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»Das hatten sie vor. Das Geld, das deinem Vater blieb, reichte wohl gerade noch für die Reise.« Sie kramte in der Tasche, die über ihrem linken Arm hing, und brachte ein zerfleddertes Stück Papier hervor, das mehr gelbschwarz als weiß war. »Leider ist hiervon nicht viel übriggeblieben.«
Zögernd nahm Jacob das Papier entgegen. »Was ist das?«
»Ein Brief, den dein Vater an dich geschrieben und bei meinem Vater hinterlegt hat. Ich fand ihn eines Morgens in der Asche.«
»Im Haus deines Vaters?«
»Nein, in der Villa.«
»Dann hat dein Vater den Brief an die Arnings weitergegeben.«
»Ja«, bestätigte Louisa leise und schluckte schwer; das Verhalten ihres Vaters war ihr unangenehm.
Lediglich der Anfang des Briefes war von den Flammen verschont geblieben. Jacob las:
Lieber Sohn!
Ich weiß nicht, wann Du dorthin kommst, wo einst Dein Zuhause war. Deine Geschwister und ich sind dann nicht mehr hier. Morgen reisen wir ab nach Hamburg. Dort wollen wir eine Passage nach Amerika buchen. Vielleicht gelingt es uns, bei...
Hier brach die Botschaft seines Vaters ab.
»Amerika«, flüsterte Jacob und richtete seinen Blick in die unendliche Ferne.
»Was wirst du tun?« fragte Louisa.
»Meine Familie suchen. Sie ist alles, was ich noch habe.«
»Aber wo? Amerika soll so groß sein, daß man wochenlang wandern, sogar reiten kann, ohne einem Menschen zu begegnen.«
»Dieser letzte Satz von Vater. Vielleicht hat er geschrieben, daß sie versuchen wollen, bei Onkel Nathan unterzukommen.«
»Das ist ein Bruder deiner Mutter, oder?«
»Ja. Er lebt schon seit vielen Jahren in Texas und besitzt dort viel Land. Vater sprach oft davon, auch dorthin zu gehen, wenn es ihm hier mal wieder zu klein wurde.«
»Und zu ihm willst du?«
»Es wäre eine Spur.«
Jacobs Gedanken wanderten zu dem legendären Onkel Nathan, den er persönlich nicht kannte. Aber immer wenn ein Brief von ihm eintraf, was ungefähr alle zwei Jahre der Fall gewesen war, hatte das große geheimnisvolle Land jenseits des Atlantiks für Wochen die Familiengespräche beherrscht.
Jacobs Vater schwärmte von den vielfältigen Möglichkeiten, die Amerika einfachen Leuten bot. Gerade einem Zimmermann, wie er stets betonte. Denn was brauchten die vielen Menschen, die ins Gelobte Land strömten, dringender als Häuser?
Jacobs Mutter holte ihren Mann dann immer auf den Boden der Tatsachen zurück, indem sie ihn daran erinnerte, daß ihr älterer Bruder es nur mit sehr viel Glück geschafft hatte, so reich zu werden und überhaupt zu überleben.
Nathan Berger war Mitte der vierziger Jahre über den Großen Teich gesegelt, als einer von vielen Tausenden, die sich dem »Verein zum Schutz deutscher Auswanderer in Texas«, wegen seiner blaublütigen Gründer und Köpfe im Volksmund »Mainzer Adelsverein« genannt, anvertraut hatten. Das ehrgeizige Unternehmen, in Texas, das erst seit wenigen Jahren von Mexiko unabhängig war, eine deutsche Kolonie zu gründen, scheiterte an der Unfähigkeit der adligen Vereinsvorsteher, die bei ihren Landkäufen auf windige
Spekulanten hereinfielen und gleichwohl immer neue Schiffe mit immer mehr Leuten übers Meer schickten. Ohne Land und finanzielle Unterstützung, vom Adelsverein im Stich gelassen, starben viele der hoffnungsvollen Auswanderer in ihrer neuen Heimat einen qualvollen Tod. Andere schlugen sich auf eigene Faust mehr schlecht als recht durch.
