158124.fb2
»Er liegt hier«, sagte Horton. »Tot.«
*
»Gehört das zur Strafe, daß man im Gefängnis nicht mal richtig schlafen kann?« fragte Martin, als eine Gruppe Männer laut lamentierend in den Zellentrakt kam. Zu ihr gehörten Kapitän DeWitt und der weißhaarige Sheriff Ledbetter.
»Ich weiß nicht«, meinte Jacob, der gar nicht geschlafen, sondern die ganze Zeit über nachgedacht hatte. »Aber vielleicht bringt unser Besuch ja gute Nachrichten.«
»Wie man 's nimmt«, knurrte DeWitt. »Wie es aussieht, ist Ihre Unschuld am Tod der Rumpoles erwiesen.«
»Sie sagen das so, als gäbe es auch schlechte Nachrichten«, erwiderte Jacob skeptisch, während ein Deputy die Zellentür auf schloß.
»Die gibt es in der Tat. Die beiden Wachen auf der ONTARIO wurden überfallen. Einer der Männer ist tot. Das Schiff ist weg.«
»Weg?« fragte Martin, als er die Zelle verließ. »Was heißt das, weg?«
»Soviel wie nicht mehr da. Es ist schlicht und einfach verschwunden, hat den Hafen vor zwei bis drei Stunden verlassen. Jemand hat es gestohlen.«
»Was ist mit Irene und Jamie?« fragte Jacob, als ihm die volle Bedeutung von DeWitts Worten bewußt wurde.
»Von ihnen fehlt jede Spur. Wahrscheinlich befinden sie sich noch an Bord der ONTARIO.«
Jacob stieß, was er nicht oft tat, einen Fluch aus. »Wer hat das Schiff gestohlen?«
»Eine Gruppe Männer, bei der sich Mrs. Marquand befand«, sagte Sheriff Ledbetter. »Was wissen Sie über die Frau?«
Sie befanden sich jetzt im Büro des Sheriffs, und Ledbetter nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Nichts. Was sollen wir schon über Mrs. Marquand wissen?«
Ledbetter sah Jacob an, als glaube er ihm nicht. »Sie müssen etwas über sie wissen. Immerhin haben Sie für diese Frau gearbeitet.«
Jacob erzählte, wie sie von Mrs. Marquand gebeten worden waren, sie auf der Reise zu begleiten.
»Dann besitzen Sie also keine Kenntnis über die Art der Fracht?«
»Es sollen Fleischkonserven sein«, meinte Martin. »Das hat uns Mrs. Marquand jedenfalls gesagt.«
Jacob zog nachdenklich die Stirn in Falten. Die Frage des Sheriffs nach der Fracht hatte ihn stutzig gemacht. »Wieso fragen Sie nach der Fracht, Sheriff? Glauben Sie, Mrs. Marquand hat uns belogen?«
Ledbetter lächelte leicht. »Ich halte es zumindest für möglich. Seit es den Konföderierten schlechter geht, versuchen sie im zunehmenden Maße, Nachschub für ihre Truppen durch die Front zu schmuggeln.«
»Und so eine Schmugglerin soll Mrs. Marquand sein?« hakte Jacob nach.
»Das könnte sein. Vielleicht schmuggelt sie ja tatsächlich Fleisch durch die Front. Die in Vicksburg eingeschlossenen Truppen von General Pemberton könnten es sicher gut gebrauchen. Vielleicht war in den Kisten aber auch etwas ganz anderes.«
Jacob schnippte mit den Fingern. »Etwas, das die beiden Rumpoles entdeckt hatten. Sie mußten sterben, damit sie ihre Entdeckung niemandem mitteilen konnten!«
»So denke ich es mir«, bestätigte Ledbetter. »Ich habe bereits Colonel McNab, den Kommandanten der hiesigen Garnison, verständigt. Er wollte ein Eiltelegramm nach Pittsburgh aufgeben, um dort Erkundigungen über Mrs. Marquand einzuziehen.«
Als hätten sie nur auf dieses Stichwort gewartet, traten in diesem Augenblick, ohne vorher angeklopft zu haben, zwei Offiziere ins Büro. Der Ältere von ihnen, ein leicht gebeugt gehender Mann mit eisgrauen Augen und gleichfarbigem Spitzbart, war McNab. Der andere, ein hochaufgeschossener Blonder, war sein Adjutant, ein Lieutenant Greene.
»Gibt es Neuigkeiten aus Pittsburgh, Colonel?« fragte der Sheriff.
