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Jacob und Martin standen neben Kapitän DeWitt vorn auf dem Promenadendeck der USS RA VAGER und starrten gebannt auf den dunklen Strom, durch den sich der Heckraddampfer mit dem martialischen Namen wühlte. Dabei sah das Kriegsschiff gar nicht so martialisch aus. Es war ein ganz normaler Flußdampfer, der am Bug mit drei Geschützen bestückt war, die hinter einer Verkleidung aus Eisenplatten steckten. Diese Bugverkleidung war auch schon der einzige Schutz des Schiffes gegen feindlichen Beschuß. Vollgepanzerte Schiffe hatten in Louisville nicht zur Verfügung gestanden, da alle Ironclads und Monitore der Region beim Kampf um die Mississippi-Stadt Vicksburg benötigt wurden.
Unter den Männern auf dem Promenadendeck waren die Heizer - kräftige Männer, die trotz der Nachtkühle nur spärlich bekleidet waren - unermüdlich damit beschäftigt, dicke, armlange Holzscheite in die Feuerbüchsen der Kesselbatterie zu werfen. Die bugwärts gerichteten Öffnungen der Feuerbüchsen fingen den Fahrtwind auf, der die glühende Hitze anfachte. Der Dampf aus den beiden großen Schornsteinen wurde von der Undurchdringlichkeit des nächtlichen Himmels aufgesogen. Auch die ONTARIO schien in der Finsternis verschwunden zu sein.
Jacob und Martin machten sich klar, daß sie vernünftigerweise nicht zu diesem Zeitpunkt damit rechnen durften, den gekaperten Dampfer einzuholen. Ungefähr eine Stunde nach der Besprechung in Sheriff Ledbetters Büro war die RAVAGER ausgelaufen, womit sich der Vorsprung der ONTARIO auf drei bis vier Stunden belief. Das Kanonenboot hatte vor einer knappen Stunde den Louisville & Portland Canal durchfahren, befand sich also noch nicht lange auf dem Fluß.
Jacob fragte DeWitt nach dessen Einschätzung ihrer Chancen.
Der Kapitän ohne Schiff wandte Jacob sein Gesicht zu, und seine Züge sahen skeptisch aus. »Ich mache mir keine allzugroßen Hoffnungen, daß wir die ONTARIO erwischen. Es sei denn, sie wird irgendwo flußabwärts von einem Patrouillenboot gestellt.«
»Ist die ONTARIO so schnell?«
»Ich will nicht sagen, daß sie besonders schnell ist. Aber dieser Kahn hier scheint mir nicht wesentlich schneller zu sein. Beide Schiffe sind etwa gleich groß, haben ungefähr dieselbe Maschinenkraft und ein Heckschaufelrad. Die Karten sind ziemlich gleich verteilt, nur daß die Leute auf der ONTARIO ihr Blatt ein paar Stunden früher erhalten haben.«
»Vielleicht haben wir ja Glück«, sagte Jacob, hauptsächlich, um sich selber Mut zu machen.
Er dachte an den schneidigen Lieutenant Slyde, der die RAVAGER befehligte und seine Männer zu Höchstleistungen anspornte. Vor ihrer Abfahrt hatte er Colonel McNab versprochen, nicht ohne die ONTARIO wiederzukommen. Jacob hoffte inständig, daß dies kein leeres Versprechen gewesen war.
Seine Gedanken eilten dem Kanonenboot voraus, die Windungen des dunklen Flusses entlang. Er dachte an Irene und Jamie. Die Sorge um sie und die Untätigkeit, zu der er verdammt war, machten ihn halb wahnsinnig.
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Vivian Marquand fuhr auf ihrem Stuhl zusammen, als die Kabinentür geöffnet wurde. Irgendwann mußte sie im Sitzen eingeschlafen sein. Sie hatte von Tennessee geträumt, von ihrer Plantage, von Alec und von George. Nun brauchte sie einige Sekunden, um sich wieder zurechtzufinden. Um sich klarzumachen, daß der schlanke, gutgekleidete Mann in der Tür nicht Alec war, der von einer geschäftlichen Zusammenkunft auf einer Nachbarplantage heimkehrte. Daß sie sich gar nicht mehr auf ihrer Plantage befand, sondern auf einem Ohio-Steamer, der den nächtlichen Fluß durchpflügte.
Nächtlich? Bald nicht mehr. Durch die Türöffnung bemerkte sie einen ersten blaßrosa Schimmer am Himmel. Die Sonne bereitete sich darauf vor, die Armeen der Finsternis zu vertreiben. Sie schaffte es jeden Morgen. Aber würde es dem Süden nur einmal gelingen, die Armeen der Nordstaaten von seinem Land zu drängen?
»Wie geht es Irene?« fragte Max Quidor, aber seine kalte Stimme ließ jede echte Anteilnahme vermissen.
»Besser als noch gestern abend«, antwortete Vivian, während sie versuchte, ihre quälende Müdigkeit abzuschütteln.
Der Mann aus New York nickte leicht. »Schön. Würden Sie uns allein lassen?«
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Warum?«
»Weil ich es wünsche. Wie Sie wissen, sind Irene und ich alte Bekannte. Ich möchte mich gern ein wenig mit dir unterhalten.«
»Ich glaube nicht, daß es ihr schon wieder gut genug für eine Unterhaltung geht. Sie ist noch sehr schwach. Außerdem schläft sie im Moment.«
»Dann werde ich sie wecken«, entgegnete Quidor hart.
Spätestens jetzt begriff Vivian, daß er es nicht gut mit Irene meinte. Aber was sollte sie schon tun? Quidor hatte einen ganzen Trupp Bewaffneter zur Verfügung, und sie war allein. Außerdem durfte sie ihre Mission nicht gefährden, indem sie sich mit dem Mann überwarf.
