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Träge zog die scheinbar endlos lange Wagenkolonne durch die öde, wenig abwechslungsreiche Prärie von Kansas. Der Elan, der die Auswanderer noch beim Aufbruch am Morgen beherrscht hatte, war verflogen. Die heiße Julisonne hatte ihn ausgedörrt, und der von weit mehr als tausend Hufen aufgewirbelte Staub hatte eine dicke Kruste darüber gelegt.
Der Traum in den Köpfen der Menschen aber blieb davon unbeeindruckt. Männer wie Frauen dachten an ihre neue Heimat, an Oregon, weit im Westen hinter den mächtigen Gebirgszügen der Rocky Mountains, noch mehr als 2000 Meilen entfernt. Der Traum war so stark, daß er die Menschen eine Tatsache vergessen ließ: Der beschwerliche Trail würde seinen Tribut fordern, von Tieren wie von Menschen. Nicht alle Wagen würden das Gelobte Land erreichen. Und auch nicht alle Auswanderer.
Jacob Adler trieb seinen Grauschimmel an und lenkte ihn auf einen kleinen Hügel, etwa fünfhundert Yards von der Route des Trecks entfernt. Hier hielt der junge Zimmermann aus Deutschland sein Pferd an, stützte sich mit einem Arm aufs Sattelhorn, wischte sich mit dem anderen Arm die dicke Staubschicht aus dem Gesicht und atmete tief durch. Es tat richtig gut, Luft holen zu können, ohne mit jedem Zug die feinen Staubpartikel einzuatmen, die Pferde, Mulis, Ochsen und Wagenräder ununterbrochen in den blauweißen Himmel schleuderten. Wenn er bedachte, wie ausgetrocknet der Boden schon wieder war, erschien es Jacob wie ein ferner Traum, daß das Land am Missouri vor wenigen Tagen noch von heftigen, ununterbrochenen Regengüssen geplagt worden war.
Jacob genoß es, auf seinem Grauen hin und wieder in die offene Prärie hinauszureiten, weg von dem Staub und dem Lärm des Trecks. Nach der Mittagspause würde er für den Rest des Tages auf dem Bock sitzen, um den Planwagen zu lenken. Sein Freund Martin Bauer würde dann Gelegenheit haben, das Gelände auf dem Pferd zu erkunden.
Daheim in Deutschland hatte Jacob so gut wie keine Erfahrung mit Pferden gehabt, aber in den amerikanischen Weiten kam ein Mann nicht darum herum, in den Sattel zu steigen. Jacob hatte sich schnell daran gewöhnt, einen kräftigen Vierbeiner allein durch einen kurzen Zuruf oder den Druck seiner Schenkel zu lenken. So wie er sich an vieles Neue schnell gewöhnt hatte.
An den Umgang mit Schußwaffen zum Beispiel, wenn er sie auch nur im Notfall benutzte. An seiner Hüfte hing ein schwerer 44er Army Colt, und in seinem Scabbard steckte ein Sharps-Karabiner. Beides Beutewaffen von Quantrills Guerillas.
Auch an die englische Sprache, deren Grundbegriffe der alte Seebär Piet Hansen auf dem Auswandererschiff Jacob und seinen Freunden beigebracht hatte, hatte er sich gewöhnt. Sein Englisch wurde immer besser, je länger er gezwungen war, in dieser Sprache zu reden. Allmählich verschwanden auch die vielen Seemannsausdrücke, die er Hansens Lehrgang verdankte. Manchmal träumte er schon auf englisch.
Trotz der vielen Abenteuer und Gefahren, die im großen Amerika lauerten, spürte er, daß dies sein Land war. Vielleicht sogar wegen all dieser Herausforderungen. Hier konnte ein Mann beweisen, was in ihm steckte. Hier war er frei, seine Träume zu verwirklichen. Wie es die Auswanderer vorhatten, die mit dem Treck westwärts zogen.
Unter Jacob rollten 30 Wagen über den von vielen anderen Trecks so stark ausgetretenen Pfad, daß auf ihm kaum noch ein karges Büschel Präriegras wuchs. Noch brauchten sie ihren Führer nicht, einen in Wildleder gekleideten Mann namens Oregon Tom, der in Kansas City als Scout angeheuert worden war. Eigentlich hieß er ja Thomas Bidwell, aber wegen der zahlreichen Trecks, die er schon über die Rocky Mountains nach Oregon gebracht hatte, war ihm sein Spitzname verliehen worden.
