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Bolitho lockerte den Griff an der Pinne und sagte:»Wir wollen eine Weile treiben, Mr. Pyper. Rufen Sie das andere Boot an.»
Dankbar holten die Ruderer die Riemen ein und ließen sich wie Betende darübersinken. Die Boote ungesehen und unangefochten von der Pier fortzubringen, war ein
Kinderspiel gewesen im Vergleich dazu, einen sicheren
Kurs zwischen den Riffen zu finden. Die Strömung war sehr stark, und wie um ihren mühsamen Anstrengungen zu spotten, hatte sie hinter der Landzunge ein unerwartet heftiger Wind angegriffen; es bedurfte der ganzen Kräfte jedes einzelnen, um offenes Wasser zu erreichen.
Jetzt stand die Sonne schon hoch am leeren Himmel, und es war schwer, es sich noch einmal vorzustellen.
Bolitho sah forschend über das Boot, beobachtete, wie jeder einzelne reagierte, sich der Situation anpaßte.
Dicht hinter ihrem Heck holte das andere Boot auf, und
Bolitho sah Keen an der Pinne, der auf einen Ruderer deutete oder jemandem Ratschläge erteilte, wie er mit seinem Schlag mehr Wirkung erzielen konnte.
Bolitho wußte aus seinem eigenen Boot nur zu gut, mit welchen Problemen Keen fertig werden mußte. Die beiden
Besatzungen waren so gleichwertig wie möglich eingeteilt,
die paar Matrosen zwischen den übrigen, den Seesoldaten und den Verwundeten, eingesetzt.
Er blickte auf Violas Hand auf dem Dollbord. Während der heftig stoßenden Fahrt durch das unruhige Wasser hatte sie kaum ein Wort gesagt, doch als er seine Hand nach ihr ausstreckte, hatte sie zu ihm aufgeblickt und gelächelt. Mehr nicht. Und dennoch hatte es ihm in diesem Augenblick mehr Zutrauen gegeben, mehr Frieden, als er je erlebt hatte. Er richtete seine Gedanken auf seine Aufgabe. Fünfhundert Meilen. Im allergünstigsten Fall, wenn alles nach Wunsch verlief und keiner krank wurde, würden sie über eine Woche brauchen. Die Boote hatten keine Segel, aber Miller hatte ein paar Fetzen Leinwand entdeckt und versprochen, er wolle ein Behelfsrigg basteln, um das Boot ruhiger zu halten und den Ruderern einen Teil der knochenbrechenden Arbeit abzunehmen.
Was für eine Mischung, dachte er, als er in jedes der erschöpften, bärtigen Gesichter sah. Miller und der Marinesoldat Blissett. Jenner und Orlando und die beiden Verletzten, der Marinesoldat Billyboy und Evans, der Maler des Schiffes.
Er begegnete Alldays Blick und nickte. Wenn Allday sich zurückgesetzt fühlte, weil er als Ruderer mit im Boot saß, statt es als Bootsführer zu steuern, so zeigte er es nicht.»Zu jeder anderen Zeit wäre es ein schöner Anblick, Captain.»
Bolitho blickte zurück. Die Inseln sahen alle gleich aus, blau und dunstig in der Morgensonne.
Er fragte sich, ob Hardacre vielleicht in diesem Augenblick am Tor Raymond seine Mitteilung zurief, ihn unterrichtete, was er und seine Leute versuchten, um ihn und seine feigen Wachtposten zu retten.
Er dachte auch an den Augenblick, als der Kutter an den noch glimmenden Überresten der Eurotas vorbeigeglitten war. Nur das geschwärzte Achterdeck und die Heckreling ragten noch aus dem Wasser auf, aber es hatte Viola veranlaßt, nach seiner Hand zu greifen und sie in der Dunkelheit an sich zu drücken. Der Anblick der dunklen Silhouette, umgeben von sprühender Gischt und treibenden Wrackstücken, mußte ihr augenblicklich alles in Erinnerung gerufen haben. Es war in dieser Kajüte gewesen, wo Tuke sie verhöhnt und gedemütigt hatte.
«Riemen ein!«Keen beugte sich übers Dollbord, als sein Boot sich längsseit legte.»Der Wind hat nachgelassen, Sir«, sagte er. Er lächelte Viola an.»Hoffentlich konnten Sie schlafen, Ma'am.»
Dieses Lächeln macht ihn nur trauriger, dachte Bolitho.»Ich hoffe, daß es so bleibt. «Bolitho bemühte sich, sachlich und gelassen zu sprechen.
Anders als auf seinem Schiff, konnte er sich hier nirgendwo vor jenen verbergen, die von ihm abhingen. Fünfhundert Meilen, und weder eine Karte noch einen Sextanten. Alles, was er besaß, war ein kleiner Bootskompaß und die bescheidensten Vorräte an Nahrungsmitteln und Wasser. Hardacre war es gelungen, ihn mit etwas Wein und einer Flasche Rum zu versehen, und beides wollte er für diejenigen aufbewahren, die unter der quälenden Hitze und der enormen Belastung zu versagen drohten. Sie besaßen sechs Musketen, die auf die beiden Boote aufgeteilt waren, und außer den Pistolen der Offiziere waren mehrere Entermesser vorhanden sowie ein Enterbeil, das Miller ständig am Gürtel trug. Das war nicht viel, aber wenn sie sich auf die für jeden Tag eingeteilten Rationen beschränkten, hatten sie eine Chance. Sollte allerdings ein Tropensturm oder Fieber ausbrechen, war ihre Lage aussichtslos.
Um alle daran zu erinnern, wie notwendig Vorsicht und Wachsamkeit waren, hatte sich ihnen in der Morgendämmerung ein Hai angeschlossen, der jetzt etwa eine Kabellänge hinter ihnen kreuzte.
