158125.fb2
»Er konnte es nicht verhindern. Conrad Arning besaß Schuldscheine in großer Höhe von deinem Vater. Als Heinrich die Schulden nicht begleichen konnte, hat der Bierkönig das Haus pfänden lassen.«
Immer wieder schüttelte Jacob fassungslos den Kopf. Sein Vater und Schulden? Er konnte es einfach nicht fassen und sagte das auch dem Schuster. »Ich habe nie etwas davon gehört, daß mein Vater in Geldschwierigkeiten gewesen ist.«
»Du warst lange weg, Junge. Da tut sich so einiges. Die Zeiten sind nicht mehr so gut wie noch vor ein paar Jahren. Ich mußte kürzlich Thomas, meinen Gesellen, entlassen, weil ich nicht mehr genug Arbeit hatte, um seinen Lohn zu bezahlen. Auch das Geschäft deines Vaters lief nicht mehr so wie damals, als du auf Wanderschaft gegangen bist. Vielleicht hat er es dir verschwiegen, um dich nicht zu beunruhigen. Dann passierte auch noch diese dumme Geschichte mit der Kirche drüben in Langholz.«
Jacob hob seine Schultern an und ließ sie wieder fallen. »Von einer dummen Geschichte weiß ich nichts. Beim letzten Weihnachtsfest war Vater ganz stolz, in diesem Jahr die Langholzer Kirche bauen zu dürfen.«
»Das hat er auch getan, aber beim Einweihungsgottesdienst geschah das große Unglück. Der Dachstuhl stürzte ein und begrub viele Menschen unter sich. Die Kirche war wegen des besonderen Anlasses mit Menschen vollgestopft. Etliche wurden verletzt, und fünf starben.«
Schweigen beherrschte das Zimmer, nur unterbrochen vom Pfeifen des Wasserkessels auf dem Herd und von den gedämpften Geräuschen, die der Wind vom Fluß herübertrug, wo ein Lastkahn angelegt hatte und nun mit Bierfässern beladen wurde.
Jacob benötigte Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, aber dennoch erschien es ihm unwirklich. Wie eine dieser Geschichten, die sie sich während der Wanderschaft vor dem Einschlafen erzählt hatten, um sich die Zeit zu vertreiben.
»Fünf Menschen tot?« fragte Jacob, als hätte er sich verhört. »Davon... davon hat Vater nichts geschrieben. Warum nur nicht?«
Meister Eckermann überlegte eine Weile, bevor er antwortete: »Mag sein, er hat sich geschämt.«
Das mochte tatsächlich sein, dachte Jacob. Sein Vater war immer ein stolzer Mann gewesen. Einen Fehler zuzugeben war ihm fremd. Und er war auch selten in der Verlegenheit gewesen, denn in seinem Beruf machte er keine Fehler.
»Ich kann das alles nicht glauben, Meister Eckermann. Sie kennen meinen Vater länger als ich. Was er anpackt, hat Hand und Fuß. Daß ihm eine ganze Kirche eingestürzt sein soll.«
»Ich habe es auch nicht geglaubt, Junge. Aber die Tatsachen waren eindeutig. Natürlich gab es eine amtliche Untersuchung. Alle aus der Zimmermannskolonne haben ausgesagt, daß Heinrich so sorgfältig wie immer gearbeitet hat. Auch seine Baupläne wiesen keine Fehler auf. Deshalb ist er an einem Strafgerichtsverfahren gerade so vorbeigekommen. Aber die Langholzer konnte das nicht besänftigen, und sie verlangten Wiedergutmachung von ihm. Er hat sich als Ehrenmann erwiesen und es nicht auf eine Gerichtsverhandlung ankommen lassen. Statt dessen hat er sich gegenüber jedem Geschädigten schriftlich verpflichtet, für das Erlittene aufzukommen.«
»Und diese Schuldscheine hat Arning aufgekauft«, schlußfolgerte Jacob mehr, als daß er es fragte.
Eckermann nickte traurig. »Ja, so ist es.«
Die Frau des Schusters stellte vor ihnen große Keramikbecher auf den Tisch und füllte sie mit dampfendem Kaffee. Anschließend brachte sie ein Kännchen Milch, ein Schälchen Zucker, eine große Schale mit Zwieback und einen Topf selbstgemachter Pflaumenmarmelade, bevor sie sich zu den Männern an den Tisch setzte.
Jacob trank etwas von dem Kaffee, um sich aufzuwärmen. Doch er aß nichts, obwohl ein langer Tag und viele Meilen hinter ihm lagen. Was er in den letzten Minuten erfahren hatte, verdrängte jedes Hungergefühl.
»Wenn du willst, kannst du vorläufig bei uns wohnen, Junge«, durchbrach Eckermann das drückende Schweigen. »Du kannst in der Stube vom Thomas schlafen, unten neben der Werkstatt. Für einen Silbergroschen pro Nacht. Für noch einen Groschen kannst du morgens und abends mit uns essen.«
Jacob antwortete nicht, denn etwas ging ihm im Kopf herum. Etwas, das der Schuster vorhin gesagt hatte.