Noch war die Spur mehr als deutlich, die die vorangegangenen Trecks dieses Jahres hinterlassen hatten. Mehr Trecks würden in diesem Jahr nicht folgen, jedenfalls nicht von Kansas City aus. Die Zeit war schon zu weit fortgeschritten. Im günstigsten Fall würde man den langen Trail in vier Monaten bewältigen, wahrscheinlich waren aber eher fünf, da immer mit unvorhergesehenen Zwischenfällen gerechnet werden mußte. Wenn man in den Bergen vom Schnee überrascht wurde, konnte dies schnell das Ende bedeuten. Eingeschneit und verhungert - so war es schon vielen Auswanderern ergangen.
Man hatte Jacob die - wahre - Schreckensgeschichte des Donner-Trecks erzählt, der im Jahr 1846 den bei Fort Hall vom Oregon Trail abzweigenden California Trail genommen hatte, aber in die unerbittlichen Fänge des Winters geriet. Dutzende von Menschen starben, und ihre Gefährten überlebten nur, weil sie das Fleisch der Toten verzehrten.
Jacob schüttelte sich bei dem Gedanken daran und konnte sich zugleich nicht so recht vorstellen, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Die gnadenlos auf den Treck brennende Sonne ließ den Winter so fern erscheinen, wie es Jacobs Heimatstadt an der Elbe war.
Er nahm den breitrandigen Filzhut ab, um sich mit dem grünen Halstuch den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er und Martin hatten auf den guten Rat Mitreisender gehört und ihre Mützen gegen schattenspendende Hüte vertauscht. Auch das Halstuch war Jacob sehr nützlich. Wenn die Staubwolke des Trecks zu unangenehm wurde, zog er es vor Mund und Nase.
Der Kauf eines Hutes war für Martin von doppeltem Vorteil gewesen. Er hätte seine Mütze wohl kaum wieder aufgesetzt, nachdem sie in Kansas City neben der Leiche von Adam Zachary gefunden worden war und ihn in den Verdacht gebracht hatte, Zacharys Mörder zu sein.
Der Verlust seines Sohns hatte Adams Vater, den alten Abner Zachary, schwer getroffen. So schwer, daß er fast selbst zum Mörder geworden wäre, als er Martin lynchen wollte. Seitdem wirkte der vormals so kräftige Mittfünfziger gebrochen und um zehn, fünfzehn Jahre gealtert. Er war noch immer Treck-Captain, Führer des Wagenzugs, aber Jacob fragte sich, ob er es wirklich schaffen würde, 30 Wagen und fast 200 Menschen ins Gelobte Land zu bringen, wie der alte Prediger Oregon häufig nannte.
Jacob wünschte es ihm. Abner Zacharys Plan, eine neue Stadt zu errichten, in der Menschen aller Hautfarben und Religionen in friedlicher Eintracht miteinander lebten, gefiel ihm. Der Prediger hatte seine Leute, darunter viele Schwarze, aus dem Sklavenstaat Missouri geführt, um ihn zu verwirklichen. Jacob hatte versprochen, seine Fähigkeiten als Zimmermann beim Bau der neuen Stadt einzusetzen. Dafür wurden er, Martin, Irene Sommer und ihr kleiner Sohn Jamie in den Treck aufgenommen.
Abner Zachary selbst saß auf dem Bock seines schweren Conestoga-Wagens und trieb seine acht Maultiere gehörig an, um den Treck voranzubringen. Denn die Geschwindigkeit aller Wagen richteten sich nach dem vorausfahrenden Conestoga des Treck-Captains. Eine von Abners Töchtern saß neben ihm; die beiden anderen hockten vermutlich im Wagen und genossen den Schatten, den ihnen die Segeltuchplane spendete.
Aaron und Andrew, die beiden Abner verbliebenen Söhne, hatte sich wie Jacob in die Sättel geschwungen und ritten dem Treck ein Stück voraus. Vielleicht hielten sie Ausschau nach Oregon Tom, der schon vor zwei Stunden zu einem Erkundungsritt aufgebrochen und seitdem nicht mehr gesehen worden war.
Weitere Wagen unterschiedlicher Größe und Bauart zogen an Jacob vorbei. Auf einigen Böcken hockten nur Frauen oder Kinder. Die Männer saßen auf ihren Pferden oder waren abgestiegen, um neben den Zugtieren herzugehen und sie mit der Peitsche anzutreiben.