Bolitho hatte die Lage der Inseln auf der Karte vor Augen. Die Levu-Gruppe und von dort dem Kompaß nach genau nach Norden zu den Navigator Islands, in deren nächster Nähe Rutara lag und, wenn sie Glück hatten, die Tempest. »Wir wollen auf beiden Booten die gleiche Wasserration ausgeben, Mr. Keen«, sagte Bolitho.»Morgen beabsichtige ich, die am meisten versprechende Bucht anzulaufen, um unsere Vorräte durch Kokosnüsse zu ergänzen. Vielleicht finden wir zwischen den Felsen auch Muscheln. «Er wünschte für seine Leute eine warme Mahlzeit, wie frugal und kärglich sie auch sein mochte, denn nichts war besser, um die Männer bei guter Gesundheit und Laune zu erhalten. Sobald sie auf einer der Inseln an Land gingen, wollte er es Keen sagen. Es jetzt über den gesenkten Köpfen seiner Leute laut auszusprechen, konnte wie das vorzeitige Eingeständnis eines Fehlschlags klingen. Miller sah von seinen Bemühungen mit Nadel und Palmfasern auf.»Ich habe noch ein Stück Leinwand übrig, Sir. «Er hielt ein ausgefranstes Stück in der Größe einer Hängematte hoch.»Es wird für Sie ein brauchbarer Sonnenschutz sein, Ma'am.»
Sie lächelte.»So viel Freundlichkeit kann ich nicht ablehnen. «Sie fuhr sich mit dem Finger über den Halsausschnitt ihres Kleides.»Merkwürdig, daß es auf dem Wasser so viel heißer ist als an Land. «Miller lachte verhalten.»Gott beschütze Sie, Ma'am, aber wir werden aus Ihnen noch einen Matrosen machen. «Ein paar Männer im anderen Boot nickten grinsend wie unrasierte Galeerensklaven. Bolitho beobachtete sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Leise sagte er:»Du bist mehr wert als jede Menge Muskelkraft. Du bringst sie zum Lächeln, wenn sie eigentlich an nichts anderes als Rettung und Schlaf denken sollten.»
Er blickte zur Sonne auf.»Übernehmen Sie das Ruder, Mr. Pyper. Jetzt bin ich an den Riemen dran. «Zu dem Marinesoldaten sagte er:»Gehen Sie nach achtern und sehen Sie nach den Verwundeten. «Er wartete, bis der Mann zu ihm aufblickte.»Dann überprüfen Sie die Waffen und vergewissern Sie sich, daß das Pulver sicher untergebracht ist.»
Die beiden Boote lösten sich wieder voneinander, plötzlich sehr klein und gebrechlich auf der großen Weite.
Über Alldays breiten Rücken hinweg bemerkte er, daß Viola ihn beobachtete. Ihre Augen im Schatten ihres Strohhuts sprachen zu ihm so deutlich wie mit Worten.
Pyper räusperte sich nervös, denn ihm stand nichts
Geringeres bevor, als seinem Kapitän Befehle zu geben.
«Riemen bei!«Er blickte auf den kleinen Kompaß.»Rudert an!»
Mit dem Rücken gegen die Bordwand gelehnt, saß der verwundete Marinesoldat auf dem Boden des Bootes und blinzelte zu Viola Raymond auf. Wie alle anderen nannte er sie in Gedanken nur» Die Lady des Kapitäns«, und das hatte einen guten und respektvollen Klang. Sie war gut zu ihm, hatte über sein verletztes Bein gewacht, besser als jeder Schiffsarzt, und war sanft wie ein Engel. Die Sonne strahlte so hell um die Krempe ihres Hutes, daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber er sah die Schmutzflecken auf ihrem Kleid und an ihren Schuhen, die sie sich beim Einsteigen zugezogen hatte. Wieder schoß der Schmerz durch sein Bein, und er suchte mühevoll eine andere Stellung.
«Wie geht's, Billyboy?«fragte sie.
Er schnitt eine Grimasse.»Läßt sich aushallen, Ma'am. Nur ein Krampf.»
Der andere Verwundete, Evans, sagte nichts. Er betrachtete die Knöchel der Frau unter dem Saum ihres Kleides und stellte sich das glatte Bein darüber vor. Dann dachte er an seine Frau in Cardiff und fragte sich, wie sie ohne ihn wohl zurechtkam. Sie war eine gute Frau und hatte ihm vier hübsche Töchter geboren. Er schloß die Augen und ließ sich in Schlaf sinken.
Zu Pypers Füßen vergewisserte Blissett sich, daß Pulver und Geschosse trocken untergebracht waren, und sah dann den schlafenden Evans an. Plötzlich erkannte er so klar, als ob eine Stimme es ihm ins Ohr geschrieen hätte: Evans lag im Sterben. Die Erkenntnis erschreckte ihn, und er wußte nicht, warum. Blissett hatte viele sterben sehen. In Schlachten, in Schlägereien oder einfach, weil sie von der einen oder anderen Krankheit befallen worden waren. Doch das Gesicht von Evans sehen und wissen, was mit ihm geschah, war wie das Geheimnis eines anderen aufzudecken, und das beunruhigte ihn zutiefst.
Hinter Bolitho saß der Amerikaner Jenner und hob und senkte mühelos seinen Riemen. In Gedanken befand er sich auf einer seiner vielen eingebildeten Reisen. Wenn er abgemustert hatte, wollte er sich eine Farm in Neuengland kaufen, meilenweit von allen anderen entfernt. Und sich dort mit einem Mädchen niederlassen. Er versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen, und begann, sich in seiner Vorstellung eine vollkommene Gefährtin zu schaffen. Der nächste war Orlando, der seinen Riemen unbeholfen, aber genau bediente, indem er den Takt von den anderen übernahm. Er duckte sich, als Miller über ihn hinwegstieg, um seinen Platz im Bug einzunehmen. Seine Arbeit am Segel hatte Miller bis zur nächsten Ruhepause aufgeschoben. Denn da nur fünf Riemen eingesetzt waren, wurde ihre ganze Kraft gebraucht. Miller legte sich ins Zeug und grinste zum Himmel auf. Es war wie ein Kampf, und für Jack Miller war das Speise und Trank in einem. Und so ging es weiter. Unter erbarmungslosem Glanz oder teilweise durch niedrigen Dunst verhüllt, krochen die beiden Boote wie unansehnliche Käfer über das Wasser. Die Männer an den Riemen wechselten sich ab, die Ration Schiffszwieback und ein Brocken Salzfleisch wurden ausgegeben und mit einem Becher Wasser hinuntergespült. Die Nacht brachte Erleichterung von der quälenden Hitze; ihre Bemühungen, stetig vorwärts zu kommen, wurden unverändert fortgesetzt.