»Sie sprachen davon, mein Vater und meine Geschwister seien von Elbstedt weggegangen, Meister Eckermann. Was ist mit meiner Mutter?«
Der Schuster zögerte und wechselte unheilvolle Blicke mit seiner Frau, bevor er schleppend sagte: »Deine Mutter, Jacob, die ist nicht mitgegangen.«
»Ja, wo ist sie denn?«
Weil ihr Mann es nicht fertigbrachte, antwortete die Frau des Schusters: »Auf dem Friedhof, Jacob.«
Der junge Zimmermann sah in die mitleidig blickenden Züge der verhärmten Frau, bis sie hinter einem Vorhang aus Tränen verschwammen.
Jacob fühlte sich in einem Alptraum gefangen. Das alles konnte nicht wahr sein. So vieles auf einmal, und von nichts hatte er gewußt. Seine Mutter und seine Schwester Marthe hatten ihm regelmäßig geschrieben und ihm das Neueste aus der Familie und aus Elbstedt berichtet. Aber kein Wort von diesen schrecklichen Dingen war zu ihm gedrungen.
Kein Wort!
Als Jacob ruckartig aufsprang, stürzte der Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. Er achtete nicht darauf und auch nicht darauf, daß er seine Tasche im Zimmer stehenließ, als er die Treppe hinunterlief, die Werkstatt durcheilte, den von innen steckenden Schlüssel umdrehte und hinaus auf die Straße lief. Hier erst blieb er stehen, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und atmete die frische Luft ein. Er fühlte sich, als sei er gerade der Hölle entronnen, die ihn mit tausendfachen Qualen zu peinigen versucht hatte.
Da rief der Teufel in der Gestalt des Schusters nach ihm. Jacob hörte nicht auf ihn, wollte nichts mehr hören. Er rannte einfach weg, egal wohin, durch die Straßen seiner Kindheit und
Jugend, die ihm jetzt seltsam fremd erschienen.
*
Als Jacob irgendwann stehenblieb, konnte das kein Zufall sein. Etwas in ihm mußte ihn zu dem einzigen in Elbstedt verbliebenen Menschen geführt haben, der ihm etwas bedeutete: Louisa Vogel.
Er und Louisa wollten heiraten, sobald er seine Existenz gesichert hatte. Jetzt, wo er seine Wanderjahre beendet und sein Gesellenstück abgeliefert hatte, konnten sie sich endlich verloben. Und sobald er seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, würde er Louisa vor den Traualtar führen. So hatten sie es geplant.
Schon als Kinder waren sie unzertrennbar gewesen. Die Leute hatten sie nur »den Adler und das Vöglein« genannt, wenn sie lärmend durch die Straßen und Wälder getollt waren.
Gustav Vogel, Louisas Vater, würde nicht zu Hause sein. Er arbeitete als Heizer in der Brauerei. Aber Louisa und ihre Mutter mußten da sein. Die Vogels bewohnten die linke Hälfte eines alten, feuchten Doppelhauses. Jacob hatte sich geschworen, daß es Louisa bei ihm einmal besser haben sollte. Er wollte ihr und ihren gemeinsamen Kindern ein warmes, gemütliches Haus bauen.
Er zog an der Klingelschnur, die zur Haushälfte der Vogels gehörte, bis über ihm das kleine, quadratische Fenster der Wohnstube aufgestoßen wurde.
Louisa?
Nein, es war ihre Mutter, die ihn genauso entsetzt betrachtete wie all die anderen zuvor.
Jacob grüßte höflich. »Ich möchte zu Louisa, Frau Vogel. Ist sie daheim?«
Die Frau im Fenster schüttelte ihren grauhaarigen Kopf. »Nein, Jacob.«
»Dann würde ich gern warten, bis sie heimkommt.«
»Louisa kommt nicht heim, Jacob. Heute nicht und auch morgen nicht.«
Als Louisas Mutter sah, wie Jacob mit offenem Mund zu ihr heraufstarrte, fügte sie hinzu: »Ich komme runter.« Dann verschwand ihr Gesicht, und das Fenster wurde geschlossen.
Die Minute, die bis zum Öffnen der Haustür verging, gefror für Jacob zur Ewigkeit. Gefror genauso wie sein Herz, als er krampfhaft überlegte, was mit Louisa sein mochte. Der Friedhof kam ihm in den Sinn, wo seine Mutter liegen sollte.
Auch Louisa?
Mein Gott, dachte Jacob, was ist hier nur geschehen im letzten Jahr?
»Tritt ein, Jacob«, sagte Louisas Mutter, als sie endlich unten war. »Hier draußen spricht es sich schlecht.«
Er folgte ihr mit beklommenem Herzen hinauf in die Wohnstube, wo Handschuhe, die meisten noch ohne Finger, und Nähzeug auf dem Tisch lagen. Wie die Frau des Schusters Eckermann verdiente Louisas Mutter mit Näharbeiten ein dringend benötigtes Zubrot für die Familie.
Früher hatte Louisa ihr beim Zusammennähen der Handschuhe geholfen. Jetzt konnte Jacob keine Spur von seiner Geliebten entdecken.
Er setzte sich auf Frau Vogels Geheiß, aber sie selbst schien zu aufgeregt zum Sitzen zu sein.
»Du weißt es also noch nicht?« fragte sie, während ihre mit kleinen Stichwunden übersäten Hände sich gegenseitig kneteten.