158125.fb2 Flucht in die neue Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 1

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Das Knarren der hölzernen Planken, das Plätschern des Wassers, das Knattern der Segel im Wind und die leisen Stimmen von Menschen, die irgendwo auf Deck standen und sich über ihre Schlaflosigkeit und die Enge ihres Quartiers unterhielten, bildeten eine eintönige Kulisse, die den blinden Passagier eigentlich hätte sanft in den Schlaf wiegen sollen.

Aber er war zu aufgeregt, hielt es kaum aus in seinem engen, stark nach Teer riechenden Versteck und durfte es doch auf keinen Fall verlassen. Das Schiff war noch nicht weit genug auf See. Vielleicht würde der Kapitän umkehren und den steckbrieflich gesuchten Mann der Polizei übergeben.

Er kauerte sich unter der Wolldecke zusammen, die ihn nur unzureichend gegen die Nachtkälte schützte, und seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, als sein Unglück begonnen hatte.

*

Der hochgewachsene Jüngling blieb auf der Kuppe des bewaldeten Hügels stehen und schaute hinab in das Flußtal, das sich in malerischem Frieden unter ihm ausbreitete. Tief sog er die würzig frische, noch nach dem gerade erst geschmolzenen Schnee riechende Luft in seine Lungen und genoß in aller Ruhe den Anblick seiner Heimatstadt Elbstedt, den er für ein langes Jahr vermißt hatte.

Er hatte viele neue Orte und Dinge gesehen, viele neue Menschen kennengelernt, die seinen wißbegierigen Geist beschäftigt hatten, und doch war kein Abend vergangen, an dem er nicht sehnsüchtig an seine Heimat gedacht hatte. Nicht weil er sich in der Fremde nicht wohl gefühlt hätte, sondern weil hier die Menschen lebten, die er liebte: seine Eltern, seine Geschwister und Louisa.

Der Gedanke an diese Menschen trieb ihn voran, ließ ihn kräftig ausschreiten, den matschigen Weg hinab ins Tal mit Riesenschritten hinter sich lassend.

Und doch, je näher er den ersten Häusern kam, desto seltsamer fühlte er sich. Eine bislang nicht gekannte Beklemmung griff nach seiner Brust und schnürte ihm fast den Atem ab.

Vielleicht war es nur das ungewohnte Gefühl, nach so langer Zeit seine Lieben wiederzusehen, versuchte sich Jacob zu beruhigen. Immerhin war er ein Jahr und drei Monate fort gewesen, ein Handwerksbursche auf Wanderschaft.

Insgesamt waren es drei Jahre, die er in der Fremde verbringen mußte. Nur dem Umstand, daß König Wilhelm und sein unentbehrlicher Ministerpräsident Bismarck stets wissen wollten, wo sich Preußens Bürger aufhielten, verdankte er das Wiedersehen mit Elbstedt. Wie alle preußischen

Handwerksburschen auf der Walz unterlag auch er der Pflicht, sich einmal im Jahr bei dem Polizeiposten im Heimatort zu melden. Zweimal hatte er diese Meldung bisher durchgeführt, und jedesmal war seine Heimkehr zu Weihnachten ein großes Fest für die Familie geworden.

Diesmal, im letzten Jahr seiner Wanderschaft, hatte er länger gebraucht, weil er sein Gesellenstück fertigbringen wollte, bevor er seinem Vater wieder unter die Augen trat. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, als Zimmermannsmeister zurückzukehren, um seinem Vater fortan eine brauchbare rechte Hand zu sein, und dieses Ziel hatte er erreicht.

Jacobs unruhiges Gefühl verstärkte sich noch, als er an Friedrich Kormanns Gehöft vorbeikam, einem der wenigen kleinen Bauernhöfe, die sich im Tal hatten halten können. Er kannte die Kormanns gut, seit er zusammen mit deren jüngstem Sohn Otto zur Schule gegangen war. Stets hatte er mit den Leuten ein freundliches Wort gewechselt. Aber an diesem Märznachmittag, dessen zaghaft wärmende Sonnenstrahlen der alte Kormann ausnutzte, um ein paar Reparaturen an den Fensterläden vorzunehmen, erwiderte er Jacobs herzlichen Gruß nur einsilbig und verschwand dann merkwürdig schnell in einem Schuppen.

Jacob verharrte kurz vor dem Tor zu Kormanns Anwesen und überlegte, was für eine Laus dem grauhaarigen Bauern über den Weg gelaufen sein mochte. Aber als Kormann nach zwei, drei Minuten nicht wieder aus dem Schuppen hervorkam, setzte er seinen Weg fort.

Je weiter er in die engen Straßen und Gassen seines kleinen Heimatstädtchens eindrang, desto mehr fragte er sich, ob die gesamte Bevölkerung am Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Niemand schien sich darüber zu freuen, daß der junge Zimmermannsbursche heimgekehrt war. Alle Gesichter befiel bei seinem Anblick stumme Verwunderung, und schnell zogen sich die Leute zurück. Täuschte er sich, oder las er sogar Angst in den Mienen der Menschen?

Das beklemmende Gefühl in seiner Brust wuchs, und Jacob beschleunigte seine Schritte auf dem Weg zum Flußufer, um diese unerklärliche Unruhe durch das Wiedersehen mit seiner Familie zu besänftigen. Er hatte frühzeitig geschrieben, wann er nach Hause kommen würde, und hoffte, die ganze Familie anzutreffen.

Noch hatte der Frühling den Winter nicht ganz vertrieben, so daß sein Vater als Zimmermann erfahrungsgemäß noch nicht viele Aufträge haben konnte. In Frühjahr, Sommer und Herbst zog er mit seiner Kolonne übers Land, manchmal bis über Preußens Grenzen hinaus, aber der Winter war die Jahreszeit der Ruhe, in der Haus und Werkzeuge in Ordnung gebracht wurden.

Das Haus in der Uferstraße, in dem die Adlers schon seit Generationen lebten - Jacobs Urgroßvater, ebenfalls Zimmermann, hatte es eigenhändig gebaut -, lag dicht bei der Elbe, von dem mächtigen Fluß nur durch Arnings Brauerei getrennt. Jacob lief beinah, als er die Uferstraße erreichte - und blieb abrupt stehen, als er um die letzte Ecke bog.

Er war so betroffen von dem, was er vor sich sah - und noch mehr von dem, was er nicht sah -, daß ihn fast ein großer zweispänniger Wagen überrollt hätte, der leere Fässer zur Brauerei brachte. Erst der heiße Atem der Pferde in seinem Nacken machte ihm bewußt, daß die lauten Rufe, die wie aus weiter Ferne oder durch dichten Nebel zu ihm drangen, ganz nah hinter ihm von dem Kutscher ausgestoßen wurden und ihm galten.

Im letzten Moment machte Jacob einen rettenden Satz zur Seite. Der Wagen ratterte über das grobe Pflaster an ihm vorbei, und der schnauzbärtige Fahrer bedachte ihn mit einem Schwall unflätiger Flüche, mit denen er sonst wohl nur seine unwilligen Zugtiere antrieb.

Aber das nahm Jacob kaum wahr. Er hatte nur Augen für den

Platz, an dem einst sein Elternhaus gestanden hatte. Jetzt war es verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Statt dessen stand dort ein gewaltiges Lagerhaus, über dessen breitem Tor ein Werbeschild der Brauerei angebracht war: ein pausbäckiger, sichtlich zufriedener Mann mit einem großen Bierhumpen vor sich, daneben der Spruch: »Trink Arnings Bier, und wohl sei dir«.

Jacob zwinkerte mit den Augen, aber es nützte nichts. Das Bild des Lagerhauses blieb. Er sah sich sogar suchend um, ob er sich in der richtigen Straße befand, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, in nur einem Jahr die Orientierung in seiner Heimatstadt verloren zu haben. Doch es gab keinen Zweifel: Das Haus seines Vaters, des Zimmermanns Heinrich Adler, war einem klobigen, häßlichen Lagerhaus gewichen.

Der junge breitschultrige Mann mit der dunklen Schirmmütze und der großen Ledertasche, in der er seine gesamten Habseligkeiten aufbewahrte, fühlte sich wie frühmorgens, wenn man aus dem schönsten Schlaf gerissen wurde und erst nicht recht wußte, wo man sich überhaupt befand, noch beim alten Lehrherren oder schon unterwegs zu einem neuen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie ein rauschender Wasserfall.

Wenn das Elternhaus nicht mehr da war, wo wohnte jetzt seine Familie? Warum war sie nicht mehr hier? Und weshalb hatte man ihm nicht Bescheid gegeben? Er schrieb doch immer nach Hause, wo er sich gerade aufhielt und wohin er demnächst ziehen würde.

Und wenn etwas Schlimmes geschehen war, hätten ihn dann nicht die Behörden benachrichtigen müssen? Schließlich mußte er die Polizei in Elbstedt über seinen jeweiligen Standort unterrichten. Das gehörte ebenso zu seinen Pflichten wie die jährliche Rückmeldung und das Führen des Wanderbuches, das er stets auf dem laufenden zu halten hatte.

Als er seine Gedanken einigermaßen geordnet hatte, beschloß er, das Nächstliegende zu tun und sich einfach bei der Brauerei zu erkundigen, weshalb der Bierkönig, wie Conrad Arning respektvoll genannt wurde, auf dem Grundstück seines Vaters ein Lagerhaus errichtet hatte.

Er hatte erst ein paar zögernde Schritte in Richtung des Brauereigeländes gemacht, als er eine Stimme in seinem Rücken leise seinen Namen rufen hörte.

»Jacob! Bist du es, Jacob Adler?«

Der junge Zimmermann drehte sich überrascht um und sah in das faltige Gesicht des Schusters Alfred Eckermann, dessen schmales Haus dem Grundstück der Adlers schräg gegenüberlag. Der alte Eckermann hatte seine abgewetzte Lederschürze umgebunden und hielt einen klobigen Stiefel ohne Absatz in der Hand. So stand er in der offenen Tür seiner im Erdgeschoß gelegenen Werkstatt, von Jacobs Erscheinen offensichtlich mitten in der Arbeit gestört.

»Herr Eckermann«, begann der Heimkehrer, hoch erfreut, daß endlich jemand mit ihm sprechen wollte. »Was ist hier geschehen? Das Haus! Wo ist meine Familie?«

»Ich will dir deine Fragen gern beantworten«, sagte Eckermann seltsam leise. »Aber nicht hier draußen. Komm herein, Junge!«

»Ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe«, erwiderte Jacob zögernd.

»Ich möchte rasch zu meiner Familie. Können Sie mir nicht hier draußen sagen, was los ist, Meister Eckermann?«

»Nein!« stieß der Schuster hervor. Jacob war verblüfft von der Schärfe seines Tonfalls. »Komm schon rein!«

Mit dieser keinen Widerspruch duldenden Aufforderung zog er sich schnell in seine Werkstatt zurück. Jacob zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Desto eher würde er Antworten auf seine Fragen erhalten.

Er mußte sich bücken, um durch die kleine Türöffnung die nach Leder, Leim und Öl riechende Schusterwerkstatt zu betreten. Durch die kleinen Butzenscheiben fiel nur unzureichend Licht, und es war ziemlich düster zwischen Tischen und Werkbänken, die mit Schuhen, Materialien und Werkzeugen vollstanden. Ganz wie früher, kam es Jacob in den Sinn. Meister Eckermann war schon immer ein sparsamer Mann gewesen, der kein künstliches Licht entfachte, wenn es nicht unumgänglich war.

Aber sie blieben nicht hier. Eckermann schloß die Tür ab und hängte das von der Sonne ausgebleichte »Geschlossen«-Schild vor die Scheibe, die im oberen Türdrittel eingelassen war. Dann stiegen sie die schmale Treppe hinauf, die in das Zimmer führte, das den gesamten ersten Stock ausfüllte und zugleich Wohnküche und Arbeitszimmer für Eckermanns Frau war. Sie saß vornübergebeugt an einem großen Tisch vor dem Fenster und führte Näharbeiten aus. Teils für die von ihrem Mann hergestellten Schuhe, teils an Kleidern, die sie im Auftrag fremder Leute weitete oder enger machte.

Nein, nichts schien sich verändert zu haben - bis auf das Fehlen von Jacobs Elternhaus und das abweisende Schweigen der Leute in Elbstedt.

Auch Frau Eckermann warf ihm diesen erschrockenen Blick zu, als er in die schlecht beheizte Stube trat. Aber als er genauer hinsah, lag noch etwas anderes in ihren Augen. Mitleid?

»Heinrichs Sohn ist zurück«, sagte Meister Eckermann unnötigerweise und ließ sich in dem alten Schaukelstuhl nieder, der genauso zu dem Schuster zu gehören schien wie seine Lederschürze. Umständlich stopfte der Mann sich eine alte, halbverkohlte Pfeife mit einem übelriechenden Kraut, was in Jacobs Augen nur geschah, um die unangenehme Mitteilung, die Eckermann ihm zu machen hatte, hinauszuzögern.

Jacob stand immer noch vor der Tür, seine Ledertasche in der Hand. Erst auf Geheiß der Frau, die sich am Herd zu schaffen machte, nahm er auf einem der Holzstühle Platz, die so schmal waren wie alles in diesem Haus.

»Deine Familie wohnt nicht mehr hier«, begann der Schuster schließlich, als seine Pfeife brannte und er nichts mehr finden konnte, um das Gespräch zu verzögern.

»Was heißt das?« fragte Jacob. »Wo sind meine Eltern und meine Geschwister?«

In Eckermanns Gesicht zuckte es. »Weg.«

Jacob schüttelte den Kopf. »Warum nur habe ich das Gefühl, daß die ganze Stadt mir etwas verheimlichen will?«

»Weil niemand etwas Genaues weiß, Junge. Es ging alles sehr schnell. Als der Gendarm das Haus geräumt hatte, waren dein Vater und deine Geschwister bald darauf verschwunden. Sie wollten wohl nach Hamburg und von dort weiter. Niemand weiß, wohin. Man munkelt, sie seien nach Amerika gegangen.«

»Nach Amerika?«

»Vielleicht stimmt es, vielleicht auch nicht. Jedenfalls haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Kurz darauf wurde das Haus abgerissen, und der Bierkönig hat dort sein neues Lager gebaut, das er schon lange geplant hatte. Es ging alles sehr rasch vonstatten.«