158125.fb2 Flucht in die neue Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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»Dachte ich's mir doch, daß der alte Haskin Hilfe holt, als das Narbengesicht vorhin von Bord schlich«, brummte der Alte und rieb seinen einstmals schwarzen, jetzt aber von unzähligen grauen Fäden durchzogenen Bart.

»Das Narbengesicht?« wiederholte Jacob.

»So wird Bob Maxwell, der Erste Steuermann, genannt. Ist ein sehr streitsüchtiger Bursche. Seitdem er sich bei einem Messerkampf eine Narbe quer über die linke Wange eingehandelt hat, ist er noch streitsüchtiger geworden. Will sich wohl an jedem rächen, der nicht an seiner Verunstaltung schuld ist.«

»Scheint ja wirklich ein angenehmes Schiff zu sein, dem wir uns anvertraut haben«, meinte Martin griesgrämig.

»Oho, ihr zwei Burschen seid auch an Bord? Vielleicht überlege ich es mir tatsächlich noch. Sieht ganz so aus, als würde es eine hochinteressante Fahrt werden, wirklich.« Der Seebär wandte sich um und stakste kichernd davon.

Jacob und Martin wandten ihre Aufmerksamkeit ganz der unschönen Szene zu, die sich vor der ALBANY abspielte. Als sich ein paar der erregten Auswanderer gegen das Eingreifen der berittenen Polizei empörten, gingen die Uniformierten nur noch rigoroser gegen die armen Menschen vor. Knüppel und Säbel fuhren nieder und rissen blutige Wunden in manches Gesicht.

Angewidert drehte Jacob sich um. »Laß uns abhauen, Martin. Dieses Schauspiel behagt mir nicht.«

Sie gingen davon, während hinter ihnen die Menge auseinandergetrieben wurde. Jacobs Gedanken beschäftigten sich mit der ALBANY und der Frage, ob er und Martin vielleicht das falsche Schiff gewählt hatten. Aber sie hatten ja keine große Auswahl gehabt, zumindest Jacob nicht.

*

Sie verbrachten, nachdem sie ihr Geld gewechselt und letzte Einkäufe getätigt hatten, einen feuchtfröhlichen Abend, um ihren Abschied von der alten Heimat zu feiern. Jacob faßte so großes Zutrauen zu dem aufrichtigen Bauernsohn, daß er ihn in sein Schicksal und in den Grund für die polizeiliche Fahndung nach ihm einweihte.

»Jetzt verstehe ich dich«, sagte Martin. »Ich stehe ganz auf deiner Seite, Jacob. Du hast richtig gehandelt, als du aus Elbstedt geflohen bist. Leute wie wir haben gegen die obere Schicht keine Gerechtigkeit zu erwarten, wenigstens nicht in diesem Land. In Amerika ist das ganz anders. Dort macht das Gesetz keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Und vor allen Dingen, jeder hat dort die Möglichkeit, reich zu werden, er muß nur zupacken können.« Er hob seinen Bierkrug. »Auf Amerika, auf unsere neue Heimat.«

»Auf Amerika«, wiederholte Jacob und stieß mit seinem Freund an.

Etwa zwei Stunden vor Mitternacht trennten sie sich, weil ihre Gasthäuser weit auseinanderlagen.

Als Jacob den »Schwarzen Hirsch« erreichte, war das ein ernüchterndes Erlebnis. Der Wirt hatte ihm das versprochene Zimmer nicht freigehalten. Ganz im Gegenteil, die Gasträume und alle Zimmer, in denen ein Mensch schlafen konnte, quollen geradezu über vor Männern, Frauen und Kindern.

»Sie haben mir doch versprochen, daß ich ein Zimmer hier bekomme!« sagte Jacob erregt zu dem massigen Wirt.

»Es ist nicht meine Schuld«, verteidigte der sich. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich Geld für die Übernachtungen bekomme. Es ist eine Zwangseinweisung, die der Stadtrat angeordnet hat. Notquartier für die Leute, die mit der ALBANY reisen wollen und die keine Unterkunft gefunden haben. Selbst mein Stall ist voller Menschen. Aber vielleicht findet sich dort noch ein Schlafplatz für Sie.«

Der Wirt ging mit einer Laterne voran und führte Jacob zum Stall, wo ihn die zweite unangenehme Überraschung erwartete. Die Menschen lagen so dicht aneinandergedrängt am Boden, daß von diesem kein Fußbreit mehr zu sehen war.

