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Während der Polizeiwagen vor dem Haupteingang des Golden Atlantic hielt und die Insassen auf die Straße sprangen, um das Gebäude zu umstellen, sprengten die vier Reiter durch einen schmalen Weg hinaus auf die Bowery und entkamen so in letzter Minute ihren Häschern.
Verbissen trieb Max Quidor sein Pferd durch das nächtliche New York. Die großen Häuser wurden zu Schatten, die an ihm vorbeiflogen. Er konnte es nicht verhindern. Immer wieder mußte er an diesen deutschen Zimmermann, Jacob Adler, denken. Mit ihm hatte sein Unglück angefangen. Ohne ihn hätte Quidor nicht aus New York fliehen müssen wie ein gemeiner Strauchdieb. Irgendwann würde er ihn wiedertreffen, und dann sollte Adler für all dies büßen.
*
Pittsburgh, Pennsylvania, drei Tage später.
Das schwere Stahlroß mit dem vorgeschnallten Kuhfänger rollte fauchend, ächzend, rauchausstoßend und funkenstiebend in die große Stadt am oberen Ohio ein und umhüllte die auf dem Bahnsteig wartenden Menschen mit einem Mantel aus Lärm, Rauch und Gestank. Als die Lokomotive mit einem letzten, an ein vorzeitliches Ungeheuer gemahnenden Schnaufen endlich zum Stillstand gekommen war, verringerten die Menschen den bisher respektvollen Abstand zu dem Lindwurm aus Eisen und Holz. Sie drängten sich an die Plattformen der Wagen, auf denen bald ebenfalls Menschen erschienen, erst das Zugpersonal und dann die Fahrgäste. Die meisten der letzteren wurden bereits erwartet und lauthals begrüßt.
Nicht so die beiden Männer und die Frau, die aus einem der vorderen Wagen stiegen und von keinem der Wartenden beachtet wurden. An ihnen war auch nichts Auffälliges. Sie waren bloß müde, abgekämpfte Passagiere, hinter denen die Strapazen einer anderthalbwöchigen Reise per Wagen, Kanalboot und Eisenbahn lagen.
Am wenigsten müde wirkte der hochgewachsene, breitschultrige Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem gutgeschnittenen, offenen Gesicht, der einen goldenen Ring im rechten Ohr trug, als Zeichen seiner Angehörigkeit zur Zimmermannszunft. Jacob Adler schleppte zusammen mit seinem stämmigen, einen halben Kopf kleineren Freund Martin Bauer das gesamte Gepäck der kleinen Gruppe.
Aber auch die schöne junge Frau in ihrer Mitte war nicht ohne Last. Auf ihren Armen trug sie, zu einem dicken Bündel verpackt, den kleinen, erst anderthalb Monate alten Jamie. Sein voller Name lautete Jacob-Martin nach den beiden Begleitern seiner Mutter, die auch seine Paten waren. Ein Handelsreisender hatte während der Zugfahrt zum oberen Delaware die Abkürzung gebraucht, und sie hatte sich schnell eingebürgert. Sie war amerikanisch, und die drei Freunde bemühten sich, auch untereinander in der Sprache der Einheimischen zu verkehren. Sonst bestand die Gefahr, daß sie ihr mühsam auf dem Auswandererschiff erlerntes Englisch rasch wieder vergaßen. Natürlich blieb es nicht aus, daß sie immer wieder, besonders in schwierigen Fällen, in die deutsche Muttersprache zurückfielen.
Seit der Nacht, als sie mit dem gewaltsam aus James Duncans Haus befreiten Jamie die Stadt New York verlassen hatten, waren sie nicht recht zur Ruhe gekommen. Jetzt suchten sie ein Schiff, um auf dem Ohio, der ab Pittsburgh schiffbar war, zum Mississippi und auf ihm und dem Missouri hinauf weiter nach Westen zu gelangen. Sie hofften, während der langen Flußfahrt ein wenig ausruhen zu können.
Aber da irrten sie sich gründlich. Vielleicht hätten sie ganz auf den Wasserweg verzichtet, hätten sie geahnt, was ihnen auf dem Ohio alles bevorstand.