Je länger der Morgen dauerte, desto mehr zog sich der Treck auseinander. Wurde ein Wagen langsamer, traf es zugleich auch alle nachfolgenden.
Die meisten der Gesichter kannte Jacob schon, die Namen aber nur von einigen.
Da war der schwarze Schmied Sam Kelley mit seiner Familie und seinem Schwager, dem erst vor zwei Tagen freigekauften Sklaven Jackson Harris. Zehn kräftige Ochsen waren nötig, um den Prärieschoner mit Kelleys fahrbarer Schmiede zu ziehen. Sams Frau Aretha saß mit ihrem Bruder auf dem Bock und lenkte den Wagen. Auf der einen Seite der Ochsen ritt Sam, auf der andern sein dreizehnjähriger Sohn George auf dem feurigen Rappen Black Thunder. Mit lauten Schreien feuerten sie die Ochsen an, ihren müden Trott nicht noch weiter zu verlangsamen. Wenn George so weitermachte, konnte er in wenigen Tagen fluchen wie ein Erwachsener.
Da waren die Millers, zu denen Jacob - wie auch zu den Kelleys - ein fast freundschaftliches Verhältnis hatte. Sie hatten ihre Farm an der blutigen Grenze zwischen Kansas und Missouri aufgegeben, weil der ewige Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei, die in Kansas verboten und in Missouri erlaubt war, sie zermürbt hatte.
Und der Wagen mit Custis Hunter, Virginia Cordwainer, ihrem gemeinsamen kleinen Sohn Bobby, dem freigelassenen Sklaven Melvin und Virginias ehemaligem Hausmädchen Beth. Jetzt, auf dem Treck, hätte die korrekte Berufsbezeichnung für die Schwarze »Wagenmädchen« lauten müssen. Oder besser »Kinderfrau«, da es ihre Hauptaufgabe war, auf den kleinen Bobby aufzupassen. Das Kind hatte den Namen Robert von Custis Hunters ermordetem Vater übernommen.
Die Taufe sollte erst noch erfolgen, durch Abner Zachary. Genauso die Hochzeit von Custis und Virginia und wohl auch die von Melvin und Beth, die dann das Ehepaar Freeman sein würden. Freeman, freier Mann, diesen Namen hatte sich Melvin erst gegeben, als er kein Sklave mehr war.
Aber Jacob hatte nicht nur Freunde im Treck. Fast feindschaftlich gegenüber stand ihm die irische Familie O'Rourke. Die Brüder Patrick und Liam O'Rourke hatten sich bei dem versuchten Lynchmord an Martin hervorgetan, und Jacob hatte ihnen zusammen mit Bowden Webb, dem City Marshal von Kansas City, den tödlichen Spaß verdorben.
Als der letzte Wagen an Jacob vorübergerumpelt war, folgte die Viehherde. Weit verstreut zogen Pferde, Mulis, Ochsen und Milchkühe über die Prärie und sättigten ihren Hunger an Hundsgras und Klee, verabscheuten aber auch die bunten Blumenfelder nicht, die immer wieder aus dem grünbraunen Einerlei herausragten. Ein paar Männer gaben acht, daß die Herde nicht zu weit zurückblieb und nicht zu sehr auseinanderdriftete. Der Dienst bei der Herde erfolgte nach einem Plan, der alle männlichen Auswanderer der Reihe nach dazu einteilte.
Die letzten Kühe passierten Jacobs Hügel im müden Trott und widerstanden beharrlich den anfeuernden Rufen zweier hinterherlaufender Halbwüchsiger und dem lauten Kläffen einiger ungewöhnlich vergnügter Hunde. Als der Deutsche dem langen, schwerfälligen Treck nachsah, stiegen Zweifel in ihm auf, ob er sein Ziel am anderen Ende des riesigen amerikanischen Kontinents jemals erreichen würde.
Gerade wollte er den Grauen antreiben, um zum Wagenzug aufzuschließen, als er eine Staubwolke in der Richtung bemerkte, aus der die Auswanderer gekommen waren. Erst dachte er an ein paar Nachzügler der Viehherde. Aber dafür bewegte sich die Wolke mit zu großer Geschwindigkeit auf den Treck zu. Das konnten keine müde vor sich hintrottenden Rinder sein. Bald erkannte er, daß es Reiter waren, eine große Anzahl, etwa zwanzig.