»Auf dem Boden findet keine Ameise mehr Platz«, beklagte Jacob sich, »geschweige denn ein Mensch.«

»Aber dort oben ist noch eine Menge Platz«, entgegnete der Wirt und deutete zur Decke, unter der ein seltsames, riesenhaftes Spinnennetz hing. Es bestand aus dicken Tauen, die man kreuz und quer gespannt hatte, so daß Menschen in den groben Maschen schlafen konnten. Allerdings waren die

Maschen so groß, daß sich Jacob darüber wunderte, keinen der Schläfer herunterfallen zu sehen. Einige hatten sich dann auch mit den Händen in den Tauen verkrallt und schienen in dieser ungewohnten Position tatsächlich schlafen zu können.

»Mehr kann ich nicht für Sie tun, Herr«, sagte der Wirt mit einem entschuldigenden Schulterzucken. »Wenn Sie mit der Scheune vorliebnehmen, müssen Sie auch nur ein Drittel des normalen Übernachtungspreises bezahlen.«

Selbst das war in Jacobs Augen noch zuviel. Aber dann dachte er an seinen schmalen Geldbeutel, der nur noch wenige Taler enthielt, die meisten bereits in Form amerikanischer Währung.

»Also gut«, seufzte er ergeben, und der Wirt wünschte ihm eine gute Nacht, bevor er sich entfernte.

An den Stallwänden hingen ein paar Laternen, die den großen Schuppen in ein dämmriges Licht tauchten. Trotzdem trat Jacob auf seinem Weg zu einem Tau, an dem man zu dem großen Netz hinaufklettern konnte, immer wieder auf menschliche Gliedmaßen. Seltsamerweise beschwerten sich die so Getroffenen kaum. Nur selten war ein leises Murren zu hören. Vielleicht waren sie diese Behandlung schon gewohnt, oder sie waren einfach zu müde und erschöpft.

Jacob ergriff das herunterhängende Tau und kletterte in das Netzwerk hinein, wo er einen freien Platz in der Nähe der Wand entdeckte. Dort ragte ein großer rostiger Nagel hervor, an dem er seine Tasche aufhängte. Dann streckte er sich auf den schwankenden Tauen aus und machte es sich so bequem, wie es unter den gegebenen Umständen ging.

Aber er fand nur einen sehr unruhigen Schlaf. In der Scheune mochten an die zweihundert Menschen liegen. Ihre vielfältigen Geräusche und die schweren Ausdünstungen gaben ihm einen Vorgeschmack von dem, was ihn auf dem Schiff erwartete.

Jacob träumte von einer stürmischen Atlantiküberquerung, die er in der Takelage der ALBANY hängend verbrachte. Und das Gesicht des Mondes, in das er nachts sah, war von einer riesigen Narbe verunstaltet.

*

Als es draußen an der Ladentür klopfte, hievte August Bult seinen schweren Körper ächzend aus dem Schreibtisch und schob ihn durchs Zimmer zum Fenster. Der Schiffsausrüster schob den schweren Wollvorhang ein kleines Stück zur Seite und preßte sein Gesicht gegen die Scheibe. Das Licht der Gaslaterne auf der anderen Straßenseite fiel bis zum Eingang seines Hauses und riß die schmächtige Gestalt von Fritz Schulz aus der nächtlichen Finsternis.

Bult ließ den Vorhang zurückfallen und ging nach vorn ins Ladenlokal, als sein Besucher erneut klopfte, diesmal viel energischer.

»Nur mit der Ruhe«, brummte der Hausherr. »Ich komme ja schon. Bin ja kein Dampfschiff.« Er schloß die Haustür auf und schob den schweren Eisenriegel zurück. Als Schulz hereingeschlüpft war, verschloß er die Tür wieder sorgfältig.

»Ich erwarte dich schon seit Stunden, Fritz«, sagte Bult, als die beiden Männer ins Hinterzimmer gingen, wo der Massige zwei Gläser mit Pflaumenschnaps füllte. »Du läßt dir doch sonst nicht so viel Zeit, deine Vermittlungsprovision zu kassieren. Oder hast du etwa schon bei den beiden Trotteln direkt abkassiert? Würde solchen Grünschnäbeln ähnlich sehen, daß sie für jeden Handschlag brav einen Extrataler berappen.«

»Was für Geschäfte ich privat abschließe, geht dich nichts an, August«, sagte der Besucher und reckte das spitze Kinn seines Rattengesichts vor. »Du hast mir für jede Vermittlung einen Taler zu zahlen, so ist unsere Abmachung.«

Er hielt fordernd die linke Hand auf, während die rechte das Schnapsglas zum Mund führte und dann leer auf den kleinen

Beistelltisch knallte.

