158124.fb2
Unter den Matrosen wurden wütende Rufe laut, aber DeWitt brachte die Männer mit einer Geste seiner Arme zum Schweigen.
»Legen Sie erst mal Ihre Waffe weg, Mr. Adler!« verlangte der Kapitän.
»Vorher müssen Sie mir versprechen, daß Ihre Männer nicht über uns herfallen.«
»Das verspreche ich.«
»Also gut«, seufzte Jacob, entspannte den Hahn und reichte dem Kapitän die Waffe.
»Captain, Sie sehen ja selbst, er hat einen Revolver!« rief Svenson. »Damit hat er Bart und Jack umgebracht!«
DeWitt klappte die Trommel aus. »Alle fünf Patronenkammern sind voll.« Dann roch er an der Waffe. »Nein, aus diesem Revolver ist schon lange nicht mehr geschossen worden. Sie sind auf dem Holzweg, Svenson.«
»Dann verlaßt endlich die Kabine!« verlangte Martin und wollte aus der Koje aufstehen.
Dabei stieß er gegen den Stuhl mit seinen Sachen, und etwas fiel polternd auf den Boden. Eine kleine Schußwaffe.
»Ein Derringer!« entfuhr es Svenson. »Die verfluchten Weichbleigeschosse hinterlassen große Wunden, so wie bei Bart und Jack!«
Wieder erschollen laute Rufe, die forderten, mit den Deutschen kurzen Prozeß zu machen.
»Ruhe, Leute!« übertönte Kapitän DeWitt seine Männer und hob die Waffe auf, um sie auf dieselbe Art zu untersuchen wie zuvor den Rider-Revolver.
»Und?« fragte Svenson gespannt.
»Tja, jetzt sieht die Sache anders aus«, meinte DeWitt mit betrübtem Gesichtsausdruck. »Zwei Kammern des Vierschüssers sind leer. Und man riecht das Pulver sehr gut. Die Waffe ist erst vor wenigen Stunden abgefeuert worden!«
Die Matrosen schienen nicht mehr zu bändigen zu sein. Sie drängten ihren protestierenden Kapitän einfach zur Seite, strömten in die Kabine und zerrten Jacob und Martin unsanft heraus. Die beiden Freunde setzten sich nicht zur Wehr. Die Übermacht war einfach zu erdrückend. Manch einer der Besatzungsmitglieder schien nur auf einen Anlaß zu warten, den Deutschen ein Messer zwischen die Rippen zu rammen.
Auf dem Promenadendeck drängte sich Irene, deren Sohn noch friedlich in der Koje schlief, zwischen die Männer und versuchte zu ihren Freunden durchzukommen. »Laßt sie in Ruhe! Sie sind bestimmt keine Mörder!«
»Weg hier!« schrie Svenson und wischte die junge Frau mit einer kräftigen Armbewegung zur Seite.
So stark, daß Irene das Gleichgewicht verlor und mit einem Aufschrei über das Geländer fiel. Sie prallte mit dem Kopf gegen die Reling des Hauptdecks und stürzte dann in die Fluten des Ohio.
*
Als Jacob sah, was mit Irene geschah, wurden ungeahnte Kräfte in ihm wach. Mit einem Aufschrei riß er sich von den Matrosen los, streckte zwei von ihnen mit Fausthieben zu Boden und bahnte sich so einen Weg zum Geländer. Aber dort sah er nur noch, wie Irenes blaues Kleid dicht am Rumpf der
ONTARIO im Wasser versank. Die Matrosen wollten ihn zurückreißen, aber er befreite sich erneut aus ihren Griffen, kletterte auf das Geländer und folgte Irene mit einem Kopfsprung ins Wasser.
Das ihn umschließende Naß war kalt, eiskalt. Die Sonne hatte noch keine Zeit gehabt, es zu erwärmen. Jacob kümmerte sich nicht darum. Schlimmer war der viele Schlamm, der ihn unter Wasser keine zwei Fuß weit sehen ließ.
Mit ein paar kräftigen Stößen schoß er an die Oberfläche, sog gierig die Luft ein und sah sich um. Der Rumpf des Dampfers glitt gefährlich nah an ihm vorbei.
Endlich sah er Irene, die einfach im Wasser zu treiben schien, weiter auf das Heck der ONTARIO zu. Mit Schrecken dachte er an das große schwere Schaufelrad, das ihr immer näher kam. Als er Irene folgte, schwamm er so schnell wie noch nie in seinem Leben.
Oben auf dem Promenadendeck sah Kapitän DeWitt, in welch gefährlicher Situation sich die über Bord gegangene Frau befand. Er stürzte die Treppe zur Brücke hinauf und rief dem am Steuer stehenden Skip Horton zu, sofort die Maschine zu stoppen.
Ein gewaltiger Ruck ging durch den Ohio-Steamer, als die Antriebswellen plötzlich stillstanden und sich das Schaufelrad nicht mehr drehte. Die Menschen auf dem Promenadendeck wurden durcheinandergewirbelt. Einige verloren den Halt und stürzten hin.
Martin nutzte das allgemeine Durcheinander, um sich ebenfalls aus dem Griff der Matrosen zu befreien und seinem Freund zu folgen.
Obwohl Jacob alle Kraft in seine langen, kräftigen und schnellen Schwimmstöße legte, schien es doch aussichtslos zu sein, Irene erreichen zu wollen, bevor sie vom Schaufelrad erfaßt wurde. Dann, als sie fast am Heck war, erstarb das Stampfen der Maschine plötzlich. Das Schaufelrad drehte sich noch ein paarmal ganz langsam und stand schließlich still. Von den Schaufeln lief Wasser herunter.
Aber diese letzten Bewegungen hatten genügt, um Irene zu erfassen. Offenbar verfing sich ihr Kleid an einer der Schaufeln. Sie wurde unter Wasser gezogen und verschwand.
Als Jacob endlich das Heck erreichte, war sie noch nicht wieder aufgetaucht. Er holte tief Luft und tauchte unter.
Da sah er sie auch schon undeutlich in dem schlammigen Wasser. Ihr Kleid hatte sich um die Schaufel gewickelt, und die reglose Frau war zwischen dem Schaufelrad und dem Ruderblatt eingeklemmt.
Er schwamm zu ihr und riß ihr Kleid in Fetzen, um es von der Schaufel zu lösen. Dann griff er unter ihre Arme und zog sie nach oben.
Als er mit Irene an die Wasseroberfläche kam, bemerkte er etwas Dunkles hinter sich. Es war Martin.
»Was ist mit Irene?« fragte der Freund und spuckte schmutziges Wasser aus.
Jacob schüttelte ratlos den Kopf.
DeWitt und einige Matrosen liefen auf dem Hauptdeck zum Heck der ONTARIO und warfen ein Tau ins Wasser.
Martin schwamm zu dem Tauende und hielt es fest, bis Jacob mit Irene zu ihm aufschloß. Die Matrosen holten das Tau Stück für Stück ein, und bald erreichten die drei Deutschen den Schiffsrumpf.
Die Matrosen beugten sich zum Wasser hinaus und streckten ihnen helfende Hände entgegen. Alle Feindschaft und aller Zorn schienen vergessen zu sein. In diesen Minuten galt es nur, den Kampf gegen den Fluß zu gewinnen, der schon so vielen Menschen, die über Bord gegangen waren, das Leben gekostet hatte. Wahrscheinlich hätten die Matrosen sogar dem Teufel selbst geholfen, wäre er ins Wasser gefallen.
Jacob und Martin hoben Irene hoch, und die Männer von der ONTARIO zogen sie an Bord. Martin folgte ihr und schließlich Jacob.
Irene lag an einer Wand der Achterdecksaufbauten. Kapitän DeWitt und Vivian Marquand kümmerten sich um sie. In beiden Gesichtern stand ehrliche Besorgnis.
Vivian Marquand machte sich Vorwürfe, für das Geschehen verantwortlich zu sein. Aber sie sagte nichts, um die Sache des Südens nicht zu verraten.
»Wie geht es Irene?« fragte Jacob keuchend.
Die andere Frage, ob sie überhaupt noch lebte, wagte er nicht zu stellen.
DeWitt antwortete nicht, drückte nur immer wieder auf Irenes Brustkasten. Fast eine Minute tat sich nichts.
Dann flatterten die Augenlider der jungen Deutschen. Sie bewegte den Kopf zur Seite und hustete. Irene hörte gar nicht mehr auf zu husten und gab dann das geschluckte Wasser wieder von sich. Danach kauerte sie erschöpft auf dem Deck und sah ihre Retter dankbar an.
Als er Irenes Blick auf sich spürte und sah, daß es ihr zusehends besserging, vergaß Jacob allen Ärger und schickte glücklich ein Dankgebet gen Himmel.
*
Irene wurde in ihre Kabine gebracht, wo sich Vivian Marquand um sie kümmerte.
Es war, als sei der Zorn der Matrosen durch den Unfall und die Rettungsaktion gedämpft worden. Sie verhielten sich jetzt zurückhaltend gegen Jacob und Martin.