Nathan Berger aber war innerhalb weniger Jahre als Besitzer einer großen Plantage ein gemachter Mann geworden. Wenn seine Verwandten in Deutschland auch nicht wußten, wie er es zu diesem Reichtum gebracht hatte; darüber schwiegen sich seine Briefe, die lieber die Schönheit des Landes und des Lebens auf der Plantage beschrieben, aus.
»Was machst du, wenn die Spur ins Nichts führt?« fragte Louisa.
»Weitersuchen.«
»Es tut mir leid, Jacob, das mit dem Brief.«
»Hat Bertram ihn vernichtet?«
»Ja.«
»Warum? Weil er mich haßt?«
»Möglich. Manchmal tut er solche Dinge.« Ihr Blick wurde noch trauriger. »Da ist noch etwas, was ich dir sagen muß. Aber versprich mir, daß du nicht in unser Haus kommst, um einen Aufstand zu machen.«
Er versprach es, wollte er die Villa Arning doch sowieso nie wieder betreten.
»Es geht um die Langholzer Kirche. Du hast von dem Einsturz gehört?«
»Ja.«
»Vor einigen Tagen war ein Mann aus Langholz in der Villa. Ich kenne seinen Namen nicht, aber sein Gesicht. Er war mit seinen Freunden öfter an Markttagen in Elbstedt. Ich habe sie als üble, zu jedem Streit und jeder Rauferei aufgelegte Gesellen in Erinnerung. Es kam mir seltsam vor, daß er eine Unterredung mit Bertram hatte. Normalerweise verkehrt
Bertram nicht mit solchen Leuten. Ich war neugierig und horchte an der Tür. Ihr Gespräch hatte etwas mit der Kirche zu tun, das konnte ich hören. Dann verlangte der Mann Geld von Bertram. Bertram weigerte sich und sagte, der Langholzer habe schon genug Geld bekommen. Erst als Bertram sehr laut wurde, gab der andere nach und zog unverrichteter Dinge wieder ab. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«
Jacob überlegte, wofür der Langholzer das Geld bekommen haben konnte. Für eine falsche Aussage? Oder für mehr?
»Bertram ist kein aufrichtiger Mensch«, sagte er. »Warum bleibst du bei ihm?«
»Wir sind verheiratet.«
Er sah ihr lange in die Augen. »Und die vielen Jahre, die wir uns kennen, Louisa. Zählen die nicht? Haben wir uns nicht geschworen, für immer zusammenzubleiben? Bedeutet dir das nichts?«
Sie schluckte und kämpfte die Tränen nieder, die in ihre Augen stiegen. »Wir können nichts mehr ändern, Jacob. Ich -ich trage Bertrams Kind in mir.«
»Bertrams Kind«, wiederholte er langsam und schwieg dann lange. »Seit wann weißt du das?«
»Sicher bin ich mir erst seit gestern.« Sie sah zu der Kutsche hinüber, wo Ernst nervös auf dem Bock hin und her rutschte und immer wieder zu ihnen herübersah. »Ich muß jetzt gehen, Jacob. Bertram braucht nicht zu wissen, daß wir uns hier getroffen habe.«
Ihre Hände umfaßten seine. »Lebe wohl, und alles Gute!«
Er wollte etwas erwidern, aber in seiner Kehle saß ein dicker Kloß.
Stumm sah er Louisa nach, die zur Kutsche ging und sich von Ernst hineinhelfen ließ. Der Kutscher kletterte zurück auf den Bock, warf einen letzten Blick zu Jacob herüber, löste die Bremse und wendete das Gefährt auf dem kleinen Platz vor dem Hauptportal.
»Lebe wohl, Louisa, und alles Gute«, sagte Jacob leise, während die Kutsche davonfuhr.