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Während des ganzen nächsten Tages ging der alptraumartige Marsch durch den Sumpf weiter, und ständig wurden ihre Qualen durch die unbarmherzige Sonne noch gesteigert. Ob sie die Boote stakten oder watend durch den zähen Schlamm zogen, war allen schon gleichgültig. Sie hatten jedes Zeitgefühl verloren und zählten auch nicht mehr, wie oft sie die Boote verließen und wieder an Bord kletterten. Ihre Körper und zerrissene Kleidung waren dick von Schmutz bedeckt, ihre Gesichter aufgequollen vor Erschöpfung.
Jetzt hatten sie im Sumpf eine offene Strecke erreicht, an der keine erkennbare Strömung die Oberfläche kräuselte. Sie war von einer dicken grünen Algenschicht bedeckt, Binsen und Schilf standen in vereinzelten Gruppen wie Geschöpfe von einem anderen Planeten.
Am späten Nachmittag, als sie die Boote über eine halb versunkene Insel aus weichem Sand schleppen mußten, ließ einer der Männer die Leine fahren und stürzte um sich schlagend und schreiend nieder. Da er völlig von Schlamm und Algen bedeckt war, konnte man zunächst nicht erkennen, was geschehen war. Ein Teil der Leute drängte sich unsicher und erschreckt um das Boot, während Bolitho und Allday den keuchenden Mann hineinhievten. Mit einem in Frischwasser getauchten Lappen säuberte Bolitho eine Stelle tief unten am Bein des Verletzten und legte eine kleine blutende Wunde frei. Er mußte auf eine Schlange getreten sein, der Biß war klar zu erkennen. Allday blieb bei dem Verletzten an Bord, während Bolitho die anderen wieder an die Schleppleinen befahl. Er wußte, daß es gegen das Schlangengift keine Hilfe gab; die Leute danebenstehen und zusehen zu lassen, wie ihr Kamerad elend starb, konnte nur schaden.
Während sie sich weiter durch den Sumpf kämpften, wurden sie von den grauenvollen Todesschreien des Mannes verfolgt; als Bo-litho sich einmal umsah, bemerkte er, daß die Matrosen ihn aus rotgeränderten Augen in schmutzbedeckten, unrasierten Gesichtern beobachteten und mehr Haß auf ihn als Mitgefühl mit ihrem Kameraden verrieten.
Barmherzigerweise brauchte das Gift nur eine Stunde, um sein
Werk zu vollenden; der leblose Körper wurde einfach über Bord gestoßen, eine grimmige Warnung für jene Boote, die dicht hinter ihnen folgten.
Die meisten konnten ihre Rationen aus Rindfleisch und hartem Schiffszwieback nicht mehr zu sich nehmen und begnügten sich mit der kärglichen Zuteilung an Trinkwasser. Bolitho hatte sie während einer kurzen Rast beobachtet. Die hastigen Bewegungen und die trüben Augen in den erschöpften Gesichtern waren ihm nicht entgangen, ebensowenig die Art, wie sie über jeden Schöpfbecher Wasser wachten, mit einem Ausdruck, der eher tierisch als menschlich war.
Doch trotz allem waren sie weitergekommen. Bolitho wußte, daß aus ihrer fügsamen Geduld Haß auf ihn geworden war, daß es nur eines geringfügigen Anlasses bedurfte, um aus dem Unternehmen eine blutige Meuterei zu machen.
Während der Nacht ließ er alle Leute schlafen und wechselte sich beim Wachen mit Allday und Shambler ab. Doch im zweiten Boot war die Wachsamkeit ungenügend. Vielleicht hatte Leutnant Lang auch seine Fähigkeiten überschätzt, die Leute unter Kontrolle zu halten.
Als Bolitho aus schwerem Schlaf erwachte, spürte er, daß Allday ihn an der Schulter rüttelte und ihm eine Pistole in die Hand drük-ken wollte.
«Was ist los?«Eine Sekunde glaubte er, er hätte verschlafen, doch als er über das Dollbord spähte, sah er, daß im Osten nur eine Andeutung von Helligkeit wahrzunehmen war und die Männer im Boot noch in ihrer verkrampften Haltung schliefen.
«Mr. Lang hat gemeldet, daß sein Wasservorrat geplündert worden ist, Captain. Das kann böse Folgen bei seinen Leuten haben, wenn sie aufwachen.»
Bolitho erhob sich taumelnd.»Behalten Sie die Pistole. «Er kletterte aus dem Boot und spürte, wie das schlammige Wasser seine Beine kühl umfing, als seine Füße bei jedem Schritt auf das andere Boot zu einsanken. Lang erwartete ihn verstört.
«Wie schlimm ist e s?»
Lang hob ratlos die Schultern.»Kaum ein Tropfen übrig. Für den Rest des Vormarsches und den Rückweg ist gerade noch ein Kanister vorhanden.»
Von einem der anderen Boote hallte eine Stimme über den Sumpf:»Es wird Zeit zum Wecken, Sir!»
Bolitho hievte sich ins Boot.»Gehen Sie sofort zu Mr. Quince und warnen Sie ihn. Dann informieren Sie auch Mr. Carlyon. «Er packte den Leutnant am Handgelenk.»Und keine Pistolen, verstanden?»
Als die Männer in dem zweiten Kutter sich aus ihrem schweren Schlaf aufrichteten, starrten sie benommen Bolitho und dann einander an, als sie ihn sagen hörten:»Während der Nacht hat sich einer über den Wasserkanister hergemacht. Zuerst hat er sich gründlich sattgetrunken und dann in seiner Gier den Rest auslaufen lassen. «Er deutete auf die schimmernde Pfütze im getrockneten Schlamm zu ihren Füßen. Nachdrücklich fügte er hinzu:»Ich nehme an, ihr wißt alle, was das bedeutet.»
Im Bug schrie eine Stimme:»Das muß Mr. Lang selbst gewesen sein. Der hat die letzte Wache gehabt!«Ein Knurren war die Antwort, als er bösartig hetzte:»Die Offiziere sorgen doch immer nur für sich!»
Bolitho stand völlig ruhig im Heck, die Hände in die Hüften gestützt. Eine plötzliche verzweifelte Wut packte ihn, weil er allein und unbewaffnet war. Doch noch stärker war er sich der Scham bewußt, die ihn überkam, als ob wirklich er dafür verantwortlich wäre.
Mit fester Stimme sagte er:»Das ist falsch. Aber ich bin nicht gekommen, um mit euch zu streiten oder um euer Verständnis zu bitten. Ihr habt euch bisher gut gehalten, besser als erwartet. Ihr habt bereits erreicht, was manche für unmöglich gehalten haben, und wenn es sein muß, werdet ihr noch Besseres leisten, selbst wenn überhaupt kein Wasser mehr da ist und ich euch mit bloßen Händen vorantreiben müßte.»
Ein tastender Sonnenstrahl fiel spielerisch auf die gestapelten Waffen, und Bolitho bemerkte, daß mehr als einer einen Blick darauf warf.
Scharf sagte er:»Wenn ihr glaubt, ihr könnt euren Durst stillen, indem ihr mich tötet, dann nur zu! Andernfalls will ich jetzt die Anker lichten und weitermachen.»
Die Stimme schrie gellend:»Hört nicht auf ihn, Jungs! Er versucht nur, seinen Leutnant zu decken!»
Bolitho stieg von der Ducht und schritt langsam auf die ihm am nächsten sitzenden Matrosen zu. Er konnte sehen, daß die anderen ihn über den Sumpf stumm beobachteten. Allday stand mit einem Fuß auf dem Dollbord, um seinem Kapitän zu helfen. Er würde zu spät kommen. Noch ehe er das andere Boot erreichte, konnte einer ein Entermesser packen und Bolitho niedermachen.
Bolitho sagte ruhig:»Ich habe schon feststellen müssen, je lauter einer schreit, desto größer ist seine Schuld. «Er blieb vor einer Ducht stehen. Sechs Leute waren jetzt hinter seinem Rücken, als er auf einen kräftigen, untersetzten Matrosen hinunterstarrte.
«Gestern mußte ich Frischwasser verwenden, um die Wunde eines Verletzten zu säubern. Um festzustellen, wo die Schlange ihn gebissen hatte.»
Nicht ein Laut war zu hören, die Matrosen in seiner Nähe starrten zu ihm auf, als ob er plötzlich den Verstand verloren hätte.
Er fuhr im gleichen gelassenen Ton fort:»Ich habe diesen Mann nicht gekannt, sowenig wie ich einen von euch hier kenne. Aber er tat seine Pflicht, er gab sein Bestes. «Er spürte die erste schwache Wärme der Sonne im Gesicht, das wilde Klopfen seines Herzens, als er den Mann zu seinen Füßen fixierte. Wenn er sich irrte, war es um ihn geschehen. Entscheidender noch, es würde eine sinnlose und blutige Schlächterei entstehen, nach deren Ende es keine Sieger gab, nur ein paar elende, vom Durst zum Wahnsinn Getriebene.
«Als ich diesen Mann vom Schmutz reinigte, hob sich die Stelle hell von dem Dreck ab, der sich auf seiner Haut festgesetzt hatte. «Bolithos Hand schoß vor und packte den Mann beim Haar, ehe er ihm ausweichen konnte.»Seht euch seine Brust an. Seht, wo das Wasser hinuntergelaufen ist, euer Wasser, das er trank, bis er genug hatte, und dann vergeudete!»
Der Mann protestierte heiser:»Das ist eine Lüge, Jungs! Hört nicht auf ihn!»
Bolitho ließ den Mann los und befahl:»Steh auf und öffne dein Hemd!»
«Eher gehen Sie zum Teufel!«Der Matrose preßte sich mit gebleckten Zähnen ans Dollbord.
«Das glaube ich nicht. «Bolitho kehrte ins Heck des Bootes zurück und fügte hinzu:»Du hast eine Minute Zeit.»
Der Mann sah sich nach den anderen um.»Was sagt ihr, he?«Sollen wir die Kerls fertigmachen?»
Ein hagerer Matrose mit einer grausamen Narbe auf der Wange sagte schroff:»Tu, was er sagt, Harry. Du hast nichts zu fürchten, wenn du im Recht bist.»
«Mistkerl!«Der Beschuldigte blickte sich wild um.»Ihr elenden Feiglinge!«Damit riß er sein Hemd auf.»Ich habe also getrunken. Na und?«Eine Flasche baumelte vor seiner Brust. Ihr Hals schimmerte noch feucht im Sonnenlicht.
Von den Matrosen stieg etwas wie ein tiefer Seufzer auf, aber keiner rührte sich. Aller Augen blickten die Flasche an, als sei sie ein Symbol oder eine grauenhafte Enthüllung, die noch keiner verstehen konnte.
Bolitho sagte ruhig:»Holt Mr. Lang. Dieser Mann wird später aufs Schiff zurückgebracht und für sein Verbrechen gerichtet.»
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, daß ein Matrose über das Dollbord kletterte und zu dem anderen Boot hinüberwatete. Die Spannung brach, und an ihre Stelle trat eine Welle der Wut.
«Hängt den Schuft!«Verschiedene Matrosen sahen sich nach allen Seiten um, als ob sie einen Baum suchten.»Reißt dem dreckigen Dieb die Gedärme raus!»
Bolitho ließ sich über die Bordwand hinunter und winkte Lang. Doch als er zu seinem Kutter zurückwaten wollte, hörte er einen warnenden Ruf und das plötzliche Klirren von Stahl. Als er sich umdrehte, sah er den Beschuldigten über sich stehen, mit einem hocherhobenen Entermesser in der Faust.
«Jetzt, Käpt'n. Sie haben mich fertiggemacht, jetzt sind Sie an der Reihe. «Weiter kam er nicht.
Ein dumpfer Schlag war zu hören, und während sich der Haß in seinen Augen in ungläubige Verwunderung verwandelte, sank er mit dem Gesicht vornan in das schleimige Grün neben dem Boot. Zwischen seinen Schulterblättern ragte der Beingriff eines Messers heraus.
Der Matrose mit dem Narbengesicht stand am Dollbord und sah zu, wie das Blut des Toten dünne rote Rinnsale zwischen den Algen bildete.»Nein, Harry. Du warst an der Reihe.»
Lang sah in die verstörten Gesichter seiner Leute und murmelte:»Tut mir leid, Sir. Es war meine Schuld. Ich muß eingeschlafen sein. «Er ließ den Kopf hängen.»Es wird mir nicht wieder passieren, Sir.»
Bolitho blickte zu dem führenden Boot hinüber und sah Allday eine Pistole unter sein Hemd schieben. Er war bereit gewesen, aber bei der Entfernung hätte er ihm kaum das Leben retten können.
Er sagte knapp:»Es wird nicht wieder vorkommen, denn sonst würde ich persönlich dafür sorgen, daß Sie vor ein Kriegsgericht kommen. «Er watete an Lang vorbei und fügte noch hinzu:»Lassen Sie das Entermesser des Toten bergen und brechen Sie auf.»
Allday streckte ihm den Arm entgegen, um ihm ins Boot zu helfen. Sein Gesicht verriet seine Besorgnis.»Bei Gott, Captain, das war ein großes Risiko.»
Bolitho setzte sich und versuchte, den Schleim von seinen Beinen zu wischen.»Ich mußte sichergehen. Es ist nicht notwendig, daß diese Männer mich mögen. Aber vertrauen müssen sie mir. «Er blickte in Pascoes besorgtes Gesicht.»Und ich muß ihnen vertrauen. Ich glaube, wir alle haben heute morgen eine Lektion erhalten. Hoffentlich bleibt uns die Zeit, eine Lehre daraus zu ziehen.»
Er richtete sich auf und blickte gelassen über das Boot.»Bringen Sie die Schleppleinen wieder aus, Mr. Shambler. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.»
Er beobachtete, wie die Leute aus dem Boot stiegen, fast bis zur Unkenntlichkeit mit getrocknetem Schlamm bedeckt, den Blick starr auf einen Punkt jenseits der nächsten Schilfinsel gerichtet. Mit müden Bewegungen folgte er ihnen und nahm seinen Platz an der Spitze der Schleppmannschaft ein. Allday hatte recht, es war Wahnsinn gewesen, sich zu dieser Geste verleiten zu lassen. Die meisten Kommandanten hätten den Mann ergreifen und trotz dieser Situation auspeitschen lassen, bis er keine Haut mehr auf den Rippen hatte. Und zwar mehr als Strafe für die offene Herausforderung denn als Vergeltung dafür, daß er seine Kameraden um ihr Wasser bestohlen hatte.
Die Leine wurde plötzlich schlaff, und beinahe wäre er vornüber in den Schlamm gestürzt. Als er sich umdrehte, sah er die Leute das Boot mit solcher Kraft ziehen, daß es über den Sumpf glitt und mit seinem Vordersteven Wasserpflanzen und Schlamm teilte, als würde es von unsichtbaren Händen getrieben.
Der ihm nächste Mann keuchte:»Wir kommen hin, Sir. Machen Sie sich bloß keine Sorgen.»
Bolitho nickte. Er wandte sich wieder um und blickte auf die schwankenden Binsen vor ihnen. Schwankten sie wirklich? Er strich sich mit dem Handrücken über die Augen, um den Dunst zu vertreiben, doch als er hinsah, war er immer noch da.
Allday, der vorn an der anderen Leine zog, sah zu ihm hinüber und seufzte. Er hatte die Überraschung in Bolithos Augen bemerkt, das plötzlich aufwallende Gefühl, als der Kommandant erkannte, daß die Leute sich jetzt stärker einsetzten, nicht für irgendeine Sache, sondern allein für ihn.
Allday wußte seit langem, daß die meisten Matrosen alles für einen Offizier taten, der sie gerecht und menschlich behandelte. Merkwürdig, daß nur Bolitho diese Tatsache nicht bekannt sein sollte, obwohl er es besser hätte wissen können als jeder andere.
Am frühen Nachmittag gab Bolitho das Zeichen zum Halten, und die keuchenden Männer kletterten in das Boot zurück, zu erschöpft, um zu beobachten, wie die Kanister für die Wasserausgabe bereitgemacht wurden.
Bolitho inspizierte der Reihe nach jedes Boot. Sein Verstand rebellierte gegen das, was er sah. Sie waren beinahe am Ende ihrer Kräfte, und keiner sah mehr über das eigene Boot hinaus. Die meisten hockten mit hängenden Köpfen da, gefühllos gegenüber den Insekten, die ihnen in die Augen und aufgesprungenen Lippen krochen, während sie dumpf wie Tiere auf den nächsten Befehl warteten.
Er winkte Pascoe zu sich.»Also, mein Sohn, dies ist der entscheidende Moment. «Er sprach gedämpft, sah aber, wie das Gesicht des Jungen plötzlich aufleuchtete.»Klettere an dem Riemen hinauf und schau dich nach allen Seiten um. Laß dir Zeit und zeige keine Enttäuschung, wenn nichts in Sicht ist. «Er legte ihm eine Hand auf die Schulter.»Alle werden dich beobachten. Denk daran.»
Er ließ sich wieder gegen die Ruderpinne sinken, während Pas-coe zwischen den erschöpften Gestalten hindurch nach vorn kletterte und mit schief gelegtem Kopf zu dem Riemen hochblickte, der im Bug aufgerichtet worden war. Er kletterte am Schaft hinauf. Sein Körper hob sich scharf von dem verwachsenen Blau des
Himmels ab, während er sich reckte, um über Schilf und Binsen in die Ferne zu spähen.
Allday flüsterte:»Bei Gott, ich hoffe, daß es etwas zu sehen gibt.»
Bolitho rührte sich nicht; als ob er, wenn er den Jungen ablenkte, sie um ihre letzte Chance bringen könnte.»Nichts voraus, Sir.»
Einige der Matrosen waren aufgestanden und starrten zu der schlanken Gestalt über ihnen auf. Sie ließen die Arme schlaff hängen wie zum Tod verurteilte Gefangene.
«Aber an Backbord, Sir. «Pascoe rutschte ab und klammerte sich mit den Beinen fester.» Eine Anhöhe. Etwa zwei Meilen entfernt.»
Bolitho senkte den Blick auf den Kompaß. An Backbord. Etwa nordwestlich von der Stelle, an der sie lagen.
«Ist sie spitz und hat einen Steilhang auf einer Seite?»
«Ja, Sir. «Die Stimme des Jungen klang plötzlich fest.»Ja, Sir. Ich kann es gerade erkennen.»
Bolitho sah Allday an und schloß den Kompaß mit einem Schnappen.»Dann haben wir's geschafft.»
Pascoe rutschte am Riemen herab und ging mit unsicheren Schritten zwischen den krächzend jubelnden Matrosen nach achtern. Die Männer klopften ihm auf die mageren Schultern und nannten ihm beim Namen, als er an ihnen vorbeikam, als hätte er allein sie vor einer Katastrophe bewahrt. Als er das Heck erreichte, fragte er benommen:»War' s so in Ordnung, Sir?»
Bolitho sah ihn ernst an.»Ja, Mr. Pascoe. «Freude trat in das schmutzbedeckte Gesicht des Jungen.»Es ist alles in Ordnung.»
Wie ein Blinder tastend, schob sich Bolitho auf den abgeflachten Felsblock hinauf, wartete, bis er wieder zu Atem kam, und lauschte in die Dunkelheit hinaus. Der weite Sternenhimmel über ihm wurde bereits blasser, und als er sich der leichten Brise zuwendete, glaubte er, die Morgendämmerung riechen zu können. Es war sehr kalt, und unter dem offenen Hemd fühlte seine Haut sich kühl und klamm an.
Er studierte die welligen Hügel am fernen Horizont und fand Zeit, sich darüber zu wundern, daß seine kleine Streitmacht überlebt hatte, um sie sehen zu können. Im Augenblick schien es ihm, als ob er der einzige lebende Mensch in dieser gottverlassenen
Gegend wäre. Doch hinter ihm, am Fuß des Steilhanges, waren die anderen bereits wach und bereiteten sich auf den Weitermarsch vor, tasteten nach ihren Waffen und warteten auf neue Befehle, gleichgültig, wie unüberwindlich die Hindernisse und wie vergeblich ihre Anstrengungen sein mochten.
Bolitho reckte die Arme und spürte, wie seine Muskeln gegen die plötzliche Bewegung protestierten. Unwillkürlich mußte er an seine Leute denken, wie sie am vergangenen Abend aus dem Sumpf getaumelt waren: verdreckt und dem Zusammenbruch nahe, mit Augen, die fast dankbar leuchteten, weil sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Viele hatten seit Monaten keinen Fuß mehr an Land gesetzt, und nach der mörderischen Fahrt durch den Sumpf waren sie beinahe nicht mehr fähig zu stehen, so daß sie wie Betrunkene geschwankt oder sich gegenseitig gestützt hatten. Er biß sich auf die Lippen und verfluchte den Zeitmangel. Vielleicht waren sie noch zu erschöpft, zu benommen, um die Aufgabe zu erfüllen, für die sie von so weit hergekommen waren. Und vielleicht hatte Pelham-Martin seine Pläne geändert und würde nicht einmal einen weiteren Angriff unternehmen, wie er versprochen hatte.
Beinahe wild schüttelte er die nagenden Zweifel ab und stieg den Abhang wieder hinunter, wo Leutnant Lang auf ihn wartete.
«Alle Leute sind verpflegt, Sir. Ich habe ihnen doppelte Rationen Wasser gegeben, wie befohlen.»
Bolitho nickte.»Gut. Niemand kann von ihnen erwarten, daß sie den Sumpf noch einmal überqueren, also sollen sie lieber mit vollem Magen zum Kampf antreten.»
Lang erwiderte nichts, und Bolitho konnte sich vorstellen, daß er wahrscheinlich an die einzige Alternative dachte: daß die Leute für die nächste Verpflegung kämpfen und gewinnen mußten. Oder sich ergeben.
Bolitho war unruhig.»Mr. Quince sollte inzwischen zurück sein. Wir müssen sofort abmarschieren, wenn wir unsere Position rechtzeitig einnehmen wollen.»
Lang hob die Schultern.»Merkwürdig, wenn man sich vorstellt, daß direkt hinter diesen Bergen die See liegt. Hier kommt man sich vor wie in einer Einöde.»
Eine Stimme rief rauh:»Hier kommt Mr. Quince, Sir.»
Die große Gestalt des Leutnants tauchte wie ein Gespenst aus der
Finsternis auf. Sein zerfetztes Hemd wehte in der Brise, als er mit den drei Matrosen, die er als Kundschafter mitgenommen hatte, den Abhang herunterkam.
«Nun?«Bolitho konnte seine Unruhe kaum unterdrücken.
Quince setzte eine Flasche an die Lippen und trank gierig. Unbeachtet rann ihm Wasser über die Brust.
Er sagte:»Genau, wie Sie gedacht haben, Sir. Auf der anderen Seite liegen die Geschütze in Stellung. «Er rülpste laut.»Da ist ein Sattel zwischen den Hügeln, deshalb war die Batterie von See her nicht auszumachen.»
Bolitho schauderte leicht.»Wie viele Geschütze?»
Quince rieb sich das Kinn.»Sieben oder acht Feldgeschütze, Sir. Bei der Stellung selbst stehen Posten, und weitere wachen rechts von uns. Es ist eine Art Straße da, die an der Bucht entlang zur Stadt führt, und an ihrer schmälsten Stelle haben wir eine Laterne gesehen. »
«Ich verstehe. «Bolitho spürte, wie die Erregung ihn packte.»Und zwischen diesen beiden Posten sind keine Wachen?»
«Keine«, versicherte Quince nachdrücklich.»Warum auch? Mit dem Sumpf im Rücken und der Bucht vor sich, müssen sie sich wirklich völlig sicher fühlen.»
«Dann wollen wir aufbrechen.»
Bolitho drehte sich um, um den Abhang hinunterzugehen, blieb aber stehen, als Quince hinzufügte:»Die Froschfresser fühlen sich so sicher, daß sie sich nicht einmal verstecken, Sir. Bei den Geschützen stehen ein paar Zelte, aber ich vermute, daß das Gros der Artilleristen in der Stadt untergebracht ist. Schließlich werden unsere Schiffe Stunden brauchen, um sich zu einem neuen Angriff zu formieren. Die Franzosen haben soviel Zeit wie sie wollen. «Er fiel neben Bolitho in Gleichschritt und meinte:»Das beweist auch, daß Las Mercedes sich in feindlicher Hand befindet.»
«Zum Glück ist das nicht unsere Sorge. Für uns zählen nur die Schiffe.»
Quince lachte vor sich hin.»Wir werden ihnen schon einheizen. In einem schnellen Ansturm sollte es zu schaffen sein. Dann die Kanonen über die Klippen gestürzt, und wir können uns in den Sumpf zurückziehen und warten, bis das Geschwader uns abholt.»
Bolitho gab keine Antwort; er mußte sich gewaltsam auf die unmittelbar bevorstehende Aufgabe konzentrieren, seine Leute in der Dunkelheit einzuteilen. Quince hatte einen neuen Gedankengang in ihm ausgelöst. Die Franzosen waren zuversichtlich, denn auch ohne Unterstützung der versteckten Batterie konnten sie dem angreifenden Geschwader noch großen Schaden zufügen. Dieser Angriff bot nicht des Rätsels Lösung. Keines der französischen Schiffe zeigte Lequillers Kommandoflagge. Er war noch irgendwo draußen, frei und unbehindert, während Pelham-Martins kleine Streitmacht abgelenkt wurde.
Er erreichte die schattenhaften Gestalten am Fuß des Abhangs und wunderte sich, wie sehr sie sich verändert hatten. Sogar in dem kümmerlichen Licht konnte er wahrnehmen, wie selbstsicher und geduldig sie mit ihren Musketen warteten. Ihre Gesichter hoben sich blaß von Gestrüpp und dichtem Laub ab, das jetzt den Sumpf verbarg.
Fox, der Feuerwerksmaat, berührte grüßend seine Stirn.»Alles geladen, Sir. Ich habe jede Muskete selbst überprüft.»
Bolitho hob die Stimme.»Alles herhören! Wir werden gleich in drei getrennten Gruppen diesen Abhang hinaufsteigen. Drängt euch nicht zusammen und vergewissert euch, daß keiner ausrutscht. Wenn auch nur eine Muskete aus Versehen losgeht, sind wir alle verloren. Wir müssen die Anhöhe ungesehen erreichen, ehe die Dämmerung einsetzt.»
Mit fester Stimme setzte er hinzu:»Hinter der Anhöhe erwartet uns die Bucht, und unter den Klippen liegen die Überreste der Abdiel und ihrer gesamten Besatzung. Erinnert euch an ihr Schicksal, wenn es soweit ist, und gebt euer Bestes.»
Er zog die Offiziere zur Seite.»Mr. Quince, Sie halten die Umgebung besetzt, während ich die Geschützstellung stürme. Mr. Lang wird die Straße zur Stadt sichern und verhindern, daß jemand kommt oder geht.»
Lang fragte:»Und die Midshipmen, Sir?»
«Sie halten die Verbindung zwischen uns. «Er sah alle der Reihe nach an.»Wenn ich falle, ist es Mr. Quinces Pflicht, die Aufgabe zu Ende zu führen. Wenn wir beide getötet werden, übernehmen Sie, Mr. Lang.»
Allday erschien aus dem Dunkel.»Alles bereit, Captain.»
«Gut, meine Herren. Wir haben genug Zeit mit Worten verschwendet.»
Quince überprüfte die Pistolen in seinem Gürtel und fragte:»Und was wird aus den Booten, Sir?»
«Wir lassen sie versteckt. Wenn wir die Batterie einnehmen, können wir sie vielleicht später bergen. «Er wendete sich ab.»Wenn nicht, werden sie wie wir verrotten.»
Ohne ein weiteres Wort begann er, den Abhang zu ersteigen, und während Quinces Kundschafter im Dunkel verschwanden, folgten die Matrosen im Gänsemarsch.
Bolitho fragte sich, was die feindlichen Posten denken würden, wenn sie die Matrosen auf sich losstürmen sahen. Wild, zerlumpt und schlammbedeckt, mußten sie auch die Tapfersten in Schrecken versetzen.
Es hatte fast der Gewalt bedurft, um die Leute davon abzuhalten, sich als erstes zu waschen, nachdem sie sich von den mörderischen Strapazen ihrer Fahrt durch den Sumpf etwas erholt hatten. Anders als manche Landbewohner, versuchten Matrosen immer, sich sauber zu halten, gleichgültig, wie spärlich ihre Wasservorräte oder wie primitiv die Bedingungen waren.
Er blickte nach rechts und sah Quinces dünne Marschkolonne den Abhang hinaufsteigen. Schon konnte er einzelne Gestalten ausmachen, geschulterte Musketen und das gefährliche Funkeln der aufgepflanzten Bajonette. Quince, der zu ihm herübersah, hob den Arm, um zu zeigen, daß auch er verstand, wie wichtig Eile war, da die Dämmerung so dicht bevorstand.
Einer der Kundschafter kam den Abhang herab. Die Muskete hoch über den Kopf gehoben, hüpfte er von Fels zu Fels, als ob er es sein Leben lang getan hätte.
«Alles klar, Sir«, meldete er. Er deutete auf die geschwungene Höhe, wo die ersten schwachen Sonnenstrahlen bereits die Schatten vertrieben und das rauhe Strauchwerk und den steinigen Boden mit Farbe überhauchten.
Bolitho erkannte in dem Kundschafter den Matrosen mit dem Narbengesicht, der ihm das Leben gerettet hatte.»Das haben Sie gut gemacht.»
Er winkte Lang und sah, wie der seine Gruppe nach rechts den Berg hinaufführte. Zu Allday sagte er:»Lassen Sie die Leute hier warten. Ich gehe vor, um mich umzusehen. «Mit dem hageren Seemann an seiner Seite eilte er das letzte Stück hinauf und ließ sich oben fallen. Er griff nach dem kleinen Teleskop und studierte die Bucht, die sich unten in atemberaubender Schönheit ausbreitete. Rechts ragte der spitze Berg auf, den Pascoe aus dem Sumpf gesichtet hatte. Der Steilhang und die Flanken schimmerten im blassen Sonnenlicht wie eine polierte Pfeilspitze. Die Stadt an seinem Fuß lag noch im Schatten, und Bolitho richtete das Glas auf die offene See und die Schiffe, die wie bisher vor der Einfahrt zur Bucht verankert lagen.
Der Matrose hob den Arm.»Dort sind die Kanonen, Sir.»
Bolitho senkte das Glas und stützte es auf einen Fels. Die schweren Geschütze, sieben im ganzen, standen dicht am Rand der Klippen. Ihre Rohre hoben sich scharf von den weit unten anrollenden Schaumköpfen der Wellen ab. Es war tatsächlich ein großer, natürlicher Sattel, und wo der nächste Berg sich vor dem Ende der Landzunge erhob, konnte er eine Reihe blasser Zelte erkennen, vor der ein einzelner Posten patrouillierte. Die Straße zur fernen Stadt war von dieser Stelle aus nicht zu sehen, aber Bolitho vermutete, daß der Posten für seinen Kameraden auf der anderen Seite gut sichtbar war.
Steine klapperten laut, und Midshipman Carlyon kletterte neben ihm herauf.»Mr. Langs Respekt, Sir, und seine Leute sind oberhalb der Straße in Stellung gegangen. «Er spähte zu den Kanonen hinunter und schauderte.»Auf seiner Seite befindet sich nur ein Wachtposten, Sir.»
Bolitho richtete das Glas auf den Posten hinter der Reihe Zelte. Was, um Himmel willen, hielt Quince auf?
Er blinzelte heftig und korrigierte die Einstellung seines Glases. Einen Augenblick glaubte er, Opfer einer optischen Täuschung zu sein. Eben noch schlenderte der Posten am Rand der Klippe entlang, die Hände tief in den Taschen, das Kinn nachdenklich auf der Brust. Dann verschwand er wie durch Zauber. Bolitho wartete noch ein paar Sekunden, dann sah er etwas Weißes über einem niedrigen Ginstergebüsch: das Signal. Der unglückliche Posten brauchte sich über den kommenden Tag und auch über spätere keine Gedanken mehr zu machen.
Bolitho sagte knapp:»Melden Sie Mr. Lang, daß wir sofort angreifen. »
Als der erschrockene Midshipman bergab rannte, drehte Bolitho sich nach Allday um und winkte:»Folgt, mir, Jungs. Keinen Laut und keinen Schuß, ehe ich's befehle.»
Als die Sonne dann über den fernen Bergen auftauchte, stürmte er zur Batterie hinunter, den Säbel in der Faust und den Blick fest auf die stillen Zelte gerichtet.
Auf dieser Seite war der Berg viel steiler als erwartet, und als Bo-litho immer schneller rannte, hatte er das Gefühl, vornüberzustürzen. Hinter ihm wurde es lauter. Ängste und Spannung wichen einer wilden Erregung, die nicht einmal durch Drohungen unterdrückt werden konnte; aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Matrosen, der ihn bereits einholte und der das gesenkte Bajonett wie eine Pike vor sich hielt, während er in vollem Lauf an der Spitze seiner Kameraden vorstürmte.
Irgendwo in der Ferne knallte eine Pistole. Der Knall war über dem Stampfen und Keuchen nur schwach zu hören gewesen. Doch gerade, als Bolitho über ein paar gezackte Felsbrocken sprang, tauchte aus einem Zelt ein Mann auf und blieb stocksteif stehen, wie zu Stein erstarrt.
Dann machte er auf dem Absatz kehrt, riß die Zeltklappe auf und brüllte: «Aux armes! Aux armes!»
Aus den anderen Zelten drängten sich Gestalten, manche mit ihren Waffen, die meisten aber unbewaffnet, rannten hierhin und dorthin. Vermutlich hatten sie noch nicht begriffen, was geschah.
Weitere Schüsse knatterten in der frischen Morgenluft, und mehrere Franzosen brachen neben den Zelten zusammen. Als Quince mit seiner lockeren Reihe Matrosen auf dem Abhang erschien, feuerte ein Franzose, wahrscheinlich ein Offizier, eine Pistole ab und trieb die aufgeschreckten Soldaten an die Geschütze. Und erst jetzt sahen die Artilleristen Bolitho und seine anstürmenden Matrosen.
Hier und da knallte eine Muskete, und einmal spürte Bolitho, daß eine Kugel nur zollweit an ihm vorbeizischte. Doch der Widerstand war gebrochen, noch ehe er richtig einsetzen konnte. Einer nach dem anderen warfen die Soldaten ihre Waffen fort, und Bolitho hörte Quince die Schreie und Rufe übertönen:»Feuer einstellen! Ergebt euch!»
Bolitho sah einen seiner Leute auf ein Knie sinken und mit seiner Muskete auf einen französischen Soldaten zielen, der nicht nur die Hände erhoben hatte, sondern nur wenige Schritte vor der Mündung stand, auf die er wie ein hypnotisiertes Kaninchen starrte. Mit der flachen Klinge schlug Bolitho dem Mann den Arm zur Seite, der die Muskete ungläubig fallen ließ.»Spar' deine Munition!«schrie er ihn an. Und als der Matrose hinter den anderen herstolperte, deutete er auf den Offizier, der allein, mit dem Rücken zur See, am Rand der Klippe stand und seinen Degen fest in der Faust hielt.
«Die Waffen nieder!«Bolitho sah ihn kurz zögern, doch dann trat plötzlich Wut auf sein Gesicht, und mit einem Schrei stürzte er sich mit hocherhobener Klinge, die in der Sonne golden funkelte, Bo-litho entgegen.
Das Klirren des Stahls schien den Angriff zum Halten zu bringen. Selbst die Matrosen senkten ihre Waffen, als ob sie von der verzweifelten Tapferkeit eines Einzelnen gebannt wären.
Bolitho spürte den Atem seines Gegners im Gesicht. Griff an Griff verhakten sie ihre Waffen und taumelten gegen eins der schweren Geschütze. Ihre Füße wirbelten Staub auf, während sie einander bedrängten und einen Vorteil zu gewinnen suchten. Er drehte die Schulter und stieß mit aller Kraft zu. Sein Gegner taumelte zurück, doch er riß gleichzeitig die Klinge hoch, um seinen Hals zu schützen.
Durch die Zähne keuchte Bolitho:»Ergeben Sie sich, verdammt noch mal!»
Doch der Franzose schien nur noch wütender zu werden. Mit frischer Kraft sprang er in einem neuen Ausfall vor. Bolitho parierte und schlug die Klinge des Gegners zur Seite, hielt inne, doch als der andere gegen das mächtige Rad der Kanone taumelte, sprang er vor und stieß zu. Er spürte, wie Stahl gegen Rippen traf, und dann folgte ein letzter Stoß, der seinem Gegner mit einem Aufschrei die Luft aus den Lungen trieb.
Bolitho starrte einige Sekunden lang die leblose Gestalt an, die an dem Rad lehnte.»Narr!«Er blickte auf den Degen in seiner Hand, die gerötete Klinge.»Tapferer Narr!»
Allday kam an seine Seite. Das schwere Entermesser pendelte wie ein Spielzeug in seiner Hand.»Gut gemacht, Captain. «Er zog den Toten von dem Geschütz fort und stieß ihn über die Klippe.»Einer weniger, der uns Ärger machen kann.»
Bolitho steckte den Säbel weg. Es überraschte ihn, daß seine Hand so ruhig war, da doch jede Faser seines Körpers unkontrollierbar zu zittern schien.
Schwerfällig sagte er:»Hoffentlich sterbe ich ebenso tapfer, wenn meine Zeit da ist.»
Quince kam keuchend an den Gefangenen vorbei und grinste ihn an.»Nicht einen Mann verloren, Sir. Es sind nur zwanzig Gefangene, und die zu bewachen wird uns keine Schwierigkeiten machen. «Besorgt sah er Bolitho an.»Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?»
Bolitho blickte überrascht auf.»Doch, danke. Aber mir ist ein Gedanke gekommen.»
Quince leckte sich die Lippen, als von den verankerten Schiffen ein Trompetensignal heraufklang.»Wir haben nicht lange Zeit, Sir. Die Froschfresser werden Boote mit mehr Leuten an Land schik-ken, als wir abwehren können.»
Bolitho hörte nicht auf ihn.»Etwas, das Sie früher gesagt haben, Mr. Quince…»
«Was ich gesagt habe, Sir?»
«Sie bemerkten, daß das Geschwader einen schweren Stand haben würde, selbst wenn diese Batterie ausfiele.»
Quince hob die Schultern.»Nun, Sir, wenn ich das gesagt habe, dann tut es mir leid, falls es Ihnen Sorgen machen sollte. «Er schüttelte bewundernd den Kopf.»So, wie Sie uns hierhergeführt und diese verdammten Geschütze genommen haben, werde ich dankbar sein, wenn wir uns damit begnügen.»
Bolitho trat an den Rand der Klippen.»Es genügt nicht. Die Abdiel wurde beim ersten Angriff innerhalb von Minuten in Brand geschossen. «Er deutete auf eine rohe Schanze neben den Zelten.»Sie wurde mit glühenden Kugeln aus dieser primitiven Esse beschossen.»
Quince nickte grimmig.»Ich weiß, Sir. Schade, daß die Asche kalt ist. Wir könnten eins oder auch zwei von ihren Schiffen in Brand schießen, ehe wir uns zurückziehen.»
Bolitho beobachtete die Schiffe, das Gesicht eine Maske der Konzentration.»Aber wenn Sie da unten französischer Kommandant wären, könnten Sie einen solchen Angriff erwarten. «Er nickte nachdrücklich.»Holen Sie Mr. Fox, er soll die Geschütze feuerbereit machen. «Als Allday forteilte, fügte er hinzu:»Setzen Sie ein Zelt in Brand und gießen Sie Wasser in die Flammen, Mr. Quince. Wenn wir Glück haben, glauben die Franzosen, daß wir Kugeln erhitzen. Das muß im Augenblick genügen.»
Shambler rief:»Boote legen von zwei Schiffen ab, Sir.»
Bolitho nickte. Die Schiffe konnten Leute entbehren, wenn sie vor Anker lagen, und immer noch genügend Mannschaften für ihre Geschütze behalten, wenn Pelham-Martin kam. Er legte die Hände auf dem Rücken zusammen. Falls Pelham-Martin kam.
«Schicken Sie einen Mann auf den Gipfel, er soll nach unseren Schiffen ausschauen.»
Shambler sah ihn an.»Aye, aye, Sir.»
In diesem Augenblick erschien Fox, der Feuerwerksmaat, an seiner Seite. Es war ein drahtiger, kleiner Mann, der an sein Namenstier, den Fuchs, erinnerte.
«Nun, Mr. Fox. «Bolitho beobachtete gespannt, wie die ersten Boote auf das Ufer zusteuerten.»Machen Sie die Geschütze feuerbereit und nehmen Sie sich das zweite Schiff zum Ziel.»
Fox salutierte und sagte dann rauh:»Ich kann auch die Esse in Gang bringen, Sir. Dauert nur eine halbe Stunde. «Er lachte verhalten.»Mein Vater war Schmied, bei dem habe ich gelernt, wie man eine Glut schnell anfacht, Sir.»
Bolitho spürte, wie die Erregung in ihm wuchs. Ob PelhamMartin kam oder nicht, es sollte nicht alles vergeblich gewesen sein, wenn er es verhindern konnte.
Er rief:»Sagen Sie Mr. Lang, er soll die Straße halten. Mit dem Abgrund auf der einen Seite und seinen Leuten auf der anderen dürfte das nicht allzu schwer sein.»
Er zwang sich, langsam zum Rand der Klippe vorzugehen, und blickte auf die Boote tief unten.
Fox rief ihm zu:»Feuerbereit, Sir!«Angespannt und konzentriert kauerte er hinter dem nächststehenden Geschütz.
Bolitho erwiderte:»Geben Sie einen Probeschuß ab!»
Fox sprang zur Seite und hielt seine Lunte ans Zündloch. Die Detonation hallte von den Berghängen wider, scheuchte Hunderte von
Vögeln auf, die flatternd und kreisend ein kreischendes Konzert aufführten.
«Zu kurz. «Fox grinste vergnügt. Verglichen mit dem schwankenden Batteriedeck eines Schiffs, war das hier ein Kinderspiel. Er trieb seine Leute an.»Handspaken ran. Rohr nach rechts. «Er tänzelte hinter dem Verschluß, während die anderen noch auswischten und neu luden.»Langsam! Das reicht. «Mit unverhohlener Ungeduld wartete er, daß die Ladungen festgerammt wurden.»Gut so. Jetzt volle Erhöhung!«Er schüttelte vor dem schwitzenden Gesicht eines Matrosen die Faust.»Langsam, Junge, langsam!»
Wieder senkte er die Lunte, und mit einem Auf brüllen schlug das Geschütz im Rückstoß gegen den harten Fels. Über der Klippe stieg Pulverqualm in braunen Wolken auf.
«Zu weit. «Fox rieb sich die Hände.»Der nächste sitzt.»
Quince trat neben Bolitho. Sie beobachteten, wie erst das eine Boot und gleich darauf das zweite innehielt, kehrtmachte und zu den Schiffen zurückruderte.»Die haben meinen Rauch entdeckt. «Er lachte zufrieden.»Und was jetzt, Sir?»
Bolitho konnte sich den Schrecken an Bord der verankerten Schiffe gut vorstellen. In ihrer gegenwärtigen Situation beschossen zu werden, war schon gefährlich genug, aber ein Bombardement mit glühenden Kugeln war zuviel; jeder Kommandant mußte alles daran setzen, um so schnell wie möglich außer Schußweite zu kommen.
Fox trat zurück.»Feuer!«Er rannte zum Rand der Klippe und beschattete die Augen, um die Flugbahn zu verfolgen.
Hoch aufspritzendes Wasser neben dem Heck des zweiten Schiffes zeigte den Aufschlag an; Bolitho vermutete, daß er dicht bei der Wasserlinie gelegen hatte.
Fox schien über ungeahnte Energie zu verfügen.»Alle Geschütze neu richten!«Er eilte von Kanone zu Kanone, blickte zu der ersten zurück, um sich zu vergewissern, daß er eine gutgezielte Salve abgab.»Feuer!«Die Reihe der Geschütze rollte im selben Augenblick zurück, und um das Ziel herum spritzten Fontänen auf.
«Captain, Sir!»
Bolitho drehte sich um und sah Pascoe hinter sich, der heftig nach Luft rang. Er mußte den ganzen Weg von der Straße herauf gerannt sein.
«Was gibt's, Junge?»
«Mr. Lang läßt melden, daß auf der Straße von der Stadt her Soldaten anmarschieren. Sie sind noch ungefähr zwei Meilen entfernt, kommen aber sehr schnell näher. «Er blickte zu den Schiffen hinunter, als ob er sie zum erstenmal sähe.
«Wie viele sind es, Mr. Pascoe?«fragte Quince.
Der Junge hob die Schultern.»Mehrere Hundert, Sir.»
Bolitho sah Quince an.»Ob Franzosen oder Spanier, kann uns gleichgültig sein. Sie wollen uns an den Kragen, und Mr. Lang kann nicht mehr tun, als ihren Angriff einige Minuten aufzuhalten. «Er zog seine Uhr.»Wo, zum Teufel, bleiben nur unsere Schiffe?»
Pascoe blickte wieder zu ihm auf.»Haben Sie Befehle für Mr. Lang, Sir?»
Er sah sich nach Fox um, als der kleine Artilleriemaat sich aufrichtete und schrie:»Zwei Treffer, Jungs! Das wird die Froschfresser was lehren.»
Bolitho sagte ruhig:»Er soll mich auf dem laufenden halten. «Er blickte Pascoe nach, der schon wieder zurücklief, und fügte hinzu:»Wenn der Kommodore nicht sehr bald mit seinem Angriff beginnt, Mr. Quince, fürchte ich, daß er zu spät kommen wird. «Er deutete auf das nächstgelegene Schiff, wo Matrosen bereits aufenterten und auf die Rahen ausschwärmten.»Der da hat schon die Nerven verloren. Wenn der Kommodore erst in ein oder zwei Stunden eintrifft, wird er uns tot vorfinden und die Schiffe werden verschwunden sein.»
Quince nickte düster.»Vielleicht ist er aufgehalten worden, Sir.»
Bolitho beobachtete, wie der Qualm über den Rand der Klippen abzog. Der Wind wehte frisch und stetig. Es gab keine Entschuldigung dafür, daß ihre Schiffe nicht wie versprochen angriffen.
Er sagte knapp:»Lassen Sie weiter feuern. Und sagen Sie Mr. Fox, er soll sich mit dieser verdammten Esse beeilen. «Dann ging er angestrengt nachdenkend auf die Zelte zu.