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Fast war es ein Wunder. Bowmans Kugel war ihm mitten in die Brust gedrungen, und er hatte einiges an Blut verloren.
»Halte aus, Liebster«, flüsterte sie. »Ich hole den Arzt.«
Sie wollte aufstehen, als Alec röchelnd ein paar abgehackte Worte hervorbrachte: »Nicht, den Arzt, zu gefährlich. Leiche muß. erst verschwinden.«
Vivians Blick fiel auf den jungen Mann, dessen lockiges Haar jetzt wirr in sein Gesicht fiel. Seine Augen blickten so starr ins Nichts, wie es nur die Augen eines Toten taten. Sie hatte viele Leichen gesehen damals auf der Plantage, aber Bowmans Anblick ließ sie frösteln.
»Wie?« fragte sie. »Was soll ich tun?«
»Nach Mitternacht. wenn. Straßen leer. in den Fluß.«
»Und wenn jemand den Schuß gehört hat?«
»Glaube ich kaum. nur Lagerhäuser. um uns herum.«
»Aber du kannst nicht so lange auf den Arzt warten, nicht bis nach Mitternacht, Alec! Du verlierst zuviel Blut!«
»Ich muß warten. bis morgen früh. dann dem Arzt sagen. Unfall beim Waffenreinigen.«
»Aber deine Blutung!«
»Du mußt. sie stillen. mich verbinden.«
Trotz seiner Schwäche lag wilde Entschlossenheit in Alecs Blick. Dieselbe Entschlossenheit, die er damals gezeigt hatte, als er um Vivian warb. Und als er ins lichterloh brennende Haus rannte, um den kleinen George herauszuholen -vergeblich.
Vivian wußte, daß ihr Mann nicht von seinem Entschluß abrücken würde, auch wenn es um sein Leben ging. Seit dem Verlust der Plantage und Georges Tod kannte Alec nur ein Ziel - den Nordstaaten zu schaden. Deshalb hatte er sich beim Geheimdienst der Konföderierten verdingt und hatte mit dem Rest seines Vermögens die Frachtagentur in Pittsburgh aufgebaut. Vivian unterstützte ihn bei allem, denn auch sie hatte einen unbändigen Haß auf alles entwickelt, was die blaue Yankee-Uniform trug und vor dem Sternenbanner salutierte.
Sie holte ein sauberes Tischtuch von oben, riß es in Streifen und legte einen straffen Verband um Alecs Wunde. Dann schaffte sie ihren Mann, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, mit einer übermenschlichen Anstrengung hinauf ins Bett. Dabei brach die Wunde wieder auf, und sein Verband war blutdurchtränkt. Sie wusch die Wunde mit hochprozentigem Whiskey aus und legte einen neuen Verband an.
Anschließend eilte sie wieder hinunter ins Büro, um die Spuren des Kampfes zu beseitigen. Sie zog Bowmans Leiche in eine Abstellkammer; noch herrschte draußen zuviel Betrieb, um sie zum Ohio zu schaffen. Vivian sammelte die Waffen und Bowmans Taschenbuch ein und wischte überall die Blutspuren ab.
Als sie wieder nach oben kam, hörte sie ihren Mann nach ihr rufen. Von Panik erfüllt, lief sie ins Schlafzimmer.
»Was hast du, Alec?«
»Ich muß dir noch etwas Wichtiges sagen. Vielleicht bin ich morgen früh zu schwach dazu. Du mußt jetzt die Fracht auf der ONTARIO begleiten.«
»Die Revolverkanonen, die Max Quidor aus New York geschickt hat?«
Alec nickte. »Die Yankees vor Vicksburg erhalten fast täglich neue Truppen. Wenn sich Grant stark genug fühlt, wird er den Großangriff befehlen. General Pemberton ist auf die Waffen angewiesen, wenn er die Stadt halten will. Aber es gibt ein Problem.«
»Welches?«
»Unser Kontaktmann in Cairo weiß nicht, mit welchem Schiff die Waffen kommen. Er weiß auch nicht, wer sie ihm bringt. Er wartet auf einen Mann mit einem goldenen Ohrring.«
Vivian sah ihren Mann entsetzt an. »Du kannst unmöglich morgen mit der ONTARIO fahren, Alec!«
»Ich weiß. Deshalb mußt du mitfahren und auf die Ladung achten. Es ist der wichtigste Transport, den wir jemals hatten. In Schulzes Hotel wohnen zwei Deutsche, die ein Schiff suchen. Ich habe gehört, wie sie sich unterhielten, als sie in den Speisesaal kamen. Einer von ihnen trägt einen goldenen Ring im rechten Ohr!«
»Ich verstehe«, murmelte Vivian, und ihre besorgten Züge hellten sich ein klein wenig auf.
