158125.fb2 Flucht in die neue Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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Als er die schnell lauter werdenden, aufgeregten Stimmen hörte, setzte er seine Mütze auf, griff nach seiner großen Tasche und schlüpfte aus der Kammer. Der Schuster folgte ihm.

»Danke für die Warnung und für die Unterkunft.«

»Viel Glück«, flüsterte Eckermann nur und schlug auch schon die Haustür hinter ihm zu.

Allein stand Jacob auf der Uferstraße. Aus der Stadtmitte näherten sich Schritte und Stimmen. Der Trupp des Gendarmen mußte schon vor der letzten Biegung sein.

Jacob lief in die schmale Gasse hinein, die zwischen den Häusern hindurch direkt zum Flußufer führte. Es war der einzige Ausweg, wollte er seinen Häschern nicht direkt in die Arme laufen.

Die Nacht verstärkte die Geräusche; seine Schritte hallten auf dem Pflaster so laut wider, daß er die halbe Stadt zu wecken befürchtete. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, daß der Verfolgertrupp noch lauter war und seine Geräusche übertönte.

Er blieb stehen und lauschte. Es waren keine Schritte mehr zu hören, nur noch Stimmen. Offenbar hatten die anderen Meister Eckermanns Haus erreicht und begehrten Einlaß. Der Schuster würde ihnen erzählen, daß er nicht wußte, wann Jacob aufgebrochen sei und wohin. Das verschaffte ihm eine kleine Atempause.

Jacob beeilte sich weiterzukommen. Er erreichte die Elbe und hielt sich im Schatten der zur Brauerei gehörenden Verladeanlagen, als er stadtauswärts am Ufer entlanglief. Hier am Fluß würde er in der Nacht kaum jemandem begegnen. Und je weniger Leute er traf, desto weniger Zeugen gab es auch für die Richtung seiner Flucht.

Flucht!

Dieses Wort hallte in ihm wider wie ein mächtiger Glockenschlag. Voller Hoffnungen war er nach Elbstedt zurückgekehrt. Hoffnungen auf ein erfülltes Leben als Zimmermann, Louisa an seiner Seite. In nur zwei Tagen waren alle Hoffnungen zerstört worden, war aus dem hoffnungsvollen Handwerker ein polizeilich gesuchter Heckenschütze geworden.

Während er an der Elbe entlanglief und die letzten Häuser hinter sich ließ, zerbrach er sich den Kopf über den Grund für die falsche Anschuldigung. Plötzlich kam er darauf, daß es zwei Gründe gab. Daß auch Ansbert von Waiden und Peter Jensen nicht anders gekonnt hatten, als ihn zu verleumden.

In dem Moment, als sie Bertram Arning zum Arzt brachten, mußten sie einen Grund für die Verwundung nennen. Hätten sie von dem Duell erzählt, hätten sie sich selbst in Mißkredit gebracht. Denn der Sekundant wurde vom Gesetz genauso mit Strafe bedroht wie der Duellant. Also hatten sie, vielleicht in Abstimmung mit Arning, als dieser eine klare Minute hatte, das Lügenmärchen von der Entenjagd und dem Attentat erfunden.

Eine Geschichte, die dem Sohn des Bierkönigs gewiß nicht ungelegen kam, konnte er damit dem ihm verhaßten Jacob doch gehörig eins auswischen. Vielleicht ein viel schlimmerer Schlag als die Schußverletzung, die Jacob ihm beigebracht hatte.

Der flüchtende Zimmermann atmete ein wenig auf, als er die ersten Bäume erreichte. Jetzt konnte er nicht mehr so leicht entdeckt werden.

*

Jacob wanderte schnellen Schrittes in Richtung Hamburg, wo er eine Spur seiner Familie zu finden hoffte. Zwar war es mitten in der Nacht, aber die Luft war klar, so daß er die Sterne sehen konnte, die ihm die Orientierung erleichterten.

Irgendwann erreichte er eine Straße und stellte bald fest, daß es die Landstraße war, die über Winsen nach Hamburg führte. Er war schon ein gehöriges Stück hinter Elbstedt und fühlte sich sicher genug, um ihr folgen zu können.

Ein verhängnisvoller Irrtum, wie er erkannte, als er hinter sich schnelles Hufgetrappel hörte. Wer in der Nacht mit solcher Geschwindigkeit ritt und dabei das Risiko einging, daß sein Pferd bei einem Fehltritt stürzte, mußte es sehr eilig haben. Zum Beispiel jemand, der einen flüchtigen Attentäter jagte.

Schnell schlug sich Jacob ins Gebüsch, nahm seine Mütze vom Kopf und lugte vorsichtig durch die Zweige eines Haselnußstrauches. Bald sah er drei Reiter in gestrecktem Galopp die Straße entlang galoppieren. Sie kamen aus Elbstedt und ritten in seine Richtung. Als sie an ihm vorbeipreschten, erkannte er Bedienstete des Grafen von Waiden. Jetzt hegte er nicht mehr den geringsten Zweifel daran, daß diese Männer auf der Suche nach ihm waren.

Jacob wartete, bis ihr Hufschlag in der Ferne verklang. Dann verließ er sein Versteck und lief quer über die Felder auf den Wald zu, dessen dunkle Umrisse sich gegen den ein wenig helleren Nachthimmel abhoben. Der Weg durchs Unterholz würde zwar viel beschwerlicher sein und ihn langsamer vorankommen lassen, aber das war allemal besser, als gefaßt und nach Elbstedt zurückgebracht zu werden.

Er fragte sich, wie dort die Stimmung wohl sein mochte. Ob Bertram Arning und seine Freunde das Volk so weit aufgehetzt hatten, daß sie Jacob auch ohne Gerichtsverhandlung zur Verantwortung ziehen würden? Für möglich hielt er es.

Beim Eintauchen in den Wald war ihm wohler zumute. Hier würden sie ihn nicht suchen, nicht in der Nacht. Die fast völlige Finsternis in dem dichten Gehölz bot ihm Schutz.

Daß auch dies ein Irrtum war, verriet ihm das Hundegekläff, das erst weit hinter ihm erscholl, aber rasch näher kam. In der stockfinsteren Nacht fand keine Jagd statt - außer die auf einen Menschen.

Er erinnerte sich an das große Rudel Jagdhunde, das der Graf von Waiden sich hielt. Als Junge hatte er gesehen, wie die Hunde im Blutrausch, statt ihre Beute nur zu stellen, ein Reh geradezu in Fetzen gerissen hatten.

Sie schienen ihn wirklich mit allen Mitteln fangen zu wollen. Wahrscheinlich erfüllten die Reiter von vorhin eine Doppelfunktion. Zum einen suchten sie die Straße nach ihm ab, zum anderen benachrichtigten sie die umliegenden Ortschaften. Vielleicht stellte man dort bereits Suchtrupps auf, um Jacob einzukreisen.

Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß er in einer viel größeren Gefahr schwebte, als er gedacht hatte. Die Arnings waren mächtig und besaßen mächtige Freunde. Ihre ganze Macht spielten sie jetzt gegen ihn aus, den armen Zimmermann Jacob Adler.

Er rannte schneller, immer schneller, bis tausend Nadeln in seine Lungen stachen. Er fiel hin und stand wieder auf, viele Male. Äste und Zweigen peitschten in sein Gesicht, rissen seine Mütze vom Kopf, ohne daß er sich darum kümmerte. Er dachte daran, seine schwere Ledertasche einfach fallen zu lassen, brachte es aber dann doch nicht fertig. Darin befand sich alles, was er besaß.

Die Hunde kamen immer näher. Ihr Gebell hörte sich ganz laut an. Da hörte Jacob auch die Stimmen von Menschen.

»Seht mal, was der Köter entdeckt hat!« »Eine Mütze!«

»Bestimmt der Deckel von diesem Adler. Er muß ihn beim Davonrennen verloren haben.«

»Das heißt, er ist dicht vor uns.«

»Dann lassen wir jetzt die Hunde los!«

Das war für Jacob das Stichwort, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Weit vornübergeneigt rannte er keuchend durchs Unterholz und gab sich keine Mühe mehr, besonders leise zu sein. Das Knacken der Zweige konnte ihn nicht mehr verraten. Seine Witterung, von den Hunden spätestens seit dem Fund der Mütze aufgenommen, hatte es längst getan.

Die großen schlanken Tiere kamen näher und näher. Jacob glaubte schon ihren Atem zu hören, als vor ihm ein kleines Flüßchen auftauchte, eher ein breiter Bach. Er erkannte seine einzige Chance und sprang ohne Zögern hinein, watete bis zur Mitte, wo das Wasser ihm bis an die Brust reichte. Dort warf er sich in das kalte Naß und schwamm mit der schwachen Strömung. Seine Tasche wurde immer schwerer, je mehr sich das Leder mit Wasser vollsog, aber er schwamm einfach weiter, immer weiter.

Als seine Arme schmerzten und sein Atem nur noch in raschen, kurzen Stößen ging, steuerte er das andere Ufer an, zog sich mit letzter Kraft an Land und taumelte durch das Ufergestrüpp. Alles in ihm verlangte danach, sich einfach fallen zu lassen, die Augen zu schließen und sich auszuruhen von den hinter ihm liegenden Strapazen.

Aber er war sich nicht sicher, ob die durchs Schwimmen zurückgelegte Strecke ausreichte, um die Jagdhunde seine Witterung verlieren zu lassen.

Und was war, wenn die Häscher mit den Tieren das Ufer absuchten? Der Bach war nicht sonderlich breit. Vielleicht würde seine Witterung vom Wind, der ihm entgegen wehte, ans andere Ufer getragen werden.

So taumelte er weiter, bis sich sein Fuß in einer aus dem

Boden ragenden Wurzel verhakte. Er stolperte und schlug lang hin, fiel zwischen brusthohen Farn, der ihm in seiner jetzigen Stellung völligen Sichtschutz gewährte.

Jacob war so zerschlagen, daß er einfach liegenblieb, die Augen schloß und lauschte. Er konnte nicht mehr weiter und redete sich ein, daß die Entfernung zum Bach jetzt groß genug sei.

Bis er das Kläffen der Hunde hörte. Sie mußten ganz nah sein, etwa an der Stelle, wo er aus dem Wasser gekrochen war. Aber an welcher Uferseite?

Menschliche Stimmen drangen an sein Ohr. Wortfetzen nur, weil gegen den Wind gesprochen. »... weiß nicht, wo der verdammte Kerl steckt.« »... vielleicht gar nicht in den Bach.« ». hat uns reingelegt.« ». spät geworden. lieber umkehren.« ». werden ihn die anderen finden.« Jacob konnte es erst gar nicht glauben, aber seine Verfolger schienen tatsächlich nicht zu wissen, wie nah sie ihm waren. Sie gaben die Suche nach ihm auf. Ihre Stimmen und das enttäuschte Hundegekläff wurden rasch leiser und bald vom Flüstern des Windes überdeckt.

Dieses Flüstern wiegte ihn in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

*

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, halb von Wolken verdeckt, als Jacob am nächsten Tag erwachte. Er war hungrig und fror. Sämtliche Glieder schmerzten vom Schlafen auf dem harten Boden.

Als er sich aufsetzte, schüttelte ihn ein heftiger Hustenanfall. Seine Augen tränten, und er bekam kaum Luft. Das Schwimmen im Fluß, das Schlafen in den nassen Kleidern auf dem kalten Boden, all das hatte zu einer ausgewachsenen

Erkältung geführt.

Trotzdem stand er mühsam auf und schleppte sich weiter, sich anhand der Sonne über die Richtung orientierend.

Sein Ziel war immer noch Hamburg. Er kam nur langsam vorwärts. Immer wieder zwangen ihn Husten- und Schwächeanfälle zu langen Pausen. Und er konnte nur durch unwegsames Gelände marschieren, weil er auf den Straßen damit rechnen mußte, Suchtrupps in die Hände zu fallen. In den Ortschaften am Weg waren die Gendarmen vermutlich über ihn unterrichtet und warteten nur auf sein Auftauchen.

Irgendwann, Mittag war längst vorüber, ließ er sich im Unterholz eines Wäldchens nieder, bedeckte sich mit sämtlichen Kleidungsstücken aus seinem kleinen Gepäck und schlief rasch ein.