158125.fb2 Flucht in die neue Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

Flucht in die neue Welt - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

Aber dann ließ er die wertvolle Pistole los, die vor ihm ins Gras fiel. Die Siegesgewißheit verließ sein Gesicht und machte grenzenlosem Erstaunen Platz. Er öffnete die Lippen, wie um etwas zu sagen. Aber statt dessen kippte er nach vorn und fiel über seine Waffe, wo er reglos liegenblieb.

Das löste den Bann, der bis jetzt über allen Beteiligten gelegen hatte. Von Waiden und Jensen liefen zu ihrem Freund. Jacob warf seine Waffe ebenfalls ins Gras und sah an sich hinunter. Es erschien ihm wie ein Wunder, aber er war tatsächlich nicht verletzt. Arnings Kugel hatte ihn nicht einmal gestreift.

Das konnte nur bedeuten, daß er schneller geschossen hatte als sein Gegner. Jacobs Kugel mußte ihn getroffen haben, bevor er abdrückte, so daß er seine Pistole verriß. Das Echo der Schüsse, das Jacob auf ein gleichzeitiges Feuern hatte schließen lassen, hatte ihn getäuscht.

Jacob ging auf die beiden Sekundanten zu, die ihren Freund inzwischen auf den Rücken gedreht hatten, um ihn zu untersuchen. Arnings vormals blütenweißes Hemd war auf der Brust blutgetränkt.

»Eine üble Wunde«, stellte von Waiden sachkundig fest. »Zum Glück für Bertram nicht in der Nähe des Herzens. Mit viel Glück wird er es schaffen.« Mit vorher für Jacob nicht erkennbar gewesenem Respekt sah der Adlige zu dem Zimmermann auf. »Wie groß ist Ihre Erfahrung mit Pistolen?«

»Es ist das erste Mal gewesen, daß ich mit solch einem Ding geschossen habe«, antwortete Jacob wahrheitsgemäß.

Der Respekt auf von Waldens aristokratischem Gesicht wuchs noch. »Dann haben Sie entweder verteufeltes Glück gehabt, oder Sie sind ein Naturtalent. Bertram ist immer ein guter Schütze gewesen.«

Die Sekundanten schafften den Verwundeten in den Landauer und suchten dann sämtliche Sachen zusammen.

»Wo ist Ihre Pistole, Adler?« fragte Jensen. »Die Obrigkeit darf von dem Duell nichts erfahren.«

»Dahinten«, sagte Jacob und zeigte auf die Stelle im Gras, wo die Waffe liegen mußte.

Er selbst mochte sie nicht aufheben. Er verspürte einen starken Widerwillen gegen die Pistole, mit der er einen anderen Menschen verletzt, vielleicht sogar tödlich verwundet hatte. Gewiß, Arning hatte es nicht anders gewollt, aber es gehörten immer zwei zu einer bewaffneten Auseinandersetzung. Jacob fühlte sich nicht wohl in der Haut eines von diesen beiden.

Jensen fand die Waffe und kehrte mit ihr zu dem Landauer zurück, ohne sich weiter um Jacob zu kümmern.

»Fahr uns rasch in die Stadt, Peter«, sagte von Waiden. »Ich kümmere mich um Bertram, so gut es geht.«

Der Fuhrunternehmer kletterte behend auf den Bock, löste die Bremse und trieb eilig die Pferde an. Die Kutsche holperte über die Wiese, bis sie den Weg erreichte, der durch den Wald zur Straße nach Elbstedt führte.

Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, kam Jacob das ganze Duell vor wie ein böser Traum.

*

Der Traum war beängstigend und verworren, wie es so viele Träume sind. Sterne umkreisten ihn, erst rasend schnell, dann immer langsamer, bis er sie schließlich erkennen konnte. Die Sterne waren Gesichter, die mit seltsamem Ausdruck auf ihn herabblickten. Mit Verachtung, weil er auf einen Menschen geschossen hatte.

Es waren die Gesichter seiner Angehörigen. Das strenge, gerechte Haupt seines Vaters. Das gütige, stets ein wenig besorgte Antlitz seiner Mutter. Die ernsten Augen seines Bruders Fritz, die schelmenhaftverschmitzte Miene des jüngsten Bruders Lukas und das verträumte Gesicht seiner Schwester Marthe.

Sie öffneten zeitgleich ihre Münder, aber es kamen keine Worte heraus, sondern ein Schwall dunklen Blutes ergoß sich auf ihn. Er wollte schreien, sich davonmachen, aber er war wie angenagelt.

Dann jedoch waren die Gesichter wie weggewischt, als er wie von fern seinen Namen hörte. Geflüstert nur, wie vom Wind über das weite Meer herangetragen.

»Jacob, wach auf!« flüsterte die Stimme. »Werde endlich wach, Jacob Adler!«

Als er die Augen aufschlug - oder träumte er dies nur? -, waren die Gesichter wieder da. Nein, es war nur ein Gesicht, nicht mehr jung. Das seines Vaters?

Endlich erkannte er es; die faltigen Züge gehörten dem Schuster Eckermann, der ihm Unterkunft gewährt hatte. Der Schuhmacher stand über seiner schmalen Schlafpritsche, eine fast abgebrannte Kerze in der Hand, und sah ihn ebenso besorgt an, wie es die Gesichter in Jacobs Traum getan hatten.

Allmählich kehrte Jacobs Erinnerung an die vergangenen Stunden zurück. Nach dem Duell war er langsamen Schrittes in die Stadt zurückgegangen. Er hatte es nicht eilig gehabt, weil so viele Gedanken über die bewaffnete Auseinandersetzung und alles, was dazu geführt hatte, in seinem Kopf umherwirbelten.

