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»Sie sind eine Spionin?« fragte Irene ungläubig. »Warum tun Sie das?«
»Weil ich auch einmal einen Sohn hatte«, antwortete Vivian und erzählte ihr von George.
*
Als er Irene Sommers Kabine verließ, wollte Max Quidor auf die Brücke steigen, um sich zu vergewissern, daß bei Dan Massey alles in Ordnung war.
Massey war der erfahrenste Flußschiffer, den Quidor in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, in Louisville auftreiben konnte. Er war selbst Kapitän eines kleinen Dampfers gewesen, bis das Schiff durch eine Kesselexplosion auseinanderbarst und im Ohio versank. Achtzehn Menschen verloren bei dieser Katastrophe ihr Leben. Massey konnte keine Schuld an dem Unfall nachgewiesen werden, aber niemand vertraute ihm mehr ein Schiff an. Er wurde ein Säufer, der sich in den Hafenkneipen durch Seemannsgarn Rum und Whiskey schnorrte.
Massey hatte Quidor versprochen, trocken zu bleiben, wenn dieser ihm eine Chance gäbe. Quidor hatte sich darauf verlassen müssen, weil er in der Eile keinen besseren Mann fand. Nun stand Massey oben im Ruderhaus und führte die ONTARIO. Aber Quidor sah von Zeit zu Zeit nach ihm, weil er ihm nicht traute. Er traute niemandem außer sich selbst, sonst wäre er mit seinen dunklen Geschäften nicht so reich geworden.
Er hatte gerade seinen Fuß auf die unterste Treppenstufe des Brückenaufgangs gesetzt, als eine Frauenstimme hinter ihm seinen Vornamen rief. Das konnte nur Jeanette sein. Langsam drehte er sich um und sah die Französin neben dem Backbordschornstein stehen, hinter dem sie sich bis jetzt verborgen gehalten hatte.
Trotz der derben Hose und des weiten Hemdes, die sie für dieses Abenteuer angezogen hatte, war sie eine schöne Frau. Aber er kannte ihre Schönheit schon lange, und sie langweilte ihn immer mehr. Quidor brauchte stets Abwechslung, neue Anregungen. Deshalb reizte ihn Irene Sommer so sehr.
Jeanette kam langsam auf ihn zu. »Max, was hast du in der Kabine der Deutschen gesucht?«
»Das geht dich nichts an«, sagte er kalt.
»Doch, es geht mich etwas an«, widersprach Jeanette und blieb am Treppenabsatz vor Quidor stehen. »Es geht mich etwas an, weil ich dich liebe und du mir gehörst!«
Er starrte sie ungläubig an. »Ich - dir?«
Das Erstaunen auf seinem Gesicht verwandelte sich in Belustigung, und er begann zu lachen. »Ich gehöre niemandem«, sagte er zwischendurch. »Ich bin doch kein Niggersklave!« Er lachte so sehr, daß er sich über das Treppengeländer bog.
In Jeanettes Augen traten Tränen, und sie verpaßte dem Mann eine schallende Ohrfeige.
Schlagartig erstarb sein Gelächter. Quidors Gesicht wirkte ausdruckslos, aber in seinen Augen glomm ein gefährliches Feuer. Er wischte sich mit der Hand über die Wange, die Jeanettes Hand gespürt hatte.
»Niemand schlägt mich, schon gar nicht eine Frau«, sagte er leise.
Seine Faust krachte wuchtig unter Jeanettes Kinn und schleuderte sie über das Promenadendeck. Wie ein verwundetes Tier kauerte sie auf allen vieren auf den Planken und bedachte Quidor mit einem unergründlichen Blick. Blut tropfte aus ihrem Mund.
»Du verdammtes Miststück«, fluchte Quidor. »Sieh mich nicht so an, sonst werde ich.«
Ein gewaltiger Ruck, der durch das ganze Schiff ging, hinderte ihn am Weitersprechen. Er verlor den Halt, stürzte von der Treppe, rollte über die Planken und blieb ganz in Jeanettes Nähe liegen.
Überall auf der ONTARIO wurden Männer von den Füßen gerissen oder konnten sich nur mit Mühe irgendwo festhalten. Kisten stürzten um und Fässer, die durch den Frachtraum polterten oder über das Hauptdeck rollten. Das Schiff knarrte und ächzte wie unter einem gewaltigen Druck. Einer der Heizer fiel gegen die offene Feuerbüchse und zog sich schwere Verbrennungen an der Schulter zu.
Dann herrschte plötzlich Ruhe, nur unterbrochen von den Schreien und Flüchen der Besatzung. Die ONTARIO bewegte sich nicht mehr, schien mitten in dem reißenden Strom zu stehen.
»Eine Untiefe!« hörte Quidor einen der Männer auf dem Hauptdeck rufen. »Das Schiff ist auf eine Untiefe gelaufen!«
*
Benommen stand Max Quidor auf, ohne die Frau, die ganz in seiner Nähe lag, auch nur eines Blickes zu würdigen.