*
Jacob und Martin nahmen ihr Frühstück in Schulzes Restaurant ein. Irene war auf dem Zimmer geblieben, weil Jamie sehr unruhig war und immer wieder zu weinen begann.
Die beiden Freunde wollten sich gerade erheben, um sich auf die Suche nach einer Schiffspassage zu machen, als Vivian Marquand an ihren Tisch trat. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit einem farblich dazu passenden Hut, unter dem ihre roten Locken hervorquollen. Der Anblick dieser schönen, eleganten Dame ließ die beiden Männer für Sekunden in sprachlosem Staunen verharren.
»Sie müssen Mr. Adler und Mr. Bauer sein«, sagte die Frau mit einem gewinnenden Lächeln.
Die beiden Männer nickten überrascht.
»Woher kennen Sie uns?« fragte Jacob.
»Ich habe mich bei Mr. Schulze nach Ihnen erkundigt. Man erzählt sich in der Stadt, daß zwei deutsche Auswanderer dringend eine Schiffspassage suchen.«
»Das ist wahr«, bestätigte Jacob.
»Ich möchte Sie fragen, ob Sie auf der ONTARIO fahren möchten. Das ist ein Dampfer, der in zwei Stunden ausläuft. Oder haben Sie schon eine Passage?«
Äußerlich wirkte die Frau gelöst, dabei war Vivian Marquand bis zum Zerreißen angespannt. Von der Antwort der Deutschen hing ab, ob ihr Plan gelang, das eingeschlossene Vicksburg mit Waffen und Munition zu versorgen. Alec und Vivian hatten so viel in die Sache investiert, daß sie einfach nicht schiefgehen durfte.
Alec hätte es fast das Leben gekostet. Zum Glück hatte er die Nacht überstanden. Früh am Morgen hatte sie Dr. Watkins geholt, der die Kugel herausoperiert hatte. Wenn es keine Komplikationen gab, würde sich Alec erholen, hatte der Arzt gesagt; der Verwundete brauchte nur viel Ruhe.
Noch in der Nacht hatte Vivian Bowmans Leiche zusammen mit ein paar schweren Steinen in einen Sack eingenäht und die grausige Fracht im Schweiße ihres Angesichts zum Ohio geschleppt. Sie hatte die Leiche im Hafenbecken versenkt und hoffte, daß sie dort auf ewig liegen würde.
»Wir haben noch keine Passage«, beantwortete Jacob ihre Frage. »Was kostet denn die Fahrt auf der ONTARIO?«
»Für Sie gar nichts. Im Gegenteil, Sie bekommen noch Geld dafür. Ich zahle jedem von Ihnen einen halben Dollar pro Tag, bis wir in Cairo sind.«
Martin bekam vor Überraschung den Mund nicht mehr zu, und Jacob sagte: »Das habe ich noch nie gehört, daß man als Passagier auf einem Schiff auch noch für die Reise bezahlt wird. Bis jetzt dachte ich immer, es sei umgekehrt.«
»Die ONTARIO ist kein Passagierschiff, sondern ein Frachtdampfer. Und Sie reisen auch nicht als Passagiere, sondern als Frachtbegleiter. Mein Mann betreibt eine Frachtagentur und wollte die Reise mit Mr. Bowman, unserem Angestellten, machen. Aber Alec, mein Mann, hat sich heute morgen beim Waffenreinigen verletzt. Und Mr. Bowman ist nicht zur Arbeit erschienen und ist auch in der Pension, in der er wohnt, nicht zu finden. Jetzt suche ich zwei kräftige Männer, die mich auf der Reise begleiten.«
Jacobs anfänglich begeistertes Gesicht verdüsterte sich.
»Was haben Sie?« fragte Vivian.
»Wir reisen nicht allein«, antwortete er und erzählte von Irene und dem Kind.
»Daran soll es nicht scheitern«, sagte die rothaarige Frau, nachdem sie kurz überlegt hatte. »Die beiden können mitfahren. Ich werde das mit dem Kapitän regeln.«
Vivian dachte daran, daß eine junge Mutter und ihr kleines Kind an Bord gut wären, um einen etwaigen Verdacht, die ONTARIO könne Schmuggelware befördern, zu zerstreuen.
»Was für eine Fracht wollen Sie eigentlich nach Cairo bringen?« fragte Jacob.
»Fleischkonserven.«