Mit schmerzendem Rücken von dem ungewohnten Rudern und mit von Blasen bedeckten Händen saß Bolitho an der Pinne. Violas Kopf ruhte auf seinen Knien. Einmal griff sie nach ihm und stöhnte leise im Schlaf, als Bolitho ihr das Haar vom Mund fortstrich.
Pyper hatte einen der Riemen übernommen, und Miller schöpfte Wasser aus dem Boot. Sie wirkten ausgelaugt, schon jetzt halb geschlagen. Bolitho preßte die Kiefer aufeinander. Und das war erst der erste volle Tag.
Nach den stoßenden Bewegungen des Kutters hatte man auf dem festen Strand das Gefühl, als ob auch er schwanke. Bolitho beobachtete Keen und Miller, die sich vergewisserten, daß die Boote gut gesichert waren, und er hörte, wie Sergeant Quare Wachtposten für die kleine Bucht einteilte. Wieder bezauberte ihn das Idyllische des Ortes: üppiges Grün und das regelmäßige Plätschern und Gurgeln der anlaufenden Wellen auf dem hellen Sand. Aber er wußte, wie täuschend das sein konnte, wußte nur zu gut, daß Wachsamkeit für sie lebensentscheidend war. Pyper kam zu ihm, das Gesicht von der Sonne versengt.»Sollen wir die Boote entladen, Sir?«»Noch nicht. «Bolitho richtete plötzlich beunruhigt sein kleines Teleskop auf die weiter entfernte Seite der Bucht. Doch was er für eine Rauchwolke gehalten hatte, erwies sich als nichts Bedrohlicheres als ein Schwarm schwirrender Insekten.»Wir wollen eine Weile warten und erst feststellen, daß wir nicht bemerkt worden sind. «Er wollte die Boote ausladen lassen, wenn auch nur, um sie zu erleichtern und zu verhindern, daß sie von der Brandung unnötig hin und her gestoßen wurden. Er war besorgt. Er versuchte, sich selbst zu überzeugen, daß er übertrieben vorsichtig, daß die dringend notwendige Ruhepause vor der Weiterfahrt nach Rutara wichtiger war. Er sah Evans und den Matrosen Colter unter einigen Schatten spendenden Palmen liegen. Der andere Verwundete, der Marinesoldat Billyboy, saß mit dem Rücken gegen eine Palme gelehnt und half Viola beim Wechseln seines Verbandes. Die übrigen Angehörigen seiner kleinen Truppe bewegten sich ruhelos auf dem Strand, versuchten, die Benommenheit nach der anstrengenden Arbeit abzuschütteln. Er sah, wie sie Evans lächelnd die Stirn abwischte und ihn zu trösten versuchte. Mit tiefer Rührung dachte er an die vergangenen, bei Tag und Nacht im offenen Boot verbrachten Stunden zurück. Nicht einmal hatte sie sich beklagt oder die geringste Bevorzugung verlangt. Und jetzt war sie mit auf dem Strand und nahm sich der Verwundeten an. Wenn sie wußte, daß Evans starb, dann verbarg sie ihre Bestürzung sehr gut. Quare kam auf ihn zu.»Alles klar, Sir. «Er deutete auf die geschwungene Wand aus dichtem Laub.»Ich schicke die Leute zum Nüssesammeln. «Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln.»Ich könnte auf der Stelle eine ganze Gallone Bier austrinken.»
Keen trat zu ihnen.»Sollen wir ein Feuer machen, Sir?«Er rieb sich die Hände und gähnte herzhaft.»Vielleicht können wir einen oder zwei Vögel treffen. Frazer war so gescheit, einen Kochtopf mitzubringen.»
Bolitho nickte.»Das machen wir gleich. Muscheln und ein paar Brocken Salzfleisch und dazu, was wir an Vögeln erlegen können. Auf der Tafel eines Admirals würde es sich nicht besonders gut ausnehmen, aber etwas Warmes wird uns allen sehr guttun.»
Er setzte sich und stützte den Kopf in die Hände, plagte sich mit den Problemen ihrer weiteren Fahrt, der steigenden Belastung, der sie alle ausgesetzt waren. Er blickte wieder zu ihr hinüber. Besonders eine Frau. Doch in gewisser Weise besaß sie mehr innere Reserven und Mut als jeder andere.
Er hörte einen Mann lachen und einen anderen darauf mit einer Flut obszöner Flüche reagieren, als ihm eine Kokosnuß auf den Kopf fiel. Der Getroffene drehte sich aber gleich hastig um und keuchte:»Bitte um Entschuldigung, Ma'am. «Sie lachte über seine Verlegenheit.»Mein Vater war Soldat. Von ihm habe ich Schlimmeres gehört. «Ihre Worte lösten bei Bolitho einen neuen Gedanken aus. Wie wenig wußte er doch von ihr. Sie hatte durch die Lektüre der Gazette und Gespräche mit seinen Vorgesetzten über ihn viel mehr erfahren, und dennoch war in den fünf Jahren ihrer Trennung seine Liebe zu ihr stärker geworden, statt zu verblassen.
Allday schleppte ein Netz voll Kokosnüsse zu den Booten. Er blieb bei Bolitho stehen, zog sein Entermesser und wählte sorgfältig eine der Nüsse aus.
«Hier, Captain. «Die Klinge blitzte in der Sonne und trennte die Spitze der Nuß sauber wie einen Skalp ab.»Hiesiges Gebräu. «Es schien ihn zu amüsieren. Bolitho hob die Nuß an die Lippen und trank die Milch.»Danke. Das ist wie…«Er setzte die Nuß zwischen seinen Beinen auf den Sand, seine Gedanken rasten.»Allday!«Bolithos Ton ließ ihn erstarren.»Nicht umdrehen. Auf der anderen Seite der Bucht, unmittelbar beim Wasser, habe ich ein Gesicht gesehen.»
Allday nickte und rief Frazer an.»Big Tom, bring das Zeug hier ins Boot. «Er drehte sich um und ging wieder den Strand hinauf, blieb nur bei Viola Raymond stehen, um ihr kurz etwas zu sagen.
Bolitho erhob sich langsam und streckte die Arme. Da war es wieder: eine schnelle Bewegung zwischen den dichten Zweigen, das Aufglitzern von etwas Blankem in der Sonne. Es dauerte zu lange. Die Männer gingen mit steifen Beinen zum Wasser hinunter, wie schlechte Darsteller einer reisenden Truppe von Komödianten. Quare kam eilig auf Bolitho zu, die Muskete über der
Schulter.»Wo, Sir?»