Er hatte überlegt, ob er sich dem Gendarmen Karst stellen sollte. Aber was hätte er damit gewonnen? Eine Haftstrafe oder auch nur eine lange Untersuchung hätten ihn nur davon abgehalten, seine Familie zu suchen.

Dies war jetzt sein vordringlichstes Ziel, das hatte er erkannt. Gleich morgen früh wollte er seiner Heimatstadt - vielleicht für immer - den Rücken kehren und in Richtung Hamburg aufbrechen.

Als er die Stadt erreichte, hatte er damit gerechnet, daß die Kunde von dem Pistolenduell vielleicht schon die Runde gemacht hatte. Aber Arning, falls er noch lebte, und seine Freunde hatten offenbar dichtgehalten. Unbehelligt erreichte er Meister Eckermanns Haus und legte sich zum Schlafen nieder, ohne eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Ihm war nicht nach Essen, nur nach Schlafen und Ausruhen.

Wie spät mochte es jetzt sein? Und warum war der Schuster, dessen Atem nach Bier und Korn stank, derart aufgeregt?

»Komm endlich zu dir, Junge!« forderte er und hätte bestimmt laut geschrien, hätte er sich nicht aus einem unbekannten Grund zum Flüstern verpflichtet gefühlt. »Du mußt schnell aufstehen und fortlaufen! Der Gendarm ist unterwegs zu dir, um dich festzunehmen!«

»Warum? Wegen des Duells?«

»Was für ein Duell?« fragte der Schuster. »Davon weiß ich nichts. Aber du hast aus dem Hinterhalt auf den jungen Arning geschossen, als er am Abend zum Weiher fuhr, um Enten zu jagen.«

»Wer behauptet das?«

»Er selbst. Er liegt schwerverletzt bei Dr. Pohlmann, ist wohl gerade erst zu sich gekommen. Ich war in der Schenke, als Hannes Melzer, Pohlmanns Nachbar, hereinkam und die Sache erzählte. Er sagte, Gottlob Karst würde sich ein paar Gehilfen zusammensuchen und dann hierherkommen, um das gefährliche und bewaffnete Subjekt zu inhaftieren. Mit dem Subjekt bist du gemeint, Jacob.«

»Aber das Ganze ist eine Lüge!«

»Du hast nicht auf den Sohn des Bierkönigs geschossen?«

»Doch, aber es war ein Pistolenduell, zu dem Arning mich gefordert hatte. Ansbert von Waiden und Peter Jensen können es bezeugen. Sie waren die Sekundanten.« »Sie bezeugen es ja auch, allerdings so, wie Bertram Arning es erzählt. Sie sagen, sie sind dabeigewesen, als du aus dem Unterholz aufgetaucht bist und auf Arning geschossen hast.«

»Das ist ein Komplott!«

»Und wenn schon. Du stehst auf verlorenem Posten, Jacob. Den feinen Herren wird man mehr glauben als dir. Selbst wenn es ein Duell gewesen ist, könnten sie auf die Gnade des Königs hoffen. Ein einfacher Mann wie du aber kaum. Solch ein Mensch hat sich nicht zu duellieren, wird die Obrigkeit sagen.«

»Glauben Sie mir etwa auch nicht, Herr Eckermann?«

Der Schuster rieb sich das Kinn. »Doch, es paßt zu der Sache in Langholz. Aber das ist gleichgültig. Du mußt sofort hier weg! Auch wegen mir und meiner Frau. Sonst werden wir noch beschuldigt, einem Mörder Unterschlupf gewährt zu haben.«

Jacob, der in seine Sachen schlüpfte, hielt plötzlich inne und sah den Schuster an. »Was wissen Sie über Langholz?«

»Nichts. Beeil dich lieber!«

Der junge Zimmermann schüttelte heftig den Kopf. »Erst müssen Sie mir sagen, was Sie wissen!«

»Es sind nur Gerüchte, die man sich erzählt«, antwortete Eckermann ausweichend.

»Was für Gerüchte?«

»Jemand soll ein paar finstere Burschen aus Langholz bestochen haben, damit sie am Dachstuhl der Kirche sägen und sie zum Einsturz bringen. Im Suff soll jemand mit dieser Tat geprahlt und sich darüber beschwert haben, daß der Auftraggeber ihm nicht genug Geld gezahlt hat.«

»Wer ist dieser Auftraggeber?« fragte Jacob und packte den Schuster am Jackenaufschlag. »Etwa Bertram Arning?«

Eckermann nickte mit blassem Gesicht. »Man erzählt es sich, aber es sind nichts als Gerüchte.«

Während Jacob sich weiter anzog, wurde ihm einiges klar. Die Arnings hatten die Sache von Anfang an so geplant, zumindest Bertram. Ob dessen Vater auch sein Mitwisser war, wußte er nicht. Aber Bertram hatte die Kirche absichtlich zum Einsturz gebracht, um Heinrich Adler in Mißkredit zu bringen und mit einem Schuldenberg zu überhäufen. Er hatte die Schuldscheine aufgekauft und dann den letzten Teil seines Plans verwirklicht, die Übernahme des Adlerschen Grundstücks.

Wahrscheinlich belastete es Bertram Arnings Gewissen überhaupt nicht, daß fünf Menschen in der Kirche gestorben waren. Auch der Tod von Jacobs Mutter war ihm zuzuschreiben. Auf einmal tat es Jacob kein bißchen mehr leid, den Sohn des Bierkönigs so schwer verwundet zu haben.