Eine Kolonne von Maultiergespannen, die große, kastenförmige Frachtwagen zogen, angeführt von einem berittenen Offizier, kam aufs Bahnhofsgelände und hielt vor dem hinteren Teil des Zuges an. Blauuniformierte Soldaten sprangen aus den Wagen und begannen damit, die Güterwaggons zu entladen, die Nachschub nach Pittsburgh transportiert hatten. Ein Teil davon war für die hiesige Garnison bestimmt, aber der größte Teil würde auf dem Ohio flußabwärts zu den Vicksburg belagernden Unionstruppen gebracht werden.
Seit zwei Jahren befand sich Nordamerika im Sezessionskrieg, den man auch Bürgerkrieg nannte, weil hier Nachbar gegen Nachbar, Bruder gegen Bruder kämpfte. Angefangen hatte alles mit der Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Im Süden, wo sich die größtenteils von der Landwirtschaft lebende weiße Bevölkerung auf die Negersklaven angewiesen glaubte, galt Lincoln als fanatischer Gegner der Sklaverei. Um einer Abschaffung der Sklavenhaltung durch den neuen Präsidenten zuvorzukommen, sagte sich im Dezember 1860 der Staat South Carolina von den USA (United States of America) los. Im darauffolgenden Jahr folgten zehn weitere Staaten diesem Beispiel und schlossen sich zu den CSA (Confederate States of America) mit der Hauptstadt Richmond in Virginia zusammen. Präsident des neuen Staatenbundes wurde der ehemalige US-Kriegsminister Jefferson Davies.
Als die Truppen der Konföderierten im April 1861 das an der Küste des Südstaates South Carolina gelegene, aber von Unionstruppen besetzte Fort Sumter beschossen, brach damit der Krieg los, der nicht nur wegen der Frage der Sklaverei, sondern von der Seite des Nordens auch zur Wiederherstellung der USA geführt wurde.
Trotz der starken industriellen und zahlenmäßigen Unterlegenheit der Konföderation hatten die Rebellen, wie die Südstaatler von ihren Feinden genannt wurden, aufgrund ihres größeren Wagemuts in den ersten beiden Kriegsjahren beachtliche Erfolge errungen. Doch allmählich schien sich das Blatt zu wenden. Der Norden war tief in das Gebiet der Südstaaten eingedrungen und hatte fast den gesamten Mississippi unter seine Kontrolle gebracht. Damit drohten die Staaten Arkansas, Louisiana und Texas von den restlichen konföderierten Staaten abgeschnitten zu werden.
Nur die dreißigtausend Soldaten, die unter CS-General Pemberton in der Flußfestung Vicksburg ausharrten, standen einer gänzlichen Spaltung der Südstaaten noch entgegen. Aber US-General Grant hatte Pembertons Armee am 18. Mai eingeschlossen und belagerte Vicksburg. Während die Nordstaatler aus dem umliegenden Land und über den Mississippi ständig Nachschub erhielten, wurden die Konföderierten allmählich ausgehungert. Nur tröpfchenweise gelangten auf Schleichwegen Verpflegung und Munition in die Stadt. Die meisten der Geheimtransporte wurden von den Unions-Truppen abgefangen.
Als die drei Deutschen die Straßen von Pittsburgh durchquerten, war der Krieg so gegenwärtig wie noch nie, seit sie vor zwei Wochen in New York amerikanischen Boden betreten hatten. Auf Schritt und Tritt begegneten ihnen Soldaten im blauen Waffenrock des Nordens. Über mehreren Gebäuden, die militärische Dienststellen beherbergten, wehte der Sternenbanner. Das war nicht weiter verwunderlich, war die Stadt doch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, an dem jeden Tag Unmengen von Nachschubgütern eingeschifft wurden.
Und die gab es hier reichlich, nicht nur, weil der Flußverkehr in Pittsburgh seinen Anfang nahm. Aufgrund der starken Kohlevorkommen in der Gegend hatte sich im großen Stil die Eisenindustrie angesiedelt, deren Schornsteine die Stadt wie eine Mauer umgaben und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gelbschwarze Rauchsäulen in den Himmel entließen.
Wie fast immer im Krieg wurde auch den in Pittsburgh stationierten Soldaten jede nur erdenkliche Zerstreuung geboten. Nichts schien es hier so häufig zu geben wie Kneipen.