»In der Tat«, antwortete der Colonel mit einer durch ihren schnarrenden Tonfall typisch militärisch klingenden Stimme. »Sieht ganz so aus, als hätten wir mit dieser Mrs. Marquand einen dicken Fisch an der Angel. Sie und ihr Mann werden seit längerem verdächtigt, für die Konföderierten zu spionieren und Waren über die Flüsse durch unsere Linien zu schmuggeln. Pinkerton hat einen seiner Leute bei ihnen eingeschleust, und dieser Mann wird seit der Zeit vermißt, als die ONTARIO Pittsburgh verlassen hat.«
»Das ist wirklich ein seltsamer Zufall - falls es denn einer ist«, meinte Ledbetter.
»Es kommt noch seltsamer«, fuhr McNab fort. »Seit diesem Tag ist Mr. Marquand mit einer Schußverletzung ans Bett gefesselt. Angeblich hat er sich beim Waffenreinigen verletzt.«
»Sie meinen, es hat eine Auseinandersetzung zwischen Marquand und dem Pinkerton-Mann gegeben, Colonel.«
»Ja, das denke ich. Vermutlich eine Auseinandersetzung, die der Mann von Pinkerton nicht überlebt hat.«
»Das ist ja alles schön und gut«, meinte Jacob mit kaum verhohlener Ungeduld. »Aber die wichtigste Frage ist doch, was wir jetzt tun können, um die ONTARIO aufzuhalten.«
McNab warf ihm einen zweifelnden Blick zu und fragte dann den Sheriff: »Wer ist denn das?«
Ledbetter erklärte es ihm.
»Nun, junger Mann«, sagte der Colonel zu Jacob, »ich lasse gerade ein Kanonenboot auslaufbereit machen, das die Verfolgung der ONTARIO aufnehmen soll. Außerdem habe ich an alle Militärposten flußabwärts telegrafiert, daß der Dampfer unbedingt aufzuhalten ist und die an Bord befindlichen Personen in Gewahrsam zu nehmen sind.«
Jacob nickte befriedigt und sagte dann: »Nehmen Sie meinen Freund und mich auf dem Verfolgerboot mit, Colonel!«
McNab schüttelte den Kopf. »Das ist eine militärische Operation, Mr. Adler. Zivilisten würden dabei nur stören.«
»Vielleicht können wir Ihnen doch von Nutzen sein. Schließlich kennen wir Mrs. Marquand. Außerdem ist eine Freundin von uns mit ihrem kleinen Sohn an Bord.«
»Ich möchte auch mitfahren«, schloß sich Kapitän DeWitt an. »Als Kapitän der ONTARIO könnte ich Ihnen sicher nützen.«
Der Garnisonskommandant von Louisville strich überlegend über seinen Spitzbart und sagte dann mit einem schweren Seufzer: »Also gut, Sie haben mich vielleicht nicht ganz überzeugt, aber immerhin überredet.«
Jacob fühlte sich danach ein wenig besser. Das Herumsitzen und Nichtstun hatte ihn immer nervöser gemacht. Er hatte jetzt das beruhigende Gefühl, etwas tun zu können, um Irene und Jamie zu helfen.
*
Während die ONTARIO den nächtlichen Ohio hinabdampfte, saß Vivian Marquand an Irene Sommers Koje und dachte an ihren Mann. Durch die neue Entwicklung der Dinge würde sie wieder nicht erfahren, wie es ihm ging - ob er überhaupt noch lebte.
Die kranke Frau vor ihr hatte sich immer wieder im Fieberwahn hin und her gewälzt. Vivian hatte ihre heiße Stirn mit einem nassen Tuch gekühlt und den kleinen Jamie zu sich auf den Schoß genommen, wenn er durch den unruhigen Schlaf seiner Mutter aufgewacht war.
Jetzt, wo es auf den Morgen zuging, schien es Irene besserzugehen. Sie schlief jetzt viel ruhiger und atmete auch nicht mehr so schwer. Jedesmal, wenn Vivian die Hand auf ihre Stirn legte, hatte sie das Gefühl, das Fieber wäre etwas gesunken. Jamie lag wieder neben seiner Mutter und schlief ebenso friedlich wie sie.
So, wie der kleine George früher neben Vivian gelegen hatte. Damals, auf der Plantage, in einer vergangenen Zeit und einer im Krieg verbrannten Welt.
Manchmal fragte sich Vivian, ob sie und Alec das Richtige taten. Sie konnten George nicht wieder lebendig machen, die Plantage aus ihrer Asche nicht wieder erstehen lassen.
Immer, wenn sie über dieses Thema nachdachte, endete es an einem entscheidenden Punkt: Was sollten sie sonst tun? Sie waren Südstaatler und traten für ihre Art zu leben ein, für die Freiheit des Südens und ihr Recht, sich nicht von den Nordstaaten bevormunden zu lassen.