Wie auf Signal erschienen mehrere Gestalten aus dem dichten Grün, grimmig wirkende Wilde, ganz anders als jene, denen Bolitho in der Umgebung der Siedlung begegnet war. Ob sie von der Nordinsel oder woanders her kamen, war kaum von Bedeutung. Wahrscheinlich hatten sie sich schon vorher hier verborgen, noch ehe die Boote am Strand gelandet waren. Er zählte sie. Über zwanzig, und alle mit Speeren und kurzen Messern bewaffnet. Einer, offensichtlich eine Art Anführer, hatte sich mit mehreren Ketten aus Glasperlen geschmückt. Das von ihnen reflektierte Sonnenlicht hatte sein Versteck verraten. Bolitho schätzte die Entfernungen vom oberen Rand des Strandes bis zu den Booten, von den schweigend beobachtenden Eingeborenen bis zu seinen Leuten. Ruhig sagte er:»Bleibt ruhig, Jungs. Sie wollen herausbekommen, was wir vorhaben. Wenn sie glauben, daß wir von einem in der Nähe liegenden Schiff sind, gehen sie vielleicht wieder. Wenn nicht, kann uns ein Kampf bevorstehen.»
Pyper sagte verzweifelt:»Dort drüben sind noch mehr, Sir. Bei den roten Blüten.»
Kein Wunder, daß Quares Wachtposten sie nicht gesehen hatten. Sie mußten durch das seichte Wasser und die Brandung nähergekommen sein, um die Wachen zu umgehen.
Der eine mit den Perlenketten hob die Hand und rief etwas mit dünner Stimme. Dann deutete er auf Bolitho, in dem auch er den Anführer erkannt hatte, und senkte sehr langsam den Arm in Richtung auf Viola Raymond. Er wackelte mit dem Kopf und schnitt eine Grimasse, dann griff er sich in sein krauses Haar, und alle in seiner Nähe taten das Gleiche und grinsten. Die Farbe ihres Haars faszinierte ihn wohl, aber seine einfache Pantomime war bedrohlicher als ein offener Angriff.
Bolitho hob eine Hand.»Freunde!«rief er. Ein paar Eingeborene näherten sich wie zufällig in der Brandung, und Bolitho durchschaute sofort ihren Plan.»Zieht euch auf die Boote zurück, aber langsam«, befahl er. Das anscheinend ziellose Vorgehen war der Versuch, zwischen die Seeleute und ihre Boote zu kommen oder sie von der kleinen Gruppe unter den Bäumen abzuschneiden. Plötzlich dachte er an Herrick. Diesmal gab es keine Rettung im letzten Augenblick durch Schwenkgeschütze, die unter den stummen Gestalten am Ufer Entsetzen verbreiteten. Er sagte:»Mr. Keen, wir nehmen nur ein Boot. Übernehmen Sie das Kommando, und bringen Sie es zu Wasser. Sergeant Quare, lassen Sie den Verwundeten durch ein paar Leute helfen. «Er bemerkte, daß Allday und Miller ihn beobachteten.»Wir bleiben hier stehen. Keine weitere Bewegung.»
Bolitho hörte den Kutter über Sand knirschen, das angestrengte Keuchen der Männer, die sich bemühten, das Boot in tieferes Wasser zu schieben. Ein Versuch, mit beiden Booten zu entkommen, wäre Wahnsinn gewesen. Wahrscheinlich hatten die Eingeborenen Kanus in der Nähe und würden die langsam geruderten Boote bald überholen und einzeln angreifen. Mit einer so schwachen Besatzung konnte man nicht gleichzeitig die Riemen bedienen und kämpfen.
Die Eingeborenen kamen jetzt näher, und er hörte sie miteinander murmeln, mit merkwürdig menschenunähnlichen Lauten wie das Zwitschern von Vögeln.
Allday sagte:»Etwas nach links, Captain, sind noch mehr dieser Kerle. Die hier müssen auf Verstärkung gewartet haben, um ganz sicherzugehen. «Bolitho rief scharf:»Schnell jetzt, Jungs!«Er drehte sich um, als sich mehrere von der Hauptgruppe lösten und durch den tiefen Sand auf Viola und den hilflosen Evans zuliefen. Der verwundete Marinesoldat riß seine Muskete hoch und feuerte. Das Geschoß traf den ersten Eingeborenen in den Leib und schleuderte ihn blutüberströmt auf den hellen Sand.
Die plötzliche Bewegung und der Knall der Muskete wirkten wie ein Trompetensignal. Mit lautem Wut- und Haßgeschrei stürmten die Eingeborenen auf die Boote zu. Augenblicklich war die Luft von Speeren und Steinen erfüllt.
Sergeant Quare ließ sich auf ein Knie sinken und schoß. Die anderen folgten auf der Stelle. Die Wirkung trat sofort ein, und die Angreifer zogen sich schreiend und jaulend in das dichte Laub zurück und ließen drei der Ihren tot oder sterbend zurück.
Bolitho zog seine Pistole und schrie Pyper zu:»Schaffen Sie die Leute an Bord!»
Ein Speer sauste durch sein Blickfeld und schlug bebend in den nassen Sand ein.
Die zweite Angriffswelle mußte jeden Augenblick kommen. Er sah Blissett und einen anderen Seesoldaten neben Quare ihre Musketen neu laden. Ihr verwundeter Kamerad kam den Strand herab zu den Booten gehumpelt, mit von Schmerz und Anstrengung verzerrtem Gesicht. Orlando trug den stöhnenden und sich schwach wehrenden Evans auf den Armen, während der andere verletzte Seemann von Frazer und Lenoir in den Kutter gehoben wurde.»Da kommen sie wieder!»
Diesmal waren sie entschlossener. Felsbrocken und Steine regneten auf die schwankenden und benommenen Matrosen und Marinesoldaten herab, und Speere flogen gleichzeitig aus beiden Richtungen.
Bolitho warf seine Pistole weg und zog seinen Degen.»Schnell!»
Er drehte sich wie betäubt um, als der Marinesoldat neben Blissett mit einem gräßlichen Schrei, einen Speer tief in der Brust, auf die Seite fiel.»Hierher, Sir!»