Er verlängerte die schattenspendende Hutkrempe durch die davorgelegte flache Hand, kniff die Augen zusammen und spähte in die Sonne hinein, aus der die Reiter kamen. Ihren Anführer, der einen kräftigen Apfelschimmel ritt, glaubte Jacob zu erkennen. Ein großer, robuster Mann im dunklen Anzug, dessen Gesicht von einem dunklen Schnurrbart beherrscht wurde. Ja, Jacob war sich jetzt sicher, Marshal Bowden Webb vor sich zu sehen.
Als der scharf galoppierende Reitertrupp näherkam, erkannte Jacob auch zwei der Deputys an Webbs Seite, Grant Begley und Bill Stoner. Das sah ganz nach einer Posse aus. Der Deutsche fragte sich, ob sie zufällig den Spuren des Trecks folgte.
Er blieb mit dem Grauen auf dem Hügel und wartete, bis ihn die Reiter erreichten. Marshal Webb hob die Hand, und die Männer zügelten ihre Tiere, dabei eine noch größere Staubwolke aufwerfend. »Freut mich, Sie zu sehen, Marshal«, grüßte Jacob mit ehrlich empfundener Sympathie den Mann, der nicht nur geholfen hatte, Martin vor dem Hängen zu bewahren, sondern der auch eine Posse zusammengestellt hatte, um Jackson Harris aus den Händen skrupelloser Sklavenjäger zu befreien.
»Mich auch«, sagte Webb in seiner ruhigen Art und sah zum riesigen Bandwurm des Trecks hinüber. »Ihr Wagenzug kommt nicht besonders schnell voran, scheint mir.«
»Nein. Die Tiere müssen sich erst an den Trott gewöhnen.«
»Dabei sollten Sie und Ihre Freunde es eilig haben, möglichst rasch die Rockies zu erreichen, um noch vor dem Winter über die Berge zu kommen. Unter anderem.«
Die letzten Worte hatte der Polizeichef von Kansas City mit einer seltsamen Betonung ausgesprochen. Seltsam war auch sein Blick und der seiner Begleiter. Düster schauten sie dem langsam gen Westen rollenden Treck nach. Auch Jacob erntete kaum einen freundlichen Blick oder ein freundliches Wort, Webb ausgenommen.
»Was soll das heißen, Marshal, unter anderem?« fragte Jacob deshalb.
»Ich könnte mir vorstellen, daß jemand von Ihren Leuten einen guten Grund hat, die Entfernung zwischen sich und Kansas City schnell zu vergrößern.«
»Sie sprechen in Rätseln.«
»Ich werde Ihnen alles erklären, wenn wir beim Treck sind, Adler. Dann muß ich es nicht zweimal sagen.«
Webb trieb seinen Apfelschimmel an, und die Posse folgte ihm. Jacob schloß sich den Bürgern von Kansas City mit gemischten Gefühlen an. Etwas war nicht in Ordnung, soviel war sicher.
Die Auswanderer warfen den an den Wagen vorbeigaloppierenden Reitern verwunderte Blicke zu. Als sie den vordersten Wagen, Abner Zacharys Conestoga, erreichten, rief Webb dem Prediger auf dem Bock zu, er solle den Treck anhalten lassen.
Der schwarzgekleidete Graubart zügelte seine Mulis und zog, als sie standen, die Wagenbremse an. Hinter ihm wiederholte sich das von Wagen zu Wagen. Das Rumpeln und Knarren der Prärieschoner erstarb allmählich.
Überraschte Auswanderer sammelten sich um den Conestoga. Auch Zacharys Söhne hatten den nicht geplanten Halt der Kolonne mitbekommen und lenkten ihre Pferde zurück zum Treck.
»Was ist denn los, Marshal?« wollte Abner Zachary wissen.
»Wir müssen den Treck durchsuchen, Mr. Zachary.«
»Durchsuchen?« echote dieser, als glaubte er, nicht recht gehört zu haben. »Etwa jeden Wagen?«
Jacob fühlte sich bei Webbs Erklärung an die Sklavenjäger erinnert, die Jackson Harris vor seinem Freikauf beim Treck gesucht und auch gefunden hatten, versteckt im Wagen seines Schwagers.
»Das ist leider nötig«, sagte Bowden Webb. »Es sei denn, jemand rückt freiwillig die achtzigtausend Dollar heraus.«