Die hinter der ONTARIO über dem Ohio aufsteigende Sonne, deren länglich verzerrtes Spiegelbild auf dem Fluß glitzerte, leuchtete bereits hell genug, um ihn die Lage erkennen zu lassen. Die Untiefe befand sich etwa in der Mitte des Flusses. In weiter Entfernung von beiden Ufern war der Dampfer gestrandet, wahrscheinlich auf einer Sandbank. Als Quidor zum Geländer lief und nach unten ins Wasser sah, glaubte er einen bräunlichen Schimmer unter dem Rumpf der ONTARIO zu sehen.
Er hetzte den Brückenaufgang hinauf und lief zum Ruderhaus, wo ihn ein konsternierter Dan Massey erwartete. Die geröteten Schweinsäuglein in Masseys aufgeschwemmtem Gesicht blickten Quidor in hündischer Ergebenheit an, als könnte der ehemalige Dampferkapitän dadurch der befürchteten Standpauke entgehen.
»Was ist passiert?« fragte Quidor im messerscharfen Tonfall.
»Das Schiff ist auf eine Sandbank gelaufen«, antwortete Massey leise und zögerlich.
»Idiot, das weiß ich selbst! Wie konnte das geschehen? Sie haben mir doch erzählt, daß Sie den Fluß gut kennen. So gut, daß Sie auch bei Nacht ein Schiff um die Untiefen steuern könnten!«
Quidor trat einen Schritt auf Massey zu, und der wich in eine Ecke zurück. Er sah aus wie ein Tier, das in eine Falle getreten war und jetzt dem Trapper gegenüberstand, der sein Gewehr schußbereit machte.
»Ich. ich habe nicht mehr an diese Stelle gedacht. Es ist drei Jahre her, daß ich zuletzt ein Schiff über den Ohio gesteuert habe. Wenn es schon richtig hell gewesen wäre, hätte ich die Sandbank bestimmt bemerkt.«
Diese Eröffnung bewahrte Massey nicht vor seiner Strafe, sondern machte Quidor nur noch wütender. Wie ein vom Blutgeruch erregtes Raubtier fiel er über den ehemaligen Dampferkapitän her und prügelte auf ihn ein, bis Massey nur noch ein wimmerndes, blutendes Bündel war, das vor ihm am Boden lag.
Toms Erscheinen im Ruderhaus ließ Quidor von seinem Opfer ablassen.
»Boß, wir sitzen fest. Was sollen wir jetzt tun?«
»Frag unseren Kapitän«, sagte Quidor verächtlich und zeigte auf Massey. »Für solche Fälle haben wir ihn schließlich engagiert.«
Der Flußschiffer reagierte nicht, sondern wimmerte mit zu Boden gewandtem Gesicht vor sich hin. Quidor rammte ihm die Stiefelspitze in den Bauch.
»Steh auf, Saufkopf, und tu etwas, um die ONTARIO wieder flottzumachen!«
Vor Angst fast schlotternd, zog sich Massey an einem kleinen Bord hoch. Die Augen in dem blutig geschlagenen Gesicht wagten kaum, Quidor anzusehen.
»Wenn wir rückwärts fahren, können wir vielleicht von der Sandbank runterkommen«, meinte er blutspuckend.
»Dann versuch es, verdammt!« fuhr ihn Quidor an.
Der Mann aus New York dachte daran, daß die Entführung der ONTARIO sicher schon längst entdeckt war. Wahrscheinlich wurde der Dampfer verfolgt. Jede Minute, die er auf der Sandbank festsaß, brachte die Verfolger näher.
Massey streckte seine zitternde Hand nach dem Maschinentelegrafen aus und legte sie um den Befehlshebel, den er von »Voll voraus« auf »Stopp« zurückgezogen hatte, als der Rumpf der ONTARIO über die Untiefe schrammte. Jetzt zog er den Hebel weiter nach hinten, bis er auf »Langsam zurück« stand.
Das Schaufelrad drehte sich wieder, jetzt in umgekehrter Richtung, und ein neuerlicher Ruck ging durch das Schiff, nicht so stark wie vor wenigen Minuten. Aber dabei blieb es auch. Die ONTARIO bewegte sich keinen Zoll von der Sandbank weg.
»Versuch es mit mehr Kraft!« verlangte Quidor von Massey.
Der verängstigte Mann dachte an das Schiff, das er vor drei Jahren an den Fluß verloren hatte. Er wollte so etwas nicht noch einmal erleben, wollte nicht noch einmal für den Tod vieler Menschen verantwortlich gemacht werden.
»Das ist sehr gefährlich«, sagte er deshalb. »Es könnte das Schiff zerreißen.«
»Wir müssen es versuchen!« sagte Quidor in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Zögernd legte Massey den Befehlshebel um, bis er auf »Halb zurück« stand.
Wieder ging ein Ruck durch das Schiff, und wieder geschah sonst nichts.