Keen stand im Bug des Kutters, feuerte und winkte den anderen zu, ins Boot zu klettern. Bolitho sah Violas Haar über das Dollbord wehen und entdeckte, daß er und die Marinesoldaten als einzige noch auf dem Strand waren. Blissett versuchte, seinen Kameraden zum Wasser zu schleppen, aber Quare stieß ihn gegen die Schulter und schrie:»Laß ihn liegen. Mit ihm ist es vorbei. Nimm seine Muskete und pack dich, Junge!«Er schoß, während er das rief, und eine weitere dunkle Gestalt brach zusammen. Die nächsten Minuten erfüllte ein Durcheinander verzweifelter Mühen, fortzukommen, und tiefer Abscheu, als ihre Angreifer sich gegen den toten Marinesoldaten wendeten und auf ihn einhackten, bis nur noch ein unkenntliches Bündel übrigblieb.
Dann waren die Riemen ausgebracht, und der Kutter glitt schnell in tieferes Wasser. Das Schlagtempo zeigte deutlich ihren Horror und ihre Furcht.»Keine Kanus in Sicht, Sir.»
Bolitho nickte. Er war nicht fähig zu antworten, als er tief Luft einsog. Zu seinen Füßen bemerkte er das Netz mit Kokosnüssen, aber da sie den anderen Kutter hatten aufgeben müssen, hatten sie die Hälfte ihrer Lebensmittel-und Wasservorräte eingebüßt. Sergeant Quare sagte heiser:»Der Soldat Corneck war ein guter Mann, Sir. Er stammte aus meinem Nachbardorf.»
Blissett hing über einem Riemen. Die Augen brannten ihm. Er hatte für den toten Kameraden nie viel übrig gehabt, aber zuzusehen, wie er wie ein Stück geschlachtetes Vieh zerhackt wurde, erfüllte ihn mit brennendem Zorn und Abscheu.
Bolitho beobachtete die verschiedenen Reaktionen der einzelnen und verglich sie mit seinen eigenen. Eine geringfügige Warnung hatte sie davor bewahrt, daß sie alle wie Corneck endeten. Wenige Minuten später mochte er den Befehl zum Entladen der Boote, ein Feuer anzuzünden gegeben haben. Über die ganze Länge des Bootes begegnete er ihrem Blick. Sie wickelte eine Binde um Jenners Kopf. Durch einen Felsbrocken hatte er eine böse Verletzung davongetragen. Sie wirkte sehr ruhig, aber ihre Augen waren feucht von unterdrückten Gefühlen. Wenn der verwundete Marinesoldat nicht so schnell gehandelt hätte, wäre sie vielleicht von den Eingeborenen gepackt und fortgezerrt worden, ehe es jemand verhindern konnte. Schon bei dem Gedanken überkam ihn Übelkeit.
Der einzige Vorteil war, daß sie jetzt mehr Leute im Boot hatten, um die Riemen zu bedienen und dadurch den anderen öfter eine kleine Ruhepause zu gönnen. Dagegen… Er sah Evans an, der kaum noch bei Bewußtsein war, und Penneck, den Kalfaterer der Tempest, der eine tiefe Halswunde von einem Speer davongetragen hatte. Er nahm die Rumflasche heraus, spürte, wie sich aller Augen auf sie richteten, sah, wie Big Tom Frazer sich abwandte, um seine Gier zu verbergen.
«Je einen Schluck für Evans und Penneck. «Und über die
Köpfe der Leute hinweg sah er sie an.»Und, glaube ich, für die Lady.»
Keen sagte heiser:»Aye, Sir. Sie vor allem.»
Doch sie schüttelte den Kopf.»Nein. Für Rum habe ich mich noch nie erwärmen können.»
Verschiedene Männer lachten, zunächst unterdrückt, doch dann in einer schier unbeherrschbar aufbrausenden Woge, der niemand Herr zu werden in der Lage schien. Bolitho berührte Keens Schulter.»Sie sollen es sich ruhig von der Seele schaffen. Es steht ihnen noch genug bevor. «Er sah, wie Pyper mit den anderen einstimmte, wie sich sein Gelächter in hilflose Tränen verwandelte, die ihm unbeachtet wie Regen übers Gesicht rannen. Nach einer Weile rissen sie sich zusammen, manche überrascht, andere beschämt, aber keiner machte eine Bemerkung über ihr Verhalten. Die Riemen begannen sich wieder zu heben und zu senken, und nach einer weiteren Stunde war die kleine Bucht im Dunst versunken, der die hinter ihnen liegenden Inseln wie mit einem Schleier verhüllte.
Dann ruhten sie sich aus, verteilten Verpflegung, tranken Wasser, blickten das Meer ringsum und einander in dumpfer Ergebenheit an.
Voraus und zu beiden Seiten wurden die Inseln seltener und kleiner. Sie würden wieder landen müssen, um Wasser zu finden und Nahrungsmittel zu sammeln. Und die ganze Zeit über begleitete die Sonne sie, strahlte sengend auf sie herab, verbrannte ihre Entschlossenheit, ihren Willen zu überleben. Und als die Nacht schließlich kam, brachte sie keine Linderung. Denn nach dem Schock ihres Erlebnisses auf der Insel und der Hitze des langen Tages schien die Luft kalt wie Eis, so daß die nicht an den Riemen Eingesetzten sich schaudernd vor Kälte eng zusammendrängten. Am nächsten Tag zeigte sich trotz aller Vorsicht wieder die gleiche Gefahr. Hinter der üppigen Vegetation einer Insel verfolgten wachsame Augen ihre behutsame Annäherung. Als sie sich bereitmachten, das Boot auf den Strand zu ziehen, wurden sie wieder angegriffen, zurückgetrieben und fast bewußtlos geschlagen von einem Hagel fliegender
Felsbrocken und Steine, bis sie gezwungen waren, sich in tieferes Wasser zurückzuziehen.
Bolitho beobachtete Keen und Pyper bei der Verteilung der Verpflegung und suchte auf den Gesichtern der anderen nach Anzeichen von Unmut oder Mißtrauen. Die Rationen mußten genau gleich groß sein. Nur eine Spur von Gier oder Begünstigung, und diese loyalen und disziplinierten Männer konnten wie blutgierige Wölfe übereinander herfallen. Wenn es ihnen nur gelungen wäre, sich vor ihrer Abfahrt mehr Lebensmittel zu beschaffen. Doch falls Raymond erfahren hätte, was sie beabsichtigten, sei es von seinen Wachen oder aus dem Dorf, wären sie nicht einmal bis zur Pier gekommen.