»Also gut«, sagte sie deshalb seufzend und erhob sich. »Aber beanspruchen Sie die Frau nicht zu sehr.« Sie ging zur offenen Tür und wandte sich dort noch einmal um. »Falls etwas sein sollte, ich bin in der Nähe.«
Sie hoffte, das würde Quidor von Dummheiten abhalten, aber sie war sich dessen nicht sicher.
Auf dem Promenadendeck bemerkte sie Jeanette Latour, deren Blicke noch genauso unfreundlich waren wie bei ihrer ersten Begegnung.
Je näher Vivian Max Quidor kannte, desto unheimlicher und unsympathischer wurde er ihr. Obwohl sie für dieselbe Sache eintraten. Aber Vivian tat es aus Leidenschaft und Verantwortungsgefühl, Quidor nur für Geld. Ihm war es egal, ob er Waffen an den Süden, den Norden oder nach Mexiko verhökerte. Hauptsache, seine Taschen füllten sich mit Dollars.
Aber wenn sie in seine Augen sah, schien da noch mehr zu sein als Geldgier. Gemeinheit oder sogar Bosheit. Ja, er schien es zu genießen, anderen Menschen Angst einzuflößen. Seine gutgeschnittenen Gesichtszüge täuschten einen leicht darüber hinweg, daß hinter der Maske ein dunkler Abgrund lauerte.
Es war ein verrückter Gedanke, aber Quidor erschien ihr wie der Teufel in Menschengestalt.
*
Etwas schüttelte sie. Ein Sturm auf dem Atlantik? Die Kutsche, mit der sie aus New York flohen? Dann fiel es Irene ein. Nein, sie waren auf dem Ohio, an Bord der ONTARIO.
Ein Gesicht war ganz dicht über ihrem, das Gesicht eines Mannes. Erst sah sie es nur undeutlich und dachte an Carl. Aber Carl war ja nicht an Bord. Er war unterwegs nach Oregon oder vielleicht schon dort.
Martin? Dazu war das Gesicht nicht rund genug, und die Sommersprossen fehlten.
Dann also Jacob! Es war ein gutaussehendes Gesicht, so wie das von Jacob. Aber die Haare, die unter einem hellen Hut hervorlugten, waren zu dunkel, und die Gesichtszüge wirkten nicht offen und freundlich, sondern verschlagen und auf eine schlechte Art triumphierend.
Aber sie kannte dieses Gesicht, hatte es vor nicht sehr langer Zeit gesehen. Die Erinnerung kam zurück und riß Irene vollends aus ihrem fiebrigem Schlaf, aber es war keine gute Erinnerung.
Sie sah die große Stadt New York vor ihrem geistigen Auge, dunkle Gassen mit leichtbekleideten Frauen, die obszöne Worte sagten. Dann einen dunklen, schmutzigen Raum in einem Keller, ihr Gefängnis. Und den Mann, der ihr das Kind wegnahm.
Den Mann, der jetzt an ihrem Bett saß - Max Quidor!
Als sie sich dessen bewußt wurde, schloß sie die Augen wieder. Das konnte nur ein Traum sein, ein Alptraum. Quidor war in New York, und sie war an Bord der ONTARIO, die im Hafen von Louisville lag.
Aber dann bemerkte sie plötzlich das leichte Schlingern, das sie während der Fahrt auf dem Ohio verspürt hatte. Das konnte nur bedeuten, daß die ONTARIO schon wieder unterwegs war.
Sie öffnete die Augen wieder, und Max Quidor war noch immer da.
»Du kannst es ruhig glauben, Irene, ich bin es wirklich«, sagte er mit spöttischem Triumph. »Aber ich kann deine Verwunderung verstehen. Ich hätte selbst nicht geglaubt, daß wir uns so schnell wiedersehen.« Er lachte trocken. »Man könnte fast meinen, das Schicksal hätte uns zusammengeführt, was? Uns zwei und deinen kleinen Sohn.«
Er fuhr mit der Hand über den Kopf des schlafenden Kindes, das zwischen Irene und der Kabinenwand in der Koje lag.
Irene dachte daran, daß er ihr Jamie schon einmal weggenommen hatte, und riß den Jungen an sich. »Lassen Sie ihn in Ruhe, Quidor!«
Der Mann versetzte ihr eine schallende, schmerzhafte Ohrfeige. »Reiß dich zusammen! Vergiß nicht, du bist in meiner Gewalt!«
Irene hielt ihren Sohn weiterhin fest an sich gedrückt. »Wo sind...« Irgend etwas hinderte sie am Weitersprechen.
»Deine Freunde, Adler und Bauer? Nicht an Bord und können dir also auch nicht helfen. Sie sitzen in Louisville wegen Mordes an zwei Matrosen hinter Gittern, hat man mir erzählt. Von mir aus sollen sie hängen!«
Er stand auf. »Ich muß mich um das Schiff kümmern. Aber ich komme wieder, um mir das zu holen, was du mir in New York verwehrt hast!«
Er verließ die Kabine, und Irene verwünschte plötzlich ihren Entschluß, nach Amerika auszuwandern. Aber als sie wieder klarer denken konnte, wurde ihr bewußt, daß sie es in Deutschland nicht besser gehabt hatte. Eine Frau ohne Mann schien überall herumgestoßen zu werden von Männern, die ihre eigenen Interessen über alles andere stellten. Ob sie nun Wilhelm Dilger oder Max Quidor hießen.
Vivian Marquand trat mit besorgtem Gesicht ein. »Hat Quidor Ihnen etwas getan?«
»Nein, jedenfalls nichts Schlimmes. Wie kommt er an Bord?«