Einige priesen ihre billigen Getränke, andere ihr reichhaltiges Angebot an Glücksspielen »zur Aufbesserung des mageren Soldes«, wie auf der Werbetafel über einem Eingang stand. In schmalen Seitengassen standen leichtbekleidete Frauen in den Eingängen und warteten auf den nahen Sonnenuntergang und ihre Kundschaft.
Die drei Freunde wollten sich erst mal eine Unterkunft suchen und kehrten in einem dreistöckigen Haus ein, das einen einigermaßen soliden Eindruck machte und sich »Schulze's Hotel & Restaurant« nannte. Der Eigentümer, Frederick Schulze, stammte aus Mecklenburg und war sehr erfreut, die frisch Eingewanderten beherbergen zu können. Obwohl sein Haus gut belegt war, erhielten die neuen Gäste zwei eigene Zimmer, wenn es auch nur schmale Kammern waren. In der einen wollten Jacob und Martin nächtigen, die andere wurde Irene und dem kleinen Jamie zugeteilt.
Nachdem die beiden Männer ihre wenigen Sachen in eine Ecke der Kammer gestellt hatten, streckte sich Martin mit unter dem Kopf verschränkten Händen auf dem schmalen Bett aus, das er sich mit seinem Freund teilen mußte, und seufzte wohlig.
»Jetzt ein paar Stunden schlafen und dann ins Bett«, meinte der Bauernsohn gähnend. »Das wäre das richtige für mich.«
»Du liegst ja schon auf dem Bett«, spottete Jacob, der an dem kleinen Fenster stand und hinab auf das rege Straßenleben sah. »Außerdem sollten wir uns erst um unsere Weiterreise kümmern, sonst fährt uns noch ein günstiges Schiff vor der Nase weg. Danach haben wir immer noch Zeit, uns tüchtig auszuschlafen.«
Martins rundes, sommersprossiges Gesicht, das eben noch so gelöst gewirkt hatte, nahm plötzlich ernste Züge an. »Bist du sicher, daß du uns nach Oregon begleiten willst, Jacob?«
»Natürlich bin ich sicher. Warum fragst du?«
»Weil du ursprünglich nach Texas wolltest, um endlich zu deiner Familie zu kommen. Wenn du uns auf dem langen Weg über die Rocky Mountains nach Oregon begleitest, bringt dich das deinem Ziel nicht gerade näher.«
Martin sagte die Wahrheit. Nachdem Jacobs Familie drüben in Deutschland durch betrügerische Machenschaften um Haus und Besitz gebracht worden und seine Mutter über den Aufregungen gestorben war, hatte Jacobs Vater mit seinen übrigen Kindern die Überfahrt nach Amerika gewagt, um bei Nathan Berger unterzuschlüpfen, einem Bruder von Jacobs Mutter, der in Texas eine Plantage besaß. Das vermutete Jacob zumindest und hatte sich deshalb an Bord einer Auswandererbark auf den langen Weg über den Atlantik gemacht, um seine Familie in dem fremden Land zu suchen.
Auf dem Schiff hatte er Irene Sommer kennengelernt, die jetzt nach Oregon wollte, zu Carl Dilger, dem Vater ihres Kindes. Jacob und Martin hatten schon auf See eine Beschützerrolle für Mutter und Kind übernommen, die sie als Paten des Kleinen auch weiterhin auszufüllen gedachten. Martin war mit Oregon als Ziel durchaus einverstanden. Er war Bauer, und das Land dort sollte, wie er gehört hatte, für die Landwirtschaft sehr geeignet sein.
Deshalb wollte er Irene auf ihrem Weg begleiten, der über die Flüsse bis ins Grenzgebiet zwischen Kansas und Missouri führen sollte. Dort wollten sie sich einem der Oregon-Trecks anschließen, die über die mächtigen Rocky Mountains zogen. Natürlich wäre es einfacher gewesen, von New York aus eine Schiffspassage nach Oregon zu buchen, aber ihre überstürzte Flucht aus der großen Stadt an der Atlantikküste hatte dem im Wege gestanden.
Für Jacob wäre es, um nach Texas zu gelangen, das Günstigste gewesen, sich ab Cairo, wo der Ohio in den Mississippi mündete, flußabwärts zu halten. Aber obwohl es ihn sehr drängte, endlich seinen Vater und die Geschwister wiederzusehen, wollte er Irene zusammen mit Martin nach Oregon bringen, bevor er sich nach Texas aufmachte. Nicht nur, weil er sich der jungen Frau und ihrem Kind gegenüber verpflichtet fühlte.
Nein, es gab einen viel tiefgreifenderen Grund, den er sich selbst gegenüber aber nicht eingestand. Jacob hatte sich in Irene verliebt. Aber da zwischen ihnen Carl Dilger und der kleine Jamie standen, wehrte sich Jacob vehement dagegen, in Irene mehr zu sehen als eine gute Freundin.
»Ich habe gesagt, daß ich mit nach Oregon komme, also komme ich auch mit«, stellte Jacob klar.
»Das freut mich sehr«, meinte Martin und erhob sich ächzend von dem schlecht gefederten Bett. »In unruhigen Zeiten wie diesen ist ein guter Freund viel wert.«
»Sprichst du vom Krieg?«
»Vom Krieg und von all den anderen Gefahren, die dieses Land für uns bereithält. Nach der üblen Erfahrung, die wir in New York mit diesem Quidor gemacht haben, bin ich vorsichtig geworden.«
»Ich hoffe, daß wir etwas Ähnliches nicht mehr durchmachen müssen.«
»Hoffen und Harren macht manchen zum Narren, pflegte mein Vater zu sagen.« Martin schlug auf seinen Bauch. »Aber ich hoffe selbst, nämlich daß der alte Schulze einen guten Koch beschäftigt. Ich kriege nämlich allmählich Hunger.«
»Nicht nur du. Vielleicht können wir bei der Gelegenheit in Erfahrung bringen, wann das nächste Passagierschiff flußabwärts fährt.«
Irene war so erschöpft von der langen Bahnfahrt, daß sie auf ihrem Zimmer bleiben wollte. Ihre Freunde versprachen, Schulze zu bitten, ihr Essen aufs Zimmer zu bringen.
Sie gingen hinunter ins Restaurant und waren überrascht, wie voll es dort war. Bürger der Stadt, Seeleute und Soldaten drängten sich um die Tische, um »Schulze's deutsche Küche«, die ein großes Schild an der Wand anpries, zu genießen.
»Da wird gerade etwas frei«, sagte Jacob und steuerte, gefolgt von Martin, einen kleinen Ecktisch an, von dem sich vier Soldaten erhoben.
Sie hatten sich gerade an den Tisch gesetzt, als eine laute Stimme wie ein Gewitter über sie hereinbrach. »He, ihr Landratten, verzieht euch! Wir haben den Tisch zuerst entdeckt.«
Der Sprecher gehörte zu einer Gruppe von vier Männern, die sich breitbeinig rund um den Ecktisch aufgebaut hatte. Daß es Matrosen waren, sah man an ihrer Kleidung und an den maritimen Tätowierungen, die zwei von ihnen auf den Handrücken trugen.
Auch der Sprecher, ein massiger Büffel, der diesem Tier durch lange, zottelige Haare und einen ebensolchen Bart noch ähnlicher wurde, hatte auf dem Rücken jeder Hand eine Tätowierung. Auf der Rechten stand ein Matrose im Mastkorb und hielt durch ein Fernrohr Ausschau, während sich auf der Linken eine Seejungfrau mit langem Fischschwanz und nacktem, üppigem Oberkörper räkelte.
Die Augen in dem Bartgestrüpp glühten, als wollten sie die beiden Deutschen an dem Tisch versengen. Der menschliche Büffel stand da, als sei er bereit, jeden Augenblick loszustürmen, um Jacob und Martin in Grund und Boden zu rammen.
Martin drehte sich halb um und sah jetzt direkt zu dem Büffel hinauf. »Wo liegt Ihr Problem, Sir?«
»Mein Problem?« brüllte der Matrose. »Ihr zwei Figuren seid mein Problem, aber nicht mehr lange. Ihr werdet nämlich sofort verschwinden und den Tisch Bart Rumpole und seinen Freunden überlassen.«
»Bart Rumpole sind wohl Sie?« fragte Martin.
Der Büffel stemmte die mächtigen Fäuste in die Hüften. »Allerdings, Mister.«