Blissett griff nach seiner Muskete.»Bitte um Feuererlaubnis, Sir. «Er beobachtete einen kreisenden Seevogel. Seine Augen waren plötzlich lebendig vor Jagdeifer.
Bolitho nickte.»Aber warten Sie, bis wir näher sind. Sonst bekommt unser Freund die Beute. «Er sah sich nach der verräterischen Rückenflosse um. Jetzt konnte er sich ohne Furcht oder Neugier mit ihr abfinden. Sie war nur ein Teil des Ganzen, ein Risiko mehr.
Der Vogel fiel sauber beim ersten Schuß. Es war ein Tölpel, fast von der Größe einer Ente.
Sie standen oder kauerten um den Vogel herum, bis Bolitho sagte:»Wir werden ihn aufteilen. Aber das Blut müssen die Schwächsten bekommen.»
Zuerst angeekelt, nahmen die Männer ihre kleinen Portionen entgegen und verschlangen sie dann plötzlich verzweifelt. Das Blut wurde vorsichtig durch das schwankende Boot gebracht und Evans, dem verletzten Matrosen Colter und schließlich Penneck gegeben.
Unmittelbar vor Sonnenuntergang und dem Einbruch einer weiteren bitteren Nacht sichteten sie in Nordost einige schnelle Kanus. Wie hetzende Hunde, dachte Bolitho. Treiben ihre Beute bis zur Erschöpfung, bis sie sie ungefährdet umbringen konnten. Vielleicht glaubten sie von ihnen, sie gehörten zu Tukes Leuten und suchten schreckliche Rache zu üben. Oder sie konnten auch in Tukes
Auftrag handeln, der sie durch Drohungen oder versprochene Belohnungen für sich gewonnen hatte. Aus den letzten Leinwandfetzen hatte Miller einen Treibanker konstruiert, und Bolitho entschied, allen die Möglichkeit einer kurzen Ruhepause zu geben, die nicht durch das Knarren und Klappern der Riemen gestört wurde. Das Boot rollte durch eine Reihe von Wellentälern. Bolitho saß auf der Achterducht, neben sich Viola, der er seinen Uniformrock umgelegt hatte. Er drückte sie mit einem Arm an sich, um sie vor den stoßenden Bewegungen des Bootes zu schützen.
Einmal sagte sie:»Ich schlafe nicht. Ich sehe die Sterne an. «Er drückte sie fest an sich; er brauchte sie, er fürchtete für sie.
Dann sagte sie:»Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Richard. Ich wollte bei dir sein. Nichts hat sich geändert. «Als er ihr endlich antworten konnte, war sie eingeschlafen. Sobald die Morgendämmerung sich wieder über den Himmel ausbreitete, sahen sie noch weniger Inseln als zuvor, und der Ozean erschien viel größer und unüberwindlicher. Sie stellten fest, daß Evans in der Nacht gestorben war.
Bolitho richtete sein kleines Fernrohr auf die nächste Insel. Sie war sehr grün, zeigte aber keine Spur von Strand. Doch mochte sie ihnen die letzte Chance bieten. Er blickte auf den toten Evans hinab, der wie schlafend auf den Bodenbrettern des Bootes lag. Hier konnten sie ihn begraben. Dadurch konnten sie verhindern, daß er eine Beute der Haifische wurde, und ihnen allen blieb dieser Anblick erspart. Sie wurden diesmal nicht angegriffen, als sie das Ufer erreichten. Quares Kundschafter fanden ein paar alte Feuerstellen, doch sie sahen aus, als ob sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden wären. Es war so schwierig, das Boot an Land zu bringen, ohne daß es gegen die Felsen geworfen wurde, daß vielleicht deshalb die Eingeborenen dieser Insel fernblieben, weil das Risiko für ihre gebrechlichen Kanus zu groß war.
Sie fanden einen Tümpel mit Süßwasser. Es stammte von einem Regenguß und reichte kaum aus, um Frazers
Kochtopf zu füllen. Aber einige Stücke ihres schwindenden Vorrats an Salzfleisch, ein paar Handvoll kleiner Austern, die Pyper zwischen den Felsen entdeckt hatte, und Schiffszwieback waren die Zutaten für ihre erste warme Mahlzeit, die Allday und Miller zubereiteten. Trockenes Holz war reichlich vorhanden, und mit Alldays Zunderbüchse und einem kleinen Vergrößerungsglas, das sie bei dem toten Evans gefunden hatten, gelang es schnell, ein Feuer zu entfachen.
Der kleine Waliser wurde auf einem Abhang unter ein paar
Bäumen begraben und der niedrige Grabhügel mit flachen
Steinen bedeckt. Es war eine seltsame Ruhestätte für den
Maler der Tempest, dachte Bolitho. Er saß mit dem Rücken an eine Palme gelehnt und schrieb gewissenhaft in ein kleines Notizbuch, das jetzt sein Logbuch war. Er fragte sich, wie er die Insel bezeichnen sollte, obwohl kaum jemand seine Aufzeichnungen lesen würde.
Viola lag im Schatten neben ihm und hatte sich das Gesicht mit ihrem Hut bedeckt.
«Nenne sie doch Evans-Insel, Richard.»
Er lächelte.»Ja. Schließlich ist er der einzige, der hierbleibt.»
Keens Stimme kam von den Felsen herüber, wo das Boot bewacht wurde.»Wir haben wieder Kanus gesichtet, Sir. «Bolitho schob das kleine Notizbuch unter sein Hemd.»Gut. Löscht das Feuer und ruft die Leute zusammen. Im Boot sind wir sicherer als hier.»
In grimmigem Schweigen ruderten sie von dem einzigen Ort fort, der sie freundlich empfangen hatte. Durch die warme Mahlzeit und die Ruhepause gestärkt, lenkten sie das Boot wieder nach Norden und überließen Evans seiner letzten
Ruhe.
Wie ein sterbender Wasserkäfer schwankte der Kutter mit teilweise eingezogenen, bewegungslosen Riemen auf der ungebrochenen Fläche der Wogen, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.
Bolitho dachte daran, etwas in sein kleines Buch einzutragen, aber er wußte, daß es ihm jedesmal schwerer fiel, sich auf die unnützen, leeren Worte zu konzentrieren.