Einen Augenblick saßen sich die beiden äußerlich so ungleichen Männer still gegenüber, starrten einander in die Augen und schienen so ihre Kräfte messen zu wollen. Dabei wußte jeder, was er vom anderen zu halten hatte. Keiner von ihnen war ein Ehrenmann, auch wenn Bult sich hinter der Fassade eines ordentlichen Geschäftsmannes versteckte.

Aber seine Konzession zur Vermittlung von Schiffspassagen war ihm vor vier Jahren entzogen worden, als seine Mitverantwortung für den Untergang der EUREKA bekannt geworden war. Die EUREKA war eine wurmstichige Brigg gewesen, die eigentlich abgewrackt gehörte. Bult tat sich mit ein paar weiteren Geschäftemachern zusammen, kaufte den Zweimaster für ein Butterbrot und rüstete ihn nur aufs notdürftigste aus - woran er mit seinem Geschäft ordentlich verdiente -, heuerte einen trunksüchtigen Kapitän und eine viel zu kleine Mannschaft an und vermittelte dann einer viel zu großen Zahl an Auswanderern Schiffspassagen nach New York - woran er als Agent noch einmal ordentlich verdiente. Weder Bult noch seine Partner waren sonderlich überrascht von der Kunde, daß die EUREKA mit Mann und Maus gesunken war, irgendwo zwischen den britischen Kanalinseln und dem Golf von Biskaya. Der genaue Grund wurde niemals bekannt, aber der Tod von fast vierhundert Menschen erregte die Öffentlichkeit so sehr, daß Bult seine Agentenkonzession verlor. Er konnte froh sein, nicht strafrechtlich belangt zu werden.

Seitdem hatte er sich als Winkelagent darauf verlegt, solchen Menschen Passagen zu vermitteln, die bei den lizenzierten Agenten aus dem einen oder anderen Grund nicht buchen konnten. Natürlich zog er seinen Kunden dabei ein paar Taler mehr aus der Tasche, als sie regulär hätten bezahlen müssen; sie waren ja auf ihn angewiesen.

Und Bult war bei seinen illegalen Geschäften auf solche

Buttjer wie Fritz Schulz angewiesen, obwohl der in seinen Augen nicht nur wie eine Ratte aussah, sondern auch eine war.

Buttjer nannte man in Hamburg die kleinen Gauner und Betrüger, die sich damit durchs Leben schlugen, ehrliche Bürger und insbesondere unwissende Auswanderer um ihre ehrlich verdienten Taler zu bringen. Es gab solche Leute in allen großen Hafenstädten, nur unter anderen Namen. In Bremen nannte man sie Litzer und drüben in New York Runner.

Insgesamt standen zwei Dutzend Buttjer in loser Verbindung zu Bult. Da er für seine Agentur keine offizielle Werbung betreiben durfte, hielten sie in Gasthäusern, am Hafen, am Bahnhof, an der Poststation und an ähnlichen Orten für ihn Ausschau nach Kundschaft. Für jede Vermittlung zahlte er einen Taler.

Die beiden Männer, die sich gegenübersaßen wie zwei Schlangen, die einander zu hypnotisieren versuchten, wußten sehr gut, daß jeder auf den anderen angewiesen war.

Bult zwang ein schiefes Lächeln auf sein breites, grobporiges Gesicht, um sein Einlenken anzuzeigen. Er war ein Geschäftsmann und hielt nichts davon, eine fruchtbare Geschäftsverbindung durch einen sinnlosen, kindischen Zank zu verderben. Deshalb nahm er zwei Taler aus seiner Kasse und ließ sie in die ausgestreckte Hand des anderen fallen.

»Da hast du deine Provision, Fritz. Übrigens habe ich solange auf dich gewartet, weil sich mit den beiden Vögeln noch viel mehr verdienen läßt. Wenigstens mit einem von ihnen. Wo sind sie eingekehrt?«

Schulz sah ihn lauernd an. »Wenn ich dir das sage, machst du das Geschäft ohne mich. Erzähl mir erst, um was es geht.«

»Du bist so mißtrauisch wie ein kleines Kind, das über seinen gebratenen Weihnachtsapfel wacht. Vielleicht zerstreut es deinen Mißtrauen, wenn ich dir sage, daß auf einen der beiden Kerle ein Kopfgeld ausgesetzt ist.«

»Auf den, der keinen Auswandererpaß hat?«

»Genau. Sein Name ist nicht Gottlob Karst, sondern Jacob Adler.« Bult stand auf und nahm ein großes Stück Papier von seinem Schreibtisch, das er Schulz in die Hände drückte. »Hier, lies. Das habe ich von der Polizeiwache mitgebracht.«

Es war ein frischer Steckbrief mit folgendem Text: