ein kleiner Knabe befand, mit dem sie gewiß gern ihr Spiel getrieben hätten. Das von Dick Sand erdachte Fortschaffungsmittel war so täuschend hergestellt, daß selbst jene scharfsichtigen Vierfüßler sich davon täuschen ließen.

Zwanzig Meilen weiter ward das Boot noch an demselben Tage plötzlich aufgehalten.

»Was giebt es? fragte Herkules, der noch immer bei dem Bootsriemen stand.

– Eine Wegversperrung, antwortete Dick Sand, aber eine natürliche.

– So müssen wir sie durchbrechen, Herr Dick!

– Gewiß, Herkules, und zwar mit der Axt. Schon haben verschiedene Inseln darangestoßen, aber sie hat genug Widerstand geleistet.

– An’s Werk also mein Kapitän, an’s Werk!« mahnte Herkules, der im Vordertheil der Pirogue erschien.

Die betreffende Barre bestand aus zähem Grase mit glänzenden Halmen, welche sich durch Zusammenpressen selbst verfilzen und sehr widerstandsfähig werden. Man nennt dasselbe »Tikatika« und es gestattet nicht selten, Wasserläufe trockenen Fußes zu überschreiten, wenn man nicht davor zurückschreckt, in das Pflanzengewirr manchmal ziemlich tief einzusinken. Die Oberfläche der hier vorliegenden Barre war übrigens mit den schönsten Verzweigungen von Lotosblumen bedeckt.

Es wurde schon ziemlich dunkel. Herkules konnte, ohne zu viel auf’s Spiel zu setzen, das Boot verlassen, und er benutzte seine Axt auch mit solchem Geschick, daß die Sperrung nach zwei Stunden durchbrochen war, während die Strömung die beiden Hälften derselben an die Ufer andrängte und die Pirogue ihren Weg fortsetzen konnte.

Sollte man es glauben! Vetter Benedict, das große Kind, hatte einen Augenblick gehofft, daß man nicht hindurchkommen werde. Eine derartige Reise erschien ihm überhaupt langweilig. Er sehnte sich fast nach der Factorei des Jose-Antonio Alvez und nach der Hütte zurück, in der sich seine kostbare Entomologenbüchse noch befand. Dieser Kummer war gewiß ganz gerechtfertigt, denn hier hatte der arme Mann so gut wie gar nichts zu sehen. Nicht ein Insect, nein, nicht ein einziges wurde ihm zur Beute!

Wie groß aber war dafür auch seine Freude, als ihm Herkules – alles in allem doch »sein Schüler« – ein abscheuliches kleines Thier brachte, das er eben von einem Tikatika-Halme aufgelesen hatte. Sonderbar! Der brave Schwarze schien selbst etwas verwirrt, als er es dem gelehrten Herrn einhändigte.

In welche Ausrufe der Entzückung brach aber erst Vetter Benedict aus als er das zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltene Insect so nah’ als möglich vor seine kurzsichtigen Augen brachte, denen jetzt ja weder Brille noch Loupe zu Hilfe kommen konnte.

»Herkules! rief er, Herkules! Damit hast Du Dir die Begnadigung erworben! Cousine Weldon! Dick! Eine Hexapode, einzig in ihrer Art und von ausschließlich afrikanischer Herkunft! Diese wenigstens wird mir Niemand abstreiten, sie wird mich nicht verlassen, so lange ich das Leben habe!

– Sie ist also sehr kostbar? fragte Mrs. Weldon.

– Ob sie kostbar ist! rief Vetter Benedict. Ein Insect, das weder eine Coleoptere, noch eine Neuroptere, noch eine Hymenoptere ist, das keiner der den Gelehrten bekannten zehn Ordnungen angehört und das man versucht wäre, eher einer zweiten Abtheilung der Arachniden beizuzählen. Eine Art Spinne, welche auch eine Spinne wäre, wenn sie acht Füße hätte, die aber eine Hexapode ist, weil sie deren nur sechs hat! O, meine Freunde, diese Genugthuung war mir der Himmel schuldig, und endlich werde ich meinen Namen an eine wissenschaftliche Entdeckung knüpfen! Dieses Insect hier wird der »Hexapodes Benedictus« sein!«

Der enthusiastische Gelehrte vergaß, da er sein Steckenpferd tummelte, so schnell alles überstandene Leid, daß Mrs. Weldon und Dick Sand ihm ihre herzlichen Glückwünsche nicht vorenthalten konnten.

Indeß trieb die Pirogue auf den dunklen Wellen des Flusses hin. Nur das Klappern der Schuppen von Krokodilen unterbrach das Schweigen der Nacht, oder das Schnaufen der Flußpferde, die sich schwerfällig am Ufer wälzten.

Durch das Gezweig des Daches sendete der Mond, der hinter den Gipfeln der Bäume aufstieg, einige sanfte Strahlen bis in’s Innere des Fahrzeugs.

Plötzlich entstand am rechten Flußufer ein entferntes Geräusch, so als ob riesige Pumpen im Dunklen thätig wären.

Es rührte das von mehreren hundert Elefanten her, die, nachdem sie sich den Tag über an Wurzeln gesättigt, nun ihren Durst löschen wollten, bevor sie der Ruhe pflegten. Man hätte wirklich fürchten können, daß die Rüssel alle, welche sich gleichzeitig wie durch automatische Bewegung hoben und senkten, den großen Fluß trocken legen würden.

Achtzehntes Capitel.Verschiedene Vorkommnisse.

Acht Tage lang schwamm das Fahrzeug, allein von der Strömung getrieben, unter den beschriebenen Verhältnissen den Fluß hinab, ohne daß sich irgend ein erwähnenswerther Zwischenfall ereignete. Auf eine Strecke von mehreren Meilen badete der Wasserlauf den Saum der prächtigsten Wälder. Weiterhin verbreiteten sich auf dem baumlosen Lande gefährliche Dschungeln bis zum fernen Horizonte.

Zeigten sich in diesem ganzen Gebiete auch keine Eingebornen – worüber Dick Sand sich natürlich am wenigsten beklagte – so besaß jenes doch einen wahren Ueberfluß an Thieren. Da spielten am Ufer Zebras, Elennthiere, »Caamas«, d.i. eine Art höchst graziöser Antilopen, welche während der Nacht verschwanden, um Leoparden, deren durchdringendes Heulen man hörte, oder Löwen Platz zu machen, welche durch die hohen Gräser sprangen. Bisher hatten die Flüchtlinge noch in keiner Weise, weder von den Raubthieren des Waldes, noch von denen des Stromes zu leiden gehabt.

Tagtäglich, meist im Laufe des Nachmittags, lief Dick Sand das eine oder das andere Ufer an, stieg daselbst aus und durchsuchte die Umgebung.

Die Nahrungsvorräthe mußten ja immer erneuert werden. In diesen, aller Cultur entbehrenden Ländereien durfte man Manioc, Sorgho, Mais, d.s. die Früchte, von denen sich die Eingebornen vorwiegend nähren, nicht zu finden hoffen. Die genannten Pflanzen wuchsen hier nur wild und waren nicht eßbar. Dick Sand sah sich deshalb auf die Jagd angewiesen, obwohl der Knall seines Gewehres leicht eine unangenehme Begegnung zur Folge haben konnte.

Feuer bereitete man sich durch schnelle Umdrehung eines Stückchen härteren Holzes in einem etwas ausgehöhlten Stück Feigenbaumholze, ganz wie es die Eingebornen thun und wie es selbst Affen thun sollen, da man wenigstens behauptet, daß die Gorillas sich auf diese Weise Feuer zu verschaffen wissen. Dann kochte man gleich für mehrere Tage den nöthigen Bedarf an Elenn-oder Antilopenfleisch. Im Laufe des 4. Juli glückte es Dick Sand, mit einer einzigen Kugel einen »Poku« zu erlegen, der einen ansehnlichen Vorrath an Wildpret lieferte. Es war das ein 1∙5 Meter langes Thier, mit langen, ringförmig verdickten Hörnern, gelbrothem Fell, das auf dem Rücken und an den Seiten mit hellglänzenden Punkten übersäet, am Bauche aber ganz weiß war, und dessen Fleisch für sehr schmackhaft befunden wurde.

Bringt man die Zeit in Anschlag, welche das fast tägliche Landen beanspruchte, und zieht man auch die Ruhestunden während der Nacht ab, so durfte man die am 8. Juli weiter zurückgelegte Strecke höchstens auf hundert Meilen abschätzen. Immerhin war das beträchtlich zu nennen, und Dick Sand fragte sich, bis wohin ihn dieser scheinbar endlose Fluß wohl tragen werde, der bisher nur unbedeutende Nebenarme aufnahm, ohne sich dadurch sehr merkbar zu verbreitern. Nachdem derselbe übrigens lange Zeit die Hauptrichtung nach Norden eingehalten, wandte er sich jetzt nach Nordwesten.

Nebenbei lieferte auch der Fluß selbst einen Theil der nöthigen Nahrung. An langen, mit Dornen in Form von Angelhaken besetzten Lianen fingen sich zuweilen sehr schmackhafte »Sandjikas«, welche, auf Indianer-Weise gedörrt, weithin mitgeführt werden konnten; schwarze, sehr geschätzte »Usakas«, ferner breitköpfige »Monndes«, deren Kiefern mit Borsten an Stelle der Zähne besetzt sind, und kleine »Dagalas«, welche schnellfließendes Wasser lieben, zum Geschlecht der Strömlinge gehören und lebhaft an die »Whitebails« der Themse erinnern.

Am 9. Juli ward Dick Sand’s bewährte Kaltblütigkeit auf eine harte Probe gestellt. Er befand sich allein am Lande, auf dem Anstand nach einem Caama, dessen Hörner über ein Gebüsch hinausragten, und hatte eben auf dieses Feuer gegeben, als in dreißig Schritt Entfernung ein furchtbarer Jäger aufsprang, der jedenfalls die ihm gebührende Beute in Anspruch nehmen wollte und wenig geneigt schien, dieselbe aufzugeben. Es war das ein hochgewachsener Löwe von der Art, welche die Landesbewohner »Karamos« nennen, und nicht von der mähnenlosen Abart, die als »Löwen des Nyassi« bekannt sind. Das Exemplar, von dem hier die Rede ist, maß 11/2 Meter in der Höhe – wirklich ein furchtbares Thier.

Mit gewaltigem Sprunge hatte der Löwe sich auf das Caama gestürzt, welches Dick Sand’s Kugel niederstreckte, und das, weil es noch lebte, sich schreiend unter der mächtigen Tatze des schrecklichen Raubthieres wand.

Dick Sand hatte nicht Zeit gehabt, sein Gewehr noch einmal zu laden.

Der Löwe selbst wurde seiner auch im ersten Moment gewahr, begnügte sich aber zunächst, ihn anzusehen.

Dick Sand blieb seiner so weit Herr, keine Bewegung zu machen. Er erinnerte sich, daß unter ähnlichen Umständen in der Unbeweglichkeit allein Rettung zu finden sei. Er versuchte gar nicht, seine Waffe noch einmal zu laden oder gar zu entfliehen.

Noch immer starrte ihn der König der Thiere mit den rothen, leuchtenden Katzenaugen an. Er schien zwischen zwei Beuten, der zappelnden und der bewegungslosen zu schwanken. Hätte sich das Caama nicht unter den Klauen des Löwen bewegt, so wäre Dick Sand verloren gewesen.

So schlichen zwei angstvolle Minuten hin. Der Löwe sah Dick Sand, Dick Sand den Löwen an, ohne nur mit einem Lide zu zucken.

Da peitschte der Löwe den Boden mit dem stolzen Schweife, nahm das zuckende Caama auf und trug es im Rachen fort wie ein Hund den Hafen. Schnell brach das Raubthier durch die Gebüsche und verschwand im hohen Gehölz.

Dick Sand blieb noch immer einige Augenblicke regungslos stehen, dann verließ er die Stelle und suchte seine Gefährten wieder auf, ohne diesen auch nur ein Wort von der Gefahr zu erzählen, der er nur durch seine muthige Kaltblütigkeit entronnen war. Mußten die Flüchtlinge freilich, statt auf dem raschen Strome, durch die von ähnlichen Raubthieren wimmelnden Ebenen und Wälder ziehen, so wäre heute Niemand mehr von den Ueberlebenden des »Pilgrim« übrig gewesen.

Wenn sich das Land indeß jetzt unbewohnt erwies, so war das doch nicht immer so gewesen. Da und dort, meist in Niederungen, hätte man wohl die Spuren früherer Ansiedelungen nachzuweisen vermocht. Ein mit diesen Verhältnissen vertrauter Reisender, wie etwa David Livingstone, hätte sich in dieser Hinsicht nicht täuschen können. Die Erscheinung hoher Palissaden von Euphorbien, welche die einst von ihnen umschlossenen Strohhütten überdauerten, oder eines geheiligten Feigenbaumes, der sich isolirt innerhalb einer solchen Einfriedigung erhob, verrieth, daß sich an solchen Stellen einmal ein Dorf befunden habe. Nach der Sitte der Eingebornen genügte indeß schon das Ableben eines Häuptlings, um die Einwohner zum Verlassen ihrer Wohnungen und zur Verlegung derselben nach einem anderen Orte zu zwingen.

Vielleicht lebten auch die Stämme dieser Gegend, welche der Fluß durchschnitt, unter der Erdoberfläche, wie in manchen anderen Theilen Afrikas. Diese auf der untersten Stufe der Menschheit stehenden Wilden kommen nur während der Nacht aus ihren Löchern, wie die Raubthiere aus ihren Höhlen, und eine Begegnung mit den ersteren oder letzteren möchte wohl eine gleich große Gefahr darbieten.

Daß er sich hier in der Heimat von Menschenfressern befinde, darüber konnte Dick Sand nicht in Zweifel sein. Wiederholt fand er an lichteren Stellen des Waldes, mitten in kaum erkalteter Asche, halb verbrannte menschliche Gebeine als Ueberbleibsel irgend eines entsetzlichen Mahles. Ein übler Zufall konnte recht wohl solche Kannibalen von Ober-Kazonnde nach dem Flußufer führen, wenn Dick Sand eben am Lande war. Er blieb also niemals ohne Noth längere Zeit aus, und ohne Herkules das Versprechen abzunehmen, daß er das Boot beim geringsten Alarmruf vom Lande abstoßen werde.

Der Löwe wurde Dick Sand gewahr. (S. 430.)

Der wackere Neger hatte ihm das zugesagt, doch nur mit Mühe verbarg er vor Mrs. Weldon seine tödtliche Unruhe, wenn Dick Sand an’s Land gegangen war.

Am Abend des 10. Juli mußte doppelte Vorsicht gebraucht werden. Auf dem rechten Flußufer erhob sich eine Art Wasser Dorf.

Hastig holten die Eingebornen ihre Netze heraus. (S. 434.)

Das verbreiterte Strombett bildete nämlich eine Art Lagune, deren Gewässer etwa dreißig auf Pfählen errichtete Hütten bespülte. Die Strömung führte unter diesen Hütten hin und das Boot mußte ihr folgen, denn nach links hin war der Fluß wegen eingelagerter Felsmassen nicht fahrbar.

Das erwähnte Dorf erwies sich auch bewohnt Da und dort erglänzte der Schein von Feuer unter den Wohnungen. Man hörte auch Stimmen, welche mehr einem wilden Heulen ähnelten Wenn unglücklicher Weise zwischen den Pfählen, wie das häufiger vorkommt, Seile und Netze ausgespannt waren, so konnte die Pirogue, während sie einen Durchgang suchte, ihre Anwesenheit leicht selbst verrathen.

Mit gedämpfter Stimme ertheilte Dick Sand vom vorderen Ende aus seine Anweisungen, um jeden Anprall gegen die wurmstichigen Unterbauten zu vermeiden. Die Nacht war sternenklar. Man sah dabei genug, um sich zurechtzufinden, freilich auch, um selbst gesehen zu werden.

Nun kamen einige schreckliche Minuten. Zwei Eingeborne saßen laut sprechend nahe der Wasserfläche auf Pfählen, zwischen welchen die Strömung das Boot hindurchtreiben mußte, dessen Richtung bei diesem schmalen Wege in keiner Weise verändert werden durfte. Sollten sie dasselbe nicht erkennen und war nicht auf ihren Weckruf die Zusammenströmung aller Bewohner dieser Ansiedlung zu befürchten?

Noch war eine Strecke von etwa hundert Schritt Länge zurückzulegen, als Dick Sand hörte, wie sich die Eingebornen einige lebhaftere Worte zuriefen. Der Eine zeigte dem Anderen den herangleitenden Gras-und Reisighaufen, der die Lianen-Netze, welche sie eben auszulegen beschäftigt waren, zu zerreißen drohte.

Dann hoben sie dieselben und riefen laut nach Anderen um Unterstützung.

Bald kletterten fünf oder sechs andere Neger längs der Grundpfähle herab und setzten sich unter wildem Geschrei, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, auf die Querbalken, welche die Pfeiler verbanden.

In der Pirogue dagegen herrschte Todtenstille, die höchstens durch einige mit gedämpfter Stimme ertheilte Befehle Dick Sand’s unterbrochen wurde; nichts regte sich, außer etwa Herkules’ rechter Arm, der den Bootsriemen regierte; manchmal knurrte Dingo leise, doch Jack hielt ihm mit den kleinen Händchen die Kinnladen zusammen; draußen murmelte das strömende Wasser, das sich an den Grundpfählen brach; darüber aber ertönte das thierische Gebrüll der Kannibalen.

Hastig holten die Eingebornen ihre Netze heraus. Gelang ihnen das rechtzeitig, so war Aussicht vorhanden, daß das Boot hindurchkommen werde; im anderen Falle mußte es sich in jenen fangen und dann drohte ein gewisser Untergang Allen, die es mit sich führte.

Binnen einer halben Minute schon schwankte das Boot zwischen die Pfähle hinein. Unerwartet glücklicher Weise gelang es der äußersten Anstrengung jener Wilden, die Netze vollends emporzuziehen.

Im Vorüberstreifen aber geschah, was Dick Sand befürchtet hatte – die rechte Seite des Fahrzeuges wurde durch Losreißung einigen Laubwerkes stellenweise bloßgelegt.

Einer der Eingebornen stieß einen Schrei aus. Hatte er zu erkennen vermocht, was diese Laubhütte verdeckte, und wollte er die Anderen darauf aufmerksam machen? Wahrscheinlich.

Schon waren Dick Sand und die Seinen aber ein gutes Stück weg und in wenig Augenblicken trug sie der Fluß, der hier mehr eine Stromschnelle bildete, so weit, daß sie jenes Pfahldorf ganz aus dem Gesichte verloren.

»Nach dem linken Ufer! commandirte Dick Sand aus Vorsorge. Das Wasser ist dort wieder schiffbar!

– Beidrehen nach links!« wiederholte Herkules, indem er mit dem Bootsriemen kräftig einlenkte.

Dick Sand nahm neben ihm Platz und lugte scharf nach der vom Monde hell erleuchteten Wasserfläche hinaus, doch konnte er nichts Verdächtiges wahrnehmen. Keine Pirogue erschien zu ihrer Verfolgung. Vielleicht besaßen die Wilden eine solche nicht, und auch bei Anbruch des Tages zeigte sich kein Eingeborner weder am Flusse noch an dessen Ufern. Um jedoch ganz sicher zu gehen, hielt sich das Boot beständig nahe dem linken Ufer.

Während der nächsten vier Tage, vom 11. bis 14. Juli, drängte sich Mrs. Weldon und ihren Gefährten die Beobachtung auf, daß sich der allgemeine Charakter des Landes auffallend verändert hatte. Hier befand man sich nicht mehr in einem öden Lande, sondern mehr in einer eigentlichen Wüste, vergleichbar der von Kalahari, welche Livingstone bei seiner ersten Reise untersuchte. Der dürre Erdboden erinnerte in keiner Weise mehr an die fruchtbaren Landschaften seines höheren Hinterlandes.

Nur der scheinbar endlose Fluß, der eigentlich den Namen eines Stromes verdiente, da er unmittelbar in den Atlantischen Ocean zu münden schien, setzte seinen Lauf noch fort.

Die Beschaffung der Nahrung machte in diesem unfruchtbaren Lande besondere Schwierigkeiten. Von den früheren Vorräthen war nichts mehr übrig. Der Fischfang lieferte nur einen geringen, die Jagd fast gar keinen Ertrag. Elennthiere, Antilopen, Pokus und andere Thiere hätten in dieser Wilstenei kein Futter gefunden, und mit ihnen waren gleichzeitig auch die Raubthiere verschwunden.

Während der Nacht ließ sich jetzt niemals mehr das gewohnte Brüllen hören. Nur das Concert der Frösche unterbrach ihre Stille, ein Concert, das Cameron mit dem Geräusch vergleicht, das etwa bei gleichzeitigem Kalfatern von Schiffen, Festhämmern von Nieten und Bohren von Metallplatten eines Schiffbodens entstände.

An beiden Ufern erschien die Umgegend flach und baumlos bis zu den entfernten Hügeln, die sie im Osten und Westen begrenzten. Nur Euphorbien gediehen hier noch in Menge, doch keine von den Arten, welche das Cassave-oder Maniocmehl liefern, sondern von jenen, aus denen man nur ein als Nahrungsmittel untaugliches Oel gewinnt.

Auf jeden Fall mußte indeß für die Ernährung der kleinen Gesellschaft Sorge getragen werden. Dick Sand wußte keinen Rath mehr, als ihn Herkules recht zur gelegenen Zeit daran erinnerte, daß die Eingebornen häufig die zarten Sprossen der Farren und das Mark der Papyrusstengel verzehren. Er selbst war, während er Ibn Hamis’ Karawane durch die Wälder folgte, mehr als einmal auf dieses Auskunftsmittel beschränkt gewesen, um seinen Hunger zu stillen. Zum Glück wucherten Farren und Papyrusstauden längs der Ufergelände und fand vorzüglich das Mark der letzteren seines angenehm süßen Saftes wegen bei Allen – beim kleinen Jack natürlich ganz besonders – den ungetheiltesten Beifall.

Immerhin bot dasselbe nur eine unzulängliche Nahrung, doch sollte man sich am nächsten Tage, Dank Vetter Benedict, dafür entschädigen.

Seit der Auffindung des Hexapodus Benedictus, der seinen Namen verewigen sollte, hatte der würdige Gelehrte die früheren kleinen Streifzüge wieder begonnen. Nachdem das Insect sicher verwahrt, d.h. am Hute sorgfältig angespießt war, ging Vetter Benedict, wenn das Boot anlegte, wieder »auf die Suche«. Da, als er genannten Tages durch das hohe Gras watete, flog ein Vogel auf, dessen Gezwitscher seine Aufmerksamkeit erregte.

Schon wollte Dick Sand auf denselben feuern, als Vetter Benedict ausrief:

»Nicht schießen, Dick, nicht schießen! Ein Vogel für Fünf wäre doch zu wenig!

– Für Jack reicht er doch, antwortete Dick Sand, indem er nochmals auf den Vogel anlegte, der gar nicht an’s Entfliehen dachte.

– Nein, nein! wiederholte Vetter Benedict. Schießt nicht! Das ist ein Wegweiser; durch ihn werden wir Honig in Ueberfluß finden!«

Dick Sand senkte das Gewehr, da ihm auch nur wenige Pfunde Honig werthvoller erschienen als ein Vogel, und bereitete sich, nebst Vetter Benedict, dem Wegweiser zu folgen, der, von Zeit zu Zeit fortfliegend und anhaltend, sie einzuladen schien, ihn zu begleiten.

Sie hatten nicht weit zu gehen, denn schon nach wenig Minuten sahen sie, von Euphorbien versteckt und von Millionen Bienen umsummt, einige alte Baumstümpfe vor sich.

Vetter Benedict hätte diesen fleißigen Hymenopteren »die Frucht ihrer Arbeit« – wie er sich ausdrückte – am liebsten gar nicht geraubt. Dick Sand war freilich anderer Meinung. Er räucherte die Bienen durch Entzündung trockener Kräuter aus und bemächtigte sich einer gehörigen Menge vorzüglichen Honigs. Die Wachszellen wurden dem Wegweiser als ihm gebührender Beuteantheil überlassen, dann kehrten Beide eiligst nach ihrer schwimmenden Wohnung zurück.

Der Honig wurde mit Freuden empfangen; bei seiner für fünf Personen aber immerhin nicht übermäßigen Menge hätten doch Alle bald grausamen Hunger leiden müssen, wenn die Pirogue am 12. Juli nicht in einer kleinen Bucht gehalten hätte, neben der es von Heuschrecken geradezu wimmelte. Myriadenweise bedeckten sie in doppelter und dreifacher Lage den Boden wie die Gebüsche. Da nun Vetter Benedict schon früher mitgetheilt hatte, daß die Eingebornen sich nicht selten allein von diesen Orthopteren sättigen – was auch in der That der Fall ist – so griff man herzhaft zu. Wohl zehnmal hätte man das Boot mit Heuschrecken beladen können, die, bei mäßigem Feuer geröstet, auch minder hungrigen Leuten noch gut gemundet hätten. Vetter Benedict seinerseits verzehrte eine erstaunliche Menge; er seufzte zwar dabei – aber er aß sie doch.

Nichtsdestoweniger wurde es nun hohe Zeit, daß diese lange Reihe moralischer und physischer Prüfungen ein Ende nahm. Obwohl das Hinabfahren auf dem schnellen Flusse nicht im Mindesten so ermüdend war, als die erste Wanderung durch die Wälder, so machten doch die unausstehliche Hitze des Tages, die feuchten Dünste der Nacht und die unaufhörlichen Belästigungen durch Muskitos die Fahrt auf dem Wasser zu einer sehr aufreibenden Reise. Nun mußte man bald ankommen, doch konnte Dick Sand unmöglich den Zeitpunkt angeben, wann das nächste Ziel erreicht sein würde. Bei strenger Richtung des Flusses nach Westen mußte die Gesellschaft sich jetzt wohl schon an der Nordküste Angolas befinden, da er aber im Ganzen mehr nach Norden strömte, konnte es lange dauern, bevor er das Meer erreichte.

Dick Sand’s Unruhe nahm immer mehr zu, als er plötzlich, am Morgen des 14. Juli, sah, daß sich die Stromrichtung änderte.

Der kleine Jack stand im Vordertheil des Bootes und guckte durch die Zweigwand, wobei er am Horizonte eine ausgedehnte Wasserfläche entdeckte.

»Das Meer, das Meer!« rief er.

Wie klopfte Dick Sand bei diesen Worten das Herz, während er auf den Knaben zuging.

»Das Meer! sagte er, leider noch nicht, wohl aber ein Strom, der nach Westen zu fließt und von dem dieser Fluß nur einen Nebenarm darstellt. Vielleicht ist es der Zaïre selbst!

– Gott geb’ es!« seufzte Mrs. Weldon.

Ja, wenn das der Zaire oder Congo war, den Stanley wenige Jahre später näher erforschte, so brauchte man nur noch seinen Lauf hinabzufahren, um die portugiesischen Ansiedelungen an dessen Mündung zu erreichen. Dick Sand hoffte, daß es so sei, und hatte verschiedene Gründe für diese Annahme.

Während des 15., 16., 17. und 18. Juli glitt das Fahrzeug durch die jetzt minder unfruchtbare Landschaft auf den silbernen Wellen des Stromes hinab. Immer beobachtete man die nämlichen Vorsichtsmaßregeln und immer erschien das nur wie ein Haufen Gezweig und Laubwerk, was die Strömung mit sich zum Meere führte.

Nach wenig Tagen sollten die Ueberlebenden des »Pilgrim« allem Anscheine nach das Ende ihrer Leiden begrüßen. Dann konnte eines Jeden Antheil an der Rettung beurtheilt werden, und wenn der junge Leichtmatrose gewiß für sich nicht selbst den größten Antheil beanspruchte, so war doch Mrs. Weldon da, die denselben für ihn in Anspruch nahm.

Da ereignete sich aber in der Nacht des 18. Juli ein Zwischenfall, der die Rettung Aller in Frage stellte.

Gegen drei Uhr Morgens ließ sich im Westen ein entferntes, anfangs nur sehr dumpfes Geräusch vernehmen. Dick Sand wünschte aus ängstlicher Vorsicht die Ursache desselben zu erfahren. Während Mrs. Weldon, Jack und Vetter Benedict ruhig in der Mitte des Bootes schlummerten, rief er Herkules herzu und empfahl ihm, mit größter Aufmerksamkeit zu horchen.

Die Nacht war still. Kein Hauch bewegte die Atmosphäre.

»Das ist das Rauschen des Meeres! meinte Herkules, dessen Augen vor Freude glänzten.

– Nein, das nicht, antwortete Dick Sand kopfschüttelnd.

– Und was wäre es sonst? fragte Herkules.

– Warten wir den Tag ab, aber laßt uns strengstens wachen!«

Herkules kehrte wieder auf seinen Posten zurück.

Dick Sand blieb am Vordertheile. Er lauschte noch immer. Das Geräusch nahm zu. Bald nahm es den Charakter eines fernen Rauschens an.

Der Tag erschien, fast ohne vermittelnde Dämmerung. Nach vorwärts und scheinbar unterhalb des Flusses schwebte eine Art Wolke in der Luft. Daß dieselbe nicht aus wirklichen Dünsten bestand, wurde durch das Auftreten eines von einem Ufer zum anderen reichenden, farbenschillernden Regenbogens bewiesen, sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken blitzten.

»An’s Ufer! rief Dick Sand, dessen Stimme auch Mrs. Weldon erweckte. Dort ist ein Wasserfall! Jene Wolken bestehen nur aus zerstäubtem Wasser. An’s Ufer, Herkules!«

Dick Sand irrte nicht. Vor ihnen bildete das Flußbett einen über 30 Meter hohen Abhang, in den sich das Wasser mit majestätischer, aber unwiderstehlicher Gewalt hinunterstürzte.

Noch eine halbe Meile, und das Boot wäre rettungslos in den tosenden Schlund hineingezogen worden.

Neunzehntes Capitel.S. V.

Durch einen kräftigen Ruderschlag hatte sich Herkules dem linken Ufer genähert. An dieser Stelle war die Strömung noch nicht beschleunigt, da das Bett des Flusses seine normale Neigung bis dicht an die Fälle einhielt. Dort erst schwand ihm sozusagen plötzlich der Boden, so daß sich ein stärkerer Zug des Wassers erst anderthalb bis zweihundert Schritte von dem Katarakte fühlbar machte.

Am linken Ufer erhob sich ein hoher, dichter Wald. Durch das undurchdringliche Dickicht schimmerte kaum ein Lichtschein Nicht ohne Furcht betrachtete Dick Sand dieses von den Kannibalen des unteren Congo bewohnte Gebiet, das man nun durchwandern mußte, da das Boot dem Flusse nicht mehr folgen konnte. An eine Ueberführung desselben bis unterhalb der Fälle war von vornherein nicht zu denken. Gewiß ein harter Schlag für die armen Menschen, vielleicht am Tage, bevor sie im anderen Falle die portugiesischen Niederlassungen an der Küste erreicht hätten. Doch, sie hatten la nach Kräften geholfen, sollte ihnen der Himmel nicht weiter helfen?

Bald erreichte die Pirogue das linke Stromufer. Je mehr sie aber sich ihm näherte, desto auffallendere Zeichen von Ungeduld und Schmerz gab Dingo von sich.

»In dieser Hütte ist ein Mensch gestorben.« (S. 442.)

Dick Sand, der ihn scharf beobachtete – denn hier drohten Gefahren ringsum – fragte sich, ob vielleicht ein Raubthier oder ein Eingeborner in dem hohen Papyrus des Ufersaumes versteckt liegen möge. Er erkannte jedoch bald, daß es eine Empfindung von Zorn nicht sein könne, welche das Thier so erregte.

»Es sieht aus, als ob er weinte!« rief der kleine Jack, der Dingo mit den Aermchen umfaßte.

Dingo entwand sich ihm, sprang, als das Boot nur noch zehn Schritte vom Ufer entfernt war, in’s Wasser, schwamm vollends an’s Land und verschwand in den Gebüschen.

Weder Mrs. Weldon noch Dick Sand oder Herkules wußten, was sie davon denken sollten.

Wenige Augenblicke später landeten sie selbst in einem von Conserven und anderen Wasserpflanzen grüngefärbten Schaume. Mit kurzem Kreischen flogen mehrere Taucherkönige und einige kleine, schneeweiße Reiher erschrocken auf. Herkules legte das Boot an dem Stamm einer Magnolie fest und Alle erstiegen das Ufer, über welches sich hohe Bäume herabneigten. Ein eigentlicher Fußsteg zeigte sich in dem Walde nirgends; wohl aber deutete das niedergedrückte Moos des Bodens darauf hin, daß hier unlängst Eingeborne oder wenigstens Thiere vorübergekommen sein mußten.

Dick Sand mit dem geladenen Gewehre und Herkules mit der Axt in der Hand, hatten keine zehn Schritte gethan, als sie Dingo schon wiederfanden. Fortwährend leise bellend, folgte der Hund, die Nase am Boden, offenbar einer Spur nach. Ein erstes unerklärliches Vorgefühl hatte ihn hier an’s Ufer getrieben, ein anderes verlockte ihn in die Tiefe des Waldes. Allen erschien das unzweifelhaft.

»Achtung! sagte Dick Sand. Mistreß Weldon, Herr Benedict, Jack, verlieren Sie uns nicht! – Achtung, Herkules!«

Eben jetzt erhob Dingo den Kopf und lud mit kleinen Sprüngen offenbar ein, ihm zu folgen.

Bald darauf trafen Mrs. Weldon und ihre Begleiter wieder mit dem Thiere am Fuße einer im dichtesten Urwald versteckten Sycomore zusammen.

Daran stand eine verfallene Hütte aus zersprungenen Balken, vor welcher Dingo kläglich anschlug.

»Was mag er hier haben?« rief Dick Sand.

Er trat in die Hütte ein.

Mrs. Weldon und die Uebrigen folgten ihm.

Auf dem Boden lagen hier Gebeine umher, welche der entfärbende Einfluß der Luft schon gebleicht hatte.

»In dieser Hütte ist ein Mensch gestorben! sagte Mrs. Weldon.

– Und den Mann hat Dingo gekannt, vervollständigte Dick Sand, das war sein Herr, das muß er gewesen sein! Ah, seht da!«

Dick Sand wies nach dem zum Theil abgeschälten Sycomorenstamme im Hintergrund des kleinen Raumes.

Dort zeigten sich zwei große rothe, zwar halb verwischte, aber doch noch erkennbare Buchstaben.

Dingo stemmte die eine Pfote gegen den Baum, als wollte er auf jene hindeuten.

»S. V.! rief Dick Sand. Die Buchstaben, welche Dingo unter allen anderen erkannte! Dieselben, welche er an seinem Halsbande trägt!….«

Er vollendete seine Worte nicht, sondern bückte sich und hob von der Erde ein kleines, über und über oxydirtes Kästchen aus Kupfer auf, das in einem Winkel der Hütte stand.

Dasselbe war nicht verschlossen und es fiel ein Papier heraus, auf dem Dick Sand folgende wenige Worte las:

»Ermordet…. bestohlen durch meinen Führer Negoro… 3. December 1871…. hier…. 120 Meilen von der Küste…. Dingo!…. bei mir!….

S. Vernon.«

Dieser Zettel sagte Alles. Von seinem Hunde Dingo begleitet, war Samuel Vernon aufgebrochen, um unter Führung Negoro’s das Innere Afrikas zu erforschen. Das Geld, welches er bei sich trug, hatte die Habsucht jenes Schurken gereizt und ihn zu dem Entschlusse getrieben, es sich anzueignen. An diesem Punkte des Congo-Ufers angelangt, schlug der französische Reisende sein Lager in eben dieser Hütte auf. Hier ward er tödtlich verwundet, bestohlen, verlassen…. Nach vollbrachter Mordthat ergriff Negoro jedenfalls die Flucht und mochte dabei den Portugiesen in die Hände gefallen sein. Als Agent des Sklavenhändlers Alvez erkannt, wurde er nach San Pablo de Loanda abgeführt und verurtheilt, seine Tage in einer der Strafanstalten der Kolonie zu beschließen. Der Leser weiß, daß es ihm gelang, zu entweichen, nach Neu-Seeland zu entfliehen, und daß er sich auf dem »Pilgrim« mit einschiffte zum Unglück Aller, die die Brigg-Goëlette trug. Was war aber nach dem Verbrechen geschehen? Nichts, was sich nicht fast von selbst erklärte. Der unglückliche Vernon gewann, bevor er den Geist aufgab, offenbar noch Zeit, jene Zeilen niederzuschreiben, welche neben dem Datum und der Veranlassung der Unthat auch den Namen des Mörders nannten. Das Blättchen hatte er in die Cassette gelegt, in der sich vorher jedenfalls das gestohlene Geld befand, und als letzte Lebensäußerung mochte er, gleichsam als Grabschrift, jene beiden Anfangsbuchstaben mit blutender Hand in den Baum geschnitten haben. Gewiß mochte Dingo manchen Tag lang, die beiden gerötheten Buchstaben vor Augen, hier zurückgeblieben sein. Er hatte sie dabei seinem Gedächtniß eingeprägt. Er konnte sie nicht wohl wieder vergessen. Nach der Küste zurückgekehrt, wurde er zunächst an Bord des »Waldeck« und später von dem Kapitän des »Pilgrim« aufgenommen, wo er wieder mit Negoro zusammentraf. Während dieser Zeit moderten und bleichten die Gebeine des Reisenden in diesem verlorenen, innerafrikanischen Urwalde, und jener lebte bei Niemand mehr, außer im Gedächtniß seines treuen Hundes. Gewiß, so mußte sich Alles zugetragen haben, und Dick Sand ging nebst Herkules schon daran, den Ueberresten des Reisenden ein christliches Begräbniß zu bereiten, als Dingo, jetzt aber mit wüthendem Geheul, zur Hütte hinaussprang.

Fast gleichzeitig hörte man einen gräßlichen Angstschrei in kurzer Entfernung. Jedenfalls hatte das Thier einen Menschen gepackt.

Herkules that, was Dingo vorher gethan. Er war mit einem Sprunge aus der Hütte, und Dick Sand, Mrs. Weldon, Jack und Benedict sahen ihn, als sie ebenfalls heraustraten, sich auf einen Mann stürzen, der, auf der Erde liegend, von den gewaltigen Zähnen des Hundes an der Kehle fest gehalten wurde.

Dieser Mann war Negoro.

Auf dem Wege nach der Mündung des Zaïre, von wo aus er sich nach Amerika einzuschiffen gedachte, hatte sich der Schurke, seine übrige Begleitung einstweilen zurücklassend, nach der Stelle begeben, wo er einst den Reisenden, der sich ihm anvertraut hatte, ermordete.

Es geschah das auch nicht ohne Grund, und Alle begriffen, warum jener diesen Weg eingeschlagen hatte, als sie in einem frisch aufgewühlten Loche am Fuße eines anderen Baumes noch ein Häuschen französischer Goldstücke schimmern sahen. Es lag also auf der Hand, daß Negoro nach der Mordthat und bevor er den Portugiesen in die Hände fiel, den Ertrag seines Raubes in der Absicht verborgen hatte, ihn später einmal abzuholen, und eben wollte er sich all’ dieses Gold aneignen, als Dingo ihn aufspürte und an der Gurgel faßte. Erschreckt hatte der Elende noch ein Jagdmesser gezogen und den Hund verwundet, als Herkules sich über ihn stürzte.

»Ah, Du Schurke! Jetzt endlich werd ich Dich erwürgen!«

Das erwies sich jedoch unnöthig. Der Portugiese gab kein Lebenszeichen mehr von sich; an der Stelle des früheren Verbrechens selbst hatte ihn die göttliche Wiedervergeltung zu erreichen gewußt. Auch der treue Hund war indeß tödtlich getroffen und verendete, sich noch bis zur Hütte schleppend, auf derselben Stelle, wo Samuel Vernon gestorben war.

Tief in die Erde vergrub Herkules die Reste von dem Reisenden, und auch Dingo wurde, unter herzlichem Bedauern Aller, mit seinem Herrn in dieselbe Grube gelegt.

Negoro existirte nun zwar nicht mehr; die Eingebornen aber, welche ihn von Kazonnde her begleiteten, konnten von hier nicht fern sein. Trafen sie nun jenen nicht wieder, so suchten sie ihn gewiß längs des Flußufers. Hierin lag eine ernstliche Gefahr.

Dick Sand und Mrs. Weldon berathschlagten also, was jetzt zu thun, und was ohne einen Augenblick zu verlieren zu thun sei.

Eines wußten Sie nun sicher, daß dieser Wasserlauf der Congo sei, den die Eingebornen Kwango oder Ikutu ya Kongo nennen und der unter gewissen Breitengraden den Zaïre, unter anderen den Loualaba darstellt. Es war das jene große Pulsader Central-Afrikas, der die Geographen jetzt den Namen »Stanley« geben sollten, zu Ehren des kühnen amerikanischen Journalisten, der vier Jahre später ihren Lauf feststellte.

Konnte man aber nicht mehr daran zweifeln, den Congo vor sich zu haben, so meldeten doch die Zeilen des französischen Reisenden, daß seine Mündung noch 120 Meilen von hier entfernt sei, und zum Unglück war der Strom hier nicht schiffbar. Mächtige Fälle – wahrscheinlich die Katarakten von Niemo – machten hier unbedingt jeder Beschiffung des Stromes ein Ende. Man sah sich also gezwungen, dem einen oder dem anderen Ufer zu folgen, mindestens bis unterhalb der Fälle, vielleicht ein oder zwei Meilen weit, um dann vielleicht ein Floß zu bauen und sich auf diesem nochmals von der Strömung hinabtragen zu lassen.

»So wäre nun, sagte schließlich Dick Sand, zu unterscheiden, ob wir auf dem linken Flußufer, auf dem wir uns befinden, oder auf dem rechten weiter gehen sollen. Mir erscheinen beide gefährlich, Mistreß Weldon, denn jedenfalls haben wir Eingeborne überall zu fürchten. Doch denke ich, laufen wir hier noch größere Gefahr, da wir den Begleitmannschaften Negoro’s in den Weg kommen können.

– Setzen wir also nach dem anderen Ufer über, sagte Mrs. Weldon.

– Ja, aber wird das auch gangbar sein? warf Dick Sand ein. Der Weg nach den Congo-Mündungen läuft offenbar an diesem linken Ufer hin, da Negoro diesen einschlug. Doch, wie dem auch sei, wir dürfen nicht zaudern. Vor der Ueberschreitung des Flusses aber, Mistreß Weldon, will ich mich überzeugen, ob wir drüben bis unterhalb der Wasserfälle gelangen können.«

Gewiß erschien das rathsam und Dick Sand wollte sein Vorhaben auch sofort ausführen.

Der Strom maß an dieser Stelle nur 150 bis 200 Schritte in der Breite, und es mußte für den jungen Matrosen, der ja mit dem Ruder umzugehen wußte, ein Leichtes sein, über denselben zu setzen. Mrs. Weldon, Jack und Vetter Benedict sollten bis zu seiner Rückkehr unter Herkules’ Schutze zurückbleiben.

Nach dieser Vereinbarung wollte Dick Sand eben abstoßen, als Mrs. Weldon zu ihm sagte:

»Du fürchtest doch nicht, nach den Fällen hin gezogen zu werden, Dick?

– Nein, Mistreß Weldon, ich fahre zweihundert Schritt vor denselben hinüber.

– Doch am anderen Ufer?…

– Lege ich gar nicht an, wenn sich die geringste Gefahr zeigt.

– Nimm das Gewehr mit.

– Das thu’ ich, doch beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht.

– Vielleicht wär’ es besser, uns nicht zu trennen, fügte Mrs. Weldon, wie von einem Vorgefühl getrieben, hinzu.

– Nein… lassen Sie mich allein gehen… erwiderte Dick Sand. Die Sicherheit Aller erfordert es. Vor Ablauf einer Stunde bin ich wieder hier. Haltet sorgsam Wacht, Herkules!«

Das Boot wurde losgemacht und trug Dick Sand nach dem anderen Ufer des Zaïre.

Im Papyrusdickicht verborgen, folgten ihm Mrs. Weldon und Herkules mit den Augen.

Bald hatte Dick Sand die Mitte des Stromes erreicht. Ohne gerade sehr stark zu sein, nahm die Strömung dort, durch den Zug der Wasserfälle, doch ein wenig zu. Zweihundert Schritte stromaufwärts erschütterte das Donnern und Brausen der Fluth die ganze Atmosphäre und ein seiner Staubregen fiel, vom Westwind getrieben, auf den jungen Leichtmatrosen nieder. Er zitterte noch bei dem Gedanken, daß die Pirogue in der vergangenen Nacht, bei nur etwas geringerer Aufmerksamkeit, in die Katarakten hinabgerissen worden wäre, welche offenbar nur ihre Leichen weitergeschwemmt hätten. Das war jetzt nicht mehr zu fürchten; hier genügte ein kräftiger Druck mit dem Bootsriemen, dieselbe in ein wenig schräger Richtung zur Strömung zu halten.

Eine Viertelstunde später hatte Dick Sand das jenseitige Ufer erreicht und wollte eben auf dessen Abhang springen…

Da erschallte ein wüstes Geschrei und etwa ein Dutzend Eingeborne stürzten sich auf den Zweig-und Blätterhaufen, der das Boot noch immer verdeckte.

Es waren das Kannibalen aus dem früher erwähnten Wasser-Dorfe. Schon acht Tage lang gingen sie dem rechten Flußufer nach. Unter dem an den Pfählen ihrer Ansiedelung etwas zerstörten Laubdache hatten sie Flüchtlinge gewittert, d.h. eine sichere Beute, da das Stromhinderniß der Wasserfälle die Unglücklichen früher oder später zwingen mußte, an’s Land zu gehen.

Dick Sand sah seinen Untergang vor Augen, aber er fragte sich, ob er nicht durch Aufopferung des eigenen Lebens seine Gefährten noch zu retten im Stande sei. In voller Selbstbeherrschung stand er im Vordertheile des Fahrzeugs und hielt mit dem Gewehr an der Schulter die Kannibalen in Respect.

Inzwischen hatten diese jedoch das ganze Bootsdach abgerissen, da sie weitere Opfer darunter vermutheten. Als sie sahen, daß der junge Leichtmatrose allein in ihre Hände gefallen sei, machte sich ihre Enttäuschung nur in noch drohenderem Geschrei Luft. Ein Knabe von fünfzehn Jahren für Zehn!

Da erhob sich aber einer der Eingebornen, streckte den Arm nach dem linken Ufer aus und wies auf Mrs. Weldon und deren Begleiter, die Alles gesehen hatten, und unschlüssig, was sie beginnen sollten, eben das Ufer hinaufstiegen.

Dick Sand dachte nicht im Mindesten an sich, sondern ersehnte vom Himmel eine Eingebung, welche nur die Anderen retten könnte.

Das Boot wurde abgestoßen. Die Kannibalen gedachten, den Strom zu überschreiten. Gegenüber der auf sie gerichteten Flinte sprachen sie kein Wort mehr. Sie kannten die Wirkung der Feuerwaffen recht gut. Einer derselben aber hatte den Bootsriemen ergriffen und handhabte diesen offenbar mit Geschick so daß die Pirogue wieder schräg über den Fluß glitt Bald befand sie sich nur noch fünfzig Schritt vom linken Ufer entfernt.

»Flieht Alle, rief Dick Sand Mrs. Weldon zu, flieht!«

Dingo spürte ihn auf und faßte ihn an der Gurgel. (S. 444.)

Weder Mrs. Weldon noch Herkules waren eines Wortes fähig. Es schien, als seien ihre Füße am Boden festgewurzelt.

Entfliehen? Wozu? Vor Ablauf einer Stunde wären sie doch den Kannibalen in die Hände gekommen.

Und der Bootsriemen sprang, von einer Kugel getroffen, in Stücke. (S. 450.)

Dick Sand verstand sie. Da kam aber die himmlische Eingebung, um welche er im Innern so flehentlich bat, plötzlich über ihn. Er sah den Weg, auf dem er durch Darbringung seines eigenen Lebens Alle retten könnte, die seinem Herzen theuer waren. Er zögerte nicht, ihn zu wählen.

»Gott schütze sie, murmelte er, und mir sei er in seiner Allgüte gnädig!«

In demselben Augenblick richtete Dick Sand sein Gewehr auf denjenigen der Eingebornen, der den Bootsriemen führte, und sofort sprang letzterer, von seiner Kugel glücklich getroffen, in Stücke.

Die Kannibalen stießen einen Schrei des Entsetzens aus.

Die von dem Riemen nicht mehr gehaltene Pirogue verfiel nun dem Zuge des Wassers. Mit zunehmender Schnelligkeit riß sie die Strömung mit sich fort, und in wenigen Augenblicken tanzte sie nur noch fünfzig Schritte vor den Fällen.

Mrs. Weldon und Herkules verstanden, was hier vorging. Dick Sand suchte sie zu retten, indem er die Kannibalen und sich selbst in den Abgrund stürzte. Am Uferabgange knieend, sandten ihm der kleine Jack und seine Mutter das letzte Lebewohl zu. Auch Herkules streckte die jetzt ohnmächtige Hand gegen ihn aus!…

Die Eingebornen machten einen letzten Rettungsversuch und sprangen, um schwimmend das linke Ufer zu erreichen, aus dem Boote, das in Folge dessen kenterte und vollkommen umschlug.

Auch angesichts des drohenden Todes hatte Dick Sand seine bewährte Kaltblütigkeit nicht eingebüßt. So kam ihm denn der Gedanke, daß vielleicht diese Barke, gerade weil sie mit dem Kiel nach oben dahinschwamm, seine Rettung werden könne.

In der That drohten mit dem Moment, da Dick Sand in den schäumenden Abgrund hinabgerissen wurde, gleichzeitig zwei Gefahren: die Erstickung durch das Wasser und die Erstickung durch die Luft. Dieser umgekehrte Bootsrumpf aber glich einem Kasten, etwa einer Taucherglocke, unter welcher er den Kopf über das Wasser heraushalten konnte, während er gleichzeitig vor der Wirkung der äußeren Luft, die ihn beim Hinabreißen unfehlbar erstickt hätte, sicher geschützt blieb. Solche Umstände scheinen es zu ermöglichen, daß ein Mensch dem doppelten Erstickungstode müsse entgehen können, selbst wenn er die Niagara-Fälle hinabglitte.

Dick Sand ward das Alles fast blitzschnell klar. Wie von glücklichem Instinct getrieben, klammerte er sich an eine, die beiden Bordseiten verbindende Bank und fühlte, den Kopf unter dem Schiffskörper immer über Wasser, wie der unwiderstehliche Strom ihn sausend dahinriß, und wie er in fast lothrechtem Falle in die brodelnde Tiefe stürzte.

Die Pirogue versank in die am Fuße des Kataraktes von den Wassermassen eingedrückte Höhlung, tauchte tief hinab, doch auch bald wieder zur Oberfläche des Stromes empor. Dick Sand, ein guter Schwimmer, begriff, daß Rettung jetzt nur von der Kraft seiner Arme zu hoffen sei…

Eine Viertelstunde später erreichte er das linke Ufer des Flusses und fand da auch Mrs. Weldon, den kleinen Jack und Vetter Benedict, welche Herkules in aller Eile hierher geführt hatte.

Die Kannibalen waren schon in dem Wogenaufruhr verschwunden. Sie fanden, da das gekenterte Boot ihnen keinen Schutz verlieh, den Tod schon, bevor sie ganz in die Tiefe des Abgrundes hinabgekommen waren, und ihre Leichen wurden von den spitzen Felsmassen zerrissen, an welchen sich die Strömung weiter flußabwärts brach.

Zwanzigstes Capitel.Schluß.

Zwei Tage später, am 20. Juli, begegneten Mrs. Weldon und ihre Gefährten einer nach Emboma, an der Mündung des Congo, ziehenden Karawane. Es waren dies keine Sklavenhändler, sondern ehrbare portugiesische Kaufleute, welche Handel mit Elfenbein betrieben. Die Flüchtlinge fanden die freundlichste Aufnahme und der letzte Theil ihrer Reise ging denn unter ganz leidlichen Umständen von Statten.

Die Auffindung dieser Karawane war in der That eine Gnade des Himmels zu nennen. Dick Sand hätte mit einem Floße nicht weiter auf dem Zaïre hinabfahren können. Von den Fällen bei Ntemo ab bis nach Yellala bildete der Fluß nur noch eine Kette von Stromschnellen und Katarakten. Stanley zählte deren nicht weniger als zweiundsechzig, und es liegt auf der Hand, daß sich ein Boot überhaupt nicht dazwischen hineinwagen darf. Hier bestand der unerschrockene Reisende vier Jahre später das letzte der einunddreißig Gefechte, die er mit den Eingebornen auskämpfen mußte, und entkam nur wie durch ein Wunder den Gefahren der Katarakte von Mbelo.

Am 11. August kamen Mrs. Weldon, Dick Sand, Jack, Herkules und Vetter Benedict im Emboma an, wo die Herren Motta Viega und Harrison sie mit edelherziger Gastfreundschaft aufnahmen. Zufällig ging bald ein Dampfer nach der Landenge von Panama ab. Mrs. Weldon und ihre Begleiter schifften sich auf demselben ein und erreichten glücklich den Boden Amerikas.

Eine nach San Francisco abgelassene Depesche unterrichtete James W. Weldon von der unverhofften Rückkehr seiner Gattin und seines Kindes, nach deren Spuren er schon vergeblich an allen Stellen geforscht hatte, wo er nur annehmen konnte, daß der »Pilgrim« gescheitert sein könne.

Am 25. August brachte die Eisenbahn endlich die Schiffbrüchigen wieder nach der Hauptstadt Californiens zurück. O, wenn der alte Tom und seine Gefährten auch hätten dabei sein können!…

Was bleibt uns nun übrig, von Dick Sand und von Herkules zu berichten? Der Eine wurde der Sohn, der Andere der Freund des Hauses. James Weldon wußte Alles, was er dem jungen Leichtmatrosen, Alles, was er dem wackeren Neger zu verdanken hatte. Er fühlte sich auch glücklich, daß Negoro nicht bis zu ihm gelangt war, er hätte ja, soweit seine Mittel reichten, Alles für die Erlösung seiner Frau und seines Kindes hingegeben! Er wäre auch nach dem Gestade Afrikas gereist und dort wer weiß welchen Gefahren, welchen Schurkereien ausgesetzt gewesen.

Von Vetter Benedict nur ein Wort. Am Tage der Rückkehr noch schloß sich der wackere Gelehrte, nach einem mit James Weldon gewechselten Händedrucke, in sein Studirzimmer ein und ging an die Arbeit, als hätte er am Tage vorher einen Satz unvollendet gelassen. Er brütete über einem gewaltigen Werke von dem »Hexapodus Benedictus«, als ob die entomologische Wissenschaft schon dessen Erscheinen erwartete.

Hier, in seinem mit Insecten durchaus tapezierten Cabinet fand Vetter Benedict zum ersten Male eine Loupe und eine passende Brille wieder… Gütiger Himmel! Welcher Ausruf der Enttäuschung entfuhr ihm, als er jene Hilfswerkzeuge benützte, um das einzige Wunderexemplar, das ihm die afrikanische Insectenwelt geliefert hatte, nun eingehender zu studiren!

Der Hexapodus Benedictus war keine Hexapode! Es war eine ganz gemeine Spinne! Wenn sie nur sechs Füße, statt deren acht, besaß, so kam das einfach daher, daß ihr zwei Füße schon vorher fehlten. Und daß sie ihr fehlten, erklärt sich dadurch, daß Herkules ihr dieselben beim Anfassen – ausgebrochen hatte! Diese Verstümmlung reducirte den Hexapodus Benedictus zum Invaliden und versetzte ihn unter die Klasse der gewöhnlichsten Arachniden – welche Erkenntniß Vetter Benedict’s grausame Kurzsichtigkeit bis heute verhindert hatte. Den Gelehrten warf diese bittere Enttäuschung auf das Krankenlager, von dem er sich jedoch zum Glück noch wieder erholte.

Drei Jahre später, als der kleine Jack acht Jahre zählte, wiederholte Dick Sand mit ihm dessen Lectionen als gestrenger, aber eifriger Lehrer. Kaum hatte er nämlich den Fuß an’s Land gesetzt und empfunden, was ihm noch Alles fehlte, als er sich fast mit Gewissensbissen seinen Studien ergab, d.h. mit den Gewissensbissen eines Mannes, der aus Mangel an Kenntnissen sich seiner Aufgabe nicht gewachsen gefühlt hatte.

»Ja gewiß, wiederholte er häufig, hätt’ ich an Bord des »Pilgrim« alles das gewußt, was ein Seemann kennen muß, wie viel Unglück wär’ uns erspart geblieben!«

So sprach Dick Sand. Achtzehn Jahre alt, hatte er seine hydrographischen Studien mit Auszeichnung vollendet und übernahm, durch besondere Gunst schon mit einem Patente belehnt, ein Schiffscommando für die Firma James W. Weldon.

Dahin hatte es durch seine gute Führung und durch eifrige Arbeit der an der Spitze von Sandy-Hook aufgefundene kleine Waisenknabe gebracht. Er erzwang sich, trotz seiner Jugend, die Achtung, ja den Respect Aller, die ihn kennen lernten, obwohl er sich bei seiner angebornen Bescheidenheit dessen so gut wie gar nicht bewußt wurde. Er fühlte es kaum, daß man ihn auszeichnete, weil seine Sicherheit im Handeln, sein Muth und seine in so vielen Prüfungen bewährte Ausdauer ihn zum Helden gestempelt hatte.

Ein Gedanke aber verließ ihn niemals. In seinen seltenen Mußestunden erinnerte er sich an den alten Tom, an Bat, Acteon und Austin, für deren Unglück er sich verantwortlich machte. Auch Mrs. Weldon betrauerte noch immer das jetzige Schicksal ihrer ehemaligen Leidensgenossen. James Weldon, Dick Sand und Herkules setzten Himmel und Erde in Bewegung, ihre Spuren zu entdecken. Endlich hatten sie, Dank den über alle Länder verbreiteten Correspondenten des reichen Rheders, den gewünschten Erfolg. Tom und seine Gefährten waren nach Madagaskar – wo übrigens die Sklaverei binnen Kurzem aufgehoben werden sollte – verkauft worden. Dick Sand wollte seine kleinen Ersparnisse opfern, sie freizukaufen, doch James Weldon gab das nicht zu. Einer seiner Correspondenten regelte dieses Geschäft und am 15. November 1877 klopften vier Neger an die Thüre seines Hauses.

Diese waren der alte Tom, Bat, Acteon und Austin. Die wackeren Leute wurden, nachdem sie so vielerlei Gefahren glücklich entgangen waren, heute durch die Umarmungen ihrer Freunde beinahe erstickt.

Von Denen, die der »Pilgrim« einst an das Gestade Afrikas warf, fehlte also nur die alte, treue Nan. Ihr so wenig wie Dingo konnte man freilich das Leben wieder geben. Kommt es aber nicht einem Wunder gleich, daß nur diese Beiden den unerhörten Abenteuern erlagen?

Es versteht sich von selbst, daß am Tage der Rückkehr der vier Neger das Haus des californischen Kaufmannes ein Fest sah, wie selten vorher; der beste Toast aber, in den Alle mit begeisterter Freude einstimmten, war doch der eine, den Mrs. Weldon auf das Glück und Wohlergehen Dick Sand’s, ihres »Kapitäns von fünfzehn Jahren« ausbrachte!