Die Ruderer hingen über ihren Riemen, die Gesichter auf die Arme gepreßt, die anderen kauerten entweder an den Bordwänden und versuchten dort, Schatten oder Schlaf zu finden, oder schliefen wie Tote, wo sie saßen. Viola Raymond saß an seiner Seite etwas unterhalb von ihm. Sie trug seinen Uniformrock. Ihr zerrissenes, fleckiges Kleid hatte sie ausgezogen, um es im Meerwasser zu waschen. Als er auf sie hinunterblickte und ihr rotgoldenes Haar sah, das sie im Nacken zusammengebunden hatte, dachte er, daß sie ein Kapitän sein könnte.
Sie schien seinen Blick zu fühlen, denn sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Aber sie blickte nicht auf. Wie ihre Gefährten fand sie das blendende Licht zu unerträglich, zu kräfteverzehrend für den bescheidenen Rest Energie, den sie noch besaß.
«Wie lange willst du sie noch ausruhen lassen?«Ihre Stimme war gedämpft, aber es spielte jetzt keine Rolle mehr. Keine Augen belauerten sie, wenn sie zusammen waren, und wenn sie sich berührten oder an den Händen hielten, wurde das hingenommen. Sie war ein Teil der Stärke aller, wie sie ein Teil seiner Stärke war. Er kniff die Augen zusammen und schätzte den Sonnenstand.»Nicht mehr lange. Wir kommen jeden Tag weniger schnell vorwärts.»
Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Bei der Bewegung lief ihm der Schweiß über Brust und Oberschenkel. Es war vier qualvolle Tage her, seit sie die kleine Insel verlassen hatten, auf der Evans begraben lag: Tage und Nächte unerbittlicher, kräfteverzehrender Arbeit. Rudern und Wasserschöpfen. Versuchen, für ein paar Minuten Schlaf zu finden, und dann von neuem anfangen. Er dachte über ihre gegenwärtige Situation nach. Vor acht Tagen hatten sie die Pier verlassen. Es war nahezu unmöglich, an die quälenden Meilen, die sie langsam hinter sich gebracht hatten, auch nur zu denken. Ihr Wasservorrat war auf eine Gallone geschrumpft, falls es noch so viel war. Von dem Salzfleisch war noch knapp eine Handvoll steinharter Brocken vorhanden. Den größten Teil des Weins hatte er in kleinen Schlucken ausgegeben, und vor zwei
Tagen hatten sie das Glück gehabt, einen Tölpel zu erlegen. Wie schon vorher war der Vogel geteilt worden, und das Blut bekamen die, die am schlechtesten dran waren. Zu ihnen gehörte jetzt auch ein Matrose namens Robinson, der sowohl unter der Sonne als auch unter Durst sehr litt, und Penneck, dessen Speerwunde bedrohlich entzündet war. Der Kalfaterer des Schiffs war der einzige, der nur selten schwieg. Tag und Nacht stöhnte und schluchzte er, betastete den Verband um seinen Hals und verfiel gelegentlich in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit, in dem er aber weiter stöhnte.
Bolitho verstärkte seinen Druck auf ihre Finger. Seine Augen schmerzten, und er dachte an ihren Mann und seine gefühllose Gleichgültigkeit, seine Weigerung, an irgend etwas anderes als sich selbst zu denken.»Wie fühlst du dich?«Er wartete, weil er wußte, daß sie sich ihre Antwort überlegte, und fügte hinzu:»Sei aber ehrlich. «Sie erwiderte den Druck seiner Hand.»Ganz erträglich, Cap-tain. «Sie beschattete ihre Augen und sah zu ihm auf.»Quäle dich nicht so. Wir werden ankommen. Du wirst es sehen.»
Allday richtete sich auf und schüttelte sich wie ein Hund.»Fertig, Jungs?»
Penneck begann wieder zu stöhnen, und Blissett fuhr ihn wütend an:»Beherrsch' dich endlich, Mann. Das ist ja nicht auszuhalten.»
Quare zog seinen roten Uniformrock aus und legte ihn sorgfältig zusammen, ehe er einen Riemen übernahm.»Langsam, Blissett. Der arme Kerl kann nichts dafür.«»Riemen bei!»
Bolitho beobachtete sie, erkannte die Hoffnungslosigkeit, mit der sie mit den langen Riemen kämpften. Schon das Ausbringen der Riemen schien ihre Kräfte zu erschöpfen.»Rudert an!»
Bolitho kontrollierte den Kompaß. Kurs Nord. Vielleicht würden sie alle sterben und Tuke über die Siedlung herfallen, wie er es immer geplant hatte. Bolitho hatte einmal ein Boot voll toter Seeleute gefunden. Er fragte sich oft, wer wohl als letzter starb, wie es gewesen sein mußte, hilflos mit Männern zu treiben, die man kannte und die man einen nach dem anderen dahingehen sah, während man darauf wartete, daß man selbst an die Reihe kam. Er versuchte, seine Depression abzuschütteln, und konzentrierte sich auf Millers Behelfssegel. Es trug nur wenig zu ihrem Tempo bei, half aber, das Boot ruhiger zu halten und den Ruderern die Arbeit etwas zu erleichtern. Bolitho griff nach seinem Glas und richtete es nach Steuerbord. Unmittelbar am Horizont entdeckte er einen violetten Schimmer: eine lange, flache Insel. Er spürte, daß sein Herz schneller schlug. Sie waren nicht von ihrem Kurs abgekommen. Er erinnerte sich, daß er sie auf der Karte gesehen hatte.
Sie regte sich neben ihm.»Was gibt es?«Seine Stimme klang gelassen.»Eine Insel, viele Meilen entfernt, für uns zu weit. Aber sie zeigt, daß wir vorwärtskommen. Ein- oder zweimal habe ich schon gedacht…«Er lächelte zu ihr hinab.»Ich hätte mich auf dein Urteil verlassen sollen.»
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Leute. Pyper war in schlechter Verfassung, gab sich aber große Mühe, es nicht zu zeigen. Durch einen Riß in seinem Hemd war seine Schulter von der Sonne verbrannt und sah aus wie rohes Fleisch. Er schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Keiner hatte noch viel Feuchtigkeit in seinem Körper. Vielleicht war Evans doch der Glücklichste von allen.
Leise sagte er:»Wir müssen Wasser haben. Ich kann von den Leuten nicht verlangen, weiterzumachen, bis sie umfallen.»
Sie nickte langsam.»Ich werde beten.»
Sie senkte den Kopf. Der heiße Wind wehte ihr Haar über seinen blauen Uniformrock, und er war selbst einem
Zusammenbruch nahe. Er allein hatte sie alle in diese Lage gebracht. Viola insbesondere mußte für ihre Liebe zu ihm leiden. Die anderen würden sterben, weil er es befohlen hatte.
«So. «Sie sah zu ihm auf.»Vielleicht hilft's. Jetzt werde ich mich um die Verbände kümmern. «Sie griff nach ihrem
Kleid, das zum Trocknen über der Ruderbank lag.»Von morgen an werde ich einen Teil davon dazu verwenden. Der arme Penneck hat fast die letzten Binden verbraucht. «Sie stand auf und schwankte im Boot, bis Keen ihr die Hand entgegenstreckte, um sie zu stützen. Sie lächelte ihn an.»Danke, Val.»
Das war ihr besonderer Name für ihn, und Bolitho sah den dankbaren Blick, den sie dafür empfing. Nach ihm hatte Keen mehr Grund als jeder andere, ihre Freundlichkeit nicht zu vergessen.
Sergeant Quare mußte sich zweimal räuspern, ehe er sprechen konnte.»Soll ich anfangen, die Rationen einzuteilen, Sir?«Sogar er wirkte deprimiert, beinahe geschlagen.
Bolitho überkam plötzlich Verzweiflung.»Ja. Für jeden einen Becher, halb Wasser, halb Wein. «Er nickte bedrückt.»Ich weiß, Sergeant, es ist der letzte Rest. «Als Viola zu den Kranken und Verwundeten kam, packte Penneck den geliehenen Uniformrock und stammelte wild:»Lassen Sie mich nicht sterben, bitte, lassen Sie mich nicht sterben!«Er flehte sie an, seine Stimme steigerte sich zu einem dünnen Schrei.
Colter, der verwundete Matrose, knurrte:»Ich wünschte bei Gott, er würde sterben. Der treibt uns alle noch zum Wahnsinn.»
«Das genügt!«fuhr Bolitho ihn an. Er stand auf, mit pochenden Schmerzen im Kopf.»Orlando, halten Sie den Mann fest, während der Verband gewechselt wird.«Über die langsam bewegten Riemen hinweg beobachtete er sie. In dem Kapitänsrock, wie die Matrosen mit nackten Beinen, wirkte sie noch schöner als sonst. Sie unterbrach ihre Arbeit, während Orlando Penneck gegen die Bootswand drückte, und schüttelte sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Wieder begegneten sich ihre Blicke, und sie lächelte ihm zu.
Blissett schob seinen Riemen quer über das Boot und griff nach seiner Muskete.»Wieder ein Vogel, Sir. «Er schoß, aber der Vogel kreiste wie vorher.
Quare warf ihm eine andere Muskete zu, und fast ohne
Pause schoß Blissett wieder. Der Vogel fiel dicht neben dem Boot ins Wasser und war innerhalb von zehn Minuten verteilt und gegessen.
Als sie ihren wäßrigen Wein schlürften und versuchten, ihn nicht in einem Zug hinunterzustürzen, sagte Pyper stoßweise:»Wenn ich wieder auf dem Schiff bin, werde ich mich nie mehr beklagen.»
Besorgt stellte Bolitho fest, daß der Midshipman dicht vor dem Zusammenbruch stand.
Beinahe sanft sagte er:»Keine Sorge, Mr. Pyper. Es wird schon werden. Sie haben wenn gesagt, nichtfalls. Halten Sie daran mit aller Kraft fest, und das gilt auch für uns andere. «Allday sah von seinem Riemen auf und lächelte bedrückt. Innerlich war ihm zum Weinen zumute. Über die Lady im Uniformrock seines Kapitäns, um den jungen Pyper, um Billyboy, der sich so verzweifelt bemühte, seine Befürchtungen um sein verletztes Bein nicht zu verraten. Doch am meisten um den Kapitän. Er hatte ihn nicht aus dem Auge gelassen, an keinem dieser elenden Tage, beobachtet, wie er jeden Trick anwendete, alles, was er gelernt und an Erfahrungen gesammelt hatte, seit er im Alter von zwölf Jahren zur See gegangen war, um sie zusammenzuhalten.
Während einer Schlacht war es entsetzlich, aber die Leiden und Mühsale hatten für die Überlebenden einen gewissen Sinn. Doch jetzt erlebten sie die Marine von einer Seite, von der Landratten nie etwas erfuhren und für die sie sich nicht im geringsten interessierten.
Bolitho sah ihn an, vielleicht erriet er Alldays Gedanken.
«Zum Wechsel bereit, Allday?»
Allday lächelte und beteiligte sich an dem Spiel.
«Aye, Captain, wenn Sie wirklich mit uns Teerjacken mithalten wollen.»
Jenner gelang ein krächzendes Lachen, und Miller sagte:»Ist schon recht, Sir. Sie tragen ja auch keine Kapitänsuniform mehr, oder?»
Bolitho setzte sich neben Allday auf die Ducht, während
Pyper die Pinne übernahm.
Er mußte fragen:»Was meinen Sie, Allday?»
Die breiten Schultern hoben sich kurz.»Es heißt, der Teufel sorgt für die Seinen. Jedenfalls haben wir eine Chance, das steht fest.»
Bolitho legte sich in den Riemen, verschloß die Augen vor der erbarmungslosen Sonne. Kein Wasser mehr, nur noch ein paar Kokosnüsse und Schiffszwieback. Und dennoch vertrauten sie ihm noch. Es war unverständlich. Er dachte an Pypers rührenden Mut und zwang sich zu sagen: Wenn, nicht falls.
Sein Riemen stieß mit einem anderen zusammen, und er bemerkte, daß er beinahe eingeschlafen oder in Betäubung gefallen war. Die Erkenntnis verhalf ihm, wieder klar zu denken, und er bediente den Riemen mit unerwarteter Kraft. Als er das nächste Mal übers Dollbord blickte, bemerkte er, daß ein deutlich sichtbares Kielwasser den Erfolg ihrer Anstrengungen erkennen ließ. Er schloß fest die Augen und legte sich wieder in seinen Riemen. Wenn